Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 20: Die Zeit der Friedensschlüsse im
Osten (Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau
2. Die Verhandlungen in
Brest-Litowsk.
Am 20. Dezember traf Graf Czernin mit einem Stabe von Mitarbeitern in
Brest-Litowsk ein.3 Von größter Ungeduld
erfüllt, hatte er noch am Abend Gelegenheit zu einer Unterredung mit Joffe,
dem Führer der russischen Abordnung, gefunden, der über die
revolutionären Ziele der bolschewistischen Bewegung ohne irgendwelche
Zurückhaltung sprach. "Herr Joffe," schreibt Czernin, "blickte mich
erstaunt mit seinen sanften Augen an... und sagte dann in einem mir
unvergeßlichen freundlichen, fast möchte ich sagen, bittenden Tone:
Ich hoffe doch, daß es uns gelingen wird, auch bei ihnen die Revolution zu
entfesseln."
Die anderen Vierbundsdelegationen trafen im Laufe des folgenden Tages ein.
Czernin ließ Kühlmann schon bei der ersten vertraulichen
Besprechung darüber nicht im Zweifel, daß er unbedingt einen
Frieden nach Hause bringen müsse - gegebenenfalls auch ohne
Deutschland.
Die ersten Sitzungen des Kongresses führten zu einer scheinbaren
Übereinstimmung zwischen den verhandelnden Gegnern. Die Russen
stellten ihre bekannten Forderungen auf. Soweit die österreichische Politik,
die allein den Gegenstand vorliegender Darstellung bilden soll, in Frage kam, war
es nur nötig, Eingriffe ins innere Staatsleben, die die Russen auf Grund des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker versuchen mochten, sofort
abzuwehren. Die Formulierung fand sich. Ähnliches gelang den deutschen
Diplomaten zur Wah- [461] rung ihrer Absichten.
Daß schließlich die Verbündeten erklärten, sich
zunächst nur dann auf den Frieden ohne, wie es jetzt hieß,
"gewaltsame Erwerbungen" und Entschädigungen festlegen zu
können, wenn es zu einem allgemeinen Frieden
komme - war den Russen nur allzu recht; denn sie hatten keine Eile. Je
mehr Zeit mit dem Befragen der Westgegner verging, um so angenehmer
für sie. Sie stimmten daher ohne Vorbehalt bei.
Die Oberste Heeresleitung war über den Auftakt der Verhandlungen
bestürzt. Sie hatte bei Kühlmann auf möglichst rasche
Klärung der Ostlage hingedrängt, um für den Westen freie
Hand zu bekommen. Ihren Wünschen gemäß nahm daher
General Hoffmann knapp nach den Weihnachtsfeiertagen die Russen ins Gebet,
um ihnen in soldatischer Ehrlichkeit die Augen über die wirklichen
Wünsche Deutschlands zu öffnen. Die Erschütterung der
Russen war groß oder doch gut gespielt. Da zunächst einmal die
Erklärung der Entente abgewartet werden sollte, wurden die Verhandlungen
über Neujahr hinaus vertagt.
Graf Czernin weilte während dieser Pause in Wien. Er bekam dort von
Männern aller Schattierungen das Wort zu hören: "Sie müssen
einen Frieden mitbringen." Niemand aber zeigte dem Minister, wie er in seinen
Erinnerungen bemerkt, den Weg dazu. Schwere Sorge bereitete ihm der Konflikt,
der zur gleichen Zeit zwischen Reichsleitung und Oberster Heeresleitung wegen
der ersten Brester Verhandlungen ausgebrochen war. Czernin hatte das
Gefühl, daß Kühlmann in seinen Auffassungen unbedingt zu
ihm hinneige. Wenn nun die Oberste Heeresleitung siegte, so war anzunehmen,
daß bei der Fortsetzung des Friedenskongresses an Kühlmanns Stelle
ein Kreuznach wesentlich ergebenerer Mann auftauchen werde. Es kam jedoch
anders, da der deutsche Kaiser sich an die Seite der Reichsleitung stellte. Ende der
ersten Januarwoche konnten Czernin und Kühlmann im Hauptquartier des
Oberbefehlshaber Ost ihr Werk fortsetzen.
