Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
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Kapitel 15: Österreich-Ungarns Politik
in den Kriegsjahren 1914 bis 19171
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau2
1. Kaiser Franz Josefs letzte Zeit und
Heimgang.
Zu all der Tragik, die Kaiser Franz Josefs Herrscherdasein im Lauf der Jahrzehnte
erfüllt hatte, war in den letzten Jahren noch das Furchtbarste gekommen:
der große Krieg. Und just dem alten Kaiser, der seit vielen Jahren wie kein
zweiter Fürst an der Erhaltung des Weltfriedens Anteil hatte, war es vom
Schicksal bestimmt, den entscheidenden Schritt in das furchtbare Chaos der
Katastrophe zu tun. Psychologisch wird dieses Rätsel kaum je zu
lösen sein. Als während der Balkankrise 1912/13 ein
militärischer Minister auf die Möglichkeit der Ultima ratio zu
sprechen kam, blickte der Kaiser ernst über seine Hornbrille hinweg und
fragte den Sprecher: "Haben Sie schon einen Krieg mitgemacht?" Als der
Minister verneinen mußte, entgegnete der Monarch bedeutsam: "Aber
ich - und ich weiß, was das heißt!"
Dynastische Gründe waren es sicher nicht, derentwegen Franz Josef
schließlich der kriegerischen Lösung beistimmte. Es ist erwiesen,
daß der Kaiser in jener Nachmittagsstunde, in der ihm sein Generaladjutant
die Hiobspost aus Sarajevo brachte, an alles eher dachte, als an Rache oder
Vergeltung für den Thronfolgermord. Für ihn war dieses Ereignis
eine Schicksalsfügung, wie der Tod des Kronprinzen oder auch der
Kaiserin - gewiß kein Politikum. Auch die Gefühle der
Blutsgemeinschaft zwischen Kaiser und Thronfolger konnten bei dem gespannten
Verhältnis, das seit Jahren zwischen dem Monarchen und seinem
voraussichtlichen Erben bestanden hatte, nicht allzu schwer in die Wagschale
fallen. Zwischen der Aufnahme, die die Unglücksnachricht von Sarajevo
beim alten Kaiser fand, und der Unterzeichnung der Kriegserklärung durch
[302] ihn gähnte eine
Kluft, die psychologisch kaum völlig zu überbrücken ist.
Daß er - wie breite Kreise der
Öffentlichkeit - die Mitschuld des serbischen Königreichs an
der österreichfeindlichen Wühlarbeit mit einer Mitwisserschaft am
Morde selbst verwechselt hätte, ist kaum anzunehmen. In der Umgebung
des Kaisers war zur Zeit, als die befristete Note abging, jedenfalls noch die feste
Hoffnung vorhanden, daß Belgrad diesmal ebenso nachgeben werde wie
1908/09 und 1912/13. Als es nun dann doch anders wurde, tröstete sich
Franz Josef mit einem bescheidenen Lichtschimmer: "Der Abbruch der
diplomatischen Beziehungen bedeutet noch immer nicht Krieg". Drei Tage
später erschien der Minister Graf Berchtold und meldete, daß im
Südosten die serbischen Gewehre losgegangen seien. Die Nachricht war,
wie sich später herausstellte, eine der zahlreichen falschen
Alarmmeldungen, die zu Kriegsbeginn - wie die Nürnberger
Bomben - jeweils durch die Luft schwirrten, erzeugt von erhitzten
Gehirnen an der Front, geglaubt von jenen, die voll der Sorge waren, daß
der Feind in seinen Kriegsmaßnahmen die Initiative gewinnen könne.
Noch ehe man klar sah, hatte der Kaiser seine Unterschrift unter die
Kriegserklärung an Serbien gesetzt. Und echt österreichisch,
erblickte man im Dunkel der Nacht noch immer einen Hoffnungsstrahl: daß
das Verschwörervolk der Serben, an dessen Händen Blut klebte,
keine Bundesgenossen finden werde! Aber auch diese Hoffnung erwies sich als
eitel, und nun senkte sich, als der Weltbrand aufloderte, tiefste, von schwerstem
Pessimismus erfüllte Resignation über das Gemüt des
Kaisers.
Er war aus Ischl, seinem Sommersitz, nach Schönbrunn
zurückgekehrt. Die geschlossenen Tore dieses Rokokoschlosses und die
Schlagbäume, die das Obersthofmeisteramt durch Teile des Parkes ziehen
ließ, wurden zum Sinnbild der Einsamkeit und Abgeschlossenheit des
Kaisers. Nach dem ersten Kriegsjahr, in dem er immerhin noch ab und zu durch
die Straßen Wiens fuhr, um in Spitälern seine verwundeten Soldaten
zu besuchen, sah man ihn überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit.
Seine Gesundheit erforderte äußerste Sorgfalt. Nur mehr ein Kreis
auserlesener Ratgeber wurde bei ihm vorgelassen. Die allgemeinen Audienzen
hörten ganz auf.
Des Kaisers Vertrauen in das Kriegsglück seines Heeres hatte durch
Solferino und Königgrätz einen dauernden Stoß erhalten. Als
in den ersten krisenreichen Monaten des Krieges von einzelnen Stellen aus bestem
Wollen heraus versucht wurde, den Monarchen vor der vollen Schwere der
Eindrücke durch eine rücksichtsvolle Berichterstattung zu bewahren,
kam der ungebrochen frische, die Lage rasch erfassende Herrscher nur allzubald
dahinter. Sein Pessimismus steigerte sich und das Milieu greiser Männer,
das ihn umgab, trug kaum dazu bei, die Schatten zu bannen. Erst die Tage nach
Gorlice brachten etwas Licht in die Schreibstube Franz Josefs. Nun erfüllte
ihn doch wieder die Hoffnung, daß es gelingen werde, heiler Haut aus dem
Kriege herauszukommen. Mit rückhaltloser Dankbarkeit erkannte er die
Verdienste an, die sich der deutsche [303] Bundesgenosse um
diese Wendung im großen Weltringen erworben hatte. Dann kam freilich
der neue Umschwung von 1916. Mit schwerer Sorge hatte der Kaiser der
Südtiroler Offensive entgegengesehen. Der Rückschlag im Osten
versetzte ihn in tiefste Niedergeschlagenheit, aus der
ihn - streng genommen - erst der Tod erlöste.
Für annexionistische Kriegsziele hatte nach dieser Gemütsverfassung
Franz Josef auch in Zeiten größter Erfolge nichts übrig. Er war
zu jeder Stunde zu jedem ehrenvollen Frieden bereit. Baron Burian, der im Januar
1915 dem aus noch nicht offenliegenden Gründen verabschiedeten Grafen
Berchtold auf dem Ballhausplatze gefolgt war, leitete die äußere
Politik ganz im Sinne des Kaisers. So wie diesem war dem Minister das
unbedingte Festhalten am deutschen Bündnis ein selbstverständliches
Postulat jeglichen Handelns, und so wie Franz Josef es wünschte,
hätte Burian im engsten Einvernehmen mit den Bundesgenossen jede
Friedensanregung aufgegriffen, die irgendwie Erfolg versprechen konnte.
