Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
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Kapitel 20: Die Zeit der Friedensschlüsse im
Osten
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau1
1. Die Bolschewiken-Revolution in
Rußland.
Schon in den ersten Wochen der Kanzlerschaft Michaelis mußte Graf
Czernin die Hoffnung begraben, die deutschen Bundesgenossen zu Opfern im
Westen bewegen zu können. Mit den in dieser Richtung gegebenen
Erklärungen der Wilhelmstraße büßten auch die
Kreuznacher Abmachungen in den wesentlichsten Teilen ihre Geltung ein, da
gleichzeitig das Junktim zwischen den Reichslanden, Polen und Rumänien
gefallen war. Die beiden Kaisermächte sollten ihre Kriegspolitik auf neue
Grundlagen stellen: Rückkehr zur
austro-polnischen Lösung, dafür enger wirtschaftlicher
Anschluß Rumäniens an Deutschland! Dieser Neuorientierung galten
die Besprechungen, die in den Monaten September, Oktober und November von
den verbündeten Kabinetten abgehalten wurden.
In der Wilhelmstraße vermochte man auch jetzt noch nicht, die Bedenken,
die deutscherseits gegen die Vereinigung Polens mit
Österreich-Ungarn vorgebracht wurden, leichten Herzens fallen zu lassen.
Aber man war dazu geneigt, wenn die Donaumonarchie sich auf ein
zwanzigjähriges, enges, politisches, militärisches und
wirtschaftliches Bündnis mit Deutschland festlegte; ein Vorschlag, der auch
von Wien trotz des inneren Widerstrebens des Kaisers angenommen wurde.
Kaiser Wilhelm hatte die Absicht, bei seinem Besuche an der italienischen Front
seinem Bundesgenossen die Zustimmung zur
austro-polnischen Lösung als Siegesangebinde mitzubringen. Die
Ausführung dieses Planes unterblieb; sie hätte in weiterer Folge der
inneren und der äußeren Politik Österreichs manche
Erleichterung gebracht.
Die Verhältnisse in Polen hatten sich im letzten Halbjahre recht
unangenehm zugespitzt, worunter Wien weit mehr litt als Berlin. Die Erkenntnis,
daß die polnische Nation seit dem Zusammenbruch Rußlands bei
einem Sieg der Entente weit besser abschneiden würde als bei einem Sieg
der Mittelmächte, gewann allmählich auch unter den
gemäßigteren Elementen des Landes Boden. In diesem Punkte konnte
nach dem Stockholmer Polenkongreß (Mai 1917), nach den
Erklärungen der verschiedenen Ententestaatsmänner und nach der
[456] Aufstellung einer
besonderen polnischen Legion in Frankreich (Juni 1917) kaum mehr ein Zweifel
bestehen. Als im Juli der polnische Staatsrat
die - übrigens zum größten Teil aus
österreichischen Polen bestehenden - Legionen auf die Treupflicht
gegenüber den beiden Kaisern vereidigen wollte, weigerten sie sich; ihr
Anführer Pilsudski mußte in Haft genommen werden. Schwere
Verwicklungen ergaben sich auch, als kurz darauf die Legionen wieder in die
Front eingesetzt wurden.
Die Wünsche der Polen nach rascherem Ausbau ihres Staatswesens wurden
damals von Wien um so williger unterstützt, als kaum zu bezweifeln war,
daß die Regentenwahl zugunsten des Erzherzogs Karl Stephan ausfallen
werde. In der Wilhelmstraße zögerte man jedoch mit dem Ausspielen
dieser letzten Karte. Immerhin erhielten die Polen am 12. September einen
Regentschaftsrat und ein eigenes Ministerium, dem Kultus, Schule, Justiz und
zum geringen Teil auch Volkswirtschaft zur Verwaltung übertragen wurde.
Das Bestreben des ersten polnischen Kabinetts Kucharzewski, überdies das
Heerwesen in die Hand zu bekommen, war begreiflicherweise vergebens.
Mit größtem Mißtrauen wurde die Entwicklung in
Kongreßpolen von der Obersten Heeresleitung verfolgt, die im Osten
Preußens einen neuen Feind Deutschlands heranwachsen sah. Die Bedenken
des Generals Ludendorff scheinen denn auch den deutschen Kaiser in letzter
Stunde von seinem Entschluß, Polen bei seinem Besuch an der italienischen
Front an Österreich zu übergeben, abgebracht zu haben. Der Erste
Generalquartiermeister riet, der austro-polnischen Lösung nur unter
entsprechend großen Bürgschaften für
Preußen-Deutschland zuzustimmen. Das zwanzigjährige
Bündnis allein, dessen Festigkeit ihm gerade durch die Einverleibung der
Polen in den österreichischen Staatskörper sehr in Frage gestellt
schien, genügte ihm nicht.
