Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende
Kapitel 8: Die deutschen
Angriffe des Jahres 1918
(Forts.)
Generalmajor Rudolf v. Borries
3. Lage bei den Ententemächten.12
Die Ententemächte hatten keinen Anlaß, mit den Ergebnissen des
Kriegsjahres 1917 sonderlich zufrieden zu sein. Ende 1916 war ein gemeinsamer
frühzeitiger Angriff auf der Westfront geplant worden, um der erwarteten
deutschen Offensive zuvorzukommen, aber es war nur zu getrennten
Kriegshandlungen gekommen, bei denen von wirklich entscheidenden Erfolgen
keine Rede sein konnte. Zudem hatten die Italiener im Herbst 1917 eine schwere
Niederlage erlitten, und Rußland fiel schließlich aus. Ein gewisses
Übergewicht auf deutscher Seite war nicht zu verkennen, und man
mußte damit rechnen, daß es sich schon in den ersten Monaten des
Jahres 1918 in eine deutsche Offensive auf der Westfront umsetzen werde.
Allerdings verschob das Ausscheiden Rußlands aus der Zahl der
Verbündeten das Kräfteverhältnis noch nicht zugunsten
Deutschlands. Die gesamten Ententetruppen auf allen Kriegsschauplätzen
zählten Ende 1917 ohne Russen und Rumänen
5 400 000 Mann gegen 5 200 000 Deutsche,
Österreicher, Bulgaren und Türken. Der neugewonnene
Bundesgenosse in Amerika hatte schon über 200 000 Mann auf
europäischem Boden. Die Mehrheit war also noch immer auf der
Ententeseite, und weitere Zunahme stand in Aussicht. Trotzdem war es im
Bereich der Möglichkeit, daß Deutschland unter Heranziehung seiner
Kräfte im [380] Osten und
Südosten vorübergehend in der Summe der Divisionen auf der
Westfront die Zahl der Entente-Divisionen übertreffen werde. Es standen
Anfang 1918 auf französischem Boden: 99 französische, 59
englische, 12 belgische, 2 portugiesische, 1 kampfkräftige amerikanische
Division, zusammen 173 Divisionen gegen 158 deutsche. Außerdem waren
in Italien 11 englische und französische Divisionen, die den 50
italienischen Divisionen Hilfe leisteten. Zogen die Deutschen auch nur einen Teil
ihrer Kräfte von den fernen Kriegsschauplätzen heran, so brachten
sie tatsächlich eine Überlegenheit zustande, die allerdings nur gering
sein konnte, weil die deutschen Divisionen an sich schwach waren.
Diese Rechnung genügte, um der Entente für 1918 im Westen die
Defensive vorzuschreiben, bis das Eintreffen größerer amerikanischer
Kräfte die Lage für den Angriff aussichtsvoller gestaltete. Nur in
Palästina plante man offensiv zu werden. Daß man den deutschen
Angriff auf der Westfront überstehen werde, nahm man deshalb an, weil
auch den Deutschen die Abwehr aller Ententestöße bisher gelungen
war. Die Deutschen waren freilich insofern im Vorteil, als sie auf der ganzen
Strecke von der Nordsee bis zur Schweiz einheitlich geführt wurden und
daher ohne Sonderrücksichten über ihre Reserven verfügen
konnten. Man sah bei der Entente ein, daß es für erfolgreiche Abwehr
nötig sei, ähnliche klare Verhältnisse auf der eigenen Front zu
schaffen. Gelegentlich einer Zusammenkunft in Rapallo im November 1917
wurde beschlossen, einen Obersten Kriegsrat zu bilden, dem die politische
Kriegsleitung zufiel und der durch einen Ausschuß militärischer
Sachverständiger beraten werden sollte. Als weiteres Organ des
Oberleitung schuf man in Versailles einen Kriegsvollzugsausschuß, dem im
besonderen das Recht zustand, von jedem Armee-Oberbefehlshaber eine
bestimmte Anzahl von Divisionen zu verlangen, die als Generalreserve anzusehen
waren und nur mit Genehmigung des Kriegsvollzugsausschusses verwertet
werden durften. Das hervorragendste Mitglied dieser Behörde, der
französische General Foch, berechnete die Generalreserve auf 39
Divisionen. Nach seinem Vorschlage sollte sie in drei Gruppen aufgestellt
werden, eine in Dauphiné, um auch für Italien bereit zu sein, eine,
die stärkste, um Paris, eine bei Amiens. Diese Verteilung nahm
Rücksicht auf die wahrscheinlichen Angriffsstellen der Deutschen, die Foch
gegen die Engländer bei Courtrai, gegen die Franzosen bei Reims annahm.