Von den kriegführenden Großmächten kam für das
Wiener Kabinett in dieser Hinsicht zunächst wohl nur Rußland in
Betracht. Wie überhaupt in der Geschichte der verschiedenen
Friedensversuche während des Weltkrieges gab es auch hier schon sehr
frühzeitig - um Weihnachten 1914 - mehrfache
Friedensfäden, die freilich spinnwebdünn waren und von denen man
nie wußte, ob sie im amtlichen Petersburg endeten. Die damals bei
einflußreichen russischen Kreisen zweifellos vorherrschende
Kriegsmüdigkeit nahm dann plötzlich nach der großen
Schlacht von Gorlice - Tarnow ab. Als vor der Einnahme von
Lublin, Iwangorod und Warschau der Zusammenbruch des russischen Heeres
nahe zu sein schien, erweckte die Mahnung des Generals Conrad, man
möge dem Zaren nunmehr goldene Brücken zum Frieden bauen,
nicht nur auf dem Ballhausplatz, sondern auch in der Wilhelmstraße
verständnisvollstes Echo. Aber die Versuche, die über
Dänemark inoffiziell aufgenommen wurden, scheiterten an der strikten
Ablehnung Rußlands, das gerade seit der schweren Niederlage nur noch
fester unter dem Einfluß der Westmächte, vor allem des Botschafters
Buchanan, stand. Dabei lagen für die Mittelmächte die
Verhältnisse Rußland gegenüber deshalb schlimm, weil
für eine etwaige Ausdehnung Deutschlands der Hauptsache nach doch nur
der Osten in Betracht kam und andererseits eine den Wünschen der Polen
entsprechende Lösung der Ostfragen für die Machtgestaltung und die
innere Lage Österreichs entscheidend war.
Schon Bismarck
hat in seinen Gedanken und Erinnerungen auf die
Bedeutung dieses Problems für das Bündnis mit seherischem Blicke
gewiesen. Und wenn es je noch eines Beweises bedurfte, daß die
Mittelmächte nie und nimmer planmäßig auf den Krieg
hingearbeitet haben, so muß er in der Tatsache erblickt werden, daß
man ins Feld zog, ohne über die Kriegsziele im allgemeinen, noch auch
über die vom ersten Tage an brennend werdende polnische [304] Frage eine einzige
Verabredung getroffen zu haben. Wäre dem anders gewesen, so hätte
es wohl kaum zu dem Manifest kommen können, mit welchem am 18.
August 1914 das k. und k. Armeeoberkommando in der Hoffnung,
dadurch ein Heer freiwilliger polnischer Mitkämpfer zu gewinnen, die
Erlösung Polens vom russischen Joche verkündete und das eine
zeitweilig sehr lästige Bindung der Mittelmächte in der polnischen
Frage bedeutete.
Für die Wiener Kreise war es von Haus aus eine ziemlich ausgemachte
Sache, daß es für Österreich-Ungarn nur eine Wahl gab:
entweder wurde Polen in den Staatsverband des Habsburgerreiches
herübergezogen - oder Galizien, die
Korn- und Erdölkammer, für deren Behauptung man letzten Endes
Krieg gegen Rußland führte, ging früher oder später der
Monarchie verloren! In diesem Sinne äußerte sich denn auch Minister
Baron Burian, als im Sommer 1915 zwischen Wien und Berlin die Verhandlungen
über die polnische Frage aufgenommen
wurden - und die "austropolnische Lösung" blieb folgerichtig bis in
die Tage des Zusammenbruchs das zäh festgehaltene Postulat seiner
Bündnispolitik. Daß sich auch das zu Kriegsbeginn in Krakau
gebildete polnische Nationalkomitee für diese Lösung aussprach,
bestärkte die österreichisch-ungarischen Staatsmänner noch in
ihrer Anschauung; denn damit war die polnische Frage auch zu einem
innerpolitischen Problem Österreichs geworden. Die galizischen Polen
hatten seit jeher eine sehr einflußreiche Stellung im politischen Leben der
Monarchie inne; Ende der 90er Jahre wirkte der Pole Goluchowski als
Außenminister, indessen sein Landsmann Badeni die Geschicke der
österreichischen Reichshälfte leitete. Ohne die Polen wäre es
seit Jahrzehnten keinem österreichischen Ministerpräsidenten je
gelungen, im Parlament eine arbeitsfähige Mehrheit zustandezubringen.
Jede Lösung der polnischen Frage, die die galizischen Polen verstimmte,
mußte sonach die ohnehin unerhört großen innerpolitischen
Schwierigkeiten im Habsburgerreich vervielfältigen.
Dabei wurde sicherlich nicht übersehen, daß die Aufnahme von 15
bis 20 Millionen neuer Staatsbürger polnischer Zunge in das
Habsburgerreich keineswegs nur Vorteile einbringen konnte. Waren doch selbst in
Russisch-Polen in der Frage des Anschlusses an die Donaumonarchie die
Gefühle sehr geteilt! Mächtige Parteien, wie die Demokraten, hatten
sich durchaus mit dem zaristischen Regime ausgesöhnt und wurden durch
die Erfahrungen, die sie während der Okkupation im Kriege machten,
wahrlich nicht bekehrt. Nicht geringer waren die Hindernisse, die sich in der
Monarchie der Einverleibung Polens in den Weg stellten. Das Ungarn Tiszas
weigerte sich aufs heftigste, Polen als dritten, den beiden anderen
gleichberechtigten Staat aufzunehmen.3 Andererseits
hätte [305] ein völliges
Aufgehen Polens in den "im Reichsrate vertretenen Königreichen und
Ländern", wie Österreich noch immer nach den Gesetzen hieß,
weder die Polen befriedigt, noch von Westösterreich ertragen werden
können. Namentlich den Deutschösterreichern wäre es
unmöglich gewesen, sich mit der dadurch eintretenden, unbedingten
Vorherrschaft der Polen zu befreunden. In dieser Erwägung arbeitete der
österreichische Ministerpräsident Graf Stürgkh einen Plan aus,
der dem Königreich Polen im Rahmen Österreichs die
größte Selbständigkeit zudachte, u. a. auch ein
vollständig abgeschlossenes Parlament, das nur zur Erledigung eng
umgrenzter, Westösterreich gleich interessierender Angelegenheiten
Vertreter in den Wiener Reichsrat zu entsenden, sonst aber frei zu schalten und zu
walten gehabt hätte. Diese Lösung sagte auch den
Deutschösterreichern zu, die durch sie in den rein
westösterreichischen Dingen zweifellos an Einfluß gewonnen
hätten; aus eben diesem Grunde wurde sie aber von den Tschechen und den
Slowenen aufs heftigste bekämpft. Das war einmal im alten
Österreich so. Man durfte solcherart auch in Wien nicht mit Unrecht den
Anschluß Polens nur als das geringste unter zahlreichen Übeln
betrachten und Burian war guten Glaubens, wenn er bei Gelegenheit zu Bethmann
Hollweg meinte, er könne die austropolnische Lösung nicht als Erfolg
der Donaumonarchie, sondern nur als Opfer buchen, das sie der politischen
Gestaltung Mitteleuropas bringe.
