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Bd. 5: Der österreichisch-ungarische Krieg

[301] Kapitel 15: Österreich-Ungarns Politik
in den Kriegsjahren 1914 bis 19171

Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau2

1. Kaiser Franz Josefs letzte Zeit und Heimgang.

Zu all der Tragik, die Kaiser Franz Josefs Herrscherdasein im Lauf der Jahrzehnte erfüllt hatte, war in den letzten Jahren noch das Furchtbarste gekommen: der große Krieg. Und just dem alten Kaiser, der seit vielen Jahren wie kein zweiter Fürst an der Erhaltung des Weltfriedens Anteil hatte, war es vom Schicksal bestimmt, den entscheidenden Schritt in das furchtbare Chaos der Katastrophe zu tun. Psychologisch wird dieses Rätsel kaum je zu lösen sein. Als während der Balkankrise 1912/13 ein militärischer Minister auf die Möglichkeit der Ultima ratio zu sprechen kam, blickte der Kaiser ernst über seine Hornbrille hinweg und fragte den Sprecher: "Haben Sie schon einen Krieg mitgemacht?" Als der Minister verneinen mußte, entgegnete der Monarch bedeutsam: "Aber ich - und ich weiß, was das heißt!"

Dynastische Gründe waren es sicher nicht, derentwegen Franz Josef schließlich der kriegerischen Lösung beistimmte. Es ist erwiesen, daß der Kaiser in jener Nachmittagsstunde, in der ihm sein Generaladjutant die Hiobspost aus Sarajevo brachte, an alles eher dachte, als an Rache oder Vergeltung für den Thronfolgermord. Für ihn war dieses Ereignis eine Schicksalsfügung, wie der Tod des Kronprinzen oder auch der Kaiserin - gewiß kein Politikum. Auch die Gefühle der Blutsgemeinschaft zwischen Kaiser und Thronfolger konnten bei dem gespannten Verhältnis, das seit Jahren zwischen dem Monarchen und seinem voraussichtlichen Erben bestanden hatte, nicht allzu schwer in die Wagschale fallen. Zwischen der Aufnahme, die die Unglücksnachricht von Sarajevo beim alten Kaiser fand, und der Unterzeichnung der Kriegserklärung durch [302] ihn gähnte eine Kluft, die psychologisch kaum völlig zu überbrücken ist. Daß er - wie breite Kreise der Öffentlichkeit - die Mitschuld des serbischen Königreichs an der österreichfeindlichen Wühlarbeit mit einer Mitwisserschaft am Morde selbst verwechselt hätte, ist kaum anzunehmen. In der Umgebung des Kaisers war zur Zeit, als die befristete Note abging, jedenfalls noch die feste Hoffnung vorhanden, daß Belgrad diesmal ebenso nachgeben werde wie 1908/09 und 1912/13. Als es nun dann doch anders wurde, tröstete sich Franz Josef mit einem bescheidenen Lichtschimmer: "Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen bedeutet noch immer nicht Krieg". Drei Tage später erschien der Minister Graf Berchtold und meldete, daß im Südosten die serbischen Gewehre losgegangen seien. Die Nachricht war, wie sich später herausstellte, eine der zahlreichen falschen Alarmmeldungen, die zu Kriegsbeginn - wie die Nürnberger Bomben - jeweils durch die Luft schwirrten, erzeugt von erhitzten Gehirnen an der Front, geglaubt von jenen, die voll der Sorge waren, daß der Feind in seinen Kriegsmaßnahmen die Initiative gewinnen könne. Noch ehe man klar sah, hatte der Kaiser seine Unterschrift unter die Kriegserklärung an Serbien gesetzt. Und echt österreichisch, erblickte man im Dunkel der Nacht noch immer einen Hoffnungsstrahl: daß das Verschwörervolk der Serben, an dessen Händen Blut klebte, keine Bundesgenossen finden werde! Aber auch diese Hoffnung erwies sich als eitel, und nun senkte sich, als der Weltbrand aufloderte, tiefste, von schwerstem Pessimismus erfüllte Resignation über das Gemüt des Kaisers.

Er war aus Ischl, seinem Sommersitz, nach Schönbrunn zurückgekehrt. Die geschlossenen Tore dieses Rokokoschlosses und die Schlagbäume, die das Obersthofmeisteramt durch Teile des Parkes ziehen ließ, wurden zum Sinnbild der Einsamkeit und Abgeschlossenheit des Kaisers. Nach dem ersten Kriegsjahr, in dem er immerhin noch ab und zu durch die Straßen Wiens fuhr, um in Spitälern seine verwundeten Soldaten zu besuchen, sah man ihn überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit. Seine Gesundheit erforderte äußerste Sorgfalt. Nur mehr ein Kreis auserlesener Ratgeber wurde bei ihm vorgelassen. Die allgemeinen Audienzen hörten ganz auf.

Des Kaisers Vertrauen in das Kriegsglück seines Heeres hatte durch Solferino und Königgrätz einen dauernden Stoß erhalten. Als in den ersten krisenreichen Monaten des Krieges von einzelnen Stellen aus bestem Wollen heraus versucht wurde, den Monarchen vor der vollen Schwere der Eindrücke durch eine rücksichtsvolle Berichterstattung zu bewahren, kam der ungebrochen frische, die Lage rasch erfassende Herrscher nur allzubald dahinter. Sein Pessimismus steigerte sich und das Milieu greiser Männer, das ihn umgab, trug kaum dazu bei, die Schatten zu bannen. Erst die Tage nach Gorlice brachten etwas Licht in die Schreibstube Franz Josefs. Nun erfüllte ihn doch wieder die Hoffnung, daß es gelingen werde, heiler Haut aus dem Kriege herauszukommen. Mit rückhaltloser Dankbarkeit erkannte er die Verdienste an, die sich der deutsche [303] Bundesgenosse um diese Wendung im großen Weltringen erworben hatte. Dann kam freilich der neue Umschwung von 1916. Mit schwerer Sorge hatte der Kaiser der Südtiroler Offensive entgegengesehen. Der Rückschlag im Osten versetzte ihn in tiefste Niedergeschlagenheit, aus der ihn - streng genommen - erst der Tod erlöste.

Für annexionistische Kriegsziele hatte nach dieser Gemütsverfassung Franz Josef auch in Zeiten größter Erfolge nichts übrig. Er war zu jeder Stunde zu jedem ehrenvollen Frieden bereit. Baron Burian, der im Januar 1915 dem aus noch nicht offenliegenden Gründen verabschiedeten Grafen Berchtold auf dem Ballhausplatze gefolgt war, leitete die äußere Politik ganz im Sinne des Kaisers. So wie diesem war dem Minister das unbedingte Festhalten am deutschen Bündnis ein selbstverständliches Postulat jeglichen Handelns, und so wie Franz Josef es wünschte, hätte Burian im engsten Einvernehmen mit den Bundesgenossen jede Friedensanregung aufgegriffen, die irgendwie Erfolg versprechen konnte.

