Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 25: Der Zusammenbruch
(Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund
Glaise-Horstenau
5. Vor dem letzten
Waffengang.
Die Armee hatte unter den Nachwirkungen der unglücklichen Junischlacht
schwer gelitten, und sie litt nicht weniger unter dem politischen und
wirtschaftlichen Niedergang der Heimat, die dem Heere nicht nur jeden
moralischen Kraftzufluß versagte, sondern auch in materieller Beziehung
ihre Pflichten nicht mehr erfüllte, nicht mehr zu erfüllen
vermochte.
Juli und August waren für die Front wahre Hungermonate. Viele Tage
sahen die Truppen keinen Bissen Fleisch, kein Gramm Fett. Nach der Ernte trat
eine kleine Besserung ein, es gab wenigstens etwas mehr Brot. Trotzdem konnte
es geschehen, daß ganze Abteilungen in voller Ausrüstung in die
vorderste Linie "desertierten", weil man dort um ein paar Gramm mehr zu essen
bekam als im Ausbildungsraum. Im Schützengraben des ruhmreichen
Szekler Regiments Nr. 82 fand man eines Morgens einen von
Überläufern zurückgelassenen Zettel: "Von uns ist bisher noch
niemand durchgegangen, aber jetzt halten wir es vor Hunger nicht mehr aus." Die
Etappe wurde von ungezählten "Selbstverpflegern" durchzogen und
unsicher gemacht. Eine Dienststelle berechnete das Durchschnittsgewicht ihrer
untergebenen Mannschaften mit 50 kg!
Noch jämmerlicher sah es mit der Bekleidung aus. Der Besitz einer ganzen
Garnitur Wäsche war ein Zeichen besonderen Wohlstandes. Leute mit
Hemden ohne Ärmel oder Rückenteil, mit halben Unterhosen
gehörten zu den alltäglichen Erscheinungen. Schwer fiebernde
Malariakranke mußten nackt und zitternd im Freien stehen, bis ihr einziges,
eben gewaschenes Hemd getrocknet war. Uniformen und Schuhe waren aus
schlechtem Stoff und zerfielen wie Papier. Ende Oktober fand mitten in der
Schlacht ein Generalstabsoffizier in einer Gebirgskaverne unmittelbar hinter der
Front eine nur mit Unterwäsche bekleidete Abteilung. Sie stand im
Bereitschaftsdienst, Uniformen waren aber nur für die vorderste Front
genug vorhanden! Ein [619] Dalmatiner Infanterist
sagte wehmütig zu einem Offizier: "Wir sind nicht Helden, sondern
Bettler."15 Offiziere, die über keinen
Friedensvorrat an Uniformen verfügten, mußten sich, wenn sie auf
Urlaub gingen, von besser gestellten Kameraden Kleidungsstücke
ausleihen. Man kann sich vorstellen, mit welcher Verbitterung solche
Männer den Luxus mitansahen, den der neue Reichtum, namentlich in den
Großstädten, inmitten furchtbarsten Elends entfaltete!
Die Ersatzgestellung kam dem Bedarf der Truppe nicht nach. Die
unterernährte Mannschaft war für Erkrankungen
naturgemäß viel empfänglicher als gut verpflegte. An der
unteren Piave griff überdies die Malaria um sich und dezimierte die
Abteilungen. Später trat noch die spanische Grippe hinzu. Kompagnien zu
hundert Mann zählten zu den glücklichen Ausnahmen. Halb so
starke waren die Regel.
Daß ein so blutleerer Körper psychischen Einwirkungen leicht
unterliegen mußte, war klar. An solchen fehlte es nicht. Die
Ersatzkörper der Heimat wurden von Tag zu Tag mehr in die Netze der
nationalen und sozialen Verschwörungen verstrickt. Tschechen, Polen und
Südslawen bereiteten ihre nationalen Heere vor. Daher der stets
wiederkehrende Wunsch der Nationalräte nach Heimberufung der in
deutsche und magyarische Gegenden verlegten Ersatztruppen. Noch stärker
scheint bei den ungarischen Truppen die Karolyipartei Eingang in die Kasernen
gefunden zu haben; besonders die Budapester Garnison wurde unausgesetzt im
revolutionären Sinne bearbeitet.