Als im August 1915 zum erstenmal eingehender zwischen Wien und Berlin
über die polnische Frage verhandelt wurde, erklärten sich die
deutschen Staatsmänner im Wesen mit den Anträgen ihrer
österreichisch-ungarischen Amtsgenossen einverstanden. Auch bei den
weiteren Unterredungen dieses Jahres gelang es Burian, die von Bethmann
Hollweg und Jagow vorgebrachten Bedenken gegen das Aufgehen Polens in der
Donaumonarchie - darunter auch solche wegen der künftigen
Stellung der Deutschösterreicher - zur Not zu zerstreuen. Aber je
mehr Zeit verstrich, je mehr man deutscherseits in die polnischen
Verhältnisse Einblick gewann und je klarer es dem deutschen Reichskanzler
wurde, daß sich Deutschland für seine Kriegsopfer, wenn
überhaupt, so nur im Osten werde entschädigen können,
indessen Österreich-Ungarn auch der Südosten offen stand, um so
mehr kam Berlin, bestärkt durch die Gutachten der Militärs, der
Generale Falkenhayn, Hindenburg, Ludendorff und des Warschauer
Generalgouverneurs v. Beseler, von der austropolnischen Lösung
ab.
Vergeblich mühte sich Burian, den deutschen Staatsmännern ihre
Besorgnisse auszureden. Für die Schwierigkeit des Problems zeugte es,
daß sie von ihrem Standpunkt aus ebenso Recht hatten, wie er von dem
seinigen. Die Polen waren, wenn sie ihre Selbständigkeit bekamen, ein
womöglich noch unsicherer Nachbar als die Russen; Deutschland konnte auf
militärische Sicherungen, auf wirtschaftlichen Einfluß nicht
verzichten. Es steckte während der Okkupation gewaltige Summen Geldes
in das Warschauer Gouvernement; [306] Polen mußte diese
Schuld in einer oder der anderen Weise wenigstens zum Teil begleichen. Dies
ließ sich nur durch Servitute gewährleisten. All das konnte man von
einem selbständigen Polen verlangen, nicht aber von einem Teile der
verbündeten Donaumonarchie. Als gegenüber diesen Vorstellungen
die Österreicher durchblicken ließen, daß Deutschland an
"Mitteleuropa" weit mehr gewinnen werde, als es durch die austropolnische
Lösung verlieren könne, antwortete man in Berlin, an Bismarck
anknüpfend, daß mit dem Überwuchern des polnischen
Elements in Österreich eben dieses "Mitteleuropa", das Bündnis, aufs
höchste gefährdet werde.
Die schwierige Lage, in die Österreich-Ungarn durch die russische
Sommeroffensive 1916 geraten war, gab der deutschen Regierung die
Möglichkeit, nunmehr doch ihren Standpunkt in der polnischen Frage
durchzusetzen. Im August eröffnete Bethmann Hollweg dem Freiherrn
v. Burian diese Wendung in der deutschen Politik. Deutschland
wünsche die Aufstellung eines selbständigen Kongreßpolens als
erbliches konstitutionelles Königtum. Die beiden Monarchen hätten
möglichst bald eine Kundmachung in diesem Sinne zu erlassen, doch
wäre der polnische Staat erst nach dem Kriege zu errichten. Deutschland
brauche einige Grenzberichtigungen und das Gouvernement Suwalki; Wilna sei
dem litauischen Staate zuzuschlagen. Polens Außenpolitik sei durch die
Mittelmächte zu führen, die Armee unter deutsche Leitung zu stellen.
Das Königreich werde im gemeinsamen Zollgebiet der beiden Kaiserreiche
aufzugehen haben.
Dem Drängen Deutschlands zu dieser Lösung lagen auch
militärische Erwägungen zugrunde. Kongreßpolen hatte bisher
zu seiner Befreiung so gut wie gar nichts beigetragen. Die polnische Legion, die zu
Kriegsbeginn von Österreich aufgestellt worden war und sich wohl durch
Tapferkeit, weniger aber durch Manneszucht ausgezeichnet hatte, bestand fast ganz
aus Galizianern, also österreichischen Staatsbürgern. Die
männliche Bevölkerung Kongreßpolens hielt sich, soweit sie
nicht durch die Russen verschleppt worden war, von jedem Waffendienst fern und
wurde in dieser Taktik von den Warschauer Demokraten und anderen polnischen
Fraktionen bestärkt. Nunmehr aber glaubten die Verbündeten nicht
länger auf die polnischen Mannschaften verzichten zu können. Die
Militärs rechneten, daß es möglich sein werde, vom Herbst
1916 bis ins Frühjahr 1917 auf dem Wege der freien Werbung 15
Divisionen auf die Beine zu bringen. Diese überaus verlockenden
Pläne sollten durch die Erhebung Kongreßpolens zum
Königreich der Verwirklichung näher gebracht werden.
Burian gab nur ungern bei, mußte es aber schließlich unter dem
Zwange der durch die Kriegslage gegebenen Verhältnisse tun. Die
Proklamation der Monarchen an die Polen war anfänglich schon für
die zweite Augusthälfte 1916 in Aussicht genommen, wurde aber
hinausgeschoben, als aus Rußland, [307] wo damals
Stürmer das Staatsruder führte, Nachrichten über starke
Friedensneigungen kamen. Es war durchaus politisch gedacht, diesen
gegenüber die polnische Frage zurückzustellen. Aber die Kunde aus
Petersburg lautete schon sehr bald wieder ungünstiger; das konservative
Ministerium Stürmer wurde von den unter dem Einfluß Buchanans
stehenden Demokraten heftigst bekämpft und
schließlich - am 22. November - zu Fall gebracht. Inzwischen
war bereits am 5. November das Manifest der beiden Kaiser an die Polen erlassen
worden. Es war nicht ohne schwierige, manche Verstimmung nach sich ziehende
Verhandlungen zwischen Wien und Berlin, Teschen und Pleß schlecht und
recht zustande gekommen und setzte - vorderhand wohl mehr theoretisch
und bei Aufrechterhaltung der beiden
Militärverwaltungen - ein neues Polen in den Sattel. Die
Möglichkeit, zu einem Frieden mit Rußland zu gelangen, war durch
den Staatsakt vom 5. November nicht größer geworden. Bethmann
Hollweg bezweifelte, daß eine solche überhaupt bestanden habe. Aber
auch sonst sollten die beiden Mittelmächte keinen Anlaß haben, sich
dieses Tages mit besonderer Befriedigung zu erinnern. Vollends die Hoffnung auf
Aufstellung eines polnischen Heeres scheiterte schmählich. Die ganze
Schwere des Problems trat freilich erst mit der russischen Revolution zutage, als
die Polen an der Seite der Mittelmächte nichts mehr zu gewinnen, wohl aber
mancherlei zu verlieren hatten.