Die Entente war natürlich nicht gekommen. Der Kriegsrat von Versailles
verkündete, daß er im Gegensatz zum Vierbund in den russischen
Vorschlägen keine Grundlage für erfolgversprechende
Verhandlungen erblicken könne. Damit wären eigentlich alle
Festlegungen während der Weihnachtstage für die
Kaisermächte gegenstandslos geworden und diese hätten auch
ihrerseits neue Grundsätze aufstellen können. Aber sie
waren - gegenüber den Mehrheitsparteien ihrer
Heimat - bereits Gefangene der russischen Schlagworte geworden und der
überaus schlaue Volkskommissar für Äußeres, Leo
Trotzky, der nunmehr persönlich die russische Abordnung führte,
war in allen Künsten der Demagogie viel zu sehr bewandert, um seine
Verhandlungsgegner auch nur für einige Augenblicke freizulassen. So bot
sich denn sehr bald das Bild, daß die Herren aus Petersburg wie die Sieger
auftraten, indessen sich die Staatsmänner des Vierbundes nur unter den
äußersten Schwierigkeiten zwischen den formellen
Verhandlungsgrundlagen und den tatsächlich bestehenden Absichten
hindurch- [462] wanden. Selbst
dem - übrigens symbolisch zu
nehmenden - Faustschlag des Generals Hoffmann gelang es nur
vorübergehend, den Russen ihre wirkliche Lage ins Gedächtnis
zurückzurufen.
Graf Czernin hatte, wie man zugestehen muß, einen überaus
schweren Stand. Er war ein Feldherr, der mit unzulänglichen Truppen eine
Entscheidungsschlacht schlagen mußte. Der Druck, den die innerpolitischen
Verhältnisse auf ihn ausübten, wurde von Stunde zu Stunde
unerträglicher. Wenn er gehofft hatte, Eingriffe von außen durch eine
Formulierung zu bannen, die innerhalb der Donaumonarchie das
"Selbstbestimmungsrecht der Völker" auf die streng
verfassungsmäßigen Wege verwies, so hatte er mit dem Widerhall
nicht gerechnet, den eine solche Auslegung der Dinge bei den
österreichischen und ungarischen Nationalitäten selbst erfahren
sollte. Die angebliche Bedrohung durch den "Pangermanismus" hatte Tschechen
und Südslawen in den letzten Monaten auf einer Linie
zusammengeführt, die schon dem Habsburgerreich abgekehrt war. Mitte
Oktober war der Abgeordnete Dr. Krek, eine der Stützen der
dynastietreuen südslawischen Politik, zu Grabe getragen worden. Einen
Monat später trat der patriotische Slowene Schusterschitz aus dem
südslawischen Klub aus. Am 1. Dezember machten die Präsidenten
des tschechischen Verbandes, des südslawischen Klubs und der
ukrainischen Parlamentarier die Regierung in einer scharf verfaßten
Mitteilung aufmerksam, daß unter den russischen Friedensbedingungen
ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker verlangt werde,
die Regierung aber ungerechterweise über diesen Punkt zur Tagesordnung
übergehe. Vierzehn Tage darauf, am 19. Dezember, verkündeten die
tschechischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten, daß sie sich
über die Grundlagen des künftigen tschechoslowakischen Staates
geeinigt hätten, der nur ein streng demokratischer, auf Freiheit und
Gleichheit Aller beruhender Staat sein könne. Wieder vierzehn Tage
später, am 6. Januar 1918, lüfteten die Tschechen in der
Dreikönigsdeklaration den Schleier über dem Bilde ihrer
Zukunftsträume völlig. Sie lehnten die Auslegung, die Czernin zu
Brest-Litowsk dem Selbstbestimmungsrecht der in der Monarchie lebenden
Völker gegeben hatte, rundweg ab und erklärten, ohne des Reiches
oder der Dynastie auch nur mit einem Worte zu gedenken, daß das
tschechische Volk seine Freiheit nicht durch die alle nichtdeutschen Nationen
unterdrückende österreichische Verfassung, sondern nur auf
internationalem Wege beim allgemeinen Friedenskongreß werde finden
können. Ministerpräsident v. Seidler untersagte die
Verbreitung dieser Kundgebung, aber sie war damit nicht aus der Welt zu
schaffen und zeugte, in einer Stunde abgefaßt, in der sich das
Kriegsglück wie kaum ein zweites Mal im Weltkrieg den
Mittelmächten zuzuneigen schien, für die wahrhaft hussitische
Resistenz, die der Staat jedenfalls vom höchst kultivierten Slawenstamm zu
erwarten hatte.