Kongreßpolen sollte, wenn es zu Österreich kommen wollte, nicht
bloß alles Land bis zur Bobr-Narew-Linie, fast bis zum Westgürtel
von Warschau und bis zur Warta abtreten, sondern auch das Kohlenbecken von
Dombrowa. Im Norden Kongreßpolens sollte Wilna zu Litauen
zugeschlagen werden. Die Krongüter Polens hätten als Pfand in den
Händen Deutschlands zu bleiben, dem auch der entscheidende
Einfluß im Eisenbahnwesen zuzugestehen wäre.
In Wien vertrat man die Auffassung, daß weder Kaiser Karl noch irgendein
Habsburger unter solchen Bedingungen die polnische Krone anzunehmen
vermöchte; eine Meinung, der wohl auch Ludendorff als
grundsätzlicher Gegner der austro-polnischen Lösung im stillen
beipflichtete. Wieder standen schwere politische Kämpfe bevor. Als
Anfang November 1917 Michaelis in der Wilhelmstraße abtrat, atmete man
auf dem Ballplatz auf: In Hertling und Kühlmann befanden sich nunmehr
zwei Bayern an der Spitze der Reichsleitung; mit ihrer Hilfe war es vielleicht doch
möglich, in der polnischen und in den Friedensfragen den Widerstand der
Obersten Heeresleitung zu überwinden.
[457] Diese Hoffnungen
erwiesen sich aber bald als trügerisch. Bei den ersten Berliner
Besprechungen mit den neuen Männern - Hertling war
übrigens nur kurz anwesend - ergab sich wohl in verschiedenen
Hauptfragen eine grundsätzliche Übereinstimmung: Kurland und
Litauen, sowie Rumänien sollten in der einen oder anderen Art in die
deutsche Interessensphäre fallen, Kongreßpolen mit Österreich
vereinigt werden. Im einzelnen aber nahm Kühlmann ziemlich klar
für die polnischen Forderungen Ludendorffs Partei. Alle Versuche
Czernins, die Gegenseite von der Unhaltbarkeit dieser Wünsche zu
überzeugen, blieben erfolglos. Auch die Warnung, daß die Frage
"Mitteleuropa" angesichts der in der Donaumonarchie ohnehin stetig
anwachsenden deutschfeindlichen Einflüsse mit einer annehmbaren Art der
austro-polnischen Lösung stehe und falle, machte in Berlin nicht allzu viel
Eindruck und in Kreuznach noch geringeren.
Der Zwang, zu einer Einigung in den Kriegszielen zu kommen, war unterdessen
für die Mittelmächte durch den Ausbruch der zweiten russischen
Revolution noch größer geworden. Während die
Verbündeten vom Tagliamento an den Piave vorstürmten, zwischen
dem 7. und 9. November, wurde in Rußland das ententefreundliche Regime
Kerenskis durch die Bolschewiki unter Lenin und Trotzky gestürzt. Die
neuen Männer stellten als Programm die vier Punkte auf: für den
Frieden, um Brot, um Land (für die Bauern) und für die Volksmacht!
Am 28. November rief ein Funkspruch "An Alle" sämtliche
kriegführenden Völker auf, sich zu einem Frieden ohne Landerwerb
und Kriegsentschädigung und mit voller Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts der Nationen zusammenzufinden.
Auf dem Wiener Ballplatz verfolgte man die russischen Ereignisse - wie
übrigens in der ganzen Welt - mit atemloser Spannung. Graf Czernin
hatte kurz vor der Petersburger Revolution im Gefolge des Kaisers einige Tage
auf den italienischen Schlachtfeldern geweilt. Die Größe des Sieges,
den er dort erlebte, wirkte gewaltig auf den für
Augenblickseindrücke sehr empfänglichen Staatsmann. Der
Zusammenbruch Rußlands tat noch ein übriges, ihn wenigstens
für ein paar Wochen von jenem grenzenlosen Pessimismus zu befreien, der
ihn im Frühjahr und im Sommer erfüllt hatte. Militärisch
versprach er sich von der Entlastung der Ostfront außerordentlich viel; nicht
geringeres, als daß die Deutschen über kurz oder lang in Paris stehen
würden. "Hindenburg
hat bis jetzt", schreibt er Mitte November an einen
Freund, "alles gehalten, was er vorausgesagt hat - das muß man ihm
lassen..." Gelänge auch der große Schlag gegen Frankreich, dann sei,
vorausgesetzt, daß Deutschland auf Eroberungen verzichtet, der Friede zu
erringen.