Weit weniger als die polnische Frage belastete - wenigstens fürs
erste - die Balkanpolitik den Ballhausplatz. Serbien trat bald nach der Eroberung
unter die Verwaltung eines k. u. k.
Militär-Generalgouverneurs. Hatte von den beiden Regierungen der
dualistischen Monarchie im polnischen Militärgouvernement Lublin die
österreichische das entscheidende Wort zugesprochen erhalten, so fiel
Belgrad in die Machtsphäre Budapests, was eine zielbewußte
Führung der Verwaltungsgeschäfte im gesamtösterreichischen
Sinne nicht eben erleichterte.
Mit Montenegro hatte man im Januar 1916 versucht, zu einem Frieden zu
gelangen. Es war nicht geglückt. Nun trat auch dort die
Militärverwaltung in ihre Rechte. Sowohl hier wie in Altserbien brachen
jede Weile größere oder kleinere Aufstände aus, die den
schwachen Besatzungstruppen viel zu schaffen
machten. - Die Verwaltung des eroberten Teiles von Albanien
übernahm das dort befehligende XIX. Korpskommando. Wegen der
Besetzung der Becken von Prizren und Pristina, auf die seit jeher Albanien
Anspruch erhob, deren Zuweisung aber nicht zweifelsfrei festgelegt war, kam es
zwischen Wien und Sofia zu einem schweren diplomatischen Konflikt, der das
ganze Frühjahr 1916 ausfüllte. Schließlich wurden den
Bulgaren gewisse Besatzungsrechte zugestanden, ohne daß dadurch der
dauernden Erledigung der Frage beim Friedensschluß vorgegriffen werden
sollte. Der König von Bulgarien verübelte es namentlich dem
k. und k. Chef des Generalstabes, daß er diese Gebiete
für die österreichischen Besatzungstruppen in Anspruch genommen
hatte.
[308] Ebenso wie das
polnische Problem war auch das serbische für das Habsburgerreich von
größter innenpolitischer Bedeutung. Einflußreiche politische
Kreise in Wien und Agram drängten, die südslawische Frage, die seit
Jahrzehnten eine schwärende Wunde am österreichischen
Körper bildete, gerade jetzt, während des Krieges, da man alle
südslawischen Gebiete in der Hand hatte, zu lösen. Die nach
besonderer Folgerichtigkeit strebenden Politiker dachten dabei an die Schaffung
eines den beiden anderen Staaten der Doppelmonarchie gleichgeordneten
südslawischen Reiches unter Habsburgs Zepter (Trialismus); die
gemäßigteren wären zufrieden gewesen, Bosnien, die
Herzegowina, Dalmatien, Serbien und Montenegro in irgendeiner Form dem zur
ungarischen Stephanskrone gehörenden Königreich Kroatien oder
direkt Ungarn anzugliedern (subdualistische Lösung). Aber beide Gruppen
machten ihre Rechnung ohne die Magyaren, für die der Trialismus
überhaupt unerwägbar war, die aber in ihrer Sorge um ihre
Vorherrschaft im östlichen Staate der Monarchie auch grundsätzlich
für südslawische Erwerbungen wenig übrig hatten. Der
allmächtige ungarische Ministerpräsident Graf Tisza, der kraftvollste
Mann des Donaureiches, der dieses vielleicht durch den Krieg hätte
durchbringen können, wenn er in nationalen Fragen nicht rein magyarisch
gedacht hätte, hatte von Kriegsbeginn an die Auffassung vertreten,
daß für Österreich-Ungarn im Südosten nur die
Einverleibung Belgrads und der Matschwa (des Gebietes an der
Drinamündung) in Frage kommen könne; im übrigen sei das
Königreich Serbien seinem Schicksale, und zwar einem möglichst
wenig erfreulichen zu überlassen. Diese Auffassung teilten so ziemlich alle
magyarischen Politiker, ob sie nun Freunde oder Gegner Tiszas waren. Auch der
k. und k. Minister des Äußeren, Baron Burian, der
überhaupt völlig unter dem Einflusse der ungarischen Regierung
stand, vermochte sich den politischen Tendenzen seiner Volksgenossen nicht zu
entziehen. Nur Conrad befand sich in heftiger Opposition, aber ohne Erfolg. Der
greise Kaiser Franz Josef war der Aufnahme ausgreifender Pläne durchaus
abgeneigt und stand zu seinem magyarischen Minister. Den Feinden der
Monarchie, vor allem dem geflüchteten serbischen
Ministerpräsidenten Pasitsch und dem Dalmatiner Emigranten Trumbitsch,
entging dieses Zögern Wiens in den südslawischen Belangen
natürlich nicht; sie nützten es geschickt für ihre Zwecke
aus.
Schon die nur flüchtige Erörterung des polnischen und des
südslawischen Problems erwies, wieviel das politische Traggerüst, auf
das sich die Donaumonarchie im Kriege stützte, zu wünschen
übrig ließ. Aber noch andere große Schwächen traten gar
bald nach dem Abflauen der ersten Kriegsbegeisterung zutage. Sie zeigten sich zu
allererst dort, wo die Spannung am höchsten
war - an der Front. Wann dies eintrat, läßt sich auf Tag und
Stunde selbstverständlich um so weniger feststellen, als Führer aller
Grade von Anbeginn geneigt waren, bei Truppen nichtdeutscher und
nichtmagyarischer Volkszugehörigkeit [309] jegliches Erlahmen der
Widerstandskraft, jede Panik nationalen Einflüssen zuzuschreiben. Aus der
Heimat wußten die Militärkommandos in Böhmen schon im
Oktober 1914 über auffällige Erscheinungen, über stark zutage
tretende Abneigung gegen den Krieg und das Anwachsen der panslawistischen
Strömungen zu berichten. Als sich im November die Russen Krakau
näherten, herrschte in manchen Kreisen des tschechischen Volkes freudige
Aufregung; die Frauen bereiteten Fahnen vor und buken
Begrüßungskuchen. Die russischen Erfolge wurden in verschwiegener
Heimlichkeit gefeiert, dagegen Loyalitätskundgebungen für
Österreich verhindert und sogar die Werbearbeit für die
Kriegsanleihen planmäßig durchkreuzt. Zahlreiche Agitatoren, unter
ihnen Lehrer und Geistliche, waren am Werk, diese Gesinnung in die vielfach noch
nicht angekränkelten Massen zu tragen, vor allem in die
Ersatzmannschaften, die gerade im Winter 1914/15 in besonders großen
Mengen nach kaum vierwöchiger Ausbildung in die Karpathenfront
geworfen werden mußten. Die Zahl der Überläufer,
Gefangenen, Stellungsflüchtigen nahm von Woche zu Woche zu. Schon im
Dezember 1914 war die Heeresleitung den Verbindungen auf die Spur gekommen,
die zwischen den staatsfeindlichen Strömungen in Böhmen und den
russischen Machthabern bestanden. Gefangene tschechische Soldaten, die ihre
Zugehörigkeit zum nationalen Sportverein der Sokoln nachweisen konnten,
durften einer rücksichtsvollen Behandlung sicher sein. Auch sonst
unterließen es die Russen bei keiner Gelegenheit, den slawischen Soldaten
der kaiserlichen Armee die Versicherung zu übermitteln, daß sie als
Gefangene wie Brüder behandelt würden. In die aus den besetzten
Gebieten Ostgaliziens stammenden Regimenter wurde die verlockende Botschaft
getragen, daß jeder Überläufer sofort an den häuslichen
Herd zurückkehren dürfe. Wie schwer war es für
Männer, die seit Monaten nichts von Vater und Mutter, nichts von Weib und
Kind wußten, solchen Sirenenliedern zu widerstehen! Und wie groß
war das stille Heldentum
derer, die - weit in der Überzahl gegenüber den
Pflichtvergessenen - wirklich widerstanden!