Diese politischen Schwierigkeiten, die auch auf einen weniger feinnervigen Mann
als Czernin wie Bleigewichte gewirkt hätten, blieben nicht vereinzelt.
[463] Um Mitte Januar
standen Wien und die österreichischen Industriegebiete vor einer
Hungersnot. Brot war nur mehr für ein paar Tage vorhanden. Die
Wochenration mußte auf 1100 g herabgesetzt werden. In Wien
brach - über die Köpfe der gemäßigten
sozialistischen Parteiführer hinweg - ein großer Streik aus, der
bald auf zahlreiche Werkstätten außerhalb der Hauptstadt
übergriff. Es war ein Hungerausstand; aber die Luft war schon so stark von
politischen Ideen durchschwängert, daß die Streikbewegung von
ihnen beeinflußt werden mußte. Die Arbeiterschaft kämpfte
nicht bloß um Brot, sondern auch gegen den Druck, den die Militarisierung
der Betriebe erzeugt hatte, und für den russischen Frieden der
Versöhnung und Freiheit! Der Kaiser wohnte in seinem Laxenburger
Schloß fast schutzlos inmitten des streikenden Industriegebiets. Er zog sich
mit seiner Familie in die bürgerliche Enge des Badener Kaiserhauses, unter
den Schutz des Armee-Oberkommandos, zurück. Einige
deutsch-österreichische und ungarische Divisionen wurden von der Front
herbeigeholt und einer der tatkräftigsten Generale, der Fürst Alois
Schönburg-Hartenstein, zum Oberbefehlshaber der Heimattruppen ernannt.
Vorübergehend erwog man sogar, ihm eine Art von Diktatur zu
übertragen.
Die Regierung kam den Streikenden möglichst entgegen, der Ausstand
flaute schon um den 20. Januar fast vollständig ab. Aber er blieb ein
Feuerzeichen, das bald darauf in Budapest und in Berlin einen Widerschein fand,
und Anfang Februar auch noch in einer großen, durch die Tatkraft des
Admirals Nikolaus von Horthy in wenigen Stunden niedergeschlagenen
Matrosenmeuterei im Hafen von Cattaro. Die Fäden, die von diesen
Bewegungen nach Rußland führten, sind noch nicht aufgedeckt, aber
sie bestanden, was schon der treffliche Nachrichtendienst bewies, über den
die in ihrem Brester Ziegelbau scheinbar ganz weltfernen russischen
Friedensunterhändler verfügten und der zeitweilig viel rascher
arbeitete, als der amtliche der Diplomaten.
All diese Vorfälle, deren Bedeutung infolge zahlreicher Alarmrufe in
Brest-Litowsk eher über- als unterschätzt wurde, bestärkten
den Grafen Czernin noch in der Überzeugung, daß er einen Frieden
nach Hause bringen müsse. Die hochgradige Nervenspannung, in der er
sich befand, warf ihn für einige Tage aufs Krankenlager. Dabei gestaltete
sich, soweit die Bolschewiki in Betracht kamen, die Entwicklung von Stunde zu
Stunde ungünstiger. Die Oberste Heeresleitung drängte zu einem
Abschluß. Sie vertrat mit wachsender Ungeduld die Auffassung, daß
man mit den neuen Machthabers in Rußland überhaupt nicht
paktieren könne und - angesichts ihrer revolutionären
Ideen - auch nicht dürfe. Im Stabe des Oberbefehlshabers Ost wurde
ganz offen davon gesprochen, daß es nur eine Lösung gäbe:
das Regime der Bolschewiken mit den Waffen zu stürzen. Auch
Kühlmann, der eigentliche Träger der langwierigen, unfruchtbaren
Debatten mit den Russen, wurde zusehends verdrossener. Schließlich
spitzte sich jegliche Meinungsverschiedenheit auf die Frage zu, wann und wie
[464] die russischen
Randvölker zwischen der Ostsee und der galizischen Grenze ihr
Selbstbestimmungsrecht ausüben sollten. Czernin zermarterte sich den
Kopf, die richtige Formel zu finden. Was die Polen anbelangt, so machten sie ihm
geringere Sorgen, namentlich, ehe die Cholmer Frage aufgeworfen wurde.