Auch in Deutschösterreich machte, zum Mißbehagen Viktor Adlers,
ein junger Sozialdemokrat, der als Landsturmleutnant in der Wirtschaftsabteilung
des Kriegsministeriums eine Vertrauensstellung innehatte, den Versuch, eine
revolutionäre Soldatenorganisation zu schaffen. Ob
diese - wenigstens vor den letzten Oktoberwochen - besonders tief
griff, ist fraglich.
Daß die Unterwühlung der Heimattruppen nicht ohne
Rückwirkung auf die Front blieb, die doch unausgesetzt von ihnen gespeist
wurde, bedarf keiner näheren Erläuterung. Zum wenigsten herrschte
eine große Kriegsmüdigkeit, die bei den Mannschaften und noch
mehr bei den Offizieren - alle Berichte kommen darauf
zurück - durch die schmerzlichen Nachrichten von der Westfront
noch mächtig gesteigert wurde. Wenn nicht einmal mehr Deutschland
standhielt, wozu führte man weiter Krieg? fragte sich alles, ganz so wie in
der Heimat. Trotzdem war der Geist der Kampftruppen auch anfangs Oktober
noch zufriedenstellend. Das erweist sich nicht nur aus den Berichten der
Kommandanten, sondern in weit eindringlicherem Maße aus dem
tatkräftigen Widerstande, den der Feind im August und September bei
verschiedenen, räumlich begrenzten, [620] aber mit
verhältnismäßig beträchtlichem Kräfteaufgebot
ausgeführten Unternehmen an der venetianischen Gebirgsfront und im
Tonalegebiet gefunden hatte. Es waren bei diesen Vorstößen nicht
bloß Italiener aufgetreten, denen sich der
österreichisch-ungarische Soldat bis zur letzten Stunde bedingungslos
überlegen fühlte, sondern - im August bei
Asiago - auch Engländer und Franzosen. Kämpfer aller
Völker des Donaureiches hatten unter den schwersten Bedingungen noch
ihren Mann gestellt.
Die durch das Friedensangebot vom 4. Oktober hervorgerufene innere
Umwälzung erfüllte das Armee-Oberkommando Baden mit der
größten Besorgnis, da sich gleichzeitig die Nachrichten über
einen bald bevorstehenden Hauptangriff gegen die venetianische Front
verdichteten. Schon die Waffenstillstandsbitte an sich mußte die
Kampfkraft lähmen, da es nicht jedermanns Sache ist, sich heute noch
erschießen zu lassen, wenn morgen schon abgeblasen wird. Bei den
Berufsmilitärs kam noch die Sorge um die Zukunft hinzu, die infolge der
Zustimmung zur Weltabrüstung - 4. Punkt
Wilsons - für diese Männer ja wirklich im dunklen
lag. Aber diese Nachteile wogen federleicht gegenüber den furchtbaren
Rückwirkungen, die die innerpolitische Entwicklung früher oder
später mit sich bringen mußte.
Die Heeresleitung war bemüht, zu verhindern, daß die Armee in den
Wirbel der Geschehnisse hineingerissen wurde. Zwei Wochen hindurch
vermochte die Kunde von dem, was sich im Innern begab, nur gedämpft bis
in den Schützengraben vorzudringen. Da platzte das kaiserliche Manifest
wie eine Bombe hinein. Der Chef des Generalstabes hatte es nicht unterlassen, auf
die gefährlichen Folgen hinzuweisen, die sich aus der im Manifest
enthaltenen Verabschiedung der Polen, aus der Verkündung schrankenlosen
Selbstbestimmungsrechtes und aus der unglückseligen Behandlung der
Südslawenfrage für die Armee ergeben mußten. Seine
Bedenken wurden innerpolitischen Erwägungen geopfert. So
enthüllte denn das Manifest, das übrigens von den höheren
Befehlsstellen mitunter durch mehrere Tage der Truppe vorenthalten wurde, dem
Heere, namentlich den Offizieren, schonungslos Dinge, von deren Werden man in
der Front bisher nur eine sehr verschwommene Vorstellung hatte. Es wurde
allgemein als Zeichen einer Revolution von oben angesehen, deren Auswirkung
auf die Truppe zu bekämpfen, ein beinahe aussichtsloses Beginnen zu sein
schien. Seine Wirkung wurde durch Wilsons Antwort übertroffen.