Von den kriegführenden Großmächten kam für das Wiener Kabinett in dieser Hinsicht zunächst wohl nur Rußland in Betracht. Wie überhaupt in der Geschichte der verschiedenen Friedensversuche während des Weltkrieges gab es auch hier schon sehr frühzeitig - um Weihnachten 1914 - mehrfache Friedensfäden, die freilich spinnwebdünn waren und von denen man nie wußte, ob sie im amtlichen Petersburg endeten. Die damals bei einflußreichen russischen Kreisen zweifellos vorherrschende Kriegsmüdigkeit nahm dann plötzlich nach der großen Schlacht von Gorlice - Tarnow ab. Als vor der Einnahme von Lublin, Iwangorod und Warschau der Zusammenbruch des russischen Heeres nahe zu sein schien, erweckte die Mahnung des Generals Conrad, man möge dem Zaren nunmehr goldene Brücken zum Frieden bauen, nicht nur auf dem Ballhausplatz, sondern auch in der Wilhelmstraße verständnisvollstes Echo. Aber die Versuche, die über Dänemark inoffiziell aufgenommen wurden, scheiterten an der strikten Ablehnung Rußlands, das gerade seit der schweren Niederlage nur noch fester unter dem Einfluß der Westmächte, vor allem des Botschafters Buchanan, stand. Dabei lagen für die Mittelmächte die Verhältnisse Rußland gegenüber deshalb schlimm, weil für eine etwaige Ausdehnung Deutschlands der Hauptsache nach doch nur der Osten in Betracht kam und andererseits eine den Wünschen der Polen entsprechende Lösung der Ostfragen für die Machtgestaltung und die innere Lage Österreichs entscheidend war.

Schon Bismarck hat in seinen Gedanken und Erinnerungen auf die Bedeutung dieses Problems für das Bündnis mit seherischem Blicke gewiesen. Und wenn es je noch eines Beweises bedurfte, daß die Mittelmächte nie und nimmer planmäßig auf den Krieg hingearbeitet haben, so muß er in der Tatsache erblickt werden, daß man ins Feld zog, ohne über die Kriegsziele im allgemeinen, noch auch über die vom ersten Tage an brennend werdende polnische [304] Frage eine einzige Verabredung getroffen zu haben. Wäre dem anders gewesen, so hätte es wohl kaum zu dem Manifest kommen können, mit welchem am 18. August 1914 das k. und k. Armeeoberkommando in der Hoffnung, dadurch ein Heer freiwilliger polnischer Mitkämpfer zu gewinnen, die Erlösung Polens vom russischen Joche verkündete und das eine zeitweilig sehr lästige Bindung der Mittelmächte in der polnischen Frage bedeutete.

Für die Wiener Kreise war es von Haus aus eine ziemlich ausgemachte Sache, daß es für Österreich-Ungarn nur eine Wahl gab: entweder wurde Polen in den Staatsverband des Habsburgerreiches herübergezogen - oder Galizien, die Korn- und Erdölkammer, für deren Behauptung man letzten Endes Krieg gegen Rußland führte, ging früher oder später der Monarchie verloren! In diesem Sinne äußerte sich denn auch Minister Baron Burian, als im Sommer 1915 zwischen Wien und Berlin die Verhandlungen über die polnische Frage aufgenommen wurden - und die "austropolnische Lösung" blieb folgerichtig bis in die Tage des Zusammenbruchs das zäh festgehaltene Postulat seiner Bündnispolitik. Daß sich auch das zu Kriegsbeginn in Krakau gebildete polnische Nationalkomitee für diese Lösung aussprach, bestärkte die österreichisch-ungarischen Staatsmänner noch in ihrer Anschauung; denn damit war die polnische Frage auch zu einem innerpolitischen Problem Österreichs geworden. Die galizischen Polen hatten seit jeher eine sehr einflußreiche Stellung im politischen Leben der Monarchie inne; Ende der 90er Jahre wirkte der Pole Goluchowski als Außenminister, indessen sein Landsmann Badeni die Geschicke der österreichischen Reichshälfte leitete. Ohne die Polen wäre es seit Jahrzehnten keinem österreichischen Ministerpräsidenten je gelungen, im Parlament eine arbeitsfähige Mehrheit zustandezubringen. Jede Lösung der polnischen Frage, die die galizischen Polen verstimmte, mußte sonach die ohnehin unerhört großen innerpolitischen Schwierigkeiten im Habsburgerreich vervielfältigen.

Dabei wurde sicherlich nicht übersehen, daß die Aufnahme von 15 bis 20 Millionen neuer Staatsbürger polnischer Zunge in das Habsburgerreich keineswegs nur Vorteile einbringen konnte. Waren doch selbst in Russisch-Polen in der Frage des Anschlusses an die Donaumonarchie die Gefühle sehr geteilt! Mächtige Parteien, wie die Demokraten, hatten sich durchaus mit dem zaristischen Regime ausgesöhnt und wurden durch die Erfahrungen, die sie während der Okkupation im Kriege machten, wahrlich nicht bekehrt. Nicht geringer waren die Hindernisse, die sich in der Monarchie der Einverleibung Polens in den Weg stellten. Das Ungarn Tiszas weigerte sich aufs heftigste, Polen als dritten, den beiden anderen gleichberechtigten Staat aufzunehmen.3 Andererseits hätte [305] ein völliges Aufgehen Polens in den "im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern", wie Österreich noch immer nach den Gesetzen hieß, weder die Polen befriedigt, noch von Westösterreich ertragen werden können. Namentlich den Deutschösterreichern wäre es unmöglich gewesen, sich mit der dadurch eintretenden, unbedingten Vorherrschaft der Polen zu befreunden. In dieser Erwägung arbeitete der österreichische Ministerpräsident Graf Stürgkh einen Plan aus, der dem Königreich Polen im Rahmen Österreichs die größte Selbständigkeit zudachte, u. a. auch ein vollständig abgeschlossenes Parlament, das nur zur Erledigung eng umgrenzter, Westösterreich gleich interessierender Angelegenheiten Vertreter in den Wiener Reichsrat zu entsenden, sonst aber frei zu schalten und zu walten gehabt hätte. Diese Lösung sagte auch den Deutschösterreichern zu, die durch sie in den rein westösterreichischen Dingen zweifellos an Einfluß gewonnen hätten; aus eben diesem Grunde wurde sie aber von den Tschechen und den Slowenen aufs heftigste bekämpft. Das war einmal im alten Österreich so. Man durfte solcherart auch in Wien nicht mit Unrecht den Anschluß Polens nur als das geringste unter zahlreichen Übeln betrachten und Burian war guten Glaubens, wenn er bei Gelegenheit zu Bethmann Hollweg meinte, er könne die austropolnische Lösung nicht als Erfolg der Donaumonarchie, sondern nur als Opfer buchen, das sie der politischen Gestaltung Mitteleuropas bringe.