Für die österreichische Polenpolitik schienen ihm die Forderungen
der Obersten Heeresleitung bedenklicher als jede wie immer geartete
Abstimmung. Aber der Kern des Problems lag doch in der Zugehörigkeit
Litauens und Kurlands, in welchem Gegenstand es eben zwischen Deutschland
und Rußland keinen einverständlichen Ausgleich gab.
Czernin grollte mehr denn je den "Generalen" in Kreuznach, deren
Unnachgiebigkeit er die alleinige Schuld daran zuschrieb, daß man sich den
Russen gegenüber in der Sackgasse befand. Sein Groll war um so
größer, als er mit dem Gefühle völliger Ohnmacht gegen
das Schicksal gepaart war. Während der Minister heute mit der
Kündigung des Bündnisses drohte, mußte er schon
morgen - wie es tatsächlich geschah - bei den deutschen
Staatsmännern einen Bittgang um ein paar Waggons Getreide antreten;
womit natürlich die Geste vom Vortag völlig an Wirkung verlor.
Ein Ventil in dieser täglich unerträglicher werdenden Spannung bot
schließlich die Entwicklung in der russischen Ukraine. Während zu
Weihnachten die ukrainische Abordnung in Brest-Litowsk noch als Bestandteil
der russischen aufgetreten war, hatte sie sich schon Anfang Januar als die einzig
bevollmächtigte Vertretung einer von Petersburg völlig
unabhängigen ukrainischen Volksrepublik erklärt. Die Bedeutung
dieses neuen Staates war, wenn er sich hielt, für
Österreich-Ungarn ungleich größer als die des eigentlichen
Sowjetrußland, das gar nicht an die Donaumonarchie angrenzte. Für
die künftigen Beziehungen zur Ukraine mußte deren Fruchtbarkeit
besonders ins Gewicht fallen; die Ukraine wurde nicht mit Unrecht als die
Kornkammer des alten Zarenreiches betrachtet.
Es war vor allem General Hoffmann, der Czernins Aufmerksamkeit mit
Beharrlichkeit nach dieser Richtung ablenkte. Wenn der Minister schon einen
Frieden nach Hause bringen müsse, dann möge es ein solcher mit der
Ukraine sein. Czernin griff wie ein Ertrinkender nach jedem Strohhalm, der sich
ihm bot und daher auch nach diesem. Er trat mit den Ukrainern sofort in
Verhandlungen ein. Diese sahen zwar wie Primaner oder junge Handlungsgehilfen
aus, waren aber findig genug, um aus der Lage nach Möglichkeit Vorteile
herauszuschlagen. Sie forderten als Friedenspreis anfangs nicht bloß den
zwischen ihrem Volke und den Polen seit Jahrhunderten heiß umstrittenen
Cholmer Kreis, sondern auch den von Stammesgenossen bewohnten Teil der
österreichischen Provinz Galizien. Als sie gewahr wurden, mit dieser
zweiten Forderung allzuweit gegangen zu sein, ließen sie von ihr ab,
verlangten aber von Czernin, daß Österreich sich
vertragsmäßig verpflichte, Ostgalizien in ein dem polnischen
Einfluß entzogenes, autonomes Kronland zu verwandeln. Nun
gehörte eine solche Maßnahme zwar [465] seit alters her zu den
Programmpunkten zahlreicher österreichischer Regierungen, aber es war
doch bitter genug, sie unter dem Druck einer fremden Macht und noch dazu einer
so wenig gefestigten, wie es die Ukraine war, durchführen zu
müssen.
Graf Czernin benützte eine abermalige Verhandlungspause, um die Frage
am 22. Januar in Wien einem Kronrate vorzutragen und besonders auf die
Gefahren hinzuweisen, die grundsätzlich aus einem solchen Eingriff des
Auslandes in die inneren Verhältnisse des Reiches erwachsen
mußten. Aber der Meistbeteiligte des hohen Rates, der
österreichische Ministerpräsident Dr. v. Seidler, schlug
diese Bedenken gering an gegenüber der Nötigung, unbedingt zu
irgendeinem Frieden zu gelangen.