Noch härter griffen freilich die Einflüsse aus Ungarn an den
Lebensnerv des Heeres. Da war es vor allem der verhängnisvolle Ruf
Tiszas, daß
der Krieg verloren sei - der sich in der ganzen Armee mit Windeseile
verbreitete und dessen verderbliche Wirkung sich an tausend Stellen schon nach
Stunden fühlbar machte. Insonderheit bei den Magyaren gab es jetzt
für die Aufnahme aller von der Karolyipartei kommenden Schlagworte
keine Hemmung mehr. Friede, nationale Armee, nationale Verteidigung,
Heimkehr waren [621] die Gedanken, die
immer stärker und zwingender die Köpfe nicht bloß der
einfachen magyarischen Kämpfer beherrschten.
Das Armee-Oberkommando wurde sich von Tag zu Tag klarer: dieses Heer
begann den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein
verhältnismäßig geringer Anstoß konnte eine Lawine ins
Rollen bringen, deren verheerende Wirkung gerade die deutschen Erblande am
Schwersten treffen mußte!
Unter solchen Verhältnissen geboten politische Erwägungen und
Menschenpflicht gleicherweise, die Schlacht, wenn möglich, noch in letzter
Stunde zu verhindern. Als Wilsons erste Antwort an Deutschland die
Räumung der besetzten Gebiete in die Diskussion warf und sich die
maßgebenden Männer der österreichischen Heeresleitung mit
dieser Frage befaßten, kam allgemein die Besorgnis zum Ausdruck,
daß die einmal aus ihren Stellungen genommene Armee an der
Reichsgrenze nicht mehr aufzuhalten sein werde. Angesichts dieser
Erwägung und wegen der allgemeinen Armut an Transportmitteln
wäre es nicht einmal ratsam gewesen, die Front dem sich
zusammenziehenden Ungewitter durch Preisgabe des unmittelbaren
Gefechtsfeldes zu entziehen und so den Feind zu einem zweiten zeitraubenden
Artillerieaufmarsch zu zwingen.
Um doch ein übriges zu tun, bat Kaiser Karl den Papst um Intervention bei
der italienischen Regierung. Das Ansuchen kam erst nach Rom, als die Schlacht
bereits entbrannt war. Auch andernfalls wäre das Eingreifen des Heiligen
Vaters, wenn er sich überhaupt in seiner heiklen politischen Lage dazu
entschlossen hätte, von Haus aus zu einem vollen Mißerfolg
verurteilt gewesen. Die Italiener konnten des Sieges, der ihnen nun, nach
zwölf schweren Niederlagen, dank der Zersetzung des Habsburgerreiches
und seines Heeres winkte, auf keinen Fall entbehren. Ihre Aspirationen waren sehr
groß und berührten nicht bloß die Interessen der alten
Monarchie, sondern auch der im großserbischen Reich aufgehenden
Südslawen. Da durften sie nicht mit leeren Händen an den
Friedenstisch treten. Die gran battaglia mußte geschlagen werden!
Nicht einmal die vollständige Waffenstreckung des Gegners
hätte - wie sich später zeigen
sollte - den italienischen Siegesdurst zu löschen vermocht!
Um den 20. Oktober sandte die Heeresleitung Generalsstabsoffiziere nach Prag,
Krakau, Laibach und Agram, um die Unterstützung der Nationalräte
im Kampf gegen die bei der Armee etwa ausbrechende Anarchie zu gewinnen.
Man fand einiges Gehör. Aber diese Vertretungen der der Entente bereits
"assoziierten" jungen Staaten durften naturgemäß - mochten
dabei auch Tausende eigener Volksgenossen an Leben und Gut Schaden
erleiden - nicht an Maßnahmen mitwirken, die letzten Endes den Sieg
ihrer neuen Bundesgenossen schmälern mußten.
So kam denn der 24. Oktober 1918 heran, der Jahrestag von
Karfreit - Tolmein. In den Sieben Gemeinden, in den Gebirgen
östlich der Brenta [622] und an der Piave
gingen Italiener, Franzosen und Engländer zum Angriff über. Zum
letztenmal am Ausgang einer dreihundertjährigen ehrenvollen Geschichte
traten Habsburgs Völker in Waffen zur Schlacht an. Die Welt hatte
dergleichen vorher nie gesehen: ein auf Leben und Tod ringendes Volksheer ohne
Vaterland.
6. Die Schlacht in den venetianischen
Bergen.
Nach der Junischlacht in Venetien gingen die Italiener zunächst daran, in
den Sieben Gemeinden von langer Hand einen großen Angriff
vorzubereiten.16 Bald aber änderten sie ihre
Absichten, indem sie den Bruchpunkt zwischen der
Gebirgs- und der Piavefront zum Ausgangspunkt ihrer Offensive wählten.
Von hier aus sollte ein Keil in die gegnerischen Linien getrieben und die beiden
dadurch voneinander getrennten österreichischen Heeresteile aus den
Flanken her aufgerollt werden. Mit der Ausführung des Planes ließen
sich die Italiener wohlweislich Zeit. "Es handelte sich darum," schreibt General
Diaz, "einen überlegenen und festgefügten Gegner in sehr starken,
wohl vorbereiteten Stellungen anzugreifen... Man mußte zunächst die
Lage wachsam verfolgen und beim ersten Anzeichen günstiger Wendung
ohne Verzug handeln..." Diese erwünschte günstige Wendung stellte
sich für die Italiener verhältnismäßig spät ein. Der
Umschwung im Westen genügte ihnen nicht. Noch mußte Bulgarien
zusammenbrechen, ehe sich Diaz am 25. September entschloß, die ersten
Befehle für die Bildung der Stoßgruppe zu erteilen.
Die Feindfront zählte 51 italienische, 3 englische, 2 französische und
eine tschechoslowakische Division, dazu 1 amerikanisches
Regiment - zusammen etwa 850 Bataillone. Die Durchbruchsmasse wurde
aus 22 Divisionen erster Linie gebildet, denen über 2000 Geschütze
zugeführt wurden. Sie sammelte sich zwischen
Treviso-Oderzo und Bassano in 4 Armeen: 10. Armee, britischer General Cavan,
8. Armee General Caviglia, 12. Armee französischer General Graziani, 4.
Armee General Giardino. Im zweiten und dritten Treffen standen 19 italienische
Divisionen und die Tschechoslowaken als Manövriermasse; sechs dieser
Divisionen waren zu einer 9. Armee, General Morrone, zusammengezogen.
Das österreichisch-ungarische Heer stand in derselben Linie wie zu Anfang
Juli. An der Kriegsgliederung hatte sich nur geändert, daß Anfang
September die zwischen Brenta und Piave stehenden Streitkräfte zu einer
dem Feldmarschall v. Boroević unmittelbar unterstehenden
"Armeegruppe Belluno", [623] Feldzeugmeister
v. Goglia, zusammengefaßt worden waren. Mitte Oktober
umfaßte das k. u. k. Südwestheer insgesamt
57½ Divisionen mit einem Feuergewehrstand, der zwischen
250 000 und 350 000 Mann schwankte, und einem Verpflegstand
von 1½ Millionen. Da die Division durchschnittlich bloß
10 - 11 statt der vorgeschriebenen 13 Bataillone zählte,
blieb der Verteidiger gegenüber dem Angreifer um 200 Bataillone
zurück, mit welcher Zahl sich die Hinweise der Italiener auf die numerische
Überlegenheit der Österreicher von selbst erledigen.
Im Angriffsraum standen den 42 feindlichen 31½ k. u. k. Divisionen
gegenüber, von denen 18 die erste Linie bildeten. Diese allein sollten die
Träger des Abwehrkampfes sein!
Der Angriff der Alliierten war zuerst für den 16. Oktober geplant.
Fünf Tage vorher, am 11., hatten Italiener und Franzosen in den Sieben
Gemeinden ein groß angelegtes Sturmtruppunternehmen versucht, um die
Aufmerksamkeit von der in Aussicht genommenen Durchbruchsstelle abzulenken.
Infanterie und Artillerie der Verteidiger waren voll auf dem Platze. Der Feind
wurde überall abgewiesen, der vorübergehend an die Franzosen
verlorene Sisemol im Gegenstoß zurückgewonnen. Deutsche,
Magyaren, Slowenen und Italiener hatten an dem Gefecht teilgenommen.
Gleichzeitig mit diesem moralisch sicherlich wertvollen Erfolg konnte der
österreichisch-ungarische Generalstab melden, daß am 8., 9. und 10.
Oktober und dann wieder am 12. die k. u. k. 1. Division unter ihrem
ausgezeichneten Führer General Metzger an den Abwehrkämpfen bei
Beaumont ruhmvoll mitgewirkt habe. "Die ungarischen Infanterieregimenter
Nr. 5 und 112 wetteiferten an Tapferkeit mit den
Feldjägerbataillonen Nr. 17 (Judenburg), 25 (Brünn) und 31
(Agram)."
Alsbald öffnete der Himmel über den oberitalienischen Gefilden
erneut seine Schleusen. Die Flüsse führten Hochwasser. Damit
leistete der Wettergott den Italienern mittelbar wertvolle Schützenhilfe. Er
zwang sie, den Angriff um jene Woche zu verschieben, in der dem
österreichischen Heere das Manifest, die Antwort Wilsons und der Sieg
Karolyis in Ungarn beschert wurde. Die Italiener hatten "die Lage wachsam
verfolgt" und die "günstige Wendung" richtig wahrgenommen!
Um dem Hauptstoß auf Vittorio entsprechende Sicherheit gegen Norden zu
verschaffen, wollten die Alliierten den Gegner zunächst aus seinen
drohenden Gebirgsstellungen zwischen Brenta und Piave gegen Fonzaso
zurückdrücken. Diesen Angriff, der der 4. und dem linken
Flügel der 12. Armee zufiel, hatte die in den Sieben Gemeinden stehende 6.
Armee durch Scheinangriffe zu begleiten.
Am 24. Oktober um 4 Uhr früh setzte das Artilleriefeuer der Alliierten ein,
nach 7 Uhr begann der Infanterieangriff.
Voll schwerster Besorgnis harrten auf österreichischer Seite die
höheren Führer der ersten Meldungen vom Schlachtfeld. Nur ein
Wunder Gottes [624] konnte die Lage retten.
Und siehe: Es schien, als sollte dieses Wunder geschehen.
Soweit die Sieben Gemeinden in Frage kamen, war es bald klar, daß es sich
hier nur um eine Demonstration handle. Aber auch die Abwehr dieser durfte als
günstiges Zeichen gebucht werden. Bloß der Monte Sisemol war
wieder für einige Stunden an die Franzosen verloren worden. Er wurde
diesen am 25. früh wieder entrissen.
Ungleich gewaltiger waren freilich die Kampfhandlungen, zu denen es in den
Gebirgen zwischen der Brenta und der Piave kam. Hier entbrannte ein vier Tage
währendes Ringen, das an Heftigkeit den großen Schlachten des
Weltkrieges in nichts nachstand und zur furchtbarsten Tragödie der
Kriegsgeschichte wurde.
Noch einmal sind der Asolone, der Monte Pertica, der Solarola, die Felswand der
Spinuccia von den Blutwogen des männermordenden Krieges umbrandet.
Die Kunde, die von der Walstatt kommt, ist so unfaßbar, daß sie in
der Heimat nicht geglaubt wird. Und doch ist sie entsetzlich, ergreifend wahr!
Deutsche und Magyaren, Polen und Tschechen, Kroaten und Serben, Slowenen
und Slowaken - sie alle stehen noch einmal in opfermutiger
Waffenbrüderschaft zusammen. Um jeden Felsblock, um jede Höhle,
um jeden Stollen wird mit namenloser Erbitterung gerauft. Der Kampf wogt hin
und her. Der Asolone und der Monte Pertica, die als Bastionen weit gegen Mittag
vorspringen, gehen einmal, zweimal, zum drittenmal verloren. Das Heer ohne
Vaterland findet immer wieder wackere
Bataillone - nein, keine Bataillone, zerfetzte, keuchende
Haufen - die diese Bollwerke zurücknehmen - um nichts, als
um ihre Ehre. Beim Asolone sind es das eine Mal Galizianer, das andere Mal
Niederösterreicher und Mährer; beim Monte Pertica Steirer,
Kärntner, Kroaten und Slawonier. Der Pertica geht dann am 27. doch
wieder in Feindeshand über. Er bleibt aber auch der einzige "Siegespreis",
dessen sich die Italiener am Ende der Gebirgsschlacht rühmen
dürfen.
Und was das besonders Erhebende und zugleich Furchtbare dieser Kämpfe
ist: wenn die Feinde in einem nachkonstruierten Berichte vorgeben, daß es
ihnen bei ihren erfolglosen Anstürmen gegen die Gebirgsmauer gelungen
sei, die Österreicher zum Einsatz aller verfügbaren Reserven zu
zwingen, so ist dies nur ein eitel Trugbild. Durch 96 Stunden hatten fast
überall dieselben Bataillone, dieselben Mannschaften, dieselben Offiziere
ohne einen Augenblick des Aufatmens, ohne Rast und Ruh den harten
Strauß ausgefochten. Wohl richteten sie oft sehnsuchtsvoll den Blick die
engen Gebirgssteige hinab, auf denen Verstärkung und Ablösung
nahen sollte. Aber unter den namhaften Reserven, die unten im Tale standen, fand
sich vergleichsweise kaum eine Handvoll Leute bereit, den Kameraden an der
Front zu Hilfe zu kommen.
Schon zwei Tage vor der Schlacht war die 83. Honvedbrigade der kroatischen
(42.) "Domobranzendivision" mit schlechtem Beispiel vorangegangen. [625] Sie hatte sich
geweigert, die in der Front stehenden Regimenter der Division abzulösen.
Wenige Stunden später versagten - ebenfalls bei der Armeegruppe
Belluno - Bosniaken den Gehorsam; sie wurden durch Abteilungen des
Kärntner Regiments Nr. 7 entwaffnet. Diese Meutereien fielen auf
die Stunde mit den Ereignissen in Fiume und mit großen nationalen
Demonstrationen in Agram zusammen.17
Ähnliches wie im Bereich von Belluno begab sich sehr bald westlich der
Brenta. Am 24. Oktober abends weigerten sich Abteilungen des
überwiegend magyarischen Infanterieregiments
Nr. 25 - 27. Division - und des Honvedregiments
Nr. 22 - siebenbürgische 38.
Honveddivision - in die Front von Asiago einzurücken. Die Meuterer
erklärten, daß sie nicht mehr für Österreich
kämpfen, sondern zur Verteidigung Ungarns in die Heimat abgehen
wollten. Der Geist des Ungehorsams griff sehr rasch auf alle hinter der Front
stehenden Teile der beiden Divisionen über, und es war eine Frage von
Stunden, wann auch die Frontbrigaden von ihm erfaßt würden.
Erzherzog Josef, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, eilte, vom Kaiser schon
dringend nach Wien berufen, noch herbei, um Ordnung zu stiften. Die 25er
ließen ihn überhaupt nicht heran, sondern machten Miene, ihn hinter
Barrikaden mit Handgranaten zu empfangen. Die Siebenbürger Honveds
passierten stramm Revue, beharrten aber bei ihrer Absicht, sich nur mehr zur
Verteidigung ihrer nun wieder wie 1916 bedrohten, engeren Heimat verwenden zu
lassen. Der Erzherzog, für alle magyarischen Wünsche
außerordentlich empfänglich, riet dem Monarchen, der Truppe ihren
Willen zu tun und sie nach Ungarn abzuschieben. Der Kaiser stimmte zu. Die
Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, erhitzte die magyarischen
Gemüter und entnervte auch die Kämpfer anderer
Stammeszugehörigkeit. Ein Ansuchen der Heeresleitung an das schon in
Demission befindliche Kabinett Wekerle, die ungarischen Truppen durch einen
Aufruf zu beruhigen, wurde als unerfüllbar abgewiesen.
Von den beiden meuternden Divisionen war die 27. seit sechs Wochen in der
Etappe, die 38. monatelang im Hinterland gewesen. Die Beobachtung, daß
die dem Kampf seit längerer Zeit entrückten, dafür
Einflüssen der Politik mehr ausgesetzten Truppen in ihrem Gefüge
viel leichter litten als die Besatzungen der vordersten Linien, bestätigte sich
bald auch anderwärts. "Es ist dies ein Beweis," folgert ein hoher
Generalsstabsoffizier in seinem Bericht über den Zusammenbruch,
"daß wir mit einer planmäßigen Propaganda zu tun hatten, die
sich an der Front noch nicht durchsetzen konnte, die außerhalb der
Kampffront befindlichen Truppen jedoch bereits völlig verseucht hatte..."
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