Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 15: Österreich-Ungarns Politik
in den Kriegsjahren 1914 bis 1917 (Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau
2. Ein Charakterbild Kaiser Franz
Josefs.
Ernst v. Plener hat im dritten Band seiner Erinnerungen5 eine Charakteristik des toten Kaisers
veröffentlicht, die wiedergegeben sei als die Darstellung eines Mannes, der
sehr gut weiß, daß er bei Franz Josef nicht sonderlich in Gnade
gestanden hatte, und dessen Urteil gerade deshalb bedeutsam ist:
"Es ist viel über Kaiser Franz
Josef nach seinem Tode geschrieben worden... In der Regel werden seine Anlagen
richtig geschildert, starkes Gedächtnis, rasche Auffassung und kritisches
Urteil, dagegen eine geringe Neigung zum abstrakten Denken und zur Erfassung
allgemeiner Probleme, vielmehr eine auf die unmittelbaren Bedürfnisse
gerichtete Aufmerksamkeit. Er war zu früh in die Geschäfte
gekommen, und das in Jahren, in denen jeder Tag eine neue drängende
Aufgabe stellte, so daß für weite Gesichtspunkte die Zeit zur
Vorbereitung und zum Durchdenken fehlte. Diese praktische Richtung blieb
zeitlebens maßgebend, ich erinnere mich, daß, als ich bei einem
Gespräch im Jahre 1897 die damals bevorstehende einseitige Regelung des
wirtschaftlichen Verhältnisses zwischen Österreich und Ungarn
bloß durch ein ungarisches Gesetz als eine Gefahr für den Dualismus
bezeichnete, er mir erwiderte, schließlich sei dies auch ein Ausweg, der
für den Moment Ordnung schafft. Sein Fleiß war
sprichwörtlich, die Arbeit am Schreibtisch fesselte ihn den ganzen Tag, und
er begann bekanntlich den Tag zu sehr früher Stunde; dieses viele Lesen
von Akten und Berichten lag in der Überlieferung des Herrscherhauses von
Philipp II. [318] bis zu Kaiser Franz;
wenn es auch den Geist ermüdete, so wirkte es doch oft als Ablenkung von
Sorgen und schmerzlichen Eindrücken. Bei aller Gründlichkeit, die
im Laufe der Jahre einen großen Schatz von Kenntnissen aufspeicherte, war
diese Arbeit doch wesentlich laufende Tagesarbeit, ausgreifende Studien einzelner
großer Fragen mit Heranziehung von Material außerhalb des
Tageseinlaufes fanden nicht statt, die Hauptsache bestand in der Erledigung der
regelmäßig eingehenden Vorträge, die namentlich in den
mittleren Jahren der Regierungszeit einen viel zu großen Umfang
angenommen hatten und erst gegen Ende wesentlich kürzer gehalten waren.
Der Kaiser ließ sich oft die Fachminister kommen, um über einzelne
Punkte oder Zweifel mündlichen Bericht zu erhalten, und bei diesen
Anlässen legte er durch richtige Fragenstellung eine sichere
Geschäftsführung an den Tag. Die Behauptung, daß er den
Staatsvoranschlag bis in alle Einzelheiten kannte, ist nur teilweise richtig, das
Heeresbudget war ihm allerdings in allen seinen Posten sehr vertraut, aber
für finanzielle Fragen im allgemeinen hatte er keinen besonderen Sinn, er
hielt selbstverständlich auf Ordnung und war insbesondere auf die
Bedeckung der militärischen Ausgaben bedacht, aber
Steuerreformpläne z. B. interessierten ihn im einzelnen nicht. Seine
Kenntnis der Armeeverwaltung war sehr groß und hielt hier dem
eigentlichen soldatischen Geist die Wage.
Wichtiger als die rein intellektuellen Fähigkeiten
sind im Leben die Eigenschaften des Temperaments und Charakters, denn diese
bestimmen zugleich mit der praktischen Urteilskraft die Haltung im Verkehr mit
den Menschen und das eigene Handeln. Willenskraft hatte der Kaiser, aber nicht
im höchsten Ausmaße, oft waren die genommenen Anläufe
gehemmt und kamen ins Schwanken, aber es war nicht bloß unstete Laune,
die den Wechsel herbeiführte, es waren die großen
äußeren Schwierigkeiten, die ihn nacheinander verschiedene Mittel
versuchen und ergreifen ließen, aber die wichtigsten Entschlüsse,
wenn sie auch lange vorher kritisch erwogen worden waren, wurden oft
überstürzt gefaßt. Der Mangel an Folgerichtigkeit ist bei einem
Monarchen nicht dasselbe wie bei einem einzelnen Politiker, der wegen seiner
Parteiangehörigkeit und seines Rufes an seinen Grundsätzen
festhält, während der erstere, der über den Parteien steht und
vor allem nur auf den Fortgang des Staates bedacht sein muß, seine
Entschließungen wie Figuren auf dem Schachbrett wechselt, ohne sich mit
ihnen zu identifizieren. Allerdings kommt es hierbei darauf an, daß die
richtigen Figuren und zur rechten Zeit gewählt werden, und hier hat er nicht
immer Menschenkenntnis in der Wahl seiner Ratgeber bewiesen. Aber trotz
dieses Opportunismus hielt er an gewissen Gedanken mit Zähigkeit fest,
wie die Zurückdrängung der Verfassungspartei in Österreich
oder die Erhaltung der Einheitlichkeit der Armee im Kampfe gegen die
ungarischen Parlamentspolitiker - er mußte oft die Taktik wechseln,
auch von seinem Standpunkte aus öfter nachgeben, aber sein Ziel behielt er
im Auge.