Nach Brest zurückgekehrt, wurde Czernin mit den Ukrainern bald
handelseinig. Die entscheidenden Besprechung fand zu mitternächtiger
Stunde statt. Von Vierbundvertretern nahm außer dem Minister nur noch
General Hoffmann mit einem Dolmetsch teil. Czernin willigte in die ukrainischen
Bedingungen unter der Voraussetzung ein, daß die Ukrainer versprachen,
bis Ende Juli 1918 an Österreich-Ungarn mindestens eine Million Tonnen
Getreide zu liefern. Die Gegenpartei erklärte sich hierzu bereit.
Einige Tage später, am 5. Februar, traten, gemäß einem
Wunsche Czernins, die maßgebenden Männer Deutschlands im
Berliner Reichskanzlerpalais mit den Vertretern Österreichs, denen sich
von Wien her der Generalmajor Freiherr v. Waldstätten
angeschlossen hatte, zu grundsätzlichen Beratungen über die
Kriegsziele zusammen. Als die polnische Frage abgehandelt wurde, kam es
zwischen Ludendorff und dem österreichischen Botschafter Hohenlohe zu
einem Zusammenstoß, dessen Heftigkeit für die Stimmung um so
bezeichnender war, als Hohenlohe zu den treuesten und überzeugtesten
Anhängern des Bündnisses gehörte. Geradezu dramatisch
wurde - namentlich für Uneingeweihte - der Gang der
Verhandlungen, als Czernin ziemlich unvermittelt die Frage aufwarf, wie lange
denn überhaupt die Monarchie noch verpflichtet sei, an Deutschlands Seite
auszuharren - nach seiner Ansicht habe
Österreich-Ungarn bloß für den vom Reiche vor dem Kriege
innegehabten Landbesitz einzutreten, darüber hinaus sei es aller
Bündnispflichten ledig. Helfferich u. a. wendeten dagegen ein,
daß unter dem Vorkriegsbesitz nicht bloß der territoriale zu verstehen
sei, sondern auch die wirtschaftliche Geltung des Reiches. Ludendorff meldete
überdies die Forderung nach jenen Grenzstreifen an, deren Erwerbung er
zum Schutz der wirtschaftlichen Kraftquellen des Reiches im Osten (Becken von
Dombrowa) und im Westen (Briey - Longwy) für notwendig
hielt und die seiner Ansicht nach nicht unter den Begriff der "Annexionen" zu
fallen hatten.
Als Czernin den Friedensschluß mit Rußland als dringend
bezeichnete, gab ihm Kühlmann, ohne freilich besonders warm zu werden,
im allgemeinen recht; ein wenn auch nur förmlicher Friedensschluß
mit Trotzky sei wegen der [466] Stimmung in der
Heimat wünschenswert. Ludendorff hingegen trat mit aller Lebhaftigkeit
für den ehesten Abbruch der Verhandlungen ein.
Blieb diese Frage gleich allen früher angeführten schließlich
offen, so kam man wenigstens in der ukrainischen zu einer
Übereinstimmung. Es wurde beschlossen, mit den Vertretern der Ukraine
so bald als möglich zu einem Abkommen zu gelangen, mochten immerhin
inzwischen schon sehr berechtigte Zweifel darüber bestehen, ob die in
Brest-Litowsk verhandelnde Kiewer Zentralrada überhaupt noch in Amt
und Würden sei. In der Tat war das nicht mehr der Fall. Als in der Nacht
auf den 9. Februar im Theatersaal der Brester Zitadelle der ukrainische
Friedensvertrag zwischen den Vierbundsmächten und den Ukrainern
unterzeichnet wurde, da durfte Trotzki mit Recht höhnen, daß der
Machtbereich des einen Partners, eben des ukrainischen, nicht über die
Zimmer hinausreiche, die er augenblicklich, dank der Gastlichkeit des
Oberbefehlshabers Ost, bewohne. Die einzig verhandlungsberechtigten Ukrainer
säßen, kürzlich in Brest eingetroffen, in voller Eintracht
inmitten der russischen Delegation.