Die Berichte, welche die damals an der Karpathenfront eingeteilten
reichsdeutschen Führer und Verbindungsoffiziere an ihre Heeresleitung
über den Kampfwert der verbündeten Truppen sandten, lauteten
betrüblich genug. Dies ist begreiflich. Die reichsdeutschen Kameraden sahen
sich zum erstenmal einem Heeresorganismus gegenüber, von dessen
verwirrender Mannigfaltigkeit sie bisher kaum etwas gewußt hatten. Zudem
warf die Teschener Heeresleitung die deutschen Verstärkungen
naturgemäß meist dorthin, wo eine Kampfkrise zu überwinden
war und daher die größere oder geringere Widerstandskraft der
einzelnen Truppen besonders hervortrat.
In einer der ersten Aprilnächte 1915, mitten in den schwersten
Kämpfen, begab es sich, daß ein großer Teil des Prager
Infanterieregiments Nr. 28 in ganzen Abteilungen zum Feinde
überlief. Ähnliches ereignete sich acht Wochen [310] später, schon
während der siegreichen Frühjahrsoffensive, mit dem Jungbunzlauer
Regiment Nr. 36, das bei Sieniawa schwer kämpfende
Nachbartruppen im Stiche ließ. Auf Befehl des Kaisers Franz Josef wurden
beide Regimenter, die zu den ältesten des kaiserlichen Heeres zählten,
aus den Armeelisten gestrichen.
Diesen zwei Fällen gesellten sich zahlreiche weniger krasse hinzu.
Allmählich gab es für den russischen Kriegsschauplatz eine ganze
Reihe von Divisionen, die an besonders ausgesetzten Punkten oder zu besonders
schwierigen Aufgaben nur mit großer Vorsicht zu verwenden waren. Es
waren dies solche, die zum großen Teil tschechische, ruthenische, serbische,
rumänische oder italienische Mannschaften in ihren Reihen führten.
Dagegen standen die kroatischen Regimenter den besten deutschen und
magyarischen sicherlich in nichts nach. Auch gilt das, was über die anderen
Slawen gesagt wurde, zunächst nur für den Kampf gegen
Rußland und Serbien. Gegen Italien stellten fast alle Völker des
Reiches bis nahe zum unglücklichen Ende ihren Mann. Für die
Südslawen im besonderen war Welschland genau so der Erbfeind, wie
für die deutsch-erbländischen Streiter.
All dies wird nicht deshalb erwähnt, um den Wert der
österreichisch-ungarischen Wehrmacht herabzusetzen. Dieser war
beträchtlicher, als es bei einiger Kenntnis der schwankenden politischen,
nationalen und wirtschaftlichen Grundlagen, die der Staat abgab, der
größte Optimist erwarten durfte. Doch ist es notwendig, auch die
Schattenseiten zu zeigen, weil anders das niederschmetternde Drama des
Zusammenbruchs in seinen tieferen Ursachen nicht erfaßt werden
könnte.
Die militärische Leitung versuchte der nationalen Zersetzung
zunächst mit den eigenen Machtmitteln beizukommen. Besonders verhetzte
Ersatzmannschaften slawischer oder romanischer Zunge wurden auf deutsche und
magyarische Regimenter aufgeteilt, die aber dadurch in ihrem Werte
naturgemäß nicht gewannen und auch mit größeren
Sprachschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Das Kriegsministerium verlegte
die tschechischen Depottruppen allmählich bis zum letzten Bataillon
außer Landes. Dadurch wurden sie der politischen Agitation mehr entzogen.
Die als Strafe empfundene vorzeitige Trennung von der Heimat traf leider auch
Unschuldige.
Im Frontbereich suchten Kommanden und Truppen den etwa aus der
Einwohnerschaft kommenden zersetzenden Einflüssen durch scharfe
Maßregeln zu steuern. Verdächtige wurden "konfiniert" oder in
Schutzhaft genommen, auch in einer anfänglich nicht geringen Zahl auf
Grund des Kriegsnotrechtes justifiziert. Die staatsbürgerlichen Rechte des
einzelnen erlitten mitunter schwere Einschränkungen. Neben Schuldigen
wurden nicht selten auch Unschuldige getroffen. Manch Gutgesinnter ist durch
Unverstand oder Übereifer in seinem natürlichen und gesunden
nationalen Selbstbewußtsein ge- [311] troffen und geradezu mit
Gewalt in die Reihen der Gegner des Systems getrieben worden.
Ähnliche Maßnahmen wurden, entsprechend gemildert, auch in den
national schwierigen Gebieten der Heimat angewendet. Der Vorschlag Teschens,
den Bedürfnissen der Kriegführung durch Bestellung
militärischer Statthalter für Galizien, Böhmen und Kroatien
entgegenzukommen, wurde vom alten Kaiser nur für Galizien angenommen,
das in General v. Colard einen trefflichen, klugen Statthalter erhielt.
Ob im besonderen die Heeresleitung einen glücklichen Griff tat, als sie den
Tschechenführer Karl Kramarsch zum Märtyrer eines politischen
Monstreprozesses machte, bleibe um so mehr dahingestellt, als unter den Zeugen
sogar einige Minister warm für den Angeklagten eintraten, darunter auch
Stürgkh. Kramarsch war, ehe er verhaftet wurde, nahe daran, bei seinen
Volksgenossen jeden Anhang zu verlieren. Der Prozeß verhalf ihm aufs neue
zur Volkstümlichkeit. Er wurde Anfang 1916 zum Tode verurteilt, dann aber
zu 15 Jahren schweren Kerkers begnadigt. Auch andere Tschechenführer
wanderten ins Gefängnis. Je ein großer Hochverratsprozeß galt
ruthenischen Russophilen und südslawischen Verschwörern.