Als im August 1915 zum erstenmal eingehender zwischen Wien und Berlin über die polnische Frage verhandelt wurde, erklärten sich die deutschen Staatsmänner im Wesen mit den Anträgen ihrer österreichisch-ungarischen Amtsgenossen einverstanden. Auch bei den weiteren Unterredungen dieses Jahres gelang es Burian, die von Bethmann Hollweg und Jagow vorgebrachten Bedenken gegen das Aufgehen Polens in der Donaumonarchie - darunter auch solche wegen der künftigen Stellung der Deutschösterreicher - zur Not zu zerstreuen. Aber je mehr Zeit verstrich, je mehr man deutscherseits in die polnischen Verhältnisse Einblick gewann und je klarer es dem deutschen Reichskanzler wurde, daß sich Deutschland für seine Kriegsopfer, wenn überhaupt, so nur im Osten werde entschädigen können, indessen Österreich-Ungarn auch der Südosten offen stand, um so mehr kam Berlin, bestärkt durch die Gutachten der Militärs, der Generale Falkenhayn, Hindenburg, Ludendorff und des Warschauer Generalgouverneurs v. Beseler, von der austropolnischen Lösung ab.

Vergeblich mühte sich Burian, den deutschen Staatsmännern ihre Besorgnisse auszureden. Für die Schwierigkeit des Problems zeugte es, daß sie von ihrem Standpunkt aus ebenso Recht hatten, wie er von dem seinigen. Die Polen waren, wenn sie ihre Selbständigkeit bekamen, ein womöglich noch unsicherer Nachbar als die Russen; Deutschland konnte auf militärische Sicherungen, auf wirtschaftlichen Einfluß nicht verzichten. Es steckte während der Okkupation gewaltige Summen Geldes in das Warschauer Gouvernement; [306] Polen mußte diese Schuld in einer oder der anderen Weise wenigstens zum Teil begleichen. Dies ließ sich nur durch Servitute gewährleisten. All das konnte man von einem selbständigen Polen verlangen, nicht aber von einem Teile der verbündeten Donaumonarchie. Als gegenüber diesen Vorstellungen die Österreicher durchblicken ließen, daß Deutschland an "Mitteleuropa" weit mehr gewinnen werde, als es durch die austropolnische Lösung verlieren könne, antwortete man in Berlin, an Bismarck anknüpfend, daß mit dem Überwuchern des polnischen Elements in Österreich eben dieses "Mitteleuropa", das Bündnis, aufs höchste gefährdet werde.

Die schwierige Lage, in die Österreich-Ungarn durch die russische Sommeroffensive 1916 geraten war, gab der deutschen Regierung die Möglichkeit, nunmehr doch ihren Standpunkt in der polnischen Frage durchzusetzen. Im August eröffnete Bethmann Hollweg dem Freiherrn v. Burian diese Wendung in der deutschen Politik. Deutschland wünsche die Aufstellung eines selbständigen Kongreßpolens als erbliches konstitutionelles Königtum. Die beiden Monarchen hätten möglichst bald eine Kundmachung in diesem Sinne zu erlassen, doch wäre der polnische Staat erst nach dem Kriege zu errichten. Deutschland brauche einige Grenzberichtigungen und das Gouvernement Suwalki; Wilna sei dem litauischen Staate zuzuschlagen. Polens Außenpolitik sei durch die Mittelmächte zu führen, die Armee unter deutsche Leitung zu stellen. Das Königreich werde im gemeinsamen Zollgebiet der beiden Kaiserreiche aufzugehen haben.

Dem Drängen Deutschlands zu dieser Lösung lagen auch militärische Erwägungen zugrunde. Kongreßpolen hatte bisher zu seiner Befreiung so gut wie gar nichts beigetragen. Die polnische Legion, die zu Kriegsbeginn von Österreich aufgestellt worden war und sich wohl durch Tapferkeit, weniger aber durch Manneszucht ausgezeichnet hatte, bestand fast ganz aus Galizianern, also österreichischen Staatsbürgern. Die männliche Bevölkerung Kongreßpolens hielt sich, soweit sie nicht durch die Russen verschleppt worden war, von jedem Waffendienst fern und wurde in dieser Taktik von den Warschauer Demokraten und anderen polnischen Fraktionen bestärkt. Nunmehr aber glaubten die Verbündeten nicht länger auf die polnischen Mannschaften verzichten zu können. Die Militärs rechneten, daß es möglich sein werde, vom Herbst 1916 bis ins Frühjahr 1917 auf dem Wege der freien Werbung 15 Divisionen auf die Beine zu bringen. Diese überaus verlockenden Pläne sollten durch die Erhebung Kongreßpolens zum Königreich der Verwirklichung näher gebracht werden.

Burian gab nur ungern bei, mußte es aber schließlich unter dem Zwange der durch die Kriegslage gegebenen Verhältnisse tun. Die Proklamation der Monarchen an die Polen war anfänglich schon für die zweite Augusthälfte 1916 in Aussicht genommen, wurde aber hinausgeschoben, als aus Rußland, [307] wo damals Stürmer das Staatsruder führte, Nachrichten über starke Friedensneigungen kamen. Es war durchaus politisch gedacht, diesen gegenüber die polnische Frage zurückzustellen. Aber die Kunde aus Petersburg lautete schon sehr bald wieder ungünstiger; das konservative Ministerium Stürmer wurde von den unter dem Einfluß Buchanans stehenden Demokraten heftigst bekämpft und schließlich - am 22. November - zu Fall gebracht. Inzwischen war bereits am 5. November das Manifest der beiden Kaiser an die Polen erlassen worden. Es war nicht ohne schwierige, manche Verstimmung nach sich ziehende Verhandlungen zwischen Wien und Berlin, Teschen und Pleß schlecht und recht zustande gekommen und setzte - vorderhand wohl mehr theoretisch und bei Aufrechterhaltung der beiden Militärverwaltungen - ein neues Polen in den Sattel. Die Möglichkeit, zu einem Frieden mit Rußland zu gelangen, war durch den Staatsakt vom 5. November nicht größer geworden. Bethmann Hollweg bezweifelte, daß eine solche überhaupt bestanden habe. Aber auch sonst sollten die beiden Mittelmächte keinen Anlaß haben, sich dieses Tages mit besonderer Befriedigung zu erinnern. Vollends die Hoffnung auf Aufstellung eines polnischen Heeres scheiterte schmählich. Die ganze Schwere des Problems trat freilich erst mit der russischen Revolution zutage, als die Polen an der Seite der Mittelmächte nichts mehr zu gewinnen, wohl aber mancherlei zu verlieren hatten.

Weit weniger als die polnische Frage belastete - wenigstens fürs erste - die Balkanpolitik den Ballhausplatz. Serbien trat bald nach der Eroberung unter die Verwaltung eines k. u. k. Militär-Generalgouverneurs. Hatte von den beiden Regierungen der dualistischen Monarchie im polnischen Militärgouvernement Lublin die österreichische das entscheidende Wort zugesprochen erhalten, so fiel Belgrad in die Machtsphäre Budapests, was eine zielbewußte Führung der Verwaltungsgeschäfte im gesamtösterreichischen Sinne nicht eben erleichterte.