Während Czernin noch mit den Sendboten der Rada verhandelte, hatten
sich die Bolschewiken eines großen Teils der Ukraine und ihrer Hauptstadt
Kiew bemächtigt; die Rada befand sich auf der Flucht nach dem Westen
des Landes, jede Verbindung zwischen ihr und der Brester Abordnung war
gerissen. Hätte der österreichische Außenminister mit dem
Abschluß des Friedens noch 48 Stunden gewartet, dann wäre
es ihm wohl möglich geworden, das Stück Papier wesentlich billiger
zu erhalten; jedenfalls ohne die dubiose Geheimklausel über Ostgalizien,
vielleicht sogar ohne Abtretung des Cholmer Landes.
General Hoffmann und die deutschen Unterhändler waren sich der
innerpolitischen Tragweite, die der Friedensschluß mit der Ukraine
für das Habsburgerreich hatte, sicher nicht voll bewußt. Sonst
hätten sie auf Czernin kaum einen so gewaltigen Druck
ausgeübt.
Unterdessen gingen auch die Verhandlungen mit Trotzky ihrem Abbruche
entgegen. Vergebens hatten sich Czernin und sein Gehilfe Gratz bemüht,
durch eine persönliche Aussprache mit dem Volkskommissar für
Äußeres einen Ausgleich herbeizuführen. In der bewegten
Sitzung vom 10. Februar verkündete Trotzky mit bebender Stimme,
daß Rußland zwar keinen gegen die heiligen Grundsätze der
Revolution verstoßenden Friedensvertrag unterschreibe, daß aber
dessen ungeachtet für das russische Volk der Krieg aus ist und die
russischen Soldaten in ihre Werkstätten und auf ihre Felder
zurückkehren werden. Diese in der Weltgeschichte nicht ihresgleichen
findende Art, einen Krieg zu beenden, versetzte die Vertreter der
Mittelmächte fürs erste in eine gewisse Ratlosigkeit. In einer
unmittelbar nach Trotzkys Abgang gehaltenen Beratung sprachen sich die
österreichischen Vertreter nachdrücklich gegen eine
Wiederaufnahme der Feindseligkeiten aus. Die Delegierten der drei anderen
Mächte schlossen sich den Österreichern an, mit der einzigen
Ausnahme des Generals Hoffmann, der ein Fort- [467] bestehen des durch
Trotzky geschaffenen Zustandes angesichts der im Westen nötig werdenden
Kraftanstrengungen für unmöglich erklärte.
Staatssekretär v. Kühlmann stellte am Ende der Debatte fest,
daß es - soweit das deutsche Heer in Betracht
komme - Sache des deutschen Kaisers sei, für oder gegen den
Vormarsch zu entscheiden.
Graf Czernin wurde in der Kaiserstadt an der Donau mit großem Jubel
empfangen. Der Bürgermeister Weißkirchner prägte in der
Begrüßungsrede auf dem Nordbahnhofe das Wort vom "Brotfrieden",
das im Volksmunde für die Zukunft - etwas mit Unrecht mehr zum
Spott denn als Anerkennung - üblich blieb. Der Kaiser wollte
Czernin mit der Fürstenwürde belohnen; dieser erbat sich jedoch die
Ernennung zum Generalmajor außer Dienst, ein Wunsch, der von der
sonstigen antimilitaristischen Pose, die der Minister offenkundig aus politischen
Gründen zur Schau trug, einigermaßen abstach.4 Diese kleinen Freuden wurden schon
von der ersten Stunde an durch große Sorgen in den Hintergrund
gedrängt. Die Wirkung des ukrainischen Friedens auf die Polen diesseits
und jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle war nachhaltiger, als man sich
je gedacht hatte, obgleich vorläufig nur die Verpflichtungen wegen des
Cholmer Landes, nicht aber die wegen Ostgalizien in der Öffentlichkeit
bekannt geworden waren. Schon auf seiner Rückfahrt durch die polnischen
Städte des Militärgouvernement Lublin und Galiziens mußte
der Zug Czernins mit herabgelassenen Vorhängen fahren. Drei Tage nach
dem Friedensschluß mit der Ukraine legte das Warschauer Ministerium
Kucharzewski seine Portefeuilles nieder. Selbst der Generalgouverneur von
Lublin, der k. u. k. General Graf Szepticki, folgte diesem Beispiel.