Das Friedensangebot Rußlands zustimmend zu beantworten, zögerte
der österreichische Außenminister keinen Augenblick. Er fragte sich
nicht erst, wer Lenin, Trotzky und die anderen Bolschewiken seien und ob ihr
Regime Dauer [458] haben werde.
Für ihn war ein Eingehen auf das russische Angebot vor allem ein
innerpolitisches Problem der Donaumonarchie. Die Stellung der
Sozialdemokraten diesseits und jenseits der Leitha hatte schon der Verlauf des
letzten Parteitages der deutschösterreichischen Sozialisten unzweifelhaft
dargetan (Ende Oktober 1917). Gegenüber den gemäßigten
Führern Viktor Adler und Karl Renner war der Einfluß der von Otto
Bauer und anderen jüngeren Kräften geführten radikalen
Linken gewaltig gestiegen. Das Abschwenken der Partei von der Kriegspolitik der
ersten zwei Kriegsjahre war unverkennbar. Es trat nach dem Sieg der
Bolschewiken, den das Proletariat Wiens am 11. November durch eine
große Demonstration begrüßte, noch stärker hervor. Der
Druck, der von dieser Seite auf die Regierung ausgeübt wurde, war
angesichts des wirtschaftlichen Elends sehr groß. Aber nicht bloß
frische soziale Kräfte hatte der Umsturz im Habsburgerreich entfesselt,
sondern auch nationale. Man kann es heute rückschauend ziemlich klar
erkennen: der Zusammenbruch Rußlands hatte bei anderen slawischen
Völkern der Monarchie in gewisser Hinsicht ähnliche Ergebnisse
gezeitigt wie bei den Polen. Solange in Petersburg noch der Zar und seine
Autokratie herrschten, schätzten die katholischen, westlich gerichteten
Slawen des Donaureiches die Freundschaft Rußlands mehr oder minder als
Gegengewicht gegen etwaige deutsche Vorherrschaftsbestrebungen, ohne
daß man sich jedoch, einzelne radikale Kreise ausgenommen, ihr auf Haut
und Haar verschrieben hätte. Der stark demokratische Zug, der diese
Völker - schon aus Opposition gegen den eigenen
Staat - erfüllte, hatte hemmend gewirkt. Jetzt war die Lage von
Grund auf geändert und Rußland nicht bloß ein Born nationaler
Impulse, sondern auch der Ausgangspunkt freiheitlicher, ultrademokratischer
Ideen geworden. Damit mußten die führenden Männer auf dem
Ballplatze rechnen. Czernin tat es gefühlsmäßig.
Seltsamerweise blieben aber die Slawen mit ihrer Haltung nicht allein. Auch auf
die Magyaren wirkte der Gedanke, daß nun die Karpathen nicht mehr das
Ziel moskowitischer Anstürme sein würden, zum Teil in
ähnlicher Richtung, indem er ihre Absonderungsbestrebungen
gegenüber der Gesamtmonarchie und Österreich wesentlich
stärkte. Nicht umsonst stützte sich dort Wekerle in erster Linie auf
die alten Unabhängigkeits- und 48er Parteien und trat selbst Tisza seit
längerem für die selbständige ungarische Wehrmacht und den
Ausbau des "Nationalstaates" in Wort und Schrift ein. Es schien sich wirklich die
Anschauung derer zu bestätigen, die da meinten, daß mit dem
Zusammenbruche Rußlands auch die geschichtliche Mission
Österreichs zu einem nicht geringen Teil abgeschlossen gewesen sei.
Kaiser Karl billigte die Absichten Czernins gegenüber Rußland,
obgleich er den von den Bolschewiken verkündeten Ideen im Hinblick auf
seine eigenen Völker nicht ohne Sorge gegenüberstand. Die
ungarische Regierung erhob gegen die Bedingung des annexionslosen Friedens
Bedenken, da sie mit Grenzberich- [459] tigungen an der
rumänischen Grenze rechnete und die dort wohnenden
"Tschangomagyaren" in den ungarischen Staatskörper aufnehmen wollte.