Mit Montenegro hatte man im Januar 1916 versucht, zu einem Frieden zu gelangen. Es war nicht geglückt. Nun trat auch dort die Militärverwaltung in ihre Rechte. Sowohl hier wie in Altserbien brachen jede Weile größere oder kleinere Aufstände aus, die den schwachen Besatzungstruppen viel zu schaffen machten. - Die Verwaltung des eroberten Teiles von Albanien übernahm das dort befehligende XIX. Korpskommando. Wegen der Besetzung der Becken von Prizren und Pristina, auf die seit jeher Albanien Anspruch erhob, deren Zuweisung aber nicht zweifelsfrei festgelegt war, kam es zwischen Wien und Sofia zu einem schweren diplomatischen Konflikt, der das ganze Frühjahr 1916 ausfüllte. Schließlich wurden den Bulgaren gewisse Besatzungsrechte zugestanden, ohne daß dadurch der dauernden Erledigung der Frage beim Friedensschluß vorgegriffen werden sollte. Der König von Bulgarien verübelte es namentlich dem k. und k. Chef des Generalstabes, daß er diese Gebiete für die österreichischen Besatzungstruppen in Anspruch genommen hatte.

[308] Ebenso wie das polnische Problem war auch das serbische für das Habsburgerreich von größter innenpolitischer Bedeutung. Einflußreiche politische Kreise in Wien und Agram drängten, die südslawische Frage, die seit Jahrzehnten eine schwärende Wunde am österreichischen Körper bildete, gerade jetzt, während des Krieges, da man alle südslawischen Gebiete in der Hand hatte, zu lösen. Die nach besonderer Folgerichtigkeit strebenden Politiker dachten dabei an die Schaffung eines den beiden anderen Staaten der Doppelmonarchie gleichgeordneten südslawischen Reiches unter Habsburgs Zepter (Trialismus); die gemäßigteren wären zufrieden gewesen, Bosnien, die Herzegowina, Dalmatien, Serbien und Montenegro in irgendeiner Form dem zur ungarischen Stephanskrone gehörenden Königreich Kroatien oder direkt Ungarn anzugliedern (subdualistische Lösung). Aber beide Gruppen machten ihre Rechnung ohne die Magyaren, für die der Trialismus überhaupt unerwägbar war, die aber in ihrer Sorge um ihre Vorherrschaft im östlichen Staate der Monarchie auch grundsätzlich für südslawische Erwerbungen wenig übrig hatten. Der allmächtige ungarische Ministerpräsident Graf Tisza, der kraftvollste Mann des Donaureiches, der dieses vielleicht durch den Krieg hätte durchbringen können, wenn er in nationalen Fragen nicht rein magyarisch gedacht hätte, hatte von Kriegsbeginn an die Auffassung vertreten, daß für Österreich-Ungarn im Südosten nur die Einverleibung Belgrads und der Matschwa (des Gebietes an der Drinamündung) in Frage kommen könne; im übrigen sei das Königreich Serbien seinem Schicksale, und zwar einem möglichst wenig erfreulichen zu überlassen. Diese Auffassung teilten so ziemlich alle magyarischen Politiker, ob sie nun Freunde oder Gegner Tiszas waren. Auch der k. und k. Minister des Äußeren, Baron Burian, der überhaupt völlig unter dem Einflusse der ungarischen Regierung stand, vermochte sich den politischen Tendenzen seiner Volksgenossen nicht zu entziehen. Nur Conrad befand sich in heftiger Opposition, aber ohne Erfolg. Der greise Kaiser Franz Josef war der Aufnahme ausgreifender Pläne durchaus abgeneigt und stand zu seinem magyarischen Minister. Den Feinden der Monarchie, vor allem dem geflüchteten serbischen Ministerpräsidenten Pasitsch und dem Dalmatiner Emigranten Trumbitsch, entging dieses Zögern Wiens in den südslawischen Belangen natürlich nicht; sie nützten es geschickt für ihre Zwecke aus.

Schon die nur flüchtige Erörterung des polnischen und des südslawischen Problems erwies, wieviel das politische Traggerüst, auf das sich die Donaumonarchie im Kriege stützte, zu wünschen übrig ließ. Aber noch andere große Schwächen traten gar bald nach dem Abflauen der ersten Kriegsbegeisterung zutage. Sie zeigten sich zu allererst dort, wo die Spannung am höchsten war - an der Front. Wann dies eintrat, läßt sich auf Tag und Stunde selbstverständlich um so weniger feststellen, als Führer aller Grade von Anbeginn geneigt waren, bei Truppen nichtdeutscher und nichtmagyarischer Volkszugehörigkeit [309] jegliches Erlahmen der Widerstandskraft, jede Panik nationalen Einflüssen zuzuschreiben. Aus der Heimat wußten die Militärkommandos in Böhmen schon im Oktober 1914 über auffällige Erscheinungen, über stark zutage tretende Abneigung gegen den Krieg und das Anwachsen der panslawistischen Strömungen zu berichten. Als sich im November die Russen Krakau näherten, herrschte in manchen Kreisen des tschechischen Volkes freudige Aufregung; die Frauen bereiteten Fahnen vor und buken Begrüßungskuchen. Die russischen Erfolge wurden in verschwiegener Heimlichkeit gefeiert, dagegen Loyalitätskundgebungen für Österreich verhindert und sogar die Werbearbeit für die Kriegsanleihen planmäßig durchkreuzt. Zahlreiche Agitatoren, unter ihnen Lehrer und Geistliche, waren am Werk, diese Gesinnung in die vielfach noch nicht angekränkelten Massen zu tragen, vor allem in die Ersatzmannschaften, die gerade im Winter 1914/15 in besonders großen Mengen nach kaum vierwöchiger Ausbildung in die Karpathenfront geworfen werden mußten. Die Zahl der Überläufer, Gefangenen, Stellungsflüchtigen nahm von Woche zu Woche zu. Schon im Dezember 1914 war die Heeresleitung den Verbindungen auf die Spur gekommen, die zwischen den staatsfeindlichen Strömungen in Böhmen und den russischen Machthabern bestanden. Gefangene tschechische Soldaten, die ihre Zugehörigkeit zum nationalen Sportverein der Sokoln nachweisen konnten, durften einer rücksichtsvollen Behandlung sicher sein. Auch sonst unterließen es die Russen bei keiner Gelegenheit, den slawischen Soldaten der kaiserlichen Armee die Versicherung zu übermitteln, daß sie als Gefangene wie Brüder behandelt würden. In die aus den besetzten Gebieten Ostgaliziens stammenden Regimenter wurde die verlockende Botschaft getragen, daß jeder Überläufer sofort an den häuslichen Herd zurückkehren dürfe. Wie schwer war es für Männer, die seit Monaten nichts von Vater und Mutter, nichts von Weib und Kind wußten, solchen Sirenenliedern zu widerstehen! Und wie groß war das stille Heldentum derer, die - weit in der Überzahl gegenüber den Pflichtvergessenen - wirklich widerstanden!