Es regnete Verwahrungen und Verwünschungen. Kaum war Czernin in
Wien, kam die Nachricht, daß in Ostgalizien die polnische Legion den
Versuch gemacht habe, unter der Führung von k. u. k.
Offizieren aus den Reihen der österreichischen Armee zu den Russen zu
desertieren. Einigen Kompagnien gelang der Plan, die Hauptkraft mußte
gefechtsmäßig eingeschlossen und entwaffnet werden. Die
Rädelsführer wurden in die Gefängnisse von Munkacs
gesteckt und des Hochverrats angeklagt.
Die österreichischen Polen waren Czernin schon bei Beginn der
Friedensverhandlungen gram, weil es ihm nicht gelang, die Teilnahme polnischer
Vertreter durchzudrücken. Am 21. Januar hatte der Polenklub erklärt,
daß der Brester Friede die Polenfrage nicht löse, sondern
verschärfe. Als dann das Ergebnis der Czerninschen Verhandlungen
bekannt wurde, warf der Klub in seiner Vollversammlung vom 16. Februar den
beiden Kaisermächten vor, daß sie den Frieden mit der Ukraine auf
Kosten des polnischen Landes und polnischen Volkes geschlossen hätten,
und kündete der Regierung schärfste Opposition an. [468] Gleiches tat der
Geheime Rat und gemeinsame Finanzminister a. D.
R. v. Bilinski im Herrenhause. Er teilte u. a. mit, daß
knapp vor dem Friedensschluß eine Abordnung polnischer Notabeln im
Begriffe gewesen sei, dem österreichischen Kaiser die Krone Polens
anzutragen; nun sei Polen für Österreich endgültig
verloren.
Während sich dies in Wien begab, flammte an der Ostfront der Krieg erneut
auf. Der deutsche Kaiser hatte in der Frage, wie man sich gegen
Sowjetrußland zu verhalten hätte, gegen Kühlmann,
d. h. für Ludendorff entschieden. Deutschland stellte sich auf die
förmliche Grundlage des Waffenstillstandsvertrags, der
sinngemäß am 18. Februar 12 Uhr mittags ablief. Die
Hoffnung Trotzkys, daß das deutsche Proletariat eine Wiederaufnahme der
Feindseligkeiten nicht zulassen werde, blieb unerfüllt. Am 19. Februar
begann mit der Einnahme von Dünaburg jener, in der Kriegsgeschichte
nicht seinesgleichen aufweisende Eisenbahnfeldzug des deutschen Ostheeres,
durch den es in wenigen Tagen das ganze Baltikum besetzte. Schon
48 Stunden nach Beginn des deutschen Vormarsches erklärte sich
die Sowjetregierung in einem Funkspruch bereit, die in
Brest-Litowst von den Deutschen gestellten Bedingungen anzunehmen. Ende
Februar trafen sich die Friedensbevollmächtigten der
Vierbundmächte und Rußlands abermals zu
Brest-Litowsk. Trotzky war diesmal nicht mehr gekommen, sondern hatte die
Leitung der Abordnung an Sokolnikow übertragen. Auch die leitenden
Staatsmänner der Kaisermächte blieben wegen der eben beginnenden
Verhandlungen mit Rumänien fern. An der Spitze der deutschen
Abgesandten stand Gesandter v. Rosenberg, an jener der
österreichisch-ungarischen Botschafter v. Merey. Die Russen
erklärten, sich für den Inhalt des ihnen vorgelegten Vertrages gar
nicht zu interessieren, sondern unterschrieben mit einer allgemeinen Verwahrung
gegen das ihnen aufgezwungene Friedensdiktat.