Überall urteilten auf Grund der staatlichen Ausnahmsverfügungen
Militärgerichte ab.
Weit mehr als bei der Feldarmee blieben im innerstaatlichen Leben der Monarchie
die nationalen Zersetzungserscheinungen unter der Oberfläche verborgen. In
Österreich hatte es der Ministerpräsident Graf Stürgkh zu
Kriegsbeginn unterlassen, den Reichsrat einzuberufen. Es wurde dies später
von vielen Seiten als Fehler betrachtet. So wie die Sozialdemokraten sich zu
Kriegsbeginn der allgemeinen Stimmung nicht zu entziehen vermocht hatten, so
hätten sich, meinen Stürgkhs Kritiker, auch die Abgeordneten der
Nationalitäten unter dem Druck der Öffentlichkeit auf die
Anerkennung des Notwehrkampfes festgelegt. Wie dem auch sei, der
Ministerpräsident regierte die ganzen zwei ersten Kriegsjahre ohne das
Parlament, mit dem "Notparagraphen" 14 der Verfassungsgesetze. Da
außerdem nicht bloß die militärische, sondern auch die
politische Zensur sehr streng gehandhabt wurde, fehlte der öffentlichen
Meinung jede Möglichkeit, sich zur Geltung zu bringen. Jegliche Kritik,
jede Reformbestrebung bediente sich unterirdischer Wege. Immer zahlreicher
wurden gegen Ende der Regierung des Kaisers Franz Josef die Stimmen, die eine
Änderung dieses Systems, vor allem eine Einberufung des Reichstags
für unvermeidlich hielten - bis die Kugel des Sozialisten Friedrich
Adler den zähesten Gegner der Wiedereinberufung des Parlaments, eben den
Grafen Stürgkh, am 21. Oktober 1916 in einem Wiener Hotel zu Boden
streckte. Friedrich Adler, der Sohn Viktor Adlers, des hervorragenden und
besonnenen Führers der österreichischen Sozialdemokratie,
erklärte vor dem Gerichtshof ausdrücklich, daß er den
Ministerpräsidenten getötet habe, um den Impuls zur
Wiederaufnahme des parla- [312] mentarischen Lebens zu
geben. Zwischendurch kritisierte er die "sozialpatriotische" Haltung seiner Partei
und ihrer Führer aufs schärfste, die ihrerseits damals Friedrich Adler
als einen überspannten Schwärmer ablehnten. Trotzdem bezeichnete
Friedrich Adlers Tat den Beginn eines Umschwungs in der Partei; sie begann, von
den Friedrich Adler nahestehenden Elementen gedrängt, gegen den
"imperialistischen" Krieg in schärfere Opposition zu treten und die Ideen des
Internationalismus wieder hervorzuholen.
Grundverschieden, aber nur was die magyarischen Schichten anbelangte, lagen die
Verhältnisse in Ungarn, wo das Parlament den ganzen Krieg über
tagte und der Lenker des Landes, Graf Tisza, sich auf eine starke Mehrheit
stützte, der eine zwar kampflustige, mitunter sehr scharf ins Zeug gehende,
aber doch zum größten Teil nationalistische Opposition
gegenüberstand. Wer dieses Parlament, diese Mehrheit und diese Opposition
von der Nähe besah, wurde wohl gewahr, daß sie allesamt den
tatsächlichen Kraftverhältnissen im Lande nicht entsprachen; weder
national, da das Wahlrecht den nach der Gesamtmasse den Magyaren gleichstarken
Nationalitäten eine kaum in Betracht kommende Anzahl von
Abgeordnetensitzen überließ - noch sozial, da dasselbe
Wahlrecht auch breite Schichten der magyarischen Bevölkerung, so die
gesamte Arbeiterschaft, von einer parlamentarischen Vertretung ausschloß.
Der Parteienkampf im Parlament stellte nicht das Spiel der im Lande wirklich
wirkenden oder nach Befreiung ringenden Kräfte dar, sondern es kamen in
ihm meist doch nur die mehr oder minder privaten Rivalitäten verschiedener
ehrgeiziger und tatenfroher Mitglieder des Hochadels und der Gentry zum
Ausdruck. Dessenungeachtet bot für den ausländischen Beobachter
das politische Leben Ungarns in diesen ersten Kriegsjahren ein Bild
kraftstrotzender Gesundheit. Und wenn im besonderen magyarische Politiker mit
einem mitleidigen Achselzucken gegenüber Österreich
erklärten, daß es im Lande der Stefanskrone keine
Nationalitätenfrage mehr gäbe, so schien diese Auffassung durch die
Vorgänge im Parlament, wo diese Nationalitätenvertreter
höchstens bei patriotischen Kundgebungen zu Wort kommen konnten,
durchaus bestätigt zu werden.
Dieser Schein von politischer Kraft, den Tisza mit großem taktischen
Geschick zur Geltung zu bringen wußte, da er ihn selbst für
Wirklichkeit hielt, schaffte Ungarn ein gewaltiges Übergewicht über
das streng absolutistisch regierte Österreich. Dazu kamen die Folgen der
Blockade, die die Gebirgs- und Industrieländer Österreichs unendlich
schwerer trafen als das ungarische Bauernland. Ungarn beeilte sich, gleich nach
Kriegsbeginn - über alle Verträge hinweg - die Grenzen
gegen Österreich abzusperren. Während dieses schon im zweiten
Kriegshalbjahr - auch da bereits zu spät - scharf in die private
Bewirtschaftung der wichtigeren Nahrungsmittel eingreifen mußte und schon
im Jahre 1916 schwere Kriegsnot zu spüren bekam, schöpfte
jenes in den ersten zwei Kriegs- [313] jahren und auch noch
darüber hinaus aus dem Vollen. Österreich schwankte gar bald als
Bittsteller zwischen Deutschland und Ungarn hin und her. Zu diesem
wirtschaftlichen Übergewicht, das Ungarn über den Schwesterstaat
erreicht hatte, kam noch moralischer Zuwachs durch die außerordentlich
geschickte Propaganda, die man ungarischerseits mit den ja wirklich
hervorragenden, aber von den Deutschösterreichern sicher erreichten, wenn
nicht übertroffenen Leistungen der magyarischen Truppen trieb. Es ist
für das Verständnis der weiteren Entwicklung wichtig, festzuhalten,
daß schon in dem in Rede stehenden Zeitraum des großen Krieges in
der breitesten ungarischen Öffentlichkeit die Auffassung Wurzeln schlug,
das ungarische, will sagen magyarische Volk habe sich durch seine Haltung vor
dem Feinde und seine Blutopfer vor allen anderen Völkern der Monarchie
ein Anrecht auf besonderen Lohn erworben. Auch worin dieser Lohn zu bestehen
habe, wußte man ganz genau: vor allem in der Schaffung des
selbständigen ungarischen Heeres, die einer Zertrümmerung der alten
k. und k. Armee natürlich gleichkommen mußte.