Die Berichte, welche die damals an der Karpathenfront eingeteilten reichsdeutschen Führer und Verbindungsoffiziere an ihre Heeresleitung über den Kampfwert der verbündeten Truppen sandten, lauteten betrüblich genug. Dies ist begreiflich. Die reichsdeutschen Kameraden sahen sich zum erstenmal einem Heeresorganismus gegenüber, von dessen verwirrender Mannigfaltigkeit sie bisher kaum etwas gewußt hatten. Zudem warf die Teschener Heeresleitung die deutschen Verstärkungen naturgemäß meist dorthin, wo eine Kampfkrise zu überwinden war und daher die größere oder geringere Widerstandskraft der einzelnen Truppen besonders hervortrat.

In einer der ersten Aprilnächte 1915, mitten in den schwersten Kämpfen, begab es sich, daß ein großer Teil des Prager Infanterieregiments Nr. 28 in ganzen Abteilungen zum Feinde überlief. Ähnliches ereignete sich acht Wochen [310] später, schon während der siegreichen Frühjahrsoffensive, mit dem Jungbunzlauer Regiment Nr. 36, das bei Sieniawa schwer kämpfende Nachbartruppen im Stiche ließ. Auf Befehl des Kaisers Franz Josef wurden beide Regimenter, die zu den ältesten des kaiserlichen Heeres zählten, aus den Armeelisten gestrichen.

Diesen zwei Fällen gesellten sich zahlreiche weniger krasse hinzu. Allmählich gab es für den russischen Kriegsschauplatz eine ganze Reihe von Divisionen, die an besonders ausgesetzten Punkten oder zu besonders schwierigen Aufgaben nur mit großer Vorsicht zu verwenden waren. Es waren dies solche, die zum großen Teil tschechische, ruthenische, serbische, rumänische oder italienische Mannschaften in ihren Reihen führten. Dagegen standen die kroatischen Regimenter den besten deutschen und magyarischen sicherlich in nichts nach. Auch gilt das, was über die anderen Slawen gesagt wurde, zunächst nur für den Kampf gegen Rußland und Serbien. Gegen Italien stellten fast alle Völker des Reiches bis nahe zum unglücklichen Ende ihren Mann. Für die Südslawen im besonderen war Welschland genau so der Erbfeind, wie für die deutsch-erbländischen Streiter.

All dies wird nicht deshalb erwähnt, um den Wert der österreichisch-ungarischen Wehrmacht herabzusetzen. Dieser war beträchtlicher, als es bei einiger Kenntnis der schwankenden politischen, nationalen und wirtschaftlichen Grundlagen, die der Staat abgab, der größte Optimist erwarten durfte. Doch ist es notwendig, auch die Schattenseiten zu zeigen, weil anders das niederschmetternde Drama des Zusammenbruchs in seinen tieferen Ursachen nicht erfaßt werden könnte.

Die militärische Leitung versuchte der nationalen Zersetzung zunächst mit den eigenen Machtmitteln beizukommen. Besonders verhetzte Ersatzmannschaften slawischer oder romanischer Zunge wurden auf deutsche und magyarische Regimenter aufgeteilt, die aber dadurch in ihrem Werte naturgemäß nicht gewannen und auch mit größeren Sprachschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Das Kriegsministerium verlegte die tschechischen Depottruppen allmählich bis zum letzten Bataillon außer Landes. Dadurch wurden sie der politischen Agitation mehr entzogen. Die als Strafe empfundene vorzeitige Trennung von der Heimat traf leider auch Unschuldige.

Im Frontbereich suchten Kommanden und Truppen den etwa aus der Einwohnerschaft kommenden zersetzenden Einflüssen durch scharfe Maßregeln zu steuern. Verdächtige wurden "konfiniert" oder in Schutzhaft genommen, auch in einer anfänglich nicht geringen Zahl auf Grund des Kriegsnotrechtes justifiziert. Die staatsbürgerlichen Rechte des einzelnen erlitten mitunter schwere Einschränkungen. Neben Schuldigen wurden nicht selten auch Unschuldige getroffen. Manch Gutgesinnter ist durch Unverstand oder Übereifer in seinem natürlichen und gesunden nationalen Selbstbewußtsein ge- [311] troffen und geradezu mit Gewalt in die Reihen der Gegner des Systems getrieben worden.

Ähnliche Maßnahmen wurden, entsprechend gemildert, auch in den national schwierigen Gebieten der Heimat angewendet. Der Vorschlag Teschens, den Bedürfnissen der Kriegführung durch Bestellung militärischer Statthalter für Galizien, Böhmen und Kroatien entgegenzukommen, wurde vom alten Kaiser nur für Galizien angenommen, das in General v. Colard einen trefflichen, klugen Statthalter erhielt.

Ob im besonderen die Heeresleitung einen glücklichen Griff tat, als sie den Tschechenführer Karl Kramarsch zum Märtyrer eines politischen Monstreprozesses machte, bleibe um so mehr dahingestellt, als unter den Zeugen sogar einige Minister warm für den Angeklagten eintraten, darunter auch Stürgkh. Kramarsch war, ehe er verhaftet wurde, nahe daran, bei seinen Volksgenossen jeden Anhang zu verlieren. Der Prozeß verhalf ihm aufs neue zur Volkstümlichkeit. Er wurde Anfang 1916 zum Tode verurteilt, dann aber zu 15 Jahren schweren Kerkers begnadigt. Auch andere Tschechenführer wanderten ins Gefängnis. Je ein großer Hochverratsprozeß galt ruthenischen Russophilen und südslawischen Verschwörern. Überall urteilten auf Grund der staatlichen Ausnahmsverfügungen Militärgerichte ab.