Aber Czernin hatte den festen Plan, den zu den Russen gesponnenen Faden weder
dieser Wünsche wegen, noch wegen etwaiger Widerstände bei den
Bundesgenossen abreißen zu lassen. Er war entschlossen, sich in dieser
Frage gegebenenfalls sogar von Deutschland zu trennen.
Fürs erste bestand diese Gefahr freilich noch nicht. Schon am 29.
November 1917, 24 Stunden nach dem Funkspruch "An Alle", erklärten
sich die Kabinette von Wien und Berlin bereit, die russischen Vorschläge
als Grundlage für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen
anzunehmen. Am 3. Dezember begannen, auf Seite der Verbündeten von
General Hoffmann, dem Stabschef des Oberbefehlshabers Ost, geleitet, zu
Brest-Litowsk die Waffenstillstandsbesprechungen, die zunächst am 5.
Dezember zu einer zehntägigen Waffenruhe und am 15. zu einem
regelrechten Waffenstillstande führten. Schwierigkeiten ergaben sich nur in
der Frage der Moonsund-Inseln und des Abziehens von Truppen vom russischen
nach anderen Kriegsschauplätzen. Sie wurden dank der Energie des
deutschen Verhandlungsleiters rasch überwunden. Auch Rumänien
mußte sich wohl oder übel in die neue Lage einfügen.
Die Gnadenfrist, die die Waffenstillstandsverhandlungen boten, ehe sich auch die
Staatsmänner mit dem Feinde an einen Tisch setzen mußten, wurde
zwischen Wien und Berlin noch ausgenützt, um in letzter Stunde zu einer
Übereinstimmung in den Kriegszielen zu kommen. Am 6. Dezember
erklärte Graf Czernin vor der ungarischen Delegation:2 "Wenn jemand fragt, ob wir für
Elsaß-Lothringen kämpfen, so antworte ich: Jawohl, wir
kämpfen für Elsaß-Lothringen genau so, wie Deutschland
für uns kämpft und für Lemberg und Triest gekämpft
hat. Ich kenne keinen Unterschied zwischen Straßburg und Triest." Diese
Kundgebung wurde allenthalben als rückhaltsloses Bekenntnis zum
Bündnis aufgefaßt. Aber Czernin stellte sich mit ihr gleichzeitig auf
den Boden des status quo ante und betonte in derselben Rede diese
Tatsache noch durch die Bemerkung, daß die Monarchie nie für
deutsche Eroberungsziele kämpfen werde. Daß der Minister unter
diesen Begriff "Eroberungsziele" Kurland und Litauen einbezog, bewiesen die
verschiedenen Noten und Demarchen, mit denen der Ballplatz damals der Berliner
Regierung an den Leib rückte und die auch auf den Staatssekretär
v. Kühlmann nicht ohne Eindruck blieben. Die Männer in
Kreuznach freilich dachten in der russischen Sache von Anbeginn ganz anders.
Wenn es nach ihnen ging, so hatte man sich gegenüber den Bolschewiken
gar nicht erst auf Schlagworte oder Liebenswürdigkeiten einzulassen,
sondern von ihnen klipp und klar den förmlichen Verzicht auf die
sogenannten Randstaaten, darunter [460] vor allem auch auf
Kurland und Litauen, zu verlangen. Gaben die Russen nicht nach, dann
müsse sie eben das Schwert zur Einsicht bringen.
Wohl entschied am 18. Dezember 1917 der deutsche Kaiser zu Kreuznach in den
taktischen Fragen mehr oder minder scharf gegen die Heeresleitung. Aber die
grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Wien und
Berlin-Kreuznach blieben bestehen und wurden auch sehr bald von den schlauen
russischen Unterhändlern erkannt und ausgenützt; erkannt und
ausgenützt ganz ebenso wie die schiefe Lage, in die sich die Vertreter des
Vierbundes begaben, als sie der Form nach sich zu einem Frieden ohne
Annexionen, auf Grund des freien Selbstbestimmungsrechts der Völker
bekannten, dabei aber mit Sophismen aller Art in langen Redeschlachten bei
offenen Fenstern Bedingungen erkämpfen mußten, die mit den von
den Russen übernommenen Grundsätzen doch einigermaßen in
Widerspruch standen. Wie fast immer, war auch hier das Kompromiß die
ungünstigste der Lösungen.
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