Daß selbst Tisza solchen Ideengängen keineswegs fremd
gegenüberstand, ergibt sich neben vielem daraus, daß er Monate
hindurch mit seinem österreichischen Ministerkollegen Stürgkh einen
erregten Notenwechsel über die Größe der von den
Völkern diesseits und jenseits der Leitha dargebrachten Blutopfer
führte.
Die Frage zu beantworten, ob all diese nur flüchtig angedeuteten
Erscheinungen schon sichere Zeichen des unvermeidlichen Zerfalles waren, kann
nicht Aufgabe eines geschichtlichen Überblicks sein. Es waren nicht die
oberflächlichsten Beschauer, die sie schon damals stellten und schmerzlich
bejahen zu müssen glaubten. Weit größer freilich war unter den
vaterlandsliebenden Österreichern, vor allem unter den Deutschen des
Reiches, die Zahl jener, die in dem seelischen Aufschwung bei Kriegsbeginn, in
den herrlichen Gesamtleistungen der Armee und in dem entsagungsvollen
Opfermut des größten Teils der Völker die Gewähr
für eine innere Wiedergeburt erblickten. Aus diesem Glauben heraus
entstanden so viele Umgestaltungspläne, als es Gläubige gab. Sie
hatten alle das eine gemein: schon bei der Erörterung stellten sich weit mehr
Gegner und Bekämpfer als Anhänger
ein - und eine Verwirklichung wäre nie und nimmer durch friedliche
Übereinkunft der Beteiligten, sondern nur durch eine starke Staatsgewalt,
durch einen energischen und geschickten Staatsmann, der die Krone hinter sich
hatte, in Angriff zu nehmen gewesen. Mit gegenseitiger Verträglichkeit,
wie sie - zum ersten- und vielleicht zum letztenmal - auf dem
Kremsierer Reichstag 1849 herrschte, konnte nicht mehr gerechnet werden.
Schon die Besprechung des südslawischen Problems deutete an, welche
streng abweisende Haltung die Magyaren und ihre Führer jeder
tiefgreifenden Umgestaltung des Gesamtreiches entgegensetzten. Wie um sich in
seiner Abwehr festzulegen, erwirkte Tisza im Herbst 1915 die Schaffung eines
neuen, die unga- [314] rische Staatlichkeit
besonders unterstreichenden "Reichswappens".4 In diesem
Wappenbilde führten die beiden Staaten der Monarchie völlig
getrennte Wappen, deren loser Zusammenhang nur dadurch zum Ausdruck kam,
daß ihre inneren oberen Ecken von einem kleinen Hauswappen der
habsburgisch-lothringischen Dynastie überdeckt und zusammengehalten
wurden. Solch seltsames Symbol eines staatsrechtlich überaus komplizierten
Gebäudes sollte in Hinkunft auch die Fahnen des gemeinsamen Heeres
zieren. Die Standarten wurden von einem
schwarz-gelb-rot-weiß-grünen Zickzackmuster eingesäumt!
Der Widerstand der Magyaren gegen eine tiefgreifende Lösung des
"österreichischen Problems", wie sie Popovici, Lammasch und auch der
nachmalige erste Kanzler der deutschösterreichischen Republik, Karl
Renner, dachten, bewog während des Krieges die meisten
österreichischen Politiker, den Dualismus als eine unverrückbar
gegebene Größe zu betrachten und die Reformpläne auf jene
"im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" diesseits der
Leitha zu beschränken, die in der kaiserlichen Verordnung über das
neue Wappen zum erstenmal amtlich "Österreich" genannt wurden. Dabei
tauchten in den ungezählten Projekten alle Abstufungen vom lose
zusammengehaltenen Bundesstaat über die nationale Autonomie zum straff
zentralisierten Einheitsreiche auf.
Die deutschösterreichischen Parteien hatten schon in der
"Osterbegehrschrift" von 1915 die sogenannten "deutschen Belange" niedergelegt.
Sie stellten sich ganz auf den Boden des österreichischen Staatsgedankens,
an dessen Stärkung sie mitarbeiten wollten, forderten dafür aber,
neben einer womöglich staatsrechtlich festgelegten Ausgestaltung des
Bündnisses mit Deutschland, Bürgschaften für die Behauptung
des deutschen Besitzstandes, dessen Sicherung ihnen auch aus staatlichen
Interessen als unbedingt nötig erschien. Ihre wichtigsten Bedingungen
waren: gesetzliche Festlegung der deutschen Staatssprache, Sonderstellung
Galiziens, Schaffung auskömmlicher Verhältnisse in Böhmen.
Sie stießen damit auf den heftigsten Widerstand der Tschechen und der
Slowenen. Diese erblickten in der Forderung nach der deutschen Staatssprache eine
unerträgliche Beschränkung ihrer nationalen Rechte. Sie
fürchteten den Ausbau der galizischen Autonomie, weil die Vertreter
Galiziens dann nur mehr in ganz eng umgrenzten Gebieten im Wiener Parlament
hätten mitreden dürfen, was einer Stärkung des deutschen
Einflusses gleichkam, und fanden in dieser Besorgnis mitfühlende Herzen
bei den ostgalizischen Ukrainern, die eine weitere Stärkung der polnischen
Macht über ihre Heimat selbstverständlich außerordentlich
drückend empfunden hätten. Besonders scharf und
nachdrücklich bekämpften die Tschechen den Gedanken einer
Kreiseinteilung in Böhmen, durch die die [315] Deutschen Behauptung
ihres Besitzstandes und möglichste Verminderung des nationalen Haders
erhofften. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gehörte dieselbe
Kreiseinteilung noch zu den Wünschen der tschechischen Politik, die sich
damals eben noch mehr in der Defensive befand. Jetzt waren die Rollen gewechselt
und damit auch das Verhalten zu der in Rede stehenden Verwaltungsfrage.
Dagegen verlangten die Slowenen südlich der Drau die Kreiseinteilung als
Grundlage für ihre freie nationale Entwicklung. Hier aber wurde der
Gedanke von den Deutschen heftig bekämpft, weil seine Verwirklichung
zahlreichen deutschen Sprachinseln die Existenz gekostet hätte.
