Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 25: Der Zusammenbruch
(Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund
Glaise-Horstenau
3. Friedensbitte und
Kaisermanifest.
Noch waren die Antworten auf die Note "An alle" nicht verklungen, als Burian
unter dem Eindrucke des bulgarischen Unglücks nach Berlin sagen
ließ, daß im Oktober unbedingt ein neuer Friedensschritt
unternommen werden müsse; denn die Donaumonarchie dürfe es auf
die im Dezember mit Bestimmtheit eintretende, völlige Entkräftung
nicht ankommen lassen, sondern müsse rechtzeitig Schluß machen.
Der Warnruf aus Wien fand diesmal lebhafteren Widerhall als früher. Die
bedeutsamen Vorgänge, die sich Ende September in Spa abspielten,
führten in Deutschland zum Entschluß, Wilson bei
grundsätzlicher Annahme der 14 Punkte um Waffenstillstand und
Friedensverhandlungen zu bitten. Die Wiener Regierung zögerte nicht, sich
dem Schritt des [601] Bundesgenossen
anzuschließen, der am 4. Oktober von beiden Mächten gleichzeitig
unternommen wurde.
Hatte schon für Deutschland die Zustimmung zu den "14 Punkten"
manches Bedenkliche, so galt dies noch in weit höherem Maße
für das Völkerreich an der Donau. Denn die bedingungslose
Erfüllung der Forderungen Wilsons bedeutete nicht bloß den
wahrscheinlichen Verlust Galiziens und eine empfindliche Einbuße an
anderen wichtigen Grenzgebieten, sondern sie mußte auch im Innern des
Reiches in einer Zeit besorgniserregender Blutleere und Entkräftung das
Unterste zu oberst und das Oberste zu unterst kehren. Es war jetzt nur die Frage,
ob man mit dem unausbleiblichen Umbau des Reiches sofort beginnen oder ihn
für die Zeit nach dem Kriege aufschieben sollte. Jene Lösung mochte
den Vorteil haben, daß das Reformwerk noch ohne jenen unmittelbaren
Druck der Siegermächte durchgeführt werden konnte, der, wenn
einmal die Friedensverhandlungen begonnen hatten, sicher zu gewärtigen
war. Auch konnten vielleicht noch Strömungen zugunsten der
Habsburgischen Staatsidee aufgefangen werden, die später unbedingt von
dieser hinwegführen mußten. Auf der anderen Seite war es freilich
ein gefährliches Beginnen, einen ohnehin schwer erschöpften und
siechen Körper noch einer Operation auf Leben und Tod zu
unterziehen.
Die Regierung des österreichischen Staates (diesseits der Leitha) hatte in
Hussarek einen Mann an der Spitze, dessen Glaube an die geschichtliche
Bedingtheit und Festigkeit des österreichischen Gedankens
unverwüstlich genug war, das große Wagnis zu unternehmen.
Daß von den Tschechen noch viel zugunsten des alten Staates zu erreichen
sein werde, glaubte freilich auch dieser überzeugte
Großösterreicher nicht mehr. In den Kronländern
Böhmen, Mähren und Schlesien, den "Ländern der heiligen
Wenzelskrone", wurde hinter der von Tag zu Tag brüchigeren Wand der
nur mehr dem Namen nach bestehenden Staatsgewalt der künftige
tschechische Nationalstaat aufgerichtet. Dies ging soweit, daß der aus den
tschechischen Reichsrats- und Landtagsabgeordneten gebildete Prager Nationalrat
(Narodni vybor) Mitte September eine Freiheitssteuer ausschrieb, die wie eine
Staatssteuer eingehoben wurde und an deren günstigem Ergebnis auch das
Verbot durch den kaiserlichen Statthalter wenig änderte. Denn auch ein
großer Teil des Beamtenapparates und sogar einzelne Offiziere hatten sich
dem Narodni vybor zur Verfügung gestellt. Durch die tschechische
Industrie ging ein geheimes Raunen, daß die Entente bereits riesige Mengen
von Rohstoffen bereithalte, um am Tage des Friedensschlusses die tschechischen
Werkstätten damit zu versorgen und dadurch die deutsche Konkurrenz
unschädlich zu machen. Als Ende September die Wiener Regierung, um
den ersten Schritt zur Lösung des böhmischen Problems im Sinne
einer nationalen Autonomie zu tun, die Teilung der böhmischen
Landesverwaltungskommission in zwei national gegliederte Ausschüsse
verfügte, ant- [602] wortete der Narodni
vybor unter dem Vorsitz des Dr. Kramarsch mit einer unerhört
scharfen Verwahrung, in der erneut jede Zusammenarbeit mit Wien abgelehnt und
die tschechoslowakische Frage für eine internationale erklärt
wurde.
Besseres erhofften Hussarek und Burian noch von den Polen. Durch Annahme der
14 Punkte Wilsons hatten die Mittelmächte wohl ein ganz
selbständiges Polen in seinen nationalen Grenzen anerkannt. Aber man war
in Wien doch der Erwartung, daß sich Polen dankbar erweisen und als
gesondertes Staatswesen unter das Zepter Habsburgs stellen werde.5
Auch das südslawische Problem hofften die Wiener Staatsmänner
noch in letzter Stunde in einer wenigstens für die Gesamtmonarchie
günstigen Weise lösen zu können. Entscheidend war dabei
freilich das Verhalten der Magyaren, von denen der Verzicht auf
Kroatien-Slawonien zugunsten des südslawischen Staates und damit des
Gesamtreiches verlangt wurde. Denn es konnte, namentlich nach den Berichten
des neuen gemeinsamen Finanzministers v. Spitzmüller, kein
Zweifel mehr bestehen, daß sich die Südslawen mit der
subdualistischen Lösung (S. 308), das ist der
Vereinigung Kroatiens, Bosniens und Dalmatiens innerhalb der Länder der
Stephanskrone, nicht mehr begnügten.
Um den Widerstand der Magyaren zu überwinden, sandte der König
in der zweiten Hälfte September den stärksten Mann der Nation, den
Grafen Stephan Tisza, zu persönlichem Studium des Problems in die
südslawischen Lande. So gut diese Mission gemeint war, so sehr schadete
sie der Sache. Wurde schon an sich die Entsendung Tiszas bei den
Südslawen wie eine Herausforderung empfunden, so tat das
selbstbewußte Auftreten des kaiserlichen Sendboten noch ein übriges,
die größte Verstimmung zu hinterlassen. In Sarajevo drohte er einer
Abordnung, man möge sich nur ja nicht auf die Serben verlassen, dieses
werde aus dem Kriege so klein hervorgehen, daß es von den Bulgaren zum
Frühstück verspeist werden könne. Dann entsann sich der
Unglückselige doch der Nachrichten, die
damals - um den 23. September - schon aus Mazedonien da waren
und sich wie ein Lauffeuer durch das bis zur Fieberhitze erregte Jugoslawien
verbreiteten, und er fügte grollend bei: "Es ist möglich, daß wir
untergehen, aber vorher werden wir noch euch zermalmen." Welche Folgerungen
Tisza innerlich aus seinem Besuch in Kroatien und Bosnien gezogen hat, ist nicht
festzustellen.
Kaiser Karl und die österreichischen Staatsmänner bemühten
sich in den Kronräten, die um die Monatswende abgehalten wurden, den
ungarischen Ministerpräsidenten Wekerle von der Unvermeidlichkeit einer
reinlichen Lösung [603] der
südslawischen Frage zu überzeugen. Wekerle bezeichnete es nach
wie vor als die äußerste Grenze jeglichen Entgegenkommens, wenn
Ungarn bereit sei, Dalmatien und Bosnien in seinen Staatsverband aufzunehmen.
Weiter könne auf keinen Fall gegangen werden. Um den 10. Oktober
glaubte Kaiser Karl, in dem Parlamentarier Navay den Mann gefunden zu haben,
der als ungarischer Ministerpräsident das südslawische Problem in
einer den Interessen des Gesamtreiches und damit auch Ungarns entsprechenden
Weise zu lösen vermochte. Aber die ersten Fühler, die Navay in
Budapest ausstreckte, mußten ihn überzeugen, daß er für
seine Mission nie und nimmer eine tragfähige Mehrheit erhalten werde. Der
Kaiser litt unter dieser Gestaltung der Dinge um so bitterer, als auch aus dem
Kreise der kaisertreuen kroatischen Soldaten eindringliche Warnrufe laut
geworden waren.
Am 1. Oktober entwickelte Hussarek vor dem Wiener Abgeordnetenhaus die
neuen Absichten der Regierung. In ziemlich verschwommenen Umrissen
zeichnete er ein selbständiges, an die Donaumonarchie angeschlossenes
Polen, ein ähnlich gestaltetes Jugoslawien und den Plan einer Autonomie
für die anderen Nationen. Das Echo in den Bänken der
nichtdeutschen Abgeordneten war von vernichtender Deutlichkeit. Die paar noch
folgenden Sitzungen des Hauses hatten nur eine Tagesordnung: die Absage der
Slawen an das alte Österreich. Die Polen verhielten sich am
maßvollsten; sie fühlten sich bloß mehr als Fremde von
Distinktion, da der polnische Regentschaftsrat unmittelbar daran war, die
Einverleibung aller polnischen Länder in den polnischen Staat zu
verkünden.6 Von den Tschechen huldigte Stanjek
begeistert den im Dienste der Entente fechtenden "Legionen"; diese hätten
ihr Blut für die Ideale der Menschheit vergossen und in Frankreich
wesentlich zum Schutze von Calais und Paris beigetragen. Den Tschechen sei es
nie eingefallen, freiwillig auch nur einen Blutstropfen für Österreich
zu opfern. Alsbald werde sich von Danzig bis zur Adria eine Föderation
freier Slawenreiche hinziehen. Der Geistliche Zahradnik, einer der radikalsten
Politiker, sprach die Hoffnung aus, zum letztenmal in einem
österreichischen Parlament zu sitzen. Sein slowenischer Amtsbruder
Koroschetz, nicht weniger radikal, verkündete im Hinblick auf die
ungarischen Bestrebungen, daß keine Künste der Welt imstande
seien, die Kroaten und Serben von den Slowenen zu trennen. Von der
Regierungsbank aus wurde kaum versucht, dieses Trommelfeuer von Anklagen,
Beschimpfungen und staatsfeindlichen Äußerungen abzuwehren. Das
radikale Verhalten der Slawen führte in den leitenden Kreisen vielmehr
dazu, von den Autonomieplänen entschlossen zu dem Gedanken einer
streng bundesstaatlichen Umgestaltung abzuschwenken.
[604] Nicht
unbeträchtlich mag dieser Entschluß durch das Verhalten der
Deutschösterreicher gefördert worden sein. Diese waren von dem
scheinbar plötzlichen Aufflammen der nationalen Revolution, deren
Anfänge wohl schon bis in den Winter 1917/18 zurückreichten,
überrascht worden. Sonst hätten sie nicht noch im Juli auf die
Verkündung des "deutschen Kurses" hingearbeitet und diese mit
Begeisterung begrüßt. Eine Ausnahme bildeten die
Sozialdemokraten, die mit ihren slawischen Parteigenossen nach wie vor rege
Beziehungen aufrecht erhalten hatten und deren Linke unter dem Einfluß
Bauers mit den gegen das Donaureich gerichteten nationalen Sonderbestrebungen
warm sympathisierte. Zieht man noch die soziale Gärung in Betracht, von
der die Bevölkerung in den deutschen Industriebezirken und in den
Städten überhaupt erfüllt war,7 so konnte es
nicht wundernehmen, daß jetzt unter den deutschösterreichischen
Parteien der Sozialdemokratie von selbst die Führung zufiel, die sie dann
auch im neuen Staate unangefochten behauptete. Am 3. Oktober beschloß
die sozialdemokratische Partei in einer Resolution, das Selbstbestimmungsrecht
der slawischen und romanischen Nationen Österreichs vorbehaltlos
anzuerkennen, aber auch für die Deutschösterreicher dasselbe Recht
in Anspruch zu nehmen. Die Beziehungen Deutschösterreichs zu den neuen
Staaten und zum deutschen Reich seien durch Verhandlungen von Volk zu Volk
zu regeln, der Eingriff durch die Staatsgewalt oder das Schwert eines fremden
Eroberers werde abgelehnt. Die deutschbürgerlichen Parteien, der deutsche
Nationalverband und die Christlichsozialen, machten sich die sozialdemokratische
Resolution zu eigen; die zweitgenannten, indem sie den
österreichisch-föderalistischen Gedanken stärker betonten und
an ihren religiösen und dynastischen Überzeugungen festzuhalten
versprachen. Daß sich im Gegensatz zu ihnen die Sozialdemokraten immer
weiter von der österreichischen Idee entfernten, bewiesen die
Ausführungen Otto Bauers in der Arbeiter-Zeitung, die mit der
Auflösung des alten Reiches als mit einer gegebenen Tatsache rechneten
und aus sozialrevolutionären Erwägungen heraus dem
Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland immer mehr das Wort
redeten.8
Der Gedanke, die unvermeidlich scheinende Föderalisierung nun selbst in
die Hand zu nehmen, ging - im einzelnen wird man wohl kaum jemals ganz
klar sehen - mehr vom Hofe aus als von der österreichischen
Regierung.9 [605] Ein
Völkerkabinett unter dem von den Slawen bisher wohlgelittenen Grafen
Silva Tarouca sollte zum Träger und Vollzieher der bundesstaatlichen
Umgestaltung werden, deren Einleitung einem bereits vom neuen Ministerium
gegengezeichneten Kaisermanifest zugedacht war. Der Herrscher beschied am 12.
Oktober auf Vorschlag seines Kabinettsdirektors Abgeordnete und Pairs aller
Nationen und Parteien an sein Badener Hoflager, um der Entwicklung
nachzuhelfen. Nach dem Ergebnis seiner persönlichen Rücksprache
mit den Volksvertretern konnte ihn das völlige Scheitern der Mission Silva
Tarouca nicht mehr wundernehmen. Das Völkerkabinett kam nicht
zustande, aber das geplante Manifest wurde dessenungeachtet von dem jeder
Tragfähigkeit entbehrenden, verhöhnten und geschmähten
Ministerium Hussarek veröffentlicht.
War schon das Fehlen jeglicher parlamentarischen Grundlage ein nicht zu
bessernder Mangel, so litt die kaiserliche Kundgebung auch an schweren inneren
Gebrechen. Das wichtigste Problem, dessen Lösung durch das Manifest
angebahnt werden sollte, war wieder das südslawische. Und wieder
unterlag es keinem Zweifel, daß das staatliche Reformwerk, das in Angriff
genommen werden sollte, zu mindestens in diesem Punkte auf Ungarn
übergreifen mußte, sollte es nicht von Anbeginn zum Scheitern
verurteilt sein. Aber der ungarische Ministerpräsident hatte nur ein
Kopfschütteln. Er gemahnte den Kaiser an den Krönungseid, drohte,
Österreich alle Ernährungsaushilfen zu entziehen, und forderte,
daß die geplante kaiserliche Kundgebung ausdrücklich die
Unverletzbarkeit der ungarischen Länder und damit eine Abtrennung
Kroatiens von Ungarn ablehne. Dem Monarchen gelang es nicht, den Widerstand
seines ungarischen Premiers zu überwinden, und das Manifest erblickte,
mochten jetzt auch Politiker von der Bedeutung Spitzmüllers seiner
Ausgabe überhaupt widerraten, in einer völlig unzulänglichen
Form, die mehr reizte, als gewann, am 17. Oktober 1918 das Licht der Welt. Die
drei wichtigsten Absätze lauteten:
"Ich bin entschlossen, dieses Werk
(den Neuaufbau des Vaterlandes) unter freier Mitwirkung Meiner Völker
im Geiste jener Grundsätze durchzuführen, die sich die
verbündeten Monarchen in ihrem Friedensangebote zu eigen gemacht
haben. Österreich soll, dem Willen seiner Völker gemäß,
zu einem Bundesstaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem
Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet. Der Vereinigung
der polnischen Gebiete mit dem unabhängigen polnischen Staate wird
hierdurch in keiner Weise vorgegriffen. Die Stadt Triest samt ihrem Gebiete
erhält, den Wünschen ihrer Bevölkerung entsprechend, eine
Sonderstellung."10
[606] Diesem die
Auflösung betonenden Teile des Manifestes folgte zunächst der
unglückliche Satz, daß die Neugestaltung Österreichs "die
Integrität der Länder der ungarischen heiligen Krone in keiner Weise
berühre". Dann wurden schüchterne Versuche gemacht, das
Fortbestehen einer beschränkten Gemeinsamkeit zu erwähnen und
den gesetzmäßigen Verlauf der Entwicklung vorzuzeichnen. Dieser
Passus stand mit seiner ängstlichen Zurückhaltung in auffallendem
Gegensatz zur Freigebigkeit, die der ersten Hälfte der Kundgebung eigen
war:
"Bis diese Umgestaltung auf
gesetzlichem Wege vollendet ist, bleiben die bestehenden Einrichtungen zur
Wahrung der allgemeinen Interessen unverändert aufrecht. Meine
Regierung ist beauftragt, zum Neuaufbau Österreichs ohne Verzug alle
Arbeiten vorzubereiten. An die Völker, auf deren Selbstbestimmung sich
das neue Reich gründen wird, ergeht Mein Ruf, an dem großen
Werke durch Nationalräte mitzuwirken,
die - gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder
Nation - die Interessen der Völker zueinander sowie im Verkehre mit
Meiner Regierung zur Geltung bringen sollen."
Mit dem Wunsche, daß das Friedenswerk das Glück seiner
Völker bedeuten möge, schloß das vielbekrittelte
Schriftstück, mit dem das alte Österreich seinen bevorstehenden Tod
der Welt in aller Form zur Kenntnis brachte. Das Echo, das es bei den
österreichischen Völkern fand, war so beschaffen, wie man es
befürchten mußte. Die Südslawen, Slowenen, Kroaten und
Serben entnahmen aus dem Manifest gleicherweise, daß sie angesichts der
Starrköpfigkeit der Magyaren vom Habsburgerreiche nichts mehr zu
erwarten hatten; auch die noch Loyalen unter ihnen, deren es nicht wenige gab,
waren wehrlos gegen die durch die Kaiserbotschaft gelieferten Argumente. Die
Nationalräte zu Laibach und Agram lehnten jedes Eingehen auf das
Manifest ab. Der Narodni vybor in Prag tat desgleichen und verwahrte sich gegen
die Absicht der Wiener Regierung, die neuen Staaten nach der nationalen
Siedlung abzugrenzen und damit die Unteilbarkeit der böhmischen
Länder anzutasten. Eine Erklärung ähnlichen Inhaltes gaben
die bürgerlichen Tschechen des Herrenhauses ab.
Besonders tiefgehende Wirkung hatten die allgemeine politische und
militärische Lage und die Vorgänge, die zum Manifest
führten, in Ungarn gezeitigt. Hatte sich Österreich nach der
grundsätzlichen Anerkennung der 14 Punkte resigniert entschlossen,
durch den Versuch einer bundesstaatlichen Umgestaltung ein dem
"Wilson-Frieden" gemäßes Kleid anzulegen, betrat Ungarn in
gewisser Beziehung die entgegengesetzte Bahn. Es dachte nicht daran, von
Kroatien zu lassen, und suchte nach Mitteln und Wegen, der Welt die seinem
Staatsrecht eigene Vorstellung von einem einheitlichen Nationalstaat, der nicht
bloß die Magyaren, sondern auch die sechs anderen im Karpathenrund
wohnenden Nationalitäten als einheitliche "politische Nation"
umfaßte, noch eindringlicher als bisher vor Augen zu führen. Diesem
Ziele sollte die volle Loslösung von Österreich dienen, die nunmehr
so ziemlich von allen Parteien [607] angestrebt wurde, die
Aufrichtung eines "Gesundheitskordons gegen die giftigen Miasmen", die aus
dem national zersetzten Schwesterstaate in das tausendjährige Reich der
Stephanskrone hinübergetragen werden konnten. Es lag ein gut Stück
später Kriegspsychose in der Vorstellung der Magyaren, daß ein von
aller Welt geschiedenes, von der mystischen Kraft der Stephanskrone
beschütztes Ungarn gegen alle Pläne, Ideen und Gewalten gefeit sein
werde, die bei Aufrechterhaltung der pragmatischen Bande mit den anderen
habsburgischen Ländern seine heilige Unversehrtheit bedroht hätten.
Freilich paarten sich - wie immer bei dieser stark politisierten
Nation - Gefühle und überirdische Begriffe mit robusten
realpolitischen Erwägungen. Ungarn sah das Haus der Kaisermächte
niederbrechen und war entschlossen, aus dem allgemeinen Zusammenbruch ohne
Rücksicht auf Österreich und Deutschland für sich zu retten,
was noch zu retten war. Wenn es die "pragmatischen Bande" mit Österreich
löste, dann bekam es eine eigene Armee, über die es frei
verfügen konnte und eine eigene außenpolitische Leitung, die ihm bei
den Friedensverhandlungen ein rücksichtsloses Vertreten der rein
ungarischen Interessen gestattete. Außerdem war der Ruf nach dem Ausbau
des ungarischen Nationalstaates jenes Schlagwort, mit dem die
revolutionären Geister des Landes jetzt heftiger denn je arbeiteten; ein
weiterer Grund auch für gemäßigte Politiker, in den
Sehnsuchtsschrei der Allgemeinheit einzustimmen.
Die Parteien des Budapester Parlaments waren in der ersten
Oktober-Hälfte wieder einmal bemüht, eine tragfähige
Regierungsmehrheit zu schaffen. Daß das Kabinett Wekerle in seiner
augenblicklichen Verfassung nicht geeignet war, das Staatsschiff aus dem
großen Ungewitter heil herauszuführen, darüber konnte kein
Zweifel bestehen. Auch hatte die Persönlichkeit des ewig lavierenden
Premiers fast jeden Anhang verloren. All die großen Fragen, die in der Luft
lagen, spielten bei den Verhandlungen der Politiker ihre Rolle: Lösung der
pragmatischen Bande mit Österreich, Bruch mit Deutschland, Sonderfriede,
Verteidigung des Landes gegen die Bedrohung im Südosten,
Bekämpfung der Revolution, deren Geister sich immer unverhüllter
ans Tageslicht wagten, das Wahlrechtsproblem, das durch die kürzlich
verlautbarte Wahlreform keineswegs als gelöst betrachtet werden konnte,
und anderes mehr. Der König griff persönlich ein, zwischen dem 1.
und 10. Oktober wurden ununterbrochen Politiker empfangen. Die
verschiedensten Kandidaten für die Ministerpräsidentschaft traten
aufs Tapet: Wlassics, Szterenyi, Popovics, Windischgrätz, Navay,
Andrassy. Auch Karolyi tauchte bereits im Hintergrund auf und war der eifrigste
Fürsprecher seiner eigenen Kandidatur; nur er sei dank seinen guten
Beziehungen zur Entente und seiner Volkstümlichkeit bei den breiten
Massen in der Lage, das Land vor dem völligen Schiffbruch zu bewahren.
Aber noch immer war Tisza der Mann der starken Hand, der von seinen
Grundsätzen auf innerpolitischem Gebiet, in seinem Verhalten zur
Wahlrechtsfrage und zum südslawischen Problem [608] kaum einen Schritt
zurückwich. Hinter ihm stand die parlamentarische Mehrheit, ohne ihn gab
es keine Zusammenfassung starker Kräfte. So geschah es denn, daß
am 16. Oktober Alexander Wekerle neuerlich mit breit lächelndem Gesicht
als Ministerpräsident vor das wieder eröffnete ungarische
Abgeordnetenhaus hintrat. Er brachte der Nation ein königliches Geschenk
mit, von dem er sich eine erhebliche Stärkung seiner Position erhoffte: die
grundsätzliche Zustimmung des Königs zur reinen Personalunion,
zur vollen Unabhängigkeit Ungarns. Seine Botschaft stürzte das vom
Fieber geschüttelte Land in einen Taumel irrsinnigster Freude. Der Jubel,
der ihn im Parlament umbrauste, hatte nicht so bald seinesgleichen gehabt.
Freilich folgte schriller Mißklang auf dem Fuße nach. Karolyi erhob
sich, forderte unter dem tosenden Beifall der Linken und der Galerie die
Rückberufung der Armee von der italienischen Front und die Trennung von
Deutschland. Einer seiner Freunde schrie: "Wir sind von der Partei der Entente!"
Der größte Teil des Hauses stieß Rufe der Entrüstung
aus, Tisza fand warme Worte für den Bundesgenossen. Als er bald darauf
das Haus verließ, feuerte jemand einen Schuß gegen ihn ab. Tisza
sagte in der Polizeistube zum Attentäter: "Sehen Sie, junger Mann, warum
haben Sie das getan? Jetzt haben Sie sich Unannehmlichkeiten zugezogen." Wie
immer hatte Tisza seine volle Ruhe bewahrt.
Als er aber am nächsten Tage wieder zum Hause sprach, da traute kein
Zuhörer seinen Ohren. Ohne Zeichen einer Erregung, fast eintönig,
kamen Worte von seinen Lippen, die das Blut in den Adern erstarren ließen:
"Wir haben den Krieg verloren!" Und dann warf dieser starke Mann, der Furcht
und Verzagen nie gekannt hatte und stets die Kraft selber war, mit einem einzigen
Ruck seine ganze Vergangenheit von sich. Er gab in der Wahlrechtsfrage nach,
obwohl er das allgemeine Wahlrecht zeit seines Lebens für das
Unglück der Nation gehalten hatte, er verwarf die staatsrechtlichen
Verträge mit Österreich, deren unentwegter Verfechter er aus seinem
magyarischen Selbsterhaltungstrieb heraus durch Jahrzehnte gewesen war; er
verabschiedete - wenn auch mit Anstand - das deutsche
Bündnis, das während seiner Ministerpräsidentschaft zu den
Grundlagen seiner Politik gehört und als dessen treueste Stütze man
ihn mit Recht betrachtet hatte. Es war ein furchtbares politisches Harikiri, das
Tisza in dieser trüben Stunde verübte, so überraschend wie
jener erste plötzliche Stimmungsumschwung, der den eisernen Mann im
Juli 1914 aus noch ungeklärten Ursachen über Nacht seine scharfe
Kriegsgegnerschaft hatte aufgeben lassen.11
[609] Die Worte Tiszas
über den Verlust des Krieges wirkten wie eine Bombe. Ungarn erfuhr,
daß auch sein stärkster Sohn das Spiel verloren gab; es hörte
aus seinem Munde die bezwingendsten jener Schlagworte, mit denen die
Revolution arbeitete, und glaubte sie nun noch mehr. Tisza hatte für
Karolyi gearbeitet! Auch an die Front, zu den Kämpfern aller Nationen,
fand der furchtbare Ausspruch blitzschnell seinen Weg. Seine Wirkung wird bei
der Schilderung des letzten Waffenganges zu erörtern sein. Dort soll auch
das Kaisermanifest nach seinen militärischen Folgen gewürdigt
werden.
Inwieweit es im Oktober 1918 noch möglich gewesen wäre, den
Bestand der Monarchie mit den Mitteln der Gewalt zu behaupten, das zu
untersuchen, ist nicht Aufgabe einer geschichtlichen Darstellung. Das Manifest
stellte einen Versuch dar, auf friedlichem Wege zu retten, was noch zu retten war.
Der Versuch mißlang. Aber gerade die gleichzeitige, dem Geist des
Manifestes entgegengerichtete Entwicklung in Ungarn erweist, daß jene
Kritiker, die im Kaisermanifest geradezu den entscheidenden Anstoß zum
Zerfall der Monarchie erblicken, allzu weit gehen. Auch hier wird die Wirkung
mit der Ursache verwechselt. Das Manifest hat die Entwicklung, in deren Linie es
lag, gewiß nicht aufgehalten, eher beschleunigt. Aber die eigentliche
Entscheidung über das Geschick der Monarchie, wenn es überhaupt
noch aufzuhalten war, fiel den Siegermächten zu. Waren sie für die
Erhaltung der Habsburgermonarchie, dann hätten die Gedanken, die dem
Manifest zugrunde lagen, vielleicht noch fruchtbar werden können.
Ließen sie hingegen das Donaureich fallen, dann hatte die kaiserliche
Botschaft die Preisgabe im vorhinein besiegelt.
Mit nicht geringer Spannung sah man in Wien der Antwort aus Washington
entgegen, die einem Urteilsspruch über Leben oder Tod Österreichs
gleichkommen mußte.
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