Bd. 2: Der deutsche Landkrieg, Zweiter Teil:
Vom Frühjahr 1915 bis zum Winter 1916/1917
[1]
Kapitel 1: Die politischen Grundlagen
für die Entschlüsse der Obersten Heeresleitung
vom Frühjahr 1915 bis zum Herbst 1916
Major Adalbert v. Wallenberg
1. Die Grundlagen für die
Kriegführung Deutschlands seit 1915.
Der große Lehrmeister des deutschen Generalstabes vor dem Weltkriege,
Feldmarschall
Graf Schlieffen, hatte die Ansicht vertreten, daß ein
kommender Krieg zwischen den europäischen Großmächten
nicht lange dauern könne, und daß es ganz besonders für
Deutschland notwendig wäre, ihn so schnell wie möglich zu
beenden. Graf Schlieffen hatte dieser Anschauung neben militärischen
besonders wirtschaftliche Überzeugungen zugrunde gelegt, da er nicht
geglaubt hatte, der mit Milliardenaufwand bewirkte Ernährungsgang von
Millionen könne für längere Zeit aus dem gewohnten Geleise
geworfen werden.
Die Ansicht von der notwendigen und deshalb mit starker Sicherheit auch zu
erwartenden Kürze des Zukunftskrieges war nicht nur im Generalstab,
sondern auch in den politischen und wirtschaftlichen Stellen des Reiches
maßgebend gewesen. Am klarsten aber hatte sie sich im Aufmarschplan des
Generalstabs ausgewirkt, der mit jeder Zeile die schnellste Niederwerfung,
zunächst der westlichen Gegner, forderte. Deutlich stand hinter solcher
Forderung die Warnung, daß eine Verzögerung oder
Verlängerung der Kriegführung dem deutschen Vaterlande
verhängnisvoll werden mußte.
Nicht die Richtigkeit dieses Gedankens, wohl aber der auf ihm aufgebaute
operative Plan brach mit dem Ausgang der
Marne-Schlacht von 1914 zusammen. Der neue Generalstabschef, General
v. Falkenhayn, versuchte noch bis in den Spätherbst hinein, die
Vernichtungsoffensive gegen die westlichen Gegner fortzusetzen. Dann aber
mußte er zwangsläufig seine Maßnahmen einem sich
länger hindehnenden Feldzuge anpassen, ganz gleichgültig, ob dieser
früher für möglich gehalten war oder nicht. Falkenhayn
mußte sich entschließen, auf lange Sicht zu arbeiten, mochten seine
operativen Anschauungen sich diesem Zwang auch nur ungern anpassen. Mit dem
Beginn des Jahres 1915 war die Lage in dieser Hinsicht klar.
Der Grund hierfür war einfach: Deutschland hatte nicht mehr die
Kräfte, die Entscheidung in schnellem Anlauf zu erzwingen und
mußte sich daher dem Feinde gegenüber zu halten versuchen, bis sich
neue Möglichkeiten boten, den Krieg zu beenden.
[2] Mit dieser Tatsache traten aber Umstände
in den Vordergrund, die zum großen Teil in der Vorkriegszeit wenig
durchdacht waren und die nun eine weitgehende Umwälzung der ganzen
Kriegführung herbeiführen mußten. Die wirtschaftlichen
Probleme mußten scharf in den Kreis der Berechnungen einbezogen
werden. Um nicht vorzeitig dem langsam wirkenden Druck der britischen
Seemacht zu erliegen, mußten Gegenmaßregeln ergriffen werden:
defensive durch Einstellung der Wirtschaftspolitik, offensive durch Angriff gegen
die englischen Blockadewaffen. Diese offensiven Maßnahmen aber
mußten zum
Kreuzer- und U-Boot-Krieg führen, dadurch zu neuen Konflikten mit
Mächten, die bisher abseits gestanden hatten.
Den Feinden gab das Hinausschieben der Entscheidung die