So wie auf dem Boden der nationalen Autonomie ein einvernehmlicher Ausgleich
der einander widerstreitenden Interessen kaum zu erwarten war, ebenso war ein
solcher durch föderalistische Bildungen nicht zu erhoffen. Zog man die
bundesstaatlichen Grenzen - wie dies knapp vor dem Zusammenbruch das
Kaisermanifest vorsah - nach den Siedlungsgebieten der einzelnen
Völker, was angesichts der großen Vermischung schon technisch nicht
leicht war und von allen Beteiligten mehr oder minder schwere Opfer
erheischt hätte - so wären damit die Deutschen im Norden, die
Slowenen im Süden Westösterreichs zufrieden gewesen. Dagegen gab
es für die Tschechen im Rahmen Österreichs nur eine Lösung
auf "staatsrechtlicher" Grundlage in dem Sinne, daß Böhmen,
Mähren und Schlesien samt den dreieinhalb Millionen Deutschen, die
innerhalb deren Grenzen wohnten, zu einem Königreich der Wenzelskrone
vereinigt würden. Freilich hatte für sie die Medaille des Staatsrechtes
ihre Kehrseite, wenn ihr Blick nach Ungarn auf die dort lebenden, angeblich oder
wirklich stammverwandten Slowaken fiel; dort forderten sie eine staatliche
Abgrenzung nach ethnographischen Gesichtspunkten. Die Deutschen wieder
wehrten sich gegen jede Einbeziehung der Slowenen in einen besonderen
südslawischen Staat, weil sie dadurch von Triest und der Adria
abgeschnitten zu werden fürchteten. Nicht zu vergessen schließlich die
Magyaren, die in jeder bundesstaatlichen Umgestaltung Österreichs eine
schwere Bedrohung der Einheit Ungarns erblickten, da sie Rückwirkungen
auf die ungarischen "Nationalitäten", d. h. die nichtmagyarischen
Völker des Königreichs, besorgten.
Wieder wird man unwillkürlich die Frage aufwerfen, ob angesichts all dieser
Probleme, die nur einen Teil der großen "österreichischen Frage"
ausmachten, an eine Entwirrung des gordischen Knotens überhaupt zu
denken war. Die alten Österreichgläubigen wiesen auf das Beispiel
zweier Kronländer hin: Mährens und der Bukowina. In diesen beiden
Provinzen lagen die völkischen Verhältnisse verworrener denn
irgendwo. Trotzdem gelang es dort in den Jahren vor dem Kriege, in friedlichem
Ausgleich ein Verhältnis herzustellen, das den Wünschen aller
Beteiligten genügte.
Oft kann man hören, daß eine Lösung der wichtigsten Fragen
sogar noch im Kriege möglich gewesen wäre, und zwar nach Gorlice,
als Rußlands Heer [316] unter den
mächtigen Hieben der Mittelmächte niederbrach und deren Stern
heller zu leuchten schien denn je. Damals hatten die zum Staate stehenden
österreichischen Kreise neue Zuversicht gefaßt, indessen die
Unzufriedenen ihre Hoffnungen auf den Nullpunkt sinken lassen mußten. Im
Herbst 1915 ging denn auch eine Aktion von Herrenhausmitgliedern darauf aus,
den jedem politischen Wagen abgeneigten Ministerpräsidenten
Stürgkh durch den slawenfreundlichen, unternehmenden Grafen Silva
Tarouca zu verdrängen und einen neuen, beweglicheren Kurs anzubahnen.
Kaiser Franz Josef, wohl auch von Tisza beraten, brachte es nicht über sich,
Stürgkh zu entlassen, und so unterblieb die Probe auf das Exempel, ob das
Reich inmitten des schwersten aller Kriege wenigstens damals noch die inneren
Erschütterungen ertragen hätte, von der jede wie immer geartete
Umformung begleitet gewesen wäre.
Stürgkhs Nachfolger wurde - für unterrichtete Kreise war dies eine
Selbstverständlichkeit - der bisherige gemeinsame Finanzminister
Ernest v. Körber, der schon zu Beginn des Jahrhunderts das
österreichische Staatsschiff mehrere Jahre hindurch gelenkt hatte und
vielfach als der Mann begrüßt wurde, der auch jetzt die Krise im
Leben Österreichs zu überwinden vermochte. In der Tat erfreute sich
Körber, einer der fähigsten Köpfe des Reiches, trotz seines
nahe an den Siebziger reichenden Alters noch ungebrochener Geisteskraft. Seine
Nerven freilich hatten durch die Zeitläufte gelitten.
Körber wurde am 5. November zum Premier ernannt. Am selben Tage,
gleichzeitig mit dem Kaisermanifest an Kongreßpolen, verkündete
Franz Josef seinen Wunsch, daß die Sonderstellung Galiziens auf
gesetzmäßigem Wege zu verwirklichen sei. Die Gegenzeichnung
dieser kaiserlichen Willensmeinung hatte bereits Körber obgelegen,
obgleich er - wie Freiherr v. Conrad - im Herzen dieser
Verfassungsänderung abgeneigt war, da er in ihr lediglich eine Vorbereitung
zur völligen Trennung Galiziens zu erblicken vermochte.
In jenen ersten Novembertagen hatten sich bereits die Schatten des Todes
über das Kaiserschloß Schönbrunn herabgesenkt. Schon Ende
Oktober war der greise Kaiser Franz Josef - wie übrigens des
öfteren seit einem Jahrzehnt - an einer schweren Verkühlung
der Atmungsorgane erkrankt. Sehr bald eintretender Kräfteverfall ließ
die Hoffnung schwinden, daß es der Natur des Monarchen auch diesmal
wieder gelingen werde, die Krankheit zu überwinden. Um den 10.
November konnte kaum mehr ein Zweifel bestehen, daß die Katastrophe
nahe sei. Wohl setzte Franz Josef fast mechanisch sein Tagewerk fort, wie er es
seit Menschengedenken gewohnt war. Aber seine Stunden waren gezählt.
Die kaiserliche Familie versammelte sich zu Schönbrunn, auch der
Thronfolger wurde von der siebenbürgischen Front abberufen. Schon am 20.
hatte es den Anschein, als sollte das Leben des Kaisers erlöschen. Aber am
21. früh fand man ihn wieder am Arbeitstisch. Kurz nach Mittag trat eine
starke Verschlimmerung ein, es kam hohes Fieber. Bis 7 Uhr [317] ließ man ihn noch
im Lehnstuhl sitzen, dann wurde er zu Bette gebracht. Um 9 Uhr
5 Minuten abends tat sich die Türe des kaiserlichen Schlafzimmers
auf: Seine Majestät der Kaiser und apostolische König ist soeben
ruhig verschieden...
Am 28. November betete Kaiser Wilhelm am Sarge seines treuen, ritterlichen
Freundes. Zwei Tage später, nachdem all die ergreifenden und
düsteren Bräuche des spanischen Zeremoniells erfüllt waren, tat
der tote Souverän seine letzte Fahrt quer durch die Kaiserstadt: von der Burg
aus, in der seine Väter seit sechshundert Jahren gewohnt hatten und er selbst
durch mehr als ein Menschenalter, über den Ring zum Kriegsministerium,
dann über den
Franz-Josefs-Kai durch die Rotenturmstraße nach Sankt Stephan. Eine
Stunde später pochte der Obersthofmeister Fürst Montenuovo mit
goldenem Stabe an die Pforte der Kapuziner auf dem Neuen Markt. Sein
kaiserlicher Herr begehrte Einlaß nach 86 Jahren irdischer Pilgerfahrt.
Das Tor öffnete sich, die Mindesten der Brüder nahmen, was an Franz
Josef irdisch war, in Sorge und Obhut...
Altösterreich stand vor dem letzten Abschnitt seiner Geschichte.
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