Gegen beide Stellen konnte die Pariser Gruppe wirksam werden, an die sich die
Dauphiné-Gruppe heranzuziehen hatte; die
Amiens-Gruppe diente als Rückhalt für den schwächsten Teil
der englischen Front, die 5. Armee des Generals Gough.
Der Oberste Kriegsrat erklärte sich mit Fochs Vorschlägen
einverstanden. Am 6. Februar erging Weisung an die Oberbefehlshaber, die
für die Generalreserve zu bestimmenden Divisionen auszulösen und
zur Verfügung zu stellen. Frankreich und Italien erklärten sich hierzu
bereit; der englische Oberbefehlshaber Haig antwortete nicht, vereinbarte aber
heimlich mit dem französischen Oberbefehlshaber Pétain
gegenseitige Unterstützung für den Fall eines Angriffs. [381] Die oberen
Führer wollten also nach wie vor selbst ermessen, inwieweit
bedrängten Nachbarn Unterstützung gewährt werden sollte.
Endlich Anfang März schrieb Haig an den Kriegsvollzugsausschuß,
daß er es bei der Ausdehnung der englischen Front verweigern
müsse, Kräfte herzugeben. Der ablehnenden Haltung Englands trat
nun plötzlich auch der Vertreter Italiens bei, so daß die
Generalreserve in dieser Zeit, die alle Ententeführer als
außerordentlich gespannt ansahen, ein frommer Wunsch blieb. Es bedurfte
später des Druckes schwerwiegender Ereignisse, um die Mächte der
Entente endlich die Notwendigkeit der Kommandoeinheit erkennen zu lassen.
Seit Ende Januar 1918 hatte England, einschließlich der Belgier und
Portugiesen, auf der Westfront nach Vereinbarung mit den Franzosen seine
Stellungen um 44 km nach Süden verlängert und stand mit
dem rechten Flügel bei Barisis südlich der Oise im Waldgebiet von
St. Gobain in einer Gesamtausdehnung von 200 km. Den linken
Flügel am Meer hatten die Belgier inne mit neun Divisionen in der Front,
drei in Reserve. Südlich bei Langemarck schloß die englische 2.
Armee an, die mit den Belgiern zusammen den Frontraum der deutschen 4. Armee
deckte und mit dem rechten Flügel dem rechten der deutschen 6. Armee
gegenüberstand; sie reichte bis Armentières. Die südlich
folgende englische 1. Armee befand sich vor der Front der deutschen 6. Armee
und dehnte sich bis in die Gegend von Arras aus; sie enthielt die beiden
portugiesischen Divisionen. Von Arras bis La Vacquerie erstreckte sich die
Linie der englischen 3. Armee; sie hatte die deutsche 17. und den rechten
Flügel der 2. Armee sich gegenüber. Die englische 5. Armee endlich,
die von La Vacquerie bis Barisis reichte, stand in Fühlung mit dem
größten Teile der deutschen 2., mit der 18. und dem rechten
Flügel der 7. Armee. Sie war durch die Frontverlängerung am
stärksten ausgedehnt und am wenigsten abwehrkräftig.
Die Schätzung der Engländer als Gegner auf deutscher Seite erkannte
ihre Ausdauer und Zähigkeit voll an, während ihre operativen
Leistungen auf Grund der tatsächlichen Erfahrungen gering bewertet
wurden. Man hatte keinen Grund, ihre Kampffähigkeit
und -freudigkeit trotz der ergebnislosen Angriffe in Flandern und der schweren
Einbußen in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 in Zweifel zu ziehen;
tatsächlich bestanden aber Ersatzschwierigkeiten, und beim
französischen Bundesgenossen fehlte es nicht an Stimmen, die den
Engländern Übermüdung und Entmutigung zuerkennen
wollten.