Weit mehr als bei der Feldarmee blieben im innerstaatlichen Leben der Monarchie die nationalen Zersetzungserscheinungen unter der Oberfläche verborgen. In Österreich hatte es der Ministerpräsident Graf Stürgkh zu Kriegsbeginn unterlassen, den Reichsrat einzuberufen. Es wurde dies später von vielen Seiten als Fehler betrachtet. So wie die Sozialdemokraten sich zu Kriegsbeginn der allgemeinen Stimmung nicht zu entziehen vermocht hatten, so hätten sich, meinen Stürgkhs Kritiker, auch die Abgeordneten der Nationalitäten unter dem Druck der Öffentlichkeit auf die Anerkennung des Notwehrkampfes festgelegt. Wie dem auch sei, der Ministerpräsident regierte die ganzen zwei ersten Kriegsjahre ohne das Parlament, mit dem "Notparagraphen" 14 der Verfassungsgesetze. Da außerdem nicht bloß die militärische, sondern auch die politische Zensur sehr streng gehandhabt wurde, fehlte der öffentlichen Meinung jede Möglichkeit, sich zur Geltung zu bringen. Jegliche Kritik, jede Reformbestrebung bediente sich unterirdischer Wege. Immer zahlreicher wurden gegen Ende der Regierung des Kaisers Franz Josef die Stimmen, die eine Änderung dieses Systems, vor allem eine Einberufung des Reichstags für unvermeidlich hielten - bis die Kugel des Sozialisten Friedrich Adler den zähesten Gegner der Wiedereinberufung des Parlaments, eben den Grafen Stürgkh, am 21. Oktober 1916 in einem Wiener Hotel zu Boden streckte. Friedrich Adler, der Sohn Viktor Adlers, des hervorragenden und besonnenen Führers der österreichischen Sozialdemokratie, erklärte vor dem Gerichtshof ausdrücklich, daß er den Ministerpräsidenten getötet habe, um den Impuls zur Wiederaufnahme des parla- [312] mentarischen Lebens zu geben. Zwischendurch kritisierte er die "sozialpatriotische" Haltung seiner Partei und ihrer Führer aufs schärfste, die ihrerseits damals Friedrich Adler als einen überspannten Schwärmer ablehnten. Trotzdem bezeichnete Friedrich Adlers Tat den Beginn eines Umschwungs in der Partei; sie begann, von den Friedrich Adler nahestehenden Elementen gedrängt, gegen den "imperialistischen" Krieg in schärfere Opposition zu treten und die Ideen des Internationalismus wieder hervorzuholen.

Grundverschieden, aber nur was die magyarischen Schichten anbelangte, lagen die Verhältnisse in Ungarn, wo das Parlament den ganzen Krieg über tagte und der Lenker des Landes, Graf Tisza, sich auf eine starke Mehrheit stützte, der eine zwar kampflustige, mitunter sehr scharf ins Zeug gehende, aber doch zum größten Teil nationalistische Opposition gegenüberstand. Wer dieses Parlament, diese Mehrheit und diese Opposition von der Nähe besah, wurde wohl gewahr, daß sie allesamt den tatsächlichen Kraftverhältnissen im Lande nicht entsprachen; weder national, da das Wahlrecht den nach der Gesamtmasse den Magyaren gleichstarken Nationalitäten eine kaum in Betracht kommende Anzahl von Abgeordnetensitzen überließ - noch sozial, da dasselbe Wahlrecht auch breite Schichten der magyarischen Bevölkerung, so die gesamte Arbeiterschaft, von einer parlamentarischen Vertretung ausschloß. Der Parteienkampf im Parlament stellte nicht das Spiel der im Lande wirklich wirkenden oder nach Befreiung ringenden Kräfte dar, sondern es kamen in ihm meist doch nur die mehr oder minder privaten Rivalitäten verschiedener ehrgeiziger und tatenfroher Mitglieder des Hochadels und der Gentry zum Ausdruck. Dessenungeachtet bot für den ausländischen Beobachter das politische Leben Ungarns in diesen ersten Kriegsjahren ein Bild kraftstrotzender Gesundheit. Und wenn im besonderen magyarische Politiker mit einem mitleidigen Achselzucken gegenüber Österreich erklärten, daß es im Lande der Stefanskrone keine Nationalitätenfrage mehr gäbe, so schien diese Auffassung durch die Vorgänge im Parlament, wo diese Nationalitätenvertreter höchstens bei patriotischen Kundgebungen zu Wort kommen konnten, durchaus bestätigt zu werden.

Dieser Schein von politischer Kraft, den Tisza mit großem taktischen Geschick zur Geltung zu bringen wußte, da er ihn selbst für Wirklichkeit hielt, schaffte Ungarn ein gewaltiges Übergewicht über das streng absolutistisch regierte Österreich. Dazu kamen die Folgen der Blockade, die die Gebirgs- und Industrieländer Österreichs unendlich schwerer trafen als das ungarische Bauernland. Ungarn beeilte sich, gleich nach Kriegsbeginn - über alle Verträge hinweg - die Grenzen gegen Österreich abzusperren. Während dieses schon im zweiten Kriegshalbjahr - auch da bereits zu spät - scharf in die private Bewirtschaftung der wichtigeren Nahrungsmittel eingreifen mußte und schon im Jahre 1916 schwere Kriegsnot zu spüren bekam, schöpfte jenes in den ersten zwei Kriegs- [313] jahren und auch noch darüber hinaus aus dem Vollen. Österreich schwankte gar bald als Bittsteller zwischen Deutschland und Ungarn hin und her. Zu diesem wirtschaftlichen Übergewicht, das Ungarn über den Schwesterstaat erreicht hatte, kam noch moralischer Zuwachs durch die außerordentlich geschickte Propaganda, die man ungarischerseits mit den ja wirklich hervorragenden, aber von den Deutschösterreichern sicher erreichten, wenn nicht übertroffenen Leistungen der magyarischen Truppen trieb. Es ist für das Verständnis der weiteren Entwicklung wichtig, festzuhalten, daß schon in dem in Rede stehenden Zeitraum des großen Krieges in der breitesten ungarischen Öffentlichkeit die Auffassung Wurzeln schlug, das ungarische, will sagen magyarische Volk habe sich durch seine Haltung vor dem Feinde und seine Blutopfer vor allen anderen Völkern der Monarchie ein Anrecht auf besonderen Lohn erworben. Auch worin dieser Lohn zu bestehen habe, wußte man ganz genau: vor allem in der Schaffung des selbständigen ungarischen Heeres, die einer Zertrümmerung der alten k. und k. Armee natürlich gleichkommen mußte. Daß selbst Tisza solchen Ideengängen keineswegs fremd gegenüberstand, ergibt sich neben vielem daraus, daß er Monate hindurch mit seinem österreichischen Ministerkollegen Stürgkh einen erregten Notenwechsel über die Größe der von den Völkern diesseits und jenseits der Leitha dargebrachten Blutopfer führte.

Die Frage zu beantworten, ob all diese nur flüchtig angedeuteten Erscheinungen schon sichere Zeichen des unvermeidlichen Zerfalles waren, kann nicht Aufgabe eines geschichtlichen Überblicks sein. Es waren nicht die oberflächlichsten Beschauer, die sie schon damals stellten und schmerzlich bejahen zu müssen glaubten. Weit größer freilich war unter den vaterlandsliebenden Österreichern, vor allem unter den Deutschen des Reiches, die Zahl jener, die in dem seelischen Aufschwung bei Kriegsbeginn, in den herrlichen Gesamtleistungen der Armee und in dem entsagungsvollen Opfermut des größten Teils der Völker die Gewähr für eine innere Wiedergeburt erblickten. Aus diesem Glauben heraus entstanden so viele Umgestaltungspläne, als es Gläubige gab. Sie hatten alle das eine gemein: schon bei der Erörterung stellten sich weit mehr Gegner und Bekämpfer als Anhänger ein - und eine Verwirklichung wäre nie und nimmer durch friedliche Übereinkunft der Beteiligten, sondern nur durch eine starke Staatsgewalt, durch einen energischen und geschickten Staatsmann, der die Krone hinter sich hatte, in Angriff zu nehmen gewesen. Mit gegenseitiger Verträglichkeit, wie sie - zum ersten- und vielleicht zum letztenmal - auf dem Kremsierer Reichstag 1849 herrschte, konnte nicht mehr gerechnet werden.

Schon die Besprechung des südslawischen Problems deutete an, welche streng abweisende Haltung die Magyaren und ihre Führer jeder tiefgreifenden Umgestaltung des Gesamtreiches entgegensetzten. Wie um sich in seiner Abwehr festzulegen, erwirkte Tisza im Herbst 1915 die Schaffung eines neuen, die unga- [314] rische Staatlichkeit besonders unterstreichenden "Reichswappens".4 In diesem Wappenbilde führten die beiden Staaten der Monarchie völlig getrennte Wappen, deren loser Zusammenhang nur dadurch zum Ausdruck kam, daß ihre inneren oberen Ecken von einem kleinen Hauswappen der habsburgisch-lothringischen Dynastie überdeckt und zusammengehalten wurden. Solch seltsames Symbol eines staatsrechtlich überaus komplizierten Gebäudes sollte in Hinkunft auch die Fahnen des gemeinsamen Heeres zieren. Die Standarten wurden von einem schwarz-gelb-rot-weiß-grünen Zickzackmuster eingesäumt!

Der Widerstand der Magyaren gegen eine tiefgreifende Lösung des "österreichischen Problems", wie sie Popovici, Lammasch und auch der nachmalige erste Kanzler der deutschösterreichischen Republik, Karl Renner, dachten, bewog während des Krieges die meisten österreichischen Politiker, den Dualismus als eine unverrückbar gegebene Größe zu betrachten und die Reformpläne auf jene "im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" diesseits der Leitha zu beschränken, die in der kaiserlichen Verordnung über das neue Wappen zum erstenmal amtlich "Österreich" genannt wurden. Dabei tauchten in den ungezählten Projekten alle Abstufungen vom lose zusammengehaltenen Bundesstaat über die nationale Autonomie zum straff zentralisierten Einheitsreiche auf.

Die deutschösterreichischen Parteien hatten schon in der "Osterbegehrschrift" von 1915 die sogenannten "deutschen Belange" niedergelegt. Sie stellten sich ganz auf den Boden des österreichischen Staatsgedankens, an dessen Stärkung sie mitarbeiten wollten, forderten dafür aber, neben einer womöglich staatsrechtlich festgelegten Ausgestaltung des Bündnisses mit Deutschland, Bürgschaften für die Behauptung des deutschen Besitzstandes, dessen Sicherung ihnen auch aus staatlichen Interessen als unbedingt nötig erschien. Ihre wichtigsten Bedingungen waren: gesetzliche Festlegung der deutschen Staatssprache, Sonderstellung Galiziens, Schaffung auskömmlicher Verhältnisse in Böhmen. Sie stießen damit auf den heftigsten Widerstand der Tschechen und der Slowenen. Diese erblickten in der Forderung nach der deutschen Staatssprache eine unerträgliche Beschränkung ihrer nationalen Rechte. Sie fürchteten den Ausbau der galizischen Autonomie, weil die Vertreter Galiziens dann nur mehr in ganz eng umgrenzten Gebieten im Wiener Parlament hätten mitreden dürfen, was einer Stärkung des deutschen Einflusses gleichkam, und fanden in dieser Besorgnis mitfühlende Herzen bei den ostgalizischen Ukrainern, die eine weitere Stärkung der polnischen Macht über ihre Heimat selbstverständlich außerordentlich drückend empfunden hätten. Besonders scharf und nachdrücklich bekämpften die Tschechen den Gedanken einer Kreiseinteilung in Böhmen, durch die die [315] Deutschen Behauptung ihres Besitzstandes und möglichste Verminderung des nationalen Haders erhofften. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gehörte dieselbe Kreiseinteilung noch zu den Wünschen der tschechischen Politik, die sich damals eben noch mehr in der Defensive befand. Jetzt waren die Rollen gewechselt und damit auch das Verhalten zu der in Rede stehenden Verwaltungsfrage. Dagegen verlangten die Slowenen südlich der Drau die Kreiseinteilung als Grundlage für ihre freie nationale Entwicklung. Hier aber wurde der Gedanke von den Deutschen heftig bekämpft, weil seine Verwirklichung zahlreichen deutschen Sprachinseln die Existenz gekostet hätte.

So wie auf dem Boden der nationalen Autonomie ein einvernehmlicher Ausgleich der einander widerstreitenden Interessen kaum zu erwarten war, ebenso war ein solcher durch föderalistische Bildungen nicht zu erhoffen. Zog man die bundesstaatlichen Grenzen - wie dies knapp vor dem Zusammenbruch das Kaisermanifest vorsah - nach den Siedlungsgebieten der einzelnen Völker, was angesichts der großen Vermischung schon technisch nicht leicht war und von allen Beteiligten mehr oder minder schwere Opfer erheischt hätte - so wären damit die Deutschen im Norden, die Slowenen im Süden Westösterreichs zufrieden gewesen. Dagegen gab es für die Tschechen im Rahmen Österreichs nur eine Lösung auf "staatsrechtlicher" Grundlage in dem Sinne, daß Böhmen, Mähren und Schlesien samt den dreieinhalb Millionen Deutschen, die innerhalb deren Grenzen wohnten, zu einem Königreich der Wenzelskrone vereinigt würden. Freilich hatte für sie die Medaille des Staatsrechtes ihre Kehrseite, wenn ihr Blick nach Ungarn auf die dort lebenden, angeblich oder wirklich stammverwandten Slowaken fiel; dort forderten sie eine staatliche Abgrenzung nach ethnographischen Gesichtspunkten. Die Deutschen wieder wehrten sich gegen jede Einbeziehung der Slowenen in einen besonderen südslawischen Staat, weil sie dadurch von Triest und der Adria abgeschnitten zu werden fürchteten. Nicht zu vergessen schließlich die Magyaren, die in jeder bundesstaatlichen Umgestaltung Österreichs eine schwere Bedrohung der Einheit Ungarns erblickten, da sie Rückwirkungen auf die ungarischen "Nationalitäten", d. h. die nichtmagyarischen Völker des Königreichs, besorgten.

Wieder wird man unwillkürlich die Frage aufwerfen, ob angesichts all dieser Probleme, die nur einen Teil der großen "österreichischen Frage" ausmachten, an eine Entwirrung des gordischen Knotens überhaupt zu denken war. Die alten Österreichgläubigen wiesen auf das Beispiel zweier Kronländer hin: Mährens und der Bukowina. In diesen beiden Provinzen lagen die völkischen Verhältnisse verworrener denn irgendwo. Trotzdem gelang es dort in den Jahren vor dem Kriege, in friedlichem Ausgleich ein Verhältnis herzustellen, das den Wünschen aller Beteiligten genügte.

Oft kann man hören, daß eine Lösung der wichtigsten Fragen sogar noch im Kriege möglich gewesen wäre, und zwar nach Gorlice, als Rußlands Heer [316] unter den mächtigen Hieben der Mittelmächte niederbrach und deren Stern heller zu leuchten schien denn je. Damals hatten die zum Staate stehenden österreichischen Kreise neue Zuversicht gefaßt, indessen die Unzufriedenen ihre Hoffnungen auf den Nullpunkt sinken lassen mußten. Im Herbst 1915 ging denn auch eine Aktion von Herrenhausmitgliedern darauf aus, den jedem politischen Wagen abgeneigten Ministerpräsidenten Stürgkh durch den slawenfreundlichen, unternehmenden Grafen Silva Tarouca zu verdrängen und einen neuen, beweglicheren Kurs anzubahnen. Kaiser Franz Josef, wohl auch von Tisza beraten, brachte es nicht über sich, Stürgkh zu entlassen, und so unterblieb die Probe auf das Exempel, ob das Reich inmitten des schwersten aller Kriege wenigstens damals noch die inneren Erschütterungen ertragen hätte, von der jede wie immer geartete Umformung begleitet gewesen wäre.

Stürgkhs Nachfolger wurde - für unterrichtete Kreise war dies eine Selbstverständlichkeit - der bisherige gemeinsame Finanzminister Ernest v. Körber, der schon zu Beginn des Jahrhunderts das österreichische Staatsschiff mehrere Jahre hindurch gelenkt hatte und vielfach als der Mann begrüßt wurde, der auch jetzt die Krise im Leben Österreichs zu überwinden vermochte. In der Tat erfreute sich Körber, einer der fähigsten Köpfe des Reiches, trotz seines nahe an den Siebziger reichenden Alters noch ungebrochener Geisteskraft. Seine Nerven freilich hatten durch die Zeitläufte gelitten.

Körber wurde am 5. November zum Premier ernannt. Am selben Tage, gleichzeitig mit dem Kaisermanifest an Kongreßpolen, verkündete Franz Josef seinen Wunsch, daß die Sonderstellung Galiziens auf gesetzmäßigem Wege zu verwirklichen sei. Die Gegenzeichnung dieser kaiserlichen Willensmeinung hatte bereits Körber obgelegen, obgleich er - wie Freiherr v. Conrad - im Herzen dieser Verfassungsänderung abgeneigt war, da er in ihr lediglich eine Vorbereitung zur völligen Trennung Galiziens zu erblicken vermochte.

In jenen ersten Novembertagen hatten sich bereits die Schatten des Todes über das Kaiserschloß Schönbrunn herabgesenkt. Schon Ende Oktober war der greise Kaiser Franz Josef - wie übrigens des öfteren seit einem Jahrzehnt - an einer schweren Verkühlung der Atmungsorgane erkrankt. Sehr bald eintretender Kräfteverfall ließ die Hoffnung schwinden, daß es der Natur des Monarchen auch diesmal wieder gelingen werde, die Krankheit zu überwinden. Um den 10. November konnte kaum mehr ein Zweifel bestehen, daß die Katastrophe nahe sei. Wohl setzte Franz Josef fast mechanisch sein Tagewerk fort, wie er es seit Menschengedenken gewohnt war. Aber seine Stunden waren gezählt. Die kaiserliche Familie versammelte sich zu Schönbrunn, auch der Thronfolger wurde von der siebenbürgischen Front abberufen. Schon am 20. hatte es den Anschein, als sollte das Leben des Kaisers erlöschen. Aber am 21. früh fand man ihn wieder am Arbeitstisch. Kurz nach Mittag trat eine starke Verschlimmerung ein, es kam hohes Fieber. Bis 7 Uhr [317] ließ man ihn noch im Lehnstuhl sitzen, dann wurde er zu Bette gebracht. Um 9 Uhr 5 Minuten abends tat sich die Türe des kaiserlichen Schlafzimmers auf: Seine Majestät der Kaiser und apostolische König ist soeben ruhig verschieden...

Am 28. November betete Kaiser Wilhelm am Sarge seines treuen, ritterlichen Freundes. Zwei Tage später, nachdem all die ergreifenden und düsteren Bräuche des spanischen Zeremoniells erfüllt waren, tat der tote Souverän seine letzte Fahrt quer durch die Kaiserstadt: von der Burg aus, in der seine Väter seit sechshundert Jahren gewohnt hatten und er selbst durch mehr als ein Menschenalter, über den Ring zum Kriegsministerium, dann über den Franz-Josefs-Kai durch die Rotenturmstraße nach Sankt Stephan. Eine Stunde später pochte der Obersthofmeister Fürst Montenuovo mit goldenem Stabe an die Pforte der Kapuziner auf dem Neuen Markt. Sein kaiserlicher Herr begehrte Einlaß nach 86 Jahren irdischer Pilgerfahrt. Das Tor öffnete sich, die Mindesten der Brüder nahmen, was an Franz Josef irdisch war, in Sorge und Obhut...

Altösterreich stand vor dem letzten Abschnitt seiner Geschichte.


1 [1/301]Die diesem Buche beigegebenen Abschnitte politisch-historischen Inhalts sollen keine erschöpfende Geschichte Österreich-Ungarns während des Kriegen bieten; sie können die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung nur so weit behandeln, als dies zum Verständnis der Katastrophe, die Reich und Heer ereilte, notwendig ist. Im Unterkapitel über Kaiser Franz Josefs letzte Zeit und Heimgang sind nur jene politischen Geschehnisse gestreift, die nicht schon in einem der vorangehenden kriegsgeschichtlichen Abschnitte erwähnt wurden. ...zurück...

2 [2/301]Von Juli 1915 bis zum Kriegsende als Verfasser der Heeresberichte und Pressereferent in der Operationsabteilung des k. u. k. Armee-Oberkommandos eingeteilt. ...zurück...

3 [1/304]Der seinerzeitige gemeinsame Finanzminister v. Bilinski beklagte sich in der Herrenhausdebatte vom 23. Oktober 1918, daß es ihm im August 1914 schon gelungen sei, Kaiser Franz Josef für eine feierliche Selbständigkeitserklärung Polens und die Einsetzung einer Regierung in Warschau zu gewinnen, daß Tisza jedoch diese Pläne in letzter Stunde durchkreuzt habe. ...zurück...

4 [1/314]Der Ausdruck "Reich" wird hier aus sprachlichen Gründen gebraucht. Obgleich er auch im Text des Ausgleiches von 1867 vorkam, lehnten ihn die Magyaren als Bezeichnung für die Gesamtmonarchie staatsrechtlich ab. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte