Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 3: Der Krieg 1914 gegen
Rußland (Forts.)
Feldmarschalleutnant Josef Metzger
2. Der Feldzug von Lemberg.
Für den Angriff zwischen Weichsel und Bug waren etwa 350 Bataillone,
150 Eskadronen und 150 Batterien eingesetzt, während die Kräfte,
denen die Deckung in Ostgalizien zufiel, rund 200 Bataillone, 170 Eskadronen
und 130 Batterien zählten.
Die Armee Dankl, mit ihren drei Korps nebeneinander vorgehend, trat nach
Durchschreiten der Wald- und Sumpfzone am Tanew schon am 23. August mit
dem linken Flügel gegen mehr als zwei Infanteriedivisionen der russischen
[29] 4. Armee in den Kampf.
Die Höhen bei Polichna und Goscieradow wurden erobert, der Feind auf
Krasnik geworfen. Am 24. und 25. August setzte die 1. Armee den Angriff
erfolgreich fort und schob ihren linken Flügel zur Umfassung vor. Das I.
Korps General der Kavallerie Karl Freiherr v. Kirchbach nahm am 24.
August Urzedow, am 25. wurde Krasnik erobert, der Feind in die Flucht
geschlagen, hiermit die Schlacht bei Krasnik entschieden. Am Ostflügel bei
Janow und Frampol gingen die Russen am 24. August mit zwei Korps zum
Gegenangriff vor, wurden aber zurückgeschlagen und traten am 25., von
Krasnik her bedroht, den allgemeinen Rückzug in der Richtung auf Lublin
an. Die 1. Armee folgte. Gefangene russische Offiziere bestätigten die Tiefe
des Eindrucks, den der unwiderstehliche, rücksichtslose Angriffsdrang der
tapferen Truppen auf den zähen Feind übte.
Deutsch-österreichische Regimenter aus Mähren und Schlesien taten
sich rühmlich hervor; magyarische und slowakische Truppenteile des V.,
polnische und ukrainische des I. und X. Korps fochten Schulter an Schulter mit
einem Elan, der alles weit übertraf, was die Russen im fernen Osten bei
ihren japanischen Feinden gesehen hatten - mit einer Unerschrockenheit,
die den Erfolg verbürgte, trotz der empfindlichen Verluste, welche die
starke feindliche Artillerie den Angreifern zufügte.
Schwierig und wechselvoll entwickelten sich indessen die Kämpfe der
Armee Auffenberg in der Schlacht bei Komarow. Am 25. August war sie mit drei
Korps (II., VI. und IX.) im Vormarsch auf
Zamośc - Tomaszów, das XVII. Korps General der
Kavallerie Graf Huyn folgte dem VI. General der Infanterie
v. Boroević, die Gruppe Erzherzog Josef Ferdinand XIV. Korps war
in der Staffel rechts noch weit zurück. Ein russisches Korps stand in
Stellung vor Zamośc, ein anderes war im Anmarsch von Nord und Nordost
auf Tomaszow.
Am 26. August warf das Wiener II. Korps General der Infanterie Blasius Schemua
den Feind bei Zamośc, die Armeemitte aber stieß bei Tarnawatka auf
härtesten Widerstand, den sie auch am 27. nicht zu brechen vermochte. Am
28. August griffen zwei weitere russische Korps in den Kampf bei
Tarnawatka - Tomaszow ein, um die Front in der Mitte zu
durchstoßen.
Das Eingreifen dieser neuen feindlichen Kräfte kündigte sich schon
am 27. August mit einem Überfall auf das Kavalleriekorps der 4. Armee an;
am 28. vor Tagesanbruch erlag auch die 15. Infanteriedivision des VI. Korps unter
schweren Verlusten einem russischen Überfall; die hartnäckigen
Angriffe des verstärkten Feindes bei Tarnawatka konnten nur
mühsam abgewehrt werden; die Lage war äußerst kritisch. Da
brachte am 28. August nachmittags das siegreiche Vordringen des XVII. Korps
östlich von Tomaszow Entlastung und das Korps des Erzherzogs Josef
Ferdinand, zum Großteil aus den prächtigen Truppen der
Alpenländer bestehend, erfocht am äußersten rechten
Flügel im ersten Anprall einen durchschlagenden Erfolg gegen ein
russisches [30] Korps, das vom Bug her
gegen die Flanke der Armee Auffenberg im Anrücken war. 60
Geschütze wurden erbeutet, mehrere tausend Gefangene eingebracht.
Am ursprünglichen Schlachtplan festhaltend, stellte der Armeeführer
dem russischen Durchbruchsversuch gegen seine Mitte die Umfassung an beiden
Flügeln entgegen. Rechts setzten das XIV. und XVII. Korps am 29. August
ihren Angriff siegreich fort, in der Mitte wehrten das VI. und IX. Korps die
angreifenden Russen ab, links folgte das II. Korps dem Feind nur mit der 4.
Infanteriedivision Feldmarschalleutnant
v. Stöger-Steiner über Zamośc, während die 25.
Infanteriedivision Generalmajor Erzherzog Peter Ferdinand und 13.
Schützendivision Feldmarschalleutnant Kreysa zum Einschwenken gegen
Komarow bereitgestellt wurden, um den seine Durchbruchsversuche zäh
erneuernden Feind einzukreisen Am 30. August wirkte endlich die Bedrohung der
beiden russischen Flügel; der Feind stellte die Angriffe gegen die Mitte ein
und verstärkte an den Flügeln seinen Widerstand, unter dessen
Schutz er den Rückzug begann. Die Größe des Erfolges wurde
zwar dadurch gemindert, daß die zum Rückenangriff auf Komarow
eingeschwenkten Teile des II. Korps auf die Nachricht vom Anmarsch russischer
Kräfte von Norden her am 31. August wieder zurückschwenkten und
den schon verlegten Rückzugsweg freigaben; aber es gelang trotzdem, die
Niederlage der russischen 5. Armee zu vervollständigen. Im Zentrum wurde
Komarow erobert, am Ostflügel der Druck fortgesetzt, dem sich der Russe
mit aller Kraft entgegenwarf, um die Verlegung seines Rückzuges
über Grubieszow zu verhindern. Am 1. September war der Sieg der 4.
Armee auf der ganzen Front vollständig, der Feind im eiligen
Rückmarsch hinter den Bug. Mehr als 10 000 Gefangene, über
150 Geschütze waren die Beute des achttägigen harten Ringens.
Am selben Tage stand die Armee Dankl, welche die Verfolgung nach der Schlacht
bei Krasnik unter steten erbitterten Kämpfen fortgesetzt hatte, nur noch
einen Tagmarsch südlich Lublin, wo der nach und nach auf zwölf
Infanteriedivisionen verstärkte Feind in mehreren hintereinander liegenden,
stark ausgebauten Stellungen ihren Angriff erwartete.
Während in der letzten Augustwoche die Siege in Polen erfochten wurden,
machte sich in Ostgalizien der Druck der russischen Übermacht geltend.
Angesichts der Massen, die im breiten Raume zwischen Radziechow und dem
Dnjestr vorrückten, die 3. und 8. Armee, der Teile der zur Beobachtung
Rumäniens bestimmten 7. folgten, verhieß die gestaffelte
Gruppierung der Deckungstruppen wenig Erfolg. Der Vorschlag, mit
zusammengefaßter Kraft einen Stoß gegen des Feindes Mitte, die aus
dem Raume Brody - Tarnopol vorrückenden Kolonnen zu
führen, fand deshalb den Beifall des Armee-Oberkommandos in Przemysl.
Dem General v. Brudermann wurde hierzu außer seinen beiden
Korps (XI. General der Kavallerie v. Koloßvary, III. General der
Infanterie Colerus v. Geldern) noch das vom Süden
heran- [31] geführte XII. General v. Köveß zur Verfügung gestellt. Die
Hauptkraft war auf den Höhen südlich der Straße
Lemberg - Zloczów anzusetzen. Am 26. August kam es
westlich Zloczów zur Begegnungsschlacht, in der das Grazer III. Korps
auf überlegenen Feind stieß und trotz tapferster Haltung der Truppen
nicht durchdringen konnte. Nördlich davon behauptete sich das XI. Korps
bei Busk, südlich drang das XII. Korps sogar erfolgreich vor, aber die
schwachen Kräfte der erst zum Teil eingetroffenen 2. Armee, die das
Vordringen der Russen über den Raum um Brzeżany abzuwehren
hatten, wurden von erdrückender Übermacht
zurückgedrängt; die 3. Armee mußte - im Süden
durch Umfassung bedroht - am 27. August hinter die Gnila Lipa
zurückgeführt werden, wo sie sich zur Abwehr einrichtete.
So scheiterte in der Schlacht bei Zloczów der Versuch, die an und
für sich defensive Aufgabe in kurzem Angriffsstoß zu
lösen.
Das Verfahren lag im Geiste der Erziehung und Ausbildung bei Führer und
Truppe; beide erfüllte der Wille zum Angriff. Hier scheiterte er an der
Übermacht des Feindes und an der mächtigen Wirkung seiner
Artillerie, die - in weit überlegener Geschützzahl und reich
mit Munition versehen - den todesmutig angreifenden Truppen die
schwersten Verluste zufügte, um so mehr, als sie in der Beobachtung durch
russenfreundliche Spione unterstützt wurde. Die jahrelange,
zielbewußte Propaganda der Russen im Grenzgebiete machte sich jetzt
bezahlt. Sie lieferte zahlreiche ortskundige Führer und sonstige bezahlte
Verräter, welche durch Berichte und durch vereinbarte Signale die
Bewegungen der eigenen Truppen zur Kenntnis des Feindes brachten und den
Erfolg seiner Übermacht erleichterten.
Auch die Russen waren in der Schlacht bei Zloczów arg durcheinander
gekommen und hatten schwere Verluste erlitten. Sie drängten nicht nach;
erst am 29. August begann die Abwehrschlacht bei Przemyślany, in der die
Armee Brudermann am ersten Kampftage alle Angriffe zurückschlug. Hier
wie bei Zloczów fiel die ungünstige Entscheidung am zweiten
Schlachttage durch die Ereignisse am südlichen Flügel. Die 2. Armee
ließ ihr VII. Korps nebst einer Honved-Infanteriedivision gegen Rohatyn
vorgehen und drang mit zwei Infanteriedivisionen aus dem Haliczer
Brückenkopf nach Norden vor. Die Gruppe bei Rohatyn wurde aber am 29.
August eingedrückt und die Russen benutzten diesen Einbruch, um am 30.
nachmittags am Südflügel der 3. Armee das XII. Korps zu
umklammern. Es ging unter schweren Verlusten nach Bóbrka und
Lemberg zurück; die Stellungen der 3. Armee wurden unhaltbar, ihr
Rückzug unvermeidlich. Am 1. September versammelte sich die Armee im
Raume um Lemberg; sie bedurfte mehrtägiger Ruhe und kräftiger
Unterstützung, um den Widerstand mit Erfolg zu erneuern. Diese
Erkenntnis und die durch die bisherigen Kämpfe und Nachrichten
festgestellte Tatsache, daß der Feind in Ostgalizien den dort
kämpfenden Kräften um etwa 100 000 [32] bis 120 000 Mann
überlegen war, machte neue grundlegende Entschlüsse der
Heeresleitung notwendig, um die Verpflichtung zu erfüllen, die ihr im
gemeinsamen Kampfe mit dem deutschen Bundesgenossen auferlegt war: die
russische Übermacht dauernd auf sich zu ziehen und zu binden.
Das Armee-Oberkommando beschloß, Lemberg kampflos dem Feinde zu
überlassen, die 3. Armee an die versumpfte
Fluß- und Teichlinie der Wereszyca zurückzunehmen, die 2.
südlich der 3. zu versammeln und die siegreiche 4. mit allen
verfügbaren Kräften vom Schlachtfeld bei Komarow abzuberufen,
um sie in der allgemeinen Richtung über Rawa ruska zum neuen
Entscheidungskampf heranzuziehen.
Das Aufgeben der Landeshauptstadt Lemberg räumte dem Feind einen
moralischen Erfolg ein; ernste militärische Gründe überwogen
aber diesen Nachteil. Die flüchtigen Erdwerke, die zum Schutze von
Lemberg entstanden waren, genügten zwar, um die Stadt bei Kriegsbeginn
gegen überraschendes Eindringen feindlicher Kavalleriemassen zu sichern,
einem starken, durch überlegene schwere Artillerie unterstützten
Angriff waren sie nicht gewachsen. Die zum Halten des feldmäßigen
Gürtels notwendigen Truppen wären einer Einschließung
preisgegeben und dem Entscheidungskampfe im freien Feld entzogen worden, auf
den es vor allem ankam.
Der Entschluß, diesen Entscheidungskampf zu wagen, wurzelte in der
Zuversicht und im Kampfwillen der Truppen und ihrer Führer und war in
der Gesamtlage begründet. Das rasche, siegreiche Vordringen der
deutschen Heere in Frankreich schien damals zu versprechen, daß sich das
Schicksal von Paris bald erfüllen werde. Der vernichtenden Niederlage,
welche die russische Narew-Armee bei Tannenberg erlitten hatte, folgte
soeben der Angriff des deutschen Ostheeres
gegen Rennenkampfs Njemen-Armee. Diese Ereignisse auf den
anderen Kriegsschauplätzen und die eben erfochtenen Siege der 1.
u. 4. Armee bei Krasnik und Komarow bestärkten die Heeresleitung
in der Absicht, die russische Übermacht mit versammelter Kraft von neuem
anzufassen, um ihr den Erfolg zu entreißen.
Dem Entschlusse gemäß wurden im Laufe der ersten
Septemberwoche alle irgend erlangbaren Kräfte auf das Schlachtfeld bei
Lemberg herangeholt. Die 3. Armee, deren Führung der siegreiche
bisherige Führer des VI. Armeekorps, General v. Boroević,
übernahm, stand schon am 3. September vom Feinde unbelästigt
hinter der Wereszyca, südlich davon bis zum Dnjestr wurden die
Hauptkräfte der 2. Armee General
v. Böhm-Ermolli versammelt, während Teile südlich
des Dnjestr die Russen abschnittweise aufzuhalten hatten. (Skizze 1.)
[33]
Skizze 1: Die Schlacht bei Lemberg.
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Der Feind folgte den Truppen nicht, sondern strebte mit sehr starken
Kräften in vielen Kolonnen Lemberg zu und schickte sich an,
nördlich über Zolkiew auszuholen. Dieser Absicht sollte das
Eingreifen der über Rawa ruska herandirigierten Armee Auffenberg
begegnen, an welche die höchsten
An- [33=Karte] [34] forderungen
gestellt wurden. Mit ihren fünf Korps nach siegreicher Schlacht in der
Verfolgung begriffen, mußte sie plötzlich angehalten, verkehrt und
auf das neue Schlachtfeld geführt werden, unter Belassung einer Gruppe am
weichenden Feind und bei gleichzeitiger Neuordnung aller Trains und
Verbindungen. In vollstem Maße rechtfertigte die Armee das in sie gesetzte
Vertrauen; die hohen Leistungen der Truppen und die Technik der Führung
überwanden in beispielgebender Weise die großen Schwierigkeiten
dieser Operation. Schon am 3. September stand die 4. Armee mit ihren
Hauptkräften, etwa 9 Infanteriedivisionen stark, zwischen Tomaszow und
Belz zum Eingreifen bereit, während Erzherzog Josef Ferdinand mit je zwei
Infanteriedivisionen des II. und XIV. Korps südlich Grubieszow in
Fühlung mit dem geschlagenen Feinde blieb. Später wurde von
dieser Gruppe noch die 3. Infanteriedivision Feldmarschalleutnant Roth zum
Entscheidungskampf herangezogen.
Um der 3. Armee sichere Entlastung auch für den Fall zu bringen, wenn die
Russen den Angriff über Lemberg und Zolkiew unmittelbar fortsetzten,
erhielt die 4. Armee mit dem Ostflügel die Richtung auf Magierów,
welchen Raum sie am 6. September nach erfolgreichem Kampf erreichte. Drei
Kavalleriedivisionen, die bisher die nördliche Flanke der 3. Armee
gesichert hatten, wurden nach Rawa ruska vorgeschoben und der 4. Armee
unterstellt. Auf diese Art gelang es hier, wie in mancher späteren Schlacht,
die Feuerkraft großer Kavalleriekörper mit ihrer reitenden Artillerie
unter Ausnutzung ihrer hohen Beweglichkeit, rasch an wichtiger Stelle der
Kampffront zur Geltung zu bringen.
Der erste Grundgedanke für den Entscheidungskampf bei Lemberg
gründete sich auf die Lage am 1. September. Damals bedurfte die 3. Armee
einer Front mit starker Abwehrwirkung, wie sie die
Wereszyca-Linie bot, die mit ihrem deckenden Hindernis auch die
vollständige Versammlung der noch im Anrollen begriffenen 2. Armee zu
sichern geeignet war. Der Angriffsstoß der 4. Armee von Norden her sollte
den Abwehrkampf an der Wereszyca entlasten und den rechten Flügel der
Russen zurückwerfen. Bis zum 7. September, an welchem Tage der Kampf
bei Magierów mit größter Heftigkeit tobte und starke
russische Angriffe gegen die 4. Armee abgewiesen wurden, hatte sich die Lage am
Schlachtfeld insofern geändert, als der Feind offenbar den Angriff gegen
die 3. und 2. Armee nicht über die Wereszyca zu führen gedachte
und seine Massen immer mehr gegen die Armee Auffenberg im Raume
nördlich Lemberg zusammenballte.
Ein durchgreifender Angriffserfolg der 4. Armee war nach der Lage am 7.
September nicht mehr wahrscheinlich, dagegen hatte sich bis dahin die 3. Armee
erholt und die 2. Armee beendete ihre Versammlung. Beide waren nicht
bloß zur Abwehr, sondern auch zum Angriff bereit, der angesichts der
starken Verschiebungen des Feindes nach Norden erfolgversprechend schien.
[35] So beeinflußte der
Wandel der Lage den Grundgedanken der Führung. Dies kam in dem
Befehl der Heeresleitung vom 7. September abends zum Ausdruck, der für
den Schlachtverlauf bestimmend war. Danach hatte die 4. Armee dem russischen
Angriff, der sich von Zolkiew her aussprach, zähesten Widerstand zu
leisten, wenn sie nicht selbst vorwärtszukommen vermochte; die 3. Armee
sollte offensiv und flankierend in den Kampf der 4. Armee eingreifen und rechts
davon hatte die 2. Armee am 8. September früh die Wereszyca zu
überschreiten und den gegenüber befindlichen Feind mit aller
Entschiedenheit zu werfen, um von Süd gegen Lemberg
einzuschwenken.
Bei Beurteilung dieses Schlachtplanes müssen auch die Ereignisse in
Betracht gezogen werden, die in der ersten Septemberwoche im Raum zwischen
Weichsel und Bug eingetreten waren.
Bei der Gruppe Erzherzog Josef Ferdinand, die gegenüber der geschlagenen
russischen 5. Armee verblieben war, machte sich die im Weltkrieg oft
wiederkehrende Erscheinung geltend, daß ein geworfener Gegner seine
Kampffähigkeit in wenigen Tagen wieder erlangt, wenn die unmittelbare
Verfolgung mit ihrer zermürbenden Wirkung nachläßt. Schon
am 5. September wurde ein zur Verbindung mit der 1. Armee gegen Krasnostaw
vorgeschobenes Detachement des Erzherzogs von überlegenem Feinde auf
Zamosc zurückgedrängt. Seine Hauptkräfte bei Tyszowce
mußten vom Eingreifen in dieser Richtung absehen, weil auch von
Grubieszow und Grabowiec her starke russische Kolonnen wieder im Vorgehen
nach Süden waren und die Rückendeckung der zur Schlacht gegen
Lemberg abmarschierten 4. Armee alle seine Truppen in Anspruch nahm. Am 7.
September verstärkte sich der Druck des Feindes gegen die Gruppe des
Erzherzogs, so daß er südwärts ausweichen mußte. Auch
der Nordflügel der Armee Auffenberg bei Rawa ruska wurde von Ost stark
angegriffen, schlug aber alle Anstürme der Russen ab.
Die Armee Dankl konnte im Angriff auf Lublin am 2. September nicht mehr
durchdringen, am 3. und 4. wandte sich die russische 4. Armee, verstärkt
durch die neu aus dem Reichsinnern eingelangten Kräfte der 9. Armee zum
Gegenangriff und drückte mit Übermacht auf den Ostflügel
unserer 1. Armee. Dieser Druck und das Vorgehen des Feindes östlich des
Wieprz-Flusses im Raume südlich Cholm machte das Zurücknehmen
des rechten Armeeflügels hinter den Por-Bach und dessen
Verstärkung durch das preußische Landwehrkorps des Generals
v. Woyrsch notwendig. Am 6. und 7. September kam es nur zu kleineren
Kämpfen, eine Änderung der Lage trat nicht ein. Verschiebungen des
der 1. Armee gegenüber befindlichen Feindes in südöstlicher
Richtung waren erkennbar; sie deuteten auf seine Absicht hin, mit dem
verfügbaren Kraftüberschuß in die Lücke zwischen den
Armeen Dankl und Auffenberg einzudringen. Von der tapferen, gut
geführten 1. Armee konnte mehrtägiger Widerstand in geeigneten
Stellungen trotz der feindlichen Übermacht [36] erwartet werden, es war
aber immerhin damit zu rechnen, daß die Sicherheit des linken
Flügels der bei Lemberg um den Sieg ringenden Armeen der Zeit nach
begrenzt und möglichst rasches Herbeiführen der
Schlachtentscheidung geboten war.
Am 8. September morgens überschritten die 3. und 2. Armee die
Wereszycalinie, der Kampf auf der ganzen, fast 100 km langen
Schlachtfront wurde allgemein. Die 2. Armee drang mit dem IV. General der
Kavallerie Tersztyanszky und VII. Korps General der Infanterie Otto
v. Meixner beiderseits Komarno, mit einer Gruppe von Süden
über den Dnjestr hinweg flankierend vor, machte am 8. und 9. September
im Angriff gute Fortschritte und warf den Feind unter schweren Verlusten
über die Niederung des Szczerekbaches zurück. Auch das XII.
Korps, das wieder in den Verband der 2. Armee getreten war, drang am linken
Armeeflügel nach kurzem Rückschlag siegreich vor. Bei der 3.
Armee hatte der Angriff des III. Korps über Grodek gegen Stawczany
Erfolg, Teile des XI. Korps erstürmten im Verein mit einer Honveddivision
den Ort Janow, Tiroler Landesschützen nahmen die Höhen
nördlich davon. Alle Angriffe der Russen gegen die 4. Armee brachen
zusammen, sie konnte sogar in erbitterten Kämpfen örtliche
Angriffserfolge erzielen.
Die Gruppe des Erzherzogs Josef Ferdinand aber wurde am 9. September durch
dauernden überlegenen Druck der russischen 5. Armee gegen Front und
beide Flanken zum Zurückgehen über Lubycza gezwungen, am
selben Tage auch die 1. Armee übermächtig angegriffen, in der Front
eingedrückt, in der rechten Flanke bedroht. So mußte sich Dankl
entschließen, seine braven Truppen, die seit 17 Tagen ununterbrochen im
Kampfe standen, zurückzunehmen, um vorerst nördlich der
Waldregion des Tanew den Abschub der Trains zu decken und dann die Armee
hinter den unteren San zu führen.
Das Armee-Oberkommando billigte diesen Entschluß, gab aber am 9.
September den Kampf in der Lemberger Schlacht noch nicht auf, denn das
Vordringen des Südflügels ließ einen baldigen vollen Erfolg
erhoffen. Tatsächlich eroberte die 2. Armee am 10. September die
russischen Stellungen nächst der von Lemberg nach Mikolajow
führenden Straße, das XII. Korps erstürmte Stawczany, das III.
bereitete den weiteren Angriff über Mszana vor. Nördlich davon bis
Magierów tobten bei der 3. und 4. Armee schwere Kämpfe ohne
wesentliche Änderung der Lage.
Kritisch wurde im Laufe des 10. September die Situation am Nordflügel bei
Rawa ruska. Die Gruppe des Erzherzogs konnte bei Lubycza nicht halten. Da
überdies starker Feind im Vorrücken über Narol nach
Südwest war, mußte Auffenberg seinen linken Armeeflügel
von Rawa ruska in die Linie Szczerzec - Horyniec
zurücknehmen. Aufgefangene russische Funksprüche ließen
schon am 10. September erkennen, daß die Verteidigung bei der
Deckungsgruppe des [37] Erzherzogs zu erlahmen
drohte und daß im Anschluß an den rechten Flügel der
russischen 3. Armee starke Kräfte der russischen 5. Armee über
Narol auf Lubaczow der Lücke zwischen den Armeen Auffenberg und
Dankl zustrebten, zu deren Schließung die Heeresleitung keine Truppen
mehr verfügbar hatte.
Am 11. September vormittags bestätigte ein neuerlicher Funkspruch,
daß zwei Korps der feindlichen 5. Armee (V. und XVII.) im Begriffe waren,
tief in den Rücken der Schlachtfront vorzudringen. Die Armee Dankl war
in ihrer isolierten, bedrohten Lage genötigt, den Rückmarsch an den
San fortzusetzen, zwei feindliche Korps drückten auf ihre östliche
Flanke gegen Bilgoraj.
Auch das Kräfteverhältnis ließ die Situation ernst erscheinen:
den Daten über den Feind war mit Sicherheit zu entnehmen, daß die
Russen im Bogen von der Weichsel bis zum Dnjestr um etwa 200 Bataillone
überlegen waren, überdies hatte jede russische Division
anderthalbmal soviel Geschütze als eine
österreichisch-ungarische.
Selbst der fortschreitende Erfolg des Angriffes am Südflügel konnte
auf die Gesamtlage nicht mehr rechtzeitig Einfluß üben.
Unverkennbar war die drohende Gefährdung der Hauptkräfte im
Rücken, wenn die Schlacht nicht abgebrochen wurde. Es war hoch an der
Zeit, die drei bei Lemberg kämpfenden Armeen der Umklammerung von
Norden her zu entziehen und ihre Trennung von der 1. Armee aufzuheben.
Noch eine schwerwiegende Nachricht, die das Armee-Oberkommando damals
erhielt, bestärkte es im Entschlusse, die Streitkräfte vom Feinde zu
lösen, sie zurückzuführen und für weitere Verwendung
bereitzustellen; eine Nachricht, die den Umschwung der Lage in Frankreich zwar
noch nicht voll überblicken ließ, der man aber schon entnehmen
konnte, daß der rasche, vernichtende Schlag im Westen, welchem der
Einsatz starker deutscher Kräfte gegen Rußland folgen sollte,
anscheinend nicht geglückt war. Der Bericht schilderte die ernste
Stimmung, welche der unvermutete Rückschlag an der Westfront im
deutschen großen Hauptquartier hervorgerufen hatte. Noch war die ganze
Tragweite der Marneschlacht nicht erkennbar; zu erwarten stand aber, daß
die österreichisch-ungarischen Armeen und das deutsche Ostheer noch
durch längere Zeit die russische Übermacht zu bekämpfen
haben würden, mit deren weiterer Zunahme sicher zu rechnen war. Schon
kamen die ersten Nachrichten vom Eintreffen kaukasischer, turkestanischer und
sibirischer Truppen.
Die voraussichtliche lange Dauer dieses ungleichen Kampfes mußte
großen Kraftverbrauch und große Anstrengungen mit sich bringen. Da
diese Opfer denselben Truppen auferlegt werden mußten, die jetzt
wochenlang hart gerungen und sehr schwer geblutet, vor allem den Großteil
ihrer Offiziere eingebüßt hatten, war es notwendig, den Kontakt mit
dem Feinde zu lösen, die Kräfte [38] zu sammeln, die
Verluste wenigstens teilweise zu ersetzen, die Armeen kriegsfähig zu
erhalten.
Wie weit der Rückmarsch fortzusetzen war, was dann unternommen
werden konnte, das war im Augenblick noch nicht zu entscheiden.
Zunächst mußte die Sanlinie erreicht werden; erneuten
hartnäckigen Widerstand an dieser Flußlinie konnte aber die
Heeresleitung nicht in Aussicht nehmen. Er hätte nur unnütz
Kräfte verzehrt und das notwendige Atemholen verhindert. Auch war es
nicht möglich, bis dorthin die zu gemeinsamem Handeln erbetene deutsche
Unterstützung heranzuführen.
Der schwere Entschluß war unerläßlich: Ost- und
Mittelgalizien mußten geräumt, Przemysl mußte sich selbst
überlassen werden.
Am 11. September mittags ergingen die Befehle für das Abbrechen der
Schlacht: Loslösen der Truppen der 4., 3. und 2. Armee vom Feinde in der
Nacht zum 12. September. Dann Abmarsch hinter den San, wobei zunächst
die 4. Armee ihrer schwierigen Lage entzogen werden mußte,
während die 3. und die 2. Armee in der Staffel folgten.
Der Russe drängte von Nordost an den San scharf nach; einzelne Trains der
4. Armee, die naturgemäß noch vom ersten Frontwechsel her
exponiert waren, gingen verloren. Während Nachhuten, auf
feldmäßige Brückenköpfe und auf die Festung Przemysl
gestützt, den San-Übergang des Feindes verzögerten, wurde
der Rückmarsch fortgesetzt.
Nach drei Wochen harter Kämpfe brachte dieser Rückzug über
200 km bei schlechtem Wetter, auf grundlosen Wegen noch manchen
Marschverlust mit sich, aber geschlagen fühlten die arg gelichteten Armeen
sich nicht. Hatte doch der Rückzugsbefehl viele im siegreichen Vordringen
angetroffen; war doch noch an keiner Stelle der Front eine Niederlage
eingetreten!
Am 15. September war der San überschritten. Die 3. Armee ging
beiderseits Przemysl, die 4. bei Jaroslau, die 1. weiter stromabwärts
über den Fluß zurück, die 2. Armee erreichte den Raum
Nowemiasto - Stary Sambor.
Am 18. September wurde Sieniawa, am 20. Jaroslau geräumt, tags darauf
begann die russische 3. Armee die Festung Przemysl einzuschließen.
Während die 1., 4. und 3. Armee den Abmarsch gegen den unteren Dunajez
und die Biala fortsetzten, wurde die 2. Armee in die
Karpathenübergänge westlich des Uzsokpasses bis zur Duklasenke
zurückgenommen, um einerseits den Russen den Einbruch nach Ungarn zu
verwehren, anderseits zu einem Vorstoß gegen deren Südflanke bereit
zu sein, wenn sie den drei anderen Armeen in Galizien folgten.
Die Verteidigung des Uzsokpasses und aller östlichen
Karpathenübergänge war besonderen Gruppen anvertraut, die fast
ausschließlich aus Landsturmtruppen zusammengestellt waren. Sie haben
trotz ihrer geringen Stärke, ihrer schwachen Artillerie und trotz des erst
nach und nach zu erwerbenden festen [39] Gefüges ihre
Aufgabe über alle Erwartung erfüllt. Noch wagten es die Russen
nicht, mit ihren Massen über den Karpathenkamm nach Ungarn
hineinzustoßen. Teilversuche, nach Maramaros Sziget und gegen Munkacs
vorzudringen, wurden blutig abgewiesen.
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