Die Engländer hatten 42 Divisionen einschließlich zweier
portugiesischer in der Front und 19 in Reserve. Von den Armeen, die durch den
deutschen Michael- und Mars-Angriff betroffen wurden, war die 1. Armee auf
ihrem rechten Flügel mit zwei Divisionen beteiligt; die 3. Armee
zählte zehn Divisionen in der Front und sechs in der Reserve, die 5. elf
Divisionen in der Front und fünf in der Reserve; bei letzterer Armee
befanden sich außerdem drei Kavallerie-Divisionen. Der Rest der Reserven
stand nahe der Küste und in der Gegend von Béthune zur [382] Sicherung der dortigen
Bergwerke, also nördlich von der Angriffsfront. Hinter der 5. Armee
schienen die Engländer hauptsächlich auf die Sicherung von Amiens
bedacht zu sein.
Die Kräfteverteilung stand nicht im Einklang mit den deutschen
Angriffsrichtungen, ein Beweis, daß man über sie im Unklaren
geblieben war; sonst hätte man wohl noch mehr zurückgehaltene
Verbände nach Süden, besonders zur 5. Armee, verschoben. Ende
Februar sah man allerdings gerade die 3. und 5. Armee als besonders
gefährdet an; aber praktische Folgerungen zog man nur insofern daraus, als
zur Beförderung von Reserven dorthin Eisenbahntransporte vorbereitet
wurden. Die bevorstehende deutsche Offensive war also nur ganz im allgemeinen
erkannt; wo der Schlag, den man zwischen der Küste und Oise erwartete,
niedersausen würde, wußte man nicht; ebensowenig kannte man den
Angriffstag.
An die englischen Stellungen schloß sich bei Barisis die 530 km lange
französische Front an, die in zwei Heeresgruppen, die des Nordens und die
des Ostens, mit der Trennung westlich von Verdun, geteilt war und sieben
Armeen mit 60 Divisionen in vorderer Linie enthielt. Die französische
Armee hatte im Jahre 1917 eine schwere Erschütterung zu bestehen gehabt.
Nach der verunglückten Offensive am Chemin des Dames kam es zu mehr
oder minder schweren Meutereien in nicht weniger als 16 Armeekorps. Mit
vorbildlicher Rücksichtslosigkeit und Schärfe kämpfte die
Regierung die aufrührerische, auf Verhetzung beruhende Bewegung nieder.
Einige Erfolge an der Westfront als Ergebnis von Angriffen mit
beschränkten Zielen ließen die Kampffreudigkeit der Franzosen
wieder erstarken. Um die Jahreswende 1917/18 konnte kein Zweifel sei, daß
sich die französische Armee durchaus auf der Höhe der
Leistungsfähigkeit befand. Ihr Kampfwert wurde auf deutscher Seite auch
operativ hoch geschätzt.
Die frei verfügbaren Verbände vor der Heeresgruppe Deutscher
Kronprinz, die für die Unterstützung der Engländer in erster
Linie in Betracht kamen, beliefen sich etwa auf 20
Infanterie- und mehrere Kavallerie-Divisionen; der Rest der insgesamt auf 39
Divisionen anzunehmenden Reserven stand vor den Heeresgruppen Gallwitz und
Herzog Albrecht. Es konnte damit gerechnet werden, daß weitere
Truppenkörper durch die Amerikaner freigemacht wurden. Auch bei den
Franzosen herrschte Ungewißheit über die Richtung des sicher
erwarteten deutschen Angriffs. Wenn er sich
nicht - vielleicht in der Gegend von Cambrai - gegen die
Engländer richtete, glaubte man ihn in der Gegend von Reims erwarten zu
sollen, eigene Offensivgedanken standen den Franzosen fern.
Die Amerikaner hatten bei Beginn der deutschen Offensive schon sieben
Divisionen auf französischem Boden, von denen drei zur Ausbildung in der
Front standen, während die übrigen noch in Lagern ihre Formierung
betrieben. Nur eine Division war kampfkräftig. Die Verstärkung der
amerikanischen Truppen geschah infolge der späteren bedrängten
Lage der Entente mit überraschender Schnelligkeit.
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