[319]
Er hatte Selbstbeherrschung, war aber in früheren Jahren nicht frei von
Ausbrüchen des Jähzornes und der üblen Laune, dann konnte
er aufbrausen und harte Worte gebrauchen. Schwung wie Alexander I. oder
Wilhelm II. hatte er keinen, er war eine kühle Natur und nur
vorübergehend wärmeren Empfindungen zugänglich, er stand
zu hoch und war zu sehr mit seinen drängenden Staatsaufgaben
beschäftigt, als daß ein menschlich inniges Verhältnis zu seiner
Umgebung Platz finden konnte. Der Satz Hegels: »Durch sein
Macht- und Staatsbewußtsein wird der Monarch schlechthin von allen
abgesondert, ausgenommen und einsam...« galt auch von ihm. Dieses
Bewußtsein, Staatsoberhaupt zu sein, erfüllte ihn gänzlich;
immer, soweit er konnte, war er bedacht, die alte Herrscherüberlieferung
nicht bloß gegenüber seinen Untertanen, sondern auch
gegenüber fremden Souveränen zu wahren, so war er trotz der
Einbuße an äußerer Macht, ohne Pose, aber vermöge der
eigenen Würde, zu einer europäischen Respektsfigur geworden.
Ebenso hatten im eigenen Lande in den letzten Jahrzehnten seine Beliebtheit und
Volkstümlichkeit zugenommen, das hohe Alter, das vielfache
Mißgeschick, sowie seine Pflichtstrenge und seine persönliche
Anspruchslosigkeit hatten das monarchische Gefühl und die Neigung des
Volkes zu ihm gesteigert.
Wenn Kaiser Franz Josef auch die vielen
Schicksalsschläge, die sein Reich und seine Familie trafen, mit Festigkeit
ertrug, so konnten sie nicht ohne Wirkung auf seine Gemütsverfassung und
Lebensanschauung bleiben, und so mußten sich im hohen Alter eine
gewisse Verzichtstimmung und ein allgemeines Ruhebedürfnis einstellen,
das aber auch noch bis zuletzt durch das unerquickliche Verhältnis zum Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand gestört wurde...
So stand er im hohen Alter vereinsamt, die bitteren
Eindrücke und Enttäuschungen seines Lebens zogen an ihm
vorüber und die Spannkraft erlahmte, aber die reiche Erfahrung
schärfte die kritische Beurteilung der Ereignisse. Mir ist meine letzte
längere Unterredung mit ihm (Juli 1916, also wenige Monate vor seinem
Tode) in lebhafter Erinnerung geblieben. Er sprach über alles, zur
böhmischen Frage gab er zwar zu, daß schließlich eine
sprachenrechtliche Ordnung von oben kommen müsse, selbst
während des Krieges, aber offenbar unter dem Einfluß
Stürgkhs stehend, wollte er über den Inhalt einer solchen sich nicht
bindend äußern, er kannte die hochverräterischen Umtriebe im
Lande, die Desertion und Fahnenflucht einzelner tschechischer Truppenteile,
obwohl er für andere ausdrücklich ihre Verläßlichkeit
und Manneszucht in Anspruch nahm. Die Loyalitätskundgebungen
einzelner tschechischer Korporationen, die immer nur nach militärischen
Erfolgen stattfanden, schlug er nicht hoch an. Er fragte mich um meine Meinung
über den Prozeß Kramarsch, die ich nicht zurückhielt, aber
auch hier schien die abschwächende und mildernde Auffassung
Stürgkhs zugunsten des Angeklagten durchzusickern, offenbar bereitete
ihm die bevorstehende Urteilsbestätigung Gewissenszweifel. Über
Ungarn sprach der Kaiser [320] ausführlich, voll
Anerkennung für Tisza, den er geradezu als seine Stütze bezeichnete,
wenn er auch nicht mit der gerade in jenem Zeitpunkte von Tisza zugestandenen
Zuziehung von Oppositionsführern zur Behandlung wichtiger
außenpolitischer und militärischer Fragen einverstanden war, weil
dadurch Elementen, die keine Verantwortlichkeit trügen, eine Einmischung
gewährt werde. Die militärischen Ereignisse machten ihn sehr
besorgt, er sah noch mehr Gefahren an der Südfront als auf dem
polnisch-galizischen Kriegsschauplatz (selbst schon nach Luck), er sprach
über die vorgefallenen Mißgriffe und Fehler, aber im Tone des
außenstehenden Kritikers, ohne es zum Bewußtsein kommen zu
lassen, daß er durch seine Entscheidung die gerügten Fehler
hätte verhindern oder die Ereignisse anders hätte bestimmen
können. So weit hatte ihn das hohe Alter der Wirklichkeit des Schaffens
entrückt, er hatte noch die Einsicht, aber nicht mehr die Kraft des Willens
zur Tat, der Geist war nicht gebrochen, aber müde geworden.
Ich kenne seine inneren Vorgänge unmittelbar vor
dem Kriegsausbruche nicht, aber daß er auf den Krieg hingearbeitet oder auf
ihn hingedrängt hatte, ist sicher nicht der Fall. Bei abnehmender
Entschlußkraft ließ sich der Kaiser von seinen Ratgebern zur
Kriegserklärung bestimmen, die ihm die Unausweichlichkeit dieses
Schrittes bewiesen. Der Schatten des Krieges, der in seinem Sterbejahr eine
ungünstige Wendung zu nehmen begann, lag schwer auf ihm, er sah den
Niedergang sich vorbereiten, aber ich glaube nicht, daß der politische
Zusammenbruch vom Oktober 1918 sich so vollzogen hätte, wenn er noch
regiert hätte, selbst im höchsten Greisenalter hätte der Kaiser
noch eine Widerstandskraft und den Glauben an sein Reich
bewahrt."
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