Die österreichisch-ungarischen Truppen hatten am deutschen Vormarsch in
der zweiten Februarhälfte nicht teilgenommen. Soweit
Großrußland in Frage kam, ließ sich dies der
Öffentlichkeit gegenüber damit erklären, daß an der
großrussischen Front, nördlich des Pripjatj, schon seit
längerem keine nennenswerten k. u. k. Streitkräfte
gestanden hatten. Wesentlich peinlicher lagen die Dinge angesichts der Tatsache,
daß die Deutschen in der gleichen Stunde, in der sie Dünaburg
besetzten, bei Luck in die Ukraine einrückten. Es war so gekommen, wie
schon während der Friedensverhandlungen mit den Vertretern der Kiewer
Rada befürchtet wurde: Die Bolschewiki hatten, während zu
Brest-Litowsk der Vertreter Österreich-Ungarns, dem Begehren dieser Rada
zuliebe, die ganze bisherige Ostpolitik des Reiches ans den Angeln hob, im
größten Teile der Ukraine die Herrschaft an sich gerissen und das
Land in eine grenzenlose Anarchie gestürzt. Die alte Regierung
flüchtete sich mit einer Handvoll Truppen in die Gegend westlich von Kiew
und rief von dort die Kaisermächte gegen Sowjetterror zu Hilfe.
Deutschland zauderte nicht; es ließ den Generalobersten [469] v. Linsingen
marschieren. Dieser erreichte am 20. Februar Rowno, am 24. Zitomir und stand
Ende des Monats vor Kiew.
Die Oberste Heeresleitung hatte sogar das schwere Geschütz eines Befehls
der "Obersten Kriegsleitung" verwendet, um
Österreich-Ungarn zur Teilnahme an der bewaffneten Intervention zu
bringen. Aber dies gelang zunächst
nicht - trotz der wie immer entgegenkommenden Haltung des Generals
Arz. In Wien bemühte sich gerade damals wieder einmal das Kabinet
Seidler, einen Staatsvoranschlag durchzubringen. Von den Polen war keine
Unterstützung zu erwarten. Tschechen und Südslawen
gebärdeten sich überhaupt, als ginge sie die Monarchie nichts mehr
an; sie weigerten sich in gleicher Weise für das Kriegsbudget zu stimmen,
wie sie jede Mitarbeit an den ewigen Verfassungsreformplänen ablehnten.
Nun hoffte der Ministerpräsident noch auf die Unterstützung der
deutschen Sozialdemokraten, die aber verlangten, daß der Ostkrieg nicht
mehr aufflammen dürfe. Ihr treuester Bundesgenosse in dem gleichen
Streben war kein geringerer als der Kaiser selbst, der stärker denn je unter
dem Einfluß der Friedensströmungen stand. Aber allmählich
wurde man in Wien angesichts der Raschheit, mit der sich der deutsche
Vormarsch in der Ukraine vollzog, doch nachdenklich. Wenn man nicht
rechtzeitig eingriff, so fiel die Ausnutzung der russischen Kornkammer dem
Bundesgenossen ganz allein zu und man wurde in Ernährungsfragen von
ihm noch abhängiger als bisher! Zudem stellte es sich heraus, daß die
Sozialdemokraten doch nur für den gewöhnlichen Staatsvoranschlag,
nicht aber für die Bewilligung der Kriegskosten zu haben waren. Damit fiel
ein weiterer Grund gegen die Teilnahme an der bewaffneten Intervention weg.
Zuguterletzt machte man aus der Not noch eine Tugend, indem der Ballplatz seine
Zustimmung zum Einmarsch von einem entsprechenden Entgegenkommen der
Rada in der Cholmer Frage abhängen ließ. Gesandter
v. Wiesner rettete beim Verhandeln mit den Ukrainern für die
Ostpolitik der Monarchie, was zu retten war. Die Ukrainer erklärten sich zu
Zugeständnissen in der Grenzführung bereit. Als vollends Ende
Februar bei der in Ostgalizien befehligenden Heeresgruppe Feldmarschall
v. Böhm-Ermalli erneut Schreckensrufe aus dem Gebiete jenseits des
Zbrucz vernommen wurden, stand dem Vorgehen nach
Ukrainisch-Podolien nichts mehr im Wege. Am letzten Tage des Monats
überschritten die k. u. k. Truppen die Grenze.
Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte Graf Czernin in der kleinen moldauischen
Ortschaft Racaciuni eine Unterredung mit dem König Ferdinand von
Bulgarien, indessen sich zu Buftea bei Bukarest die zu den
Friedensverhandlungen mit Rumänien entsendeten Abordnungen des
Vierbundes versammelten. Ehe die hier sich entspinnenden Geschehnisse verfolgt
werden, ist es aber notwendig, noch einen Blick auf die politischen Beziehungen
Österreich-Ungarns zu den Westmächten zu werfen.
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