Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende
Kapitel 7: Der Krieg im
Osten 1917/18 (Forts.)
Oberstleutnant Hans Garcke
8. Der Waffenstillstand.
Bei den Kämpfen im Spätsommer und Herbst, namentlich bei Riga
und Jakobstadt, hatten sich manche russischen Truppenteile noch tapfer und
zähe geschlagen. Die fortgesetzten Niederlagen aber, die sie erlitten,
zerstörten den inneren Halt des republikanischen Heeres immer mehr. Wie
im Lande, so rangen auch in der Armee zwei Gewalten um die Macht: die
revolutionäre und die erhaltende. Der Zwiespalt erfaßte nicht nur die
Mannschaften, sondern auch die Offiziere. Der eine Truppenteil war in der Hand
der höheren Führer, der andere in der von Soldatenräten.
Mehrfach wurden von den deutschen Beobachtern hinter den russischen Linien
förmliche Gefechte verfolgt. Während an zahlreichen Stellen der
Front fast völlige Ruhe herrschte, die der Propaganda der
Mittelmächte zustatten kam, wurde an anderen die Gefechtstätigkeit
lebhaft fortgesetzt.
Immer mehr gewannen aber jetzt die radikalen Elemente unter Leitung der
bolschewistischen Parteiführer Lenin und Trotzki die Oberhand. Die
Entrechtung der Offiziere schritt vor. Im ersten Drittel des November wurde die
gemäßigte Regierung Kerenskis durch eine abermalige Revolution
beseitigt. Die neuen Machthaber, die die Massen durch das Schlagwort "Frieden,
Land und Brot" gewonnen hatten, setzten alles daran, zum schleunigen
Abschluß eines Waffenstillstandes zu kommen. Sie förderten daher
die Einzelverhandlungen von Divisionen, Korps und Armeen mit den Truppen der
Mittelmächte.
Je nach den örtlichen Verhältnissen, Entfernung der beiderseitigen
Stellungen voneinander, Art des Zwischengeländes usw., und je nach dem
Einfluß der russischen Führer und ihrer Gegenwirkung waren die
Erfolge verschieden. Zahlreich waren die Abschlüsse von Waffenruhe und
örtlichem Waffenstillstand im Bereich der k. u. k. 1. und 3.
Armee und zwischen Pinsk und Dünaburg. Zurückhaltender zeigten
sich die Truppen der russischen Südwestfront, zwischen Dniester und
Pinsk, und vor allem die rumänischen Verbände. Eine am 1.
Dezember [331] mit
Bevollmächtigten der russischen Sonder-Armee (nördlicher
Abschnitt der Südwestfront) in Kowel abgeschlossene Waffenruhe wurde
bald wieder gekündigt; die Kündigung aber wurde von den
russischen Front-Komitees nicht anerkannt. Mitunter versuchten auch russische
Führer, mit Hilfe von Artillerie die Waffenruhe zu brechen. Noch Anfang
Dezember lebte das Artilleriefeuer in Rumänien, Galizien, am Stochod und
in der Gegend von Pinsk zeitweise auf; zu größeren
Gefechtshandlungen aber kam es nirgends mehr. Ende November hielten bereits
rund 20 russische Divisionen formell Waffenstillstand, und mit 30 anderen bestand
Waffenruhe auf Grund mündlicher Vereinbarungen. Das Abrollen der
für den Kampf in Frankreich bestimmten deutschen Truppen konnte damals
bereits beginnen und wurde unablässig fortgesetzt.
Am 26. November hatte der neue russische Höchstkommandierende, der
"Fähnrich" Krylenko, funkentelegraphisch angefragt, ob die deutsche
Oberste Heeresleitung zum Waffenstillstand bereit wäre. Nach
zustimmender Antwort überschritten die Unterhändler der
Sowjet-Republik am 2. Dezember die deutschen Linien, um nach
Brest-Litowsk, dem Sitze des Oberbefehlshabers Ost, geleitet zu werden. Hier
wurde zunächst unter Hinzuziehung von Vertretern der verbündeten
Mächte eine am 7. Dezember beginnende Waffenruhe von zehn Tagen
geschlossen, und am 15. Dezember wurde der Waffenstillstandsvertrag
unterzeichnet. Dieser sollte nach Ablauf der Waffenruhe am 17. Dezember, 12
Uhr mittags, beginnen und 28 Tage, d. h. bis zum 14. Januar 1918, 12 Uhr
mittags, andauern. Wurde er mit siebentägiger Frist nicht gekündigt,
so lief er stillschweigend weiter.
Die Einstellung der Feindseligkeiten erfolgte in den Linien, die zur Zeit
innegehalten wurden. Eine Räumung von Gebieten oder Abgabe von
Waffen wurde nicht gefordert. Demarkationslinien wurden die beiderseitigen
vordersten Hindernisse. Auf russischen Wunsch wurde an gewissen
Übergangsstellen der Verkehr von Front zu Front
zugelassen. - Die Vertragschließenden verpflichteten sich,
während des Waffenstillstandes keine Truppen zur Vorbereitung einer
Offensive bereitzustellen oder zu verschieben.
Bestimmungsgemäß sollte der Vertrag für sämtliche
russische Fronten gelten. Da die tatsächliche Macht der
Räteregierung aber nicht weit genug reichte, war es notwendig, in
Rumänien und Kleinasien in Sonderverhandlungen einzutreten. Für
die unter dem Oberbefehl des Generals Schtscherbatschew stehenden Truppen,
zwischen Schwarzem Meer und Dniester, war mit russischen und
rumänischen Bevollmächtigten nach vorher eingetretener
Waffenruhe bereits am 9. Dezember der "provisorische" Waffenstillstand von
Focsani mit 72stündiger Kündigungsfrist abgeschlossen worden.
Die Friedensverhandlungen mit den Russen begannen am 22. Dezember in
Brest-Litowsk und zogen sich mit Unterbrechungen ergebnislos bis zum 10.
Februar 1918 hin. Lenin und Trotzki benutzten die Zeit dazu, hinter der bisherigen
Front unter Führung Krylenkos eine rote Armee zu bilden, den
Bol- [332] schewismus zu festigen
und über die Grenzen des russischen Reiches hinaus zu verbreiten.
Die Auflösung des alten russischen Heeres schritt inzwischen unaufhaltsam
fort. Weite Strecken seiner Stellungen wurden überhaupt geräumt.
Der zahlengewaltigste unter Deutschlands Feinden brach in kurzer Zeit
vollständig zusammen. Ein Strom von ehemaligen deutschen und
namentlich österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen ergoß sich
aus Rußland über die Kampflinien zurück.
Die Ukraine, die sich von der Petersburger Regierung losgesagt hatte, setzte dem
Abmarsch großrussischer Truppenteile bewaffneten Widerstand entgegen.
Auch mit Rumänien kam die Sowjet-Regierung wegen des Abzuges
russischer Streitkräfte in ernste Verwickelungen; rumänische
Truppen übernahmen teilweise die verlassenen Stellungen, lieferten den
Russen Gefechte und rückten in Bessarabien ein.
Trotz dieser für Rußland verzweifelten Lage stellte Trotzki
unerhörte Zumutungen an die siegreichen Mittelmächte, und
gleichzeitig suchte er mit allen Mitteln die revolutionären Gedanken in die
Truppen und in die Arbeiterschaft seiner Gegner zu tragen. Die Verhandlungen
mit ihm wurden von Tag zu Tag aussichtsloser. Dagegen kam es zu einer
Verständigung mit den Unterhändlern der Ukraine, die von
Deutschland und seinen Verbündeten als selbständiger Staat
anerkannt wurde. Am 9. Februar wurde der Friedensvertrag mit ihr abgeschlossen,
in dem beide Parteien auf Kriegsentschädigungen und Gebietsabtretungen
verzichteten.
Trotzki erhob Einspruch und brach die Verhandlungen seinerseits ab. Er
erklärte am 11. Februar "die Beendigung des Kriegszustandes", lehnte es
aber ab, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Die deutsche Oberste
Heeresleitung zog die Folgerungen und teilte dem Rate der russischen
Volkskommissare mit, daß sie den Waffenstillstand am 18. Februar mittags
als abgelaufen ansähe.11
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