Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 25: Der Zusammenbruch
(Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau
[626] 7. Sonderfriedensangebot und
Revolution.
Der neue Außenminister Graf Julius Andrassy war auf dem Ballplatz mit
dem Programm erschienen, Österreich-Ungarn durch einen Sonderfrieden
zu retten. Erwägungen verschiedener Art hatten zu diesem Entschluß
geführt. Innerpolitisch war es namentlich Ungarn, das
damals - in den Tagen von Debreczin - als einziger Hort der
Dynastie galt und wo der Ruf nach dem Sonderfrieden gleichzeitig der
stündlich am Boden gewinnenden Revolution das wirksamste
Agitationsmittel bot. Wollte man das Königtum retten, sagten sich die
Ratgeber der Krone, dann mußte der Harrassprung gewagt und auf den
Sonderfrieden hingearbeitet werden.
Noch entscheidender aber waren für Andrassy im Zusammenhalt mit der
Antwort Wilsons, die der Minister nicht günstig beurteilte, die Nachrichten,
die seit Wochen von den in der Schweiz weilenden
österreichisch-ungarischen Diplomaten kamen, und das Bild, das er selbst
Mitte Oktober bei einem kurzen Schweizeraufenthalt von den internationalen
Verhältnissen gewonnen hatte. Die Lage Deutschlands wurde in der
großen Schweizer "Friedensbörse" für verzweifelt betrachtet.
Der oberste Rat von Versailles habe die Absetzung des Kaisers und der
Hohenzollern beschlossen. Das deutsche Volk werde, wie immer die Dinge liefen,
einen schrecklichen Frieden erhalten, entwaffnet, verstümmelt werden. Die
Donaumonarchie werde Deutschlands Schicksal nicht beeinflussen, nicht
aufhalten können. Für sie aber stehe - ließ sich
täglich, freilich nur höchst inoffiziell, die französische, die
englische, irgendeine neutrale Gesandtschaft vernehmen - die Frage so:
Wolle sie an der Seite des Bundesgenossen dessen unvermeidlichen Niederbruch
mitmachen, der ihr selbst die völlige Auflösung bringen
werde - oder wolle sie sich in der letzten, allerletzten Stunde durch eine
entschiedene Trennung von Deutschland vor dem sicheren Verderben retten? In
Frankreich gäbe es eine starke austrophile Partei, Männer wie
Pichon, Tardieu, Berthelot, Briand, Denys Cochin ständen an ihrer Spitze.
Auch in London wünsche man nicht den Zerfall Österreichs und die
Balkanisierung Mitteleuropas. Kaiser Karl genieße hier wie dort
großes Vertrauen. Aber die Stunden seien gezählt; wenn das
Habsburgerreich nicht ehestens die deutschen Ketten abwerfe, werde es unrettbar
in den Abgrund mitgerissen werden.
Inwieweit diese Verlockungen auf Rechnung Northcliffes zu schreiben sind, ist
zur Zeit noch nicht festzustellen. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen,
daß es unter den Politikern der Westmächte wirklich viele gab, die als
gute Kenner Mitteleuropas das Chaos vermeiden wollten, das ein Zusammenbruch
Österreichs mit sich bringen mußte. Selbst die Clémenceau
nahestehende Information stellte Anfang Oktober längere, im
Ergebnis verneinende Untersuchungen darüber an, ob Tschechien und
Jugoslawien als selbständige Staaten [627] lebensfähig
seien.18 Offenkundig bildete sich da in der
österreichischen Frage ein Gegensatz zwischen der Politik von Paris und
London einerseits und jener von Washington andererseits heraus, und es sei
nun - meinten die Ratgeber in der Schweiz - Österreichs
Sache, seine Freunde bei der Entente durch entschlossenes Abschwenken von
Deutschland zu stützen und zu vermehren.
So lange Wilsons Antwort noch nicht da war, behielten in den leitenden
österreichisch-ungarischen Kreisen jene Persönlichkeiten die
Oberhand, die an der Seite Deutschlands mit zusammengebissenen Zähnen
bis ans bittere Ende gehen wollten. Seit aber der Präsident Österreich
sein wahres Gesicht zeigte und die innerpolitische Entwicklung erschreckend dem
vollen Zusammenbruch entgegensteuerte, neigte sich die Wagschale der
außenpolitischen Erwägungen, unbekümmert um Burians
Vertrauen, die Lage methodisch meistern zu können, nach der
entgegengesetzten Seite hin. Was hatte Deutschland, fragte man sich, noch von
einem Bundesgenossen zu erhoffen, dessen Völker größtenteils
schon im Lager der Entente standen? Was konnte man vom Flankenschutz einer
Armee erwarten, die kein Vaterland mehr besaß? Durfte
Österreich-Ungarn den einzigen Weg einer etwaigen Rettung, der sich noch
bot, unbenutzt lassen - nur einer Bündnispolitik zuliebe, die auch
für den anderen Teil jeden sachlichen Wert verloren hatte? Hatte nicht
gerade Preußen in einem früheren Jahrhundert als Bundesgenosse
Österreichs unter weit weniger zwingenden Verhältnissen die Bahn
eines Sonderfriedens betreten? Und war es nicht das Wiener Kabinett, das in den
letzten zwei Jahren wiederholt und erst wieder Ende September in Berlin hatte
warnen lassen, daß Österreich-Ungarn eines Tages nicht mehr weiter
können werde?
In diesen Erwägungen, deren ethische Beurteilung nicht Sache der
vorliegenden Darstellung sein kann, wurzelte das Sonderfriedensangebot, das
Andrassy, am 26. in Wien angekommen, vorbereiten ließ. Am Abend dieses
Tages kündete Kaiser Karl seinem Bundesgenossen telegraphisch den
"unabänderlichen Entschluß" an, "innerhalb 24 Stunden um einen
Separatfrieden und um einen sofortigen Waffenstillstand anzusuchen". Selbst die
"innigsten, bundesbrüderlichen und freundschaftlichen Gefühle"
müßten gegenüber der Pflicht, den Staat zu retten, in den
Hintergrund treten.19 Kaiser Wilhelm depeschierte 24
Stunden später aus Potsdam seine schmerzlichste Überraschung
zurück. Die Aussichten der laufenden Verhandlungen seien "nicht
ungünstig", müßten aber ins Gegenteil umschlagen, wenn die
Gegner erführen, daß das Band der Mittelmächte zerrissen
sei.
Der Entwurf der Note an Wilson bereitete dem Ballplatz Schwierigkeiten. Auf der
einen Seite sagte man sich, daß der Schritt nur dann [628] seinen Zweck erreichen
konnte, wenn der Wille zum Sonderfrieden, zur ungesäumten Trennung
von Deutschland möglichst klar ausgedrückt wurde. Zum anderen
unterlag es aber keinem Zweifel, daß die neue Politik bei den
Deutschösterreichern die heftigste Ablehnung erfahren werde. Wohl waren
auch sie kriegsmüde bis zum Äußersten, und ihr
augenblicklich führendes Blatt, die Arbeiter-Zeitung, hatte am 24.
Oktober geschrieben, weder Berlin noch Budapest dürfe sich darüber
täuschen, daß Österreich in jedem Fall gezwungen sei, den
allerbaldigsten Frieden anzustreben. Trotzdem war angesichts der wachsenden
antidynastischen, revolutionären Strömung, die sich durch die als
Flucht ausgelegte Kaiserreise nach Ungarn nicht vermindert hatte, sehr zu
besorgen, daß die Lösung der tausendjährigen Bande zum
großen deutschen Volkskörper bei den Deutschösterreichern
einen Schrei der Entrüstung hervorrufen werde.
Gesandter v. Wiesner riet im Redaktionsausschuß, man möge in der
Note an Wilson offen sagen, daß Österreich den Sonderschritt tue,
weil der Bund der Feinde dies so wünsche. Solche Aufrichtigkeit werde in
Deutschösterreich am ehesten verstanden werden. Aber die Sorge,
daß dadurch der Schritt bei der Entente an Nachdruck verlieren
könnte, führte schließlich zu der Erklärung, daß
die Wiener Regierung bereit sei, "ohne das Ergebnis anderer Verhandlungen
abzuwarten, in Verhandlungen über einen Frieden zwischen
Österreich-Ungarn und den gegnerischen Staaten und über einen
sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten
Österreich-Ungarns einzutreten..."
Am 28. Oktober früh, noch ehe die Note abgesandt wurde, kam der Kaiser
aus Gödöllö nach Wien zurück. Er führte einen
aufsehenerregenden Gast im Hofzuge mit, den Grafen Karolyi. Vergeblich hatte
sich der Herrscher in den letzten Tagen bemüht, die Regierungskrise in
Ungarn zu entwirren. Ein Politiker reichte dem anderen in
Gödöllö die Türklinke. Neben Karolyi und dem
Demokraten Jaszy erschienen auch zum erstenmal Sozialdemokraten vor dem
König in Audienz. Immer stärker wurde der Druck von links. Am 25.
traten unter Führung Karolyis im Hotel Astoria radikale Politiker zu einem
revolutionären Nationalrat zusammen, der offen darauf ausging, das
Parlament zu verdrängen und die Führung an sich zu reißen.
Karolyi selbst streckte begehrlich die Hand nach dem Portefeuille des
Ministerpräsidenten aus. Aber sein Anhang gab nur unter der Bedingung
seine Einwilligung, daß der Graf sich auf ein radikales Programm festlegte.
Für ein solches war der König noch nicht zu haben. Um Zeit zu
gewinnen, nahm er Karolyi nach Wien mit. Inzwischen konnte der von der Front
herbeigeholte Erzherzog Josef in Budapest eintreffen und dort als Homo
regius und wirksames Gegengewicht gegen Karolyi die Entwirrung der Krise
in die Hand nehmen. Aber Karolyi kehrte, zunächst um seine stolzen
Hoffnungen betrogen, gleichzeitig mit dem Erzherzog nach Budapest
zurück und wurde dort von der Straße mit demonstrativem Beifall
empfangen.
[629] Neben der ungarischen
Regierungskrise war während des Aufenthaltes in
Gödöllö auch eine österreichische zu lösen
gewesen. Die Versuche, mit den "mündig gewordenen" Völkern zu
irgendeiner friedlichen Auseinandersetzung zu kommen, mußten
fortgeführt werden. Das Kabinett Hussarek entbehrte der Eignung hierzu.
Als Nachfolger des Ministerpräsidenten kam, mochten immerhin noch
andere Kandidaten genannt werden, nur mehr der Pazifist Lammasch ernstlich in
Betracht. Auch das Gefühl des Mißtrauens, das der Kaiser den
staatsmännischen Eigenschaften des gelehrten, aber weltfremden Mannes
entgegenbrachte, konnte daran nichts ändern. Lammasch verkörperte
als Mann der Wissenschaft, als Kämpfer für den Frieden und
angesichts seiner Verbindungen im feindlichen und neutralen
Ausland - Verbindungen, deren tatsächliche Bedeutung freilich
gewaltig überschätzt wurde - politische und moralische Werte,
die man nicht mehr länger ungenützt lassen wollte. Beraten von dem
bekannten Staatsrechtslehrer Professor Hans Kelsen, hatte Lammasch zuerst die
Absicht, überhaupt kein Ministerium mehr zu bilden, sondern bloß
ein "Exekutivkomitee". Dieses sollte sich aus Vertretern der in den
Nationalstaaten entstehenden Nationalregierungen, deren Bestellung ohnehin
nicht mehr zu verhindern war, zusammensetzen, die bisherige Zentralverwaltung
ruhig und planmäßig in die Verwaltung der neuen Staaten
überführen, den Kriegszustand abwickeln und die Friedenskonferenz
vorbereiten, bei der jedoch alle Nationalstaaten selbständig vertreten zu
sein hatten. Lammasch hoffte, daß gerade eine so großzügige
Anerkennung der neuen Verhältnisse das
Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Nationalstaaten wieder
erwecken würde.20
Der Kaiser stimmte von Gödöllö aus dem Antrage zu mit der
Abänderung, daß er sich die Ernennung der Nationalregierungen
noch selbst vorbehalten wolle. Er gab sich, was den Grad der im Reiche
eingerissenen Zersetzung anbelangt, noch Hoffnungen hin, die nicht mehr
gerechtfertigt waren. Professor Lammasch trat nun mit dem Tschechen Kramarsch
und dem Südslawen Koroschetz in Fühlung, die aber bei allem
persönlichen Entgegenkommen keinerlei Neigung zeigten, an einer einem
Ministerium auch nur entfernt ähnlich sehenden Einrichtung mitzuwirken.
Sie befanden sich unmittelbar vor der Abreise in die Schweiz, wo sie, noch stark
im Dunkeln tappend, das Nähere über die Zukunft ihrer Nationen zu
erfahren hofften.
Damit war der Plan eines "Exekutivkomitees" der Nationalstaaten gescheitert, und
Lammasch entschloß sich nun, die Bildung eines gewöhnlichen
Kabinetts aus politisch möglichst unbelasteten Männern zu
übernehmen. Der antimilitaristisch-demokratische Charakter des neuen
Ministeriums kam u. a. [630] dadurch zum
Ausdruck, daß "auf der Ministerbank kein Mann in militärischer
Uniform saß". Das Kabinett, das am 27. seine Berufung erhielt, durfte
immerhin bei den meisten Parteien, auch den slawischen und den sozialistischen,
auf eine wohlwollende Duldung rechnen; auf mehr freilich nicht! Über das
von dem geplanten "Exekutivkomitee" übernommene
Regierungsprogramm ging die Revolution in ganz Österreich zur
Tagesordnung über.
Am 28. vormittags brachten die Blätter das Sonderfriedensangebot
Andrassys an Lansing. In den nächsten 24 Stunden fielen die Tschechen
und die Südslawen offiziell von Österreich ab. In Prag
übernahm der Nationalrat die Regierung, die Beamten legten den Eid in
seine Hände ab. Auch die im Lande befindlichen tschechischen
Ersatztruppen stellten sich der neuen Gewalt zur Verfügung. Die
magyarischen Mannschaften verbrüderten sich mit den Tschechen.
Gleicherweise verkündete der Agramer Sabor die jugoslawische
Unabhängigkeit, indem er ebenso wie der Prager Nationalrat die
Verwaltung und das Verfügungsrecht über die Truppen an sich
riß. Hier wie dort und in allen Provinzstädten wurden die
Wahrzeichen der alten Staatsgemeinschaften entfernt; Offiziere und Mannschaften
mußten, ob sie wollten oder nicht, die nationalen Kokarden aufnehmen.
Zwei Tage später trat in Sarajevo Generaloberst v. Sarkotić
von der politischen Leitung des Landes zurück.
In Budapest war es am 28. zu einer großen revolutionären
Demonstration gekommen, bei der die Polizei einen Mann getötet und drei
Demonstranten verwundet hatte. Karolyi hatte sich der Straße völlig
in die Arme geworfen. Noch mühte sich, von Erzherzog Josef
unterstützt, Graf Hadik mit der Bildung eines "Kabinetts der linken
Konzentration" ab. Da spielte in der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober eine
Soldatenrevolte dem Nationalrat die Gewalt über Budapest in die
Hände. Am nächsten Morgen ernannte der König auf Antrag
des Erzherzogs Josef den Grafen Karolyi mit unbeschränkten Vollmachten
zum Ministerpräsidenten. Karolyi legte seinen Eid in die Hände des
Erzherzogs ab. Sein Kabinett bestand durchweg aus Linksdemokraten und
Sozialisten. Zum Kriegsminister wurde "im Einverständnis mit dem
Soldatenrat", der sich gegründet hatte, der Artillerieoberst Bela Linder
ernannt.
Am Abend dieses ereignisreichen Tages durcheilte Budapest die Nachricht,
daß Tisza in seiner Villa durch drei Soldaten ermordet worden sei. Er starb,
wie er gelebt hatte, als Held. Seine letzten Worte waren: "Ich bin getroffen, ich
sterbe, es mußte so geschehen."
Am 1. November wurde in einer Sitzung des Budapester Nationalrates der
Beschluß gefaßt, das "Regierungsprogramm" des Kabinetts Karolyi
auf die Frage der Staatsform "auszudehnen"; das Volk sollte entscheiden, ob es
eine Monarchie oder eine Republik haben wolle. Karolyi verlangte vom
König durch den Fernsprecher die Enthebung vom Amtseid; der
König willigte ein. In den Straßen von Pest erschallte der Ruf: "Hoch
die Republik!"
[631] Auch in Wien, der
alten Kaiserstadt, war schon vor zwei Tagen der gleiche Ruf ertönt. Die
Andrassy-Note hatte gewirkt, wie es Kenner der Volksstimmung und der
politischen Strömungen vorausgesehen hatten. Die Lösung der
uralten Bande mit dem "Reich", wie man in Österreich seit alters her
Deutschland kurzweg nannte - die Lösung dieser Bande gerade in
einem solchen Augenblick, in dem ja die tausendjährige Vergangenheit und
das geschichtliche Werk des deutschösterreichischen Stammes im
Versinken waren, wirkte niederschmetternd auf alle Gemüter. Ein Mann
von der Besonnenheit des österreichischen Gesandten in Madrid, des
Prinzen Emil Fürstenberg, schrieb an Andrassy, daß es für
"jeden Patrioten und rechtlich denkenden Österreicher und Ungarn, der
noch einen Funken Ehrgefühl im Herzen hat", ein unerträgliches
Gefühl sei, zum Verräter gebrandmarkt zu werden. "Wenn der durch
eine Reihe von unfähigen und jämmerlich schwachen Regierungen
künstlich heraufbeschworene Zusammenbruch der Monarchie auch nahezu
alles vernichtet, was jedem Patrioten hoch und heilig war, so ist es doch Pflicht
der heute an der Macht befindlichen Faktoren, dafür zu sorgen, daß
wenigstens die Ehre derjenigen Konnationalen, welche bisher treu und ehrlich
zum Herrscher, Vaterlande und zum beschworenen Bündnisse gehalten
haben, gewahrt bleibe..." Der Botschafter in Berlin, Prinz Gottfried Hohenlohe,
gab sofort seine Demission.
Die Gegner der Dynastie und der Monarchie hatten nun auch in
Deutsch-Österreich leichtes Spiel. Am 30. Oktober trat im Wiener
Landhaus die deutschösterreichische Nationalversammlung abermals
zusammen. Sie beschloß, die ganze Staatsgewalt auf
deutschösterreichischem Boden an sich zu ziehen. Die Frage der Staatsform
blieb noch immer zurückgestellt. Aber in der Organisation der Obersten
Staatsbehörden war eines monarchischen Staatsoberhauptes nicht mit
einem Worte gedacht.21 Alle Gewalten wurden als vom Volke
[632] kommend
erklärt. Während der Sitzung der Nationalversammlung fand sich vor
dem Landhause eine tausendköpfige Menge ein, aus deren Reihen
stürmisch die Republik gefordert wurde. "Die, welche hierbei den Ton
angaben," schreibt General v. Cramon (S. 195), "waren nicht
Sozialdemokraten, sondern von ihren Führern zusammengetrommelte
deutschnationale Bürger und Studenten. Und die Pfuirufe, die bald nachher
auf dem Ballplatze zu Andrassy herausdrangen, zeigten die
Zusammenhänge in ihrer ganzen Tragik." Als der Kriegsminister von einem
Ministerrat in sein Bureau zurückfuhr, wurde sein Kraftwagen aufgehalten
und ihm die kaiserliche Kokarde abgenommen. In allen Straßen der Stadt
begann eine wilde Jagd nach den Rosetten auf den Offiziersmützen und
nach kaiserlichen Ehrenzeichen. Studenten holten die schwarzgelbe Fahne vor
dem Parlament herab. Am 31. übernahm die erste
deutschösterreichische Regierung, ein Konzentrationskabinett aus den drei
großen Parteien, die Leitung der Geschäfte.22
Der Kaiser erteilte den in der Heimat befindlichen Offizieren und Mannschaften,
ohne sie förmlich des Eides zu entheben, die Erlaubnis, sich ihren
Nationalräten für den Ordnungsdienst zur Verfügung zu
stellen. Am Allerheiligentage nahmen in allen Wiener Kasernen Volksvertreter
den Ersatztruppen das Gelöbnis auf den neuen Staat ab. Allzuviel
Mannschaft war freilich nicht mehr da; sie hatte sich längst in die Heimat
verlaufen. Auf sozialdemokratisches Drängen wurden Soldatenräte
gewählt. Auch eine rote Garde bolschewikischen Geistes entstand und trieb
allerhand Unfug.
Mit größter Spannung harrte Andrassy, der sich vor den
Anfeindungen der Straße aus seinem Ringstraßenhotel in zwei
Hofzimmer des Ballplatzes zurückziehen mußte, der Wirkung seines
Friedensangebotes. Als sein Schwiegersohn Karolyi zum ungarischen
Ministerpräsidenten ernannt wurde, reichte er zum erstenmal seinen
Abschied ein. Denn Michael Karolyi - das war die Revolution in Ungarn,
jene Revolution, zu deren Verhütung nicht zuletzt Andrassy das
Bündnis mit Deutschland gelöst hatte. Der Kaiser hieß den
Grafen, im Amte zu bleiben. Aber in den nächsten 48 Stunden brachen
auch alle anderen Zukunftshoffnungen Andrassys zusammen. Die Entwicklung
war in der Monarchie überall über die Grenzen hinausgeeilt,
innerhalb [633] deren es noch ein
Zurück hätte geben können. Und auch aus der Schweiz blieb
die Rettungsbotschaft aus, obwohl ein Dutzend von Diplomaten fieberhaft
arbeitete. In Genf hatten Kramarsch und Genossen von ihrem
Außenminister Dr. Karl Benesch Bescheid darüber erhalten,
wie, dem Wunsche Wilsons gemäß, die künftige Gestaltung
Mitteleuropas aussehen werde. Masaryk hatte über die Austrophilen in
Paris und London den Sieg errungen, da Wilson sich zu seinem Programm
bekannte, jener Wilson, der in den Reihen der Entente allein über die
starken Bataillone verfügte, die den Alliierten den Sieg über
Deutschlands Heer zu verbürgen vermochten. Er und niemand anderer war
in diesem Augenblicke der Arbiter mundi!
Am 2. abends schied Graf Julius Andrassy aus seinem Amte. An seinen
Schreibtisch setzte sich, schon als deutschösterreichischer
Staatssekretär des Äußern, Viktor Adler. Andrassy schreibt in
seinem Buche23 bezeichnenderweise: "Ich nahm
Abschied von Sr. Majestät. Mein Unternehmen war gescheitert, weil
verspätet. Ich hatte der Sache nichts mehr nützen können und
hatte nur mir selber geschadet, aber es freut mich dennoch, daß ich's
versuchen konnte. Ich hätte mich ewig schämen müssen, wenn
ich der Berufung nicht gefolgt wäre und nicht versucht hätte, die
Katastrophe abzuwenden, die ich klar herankommen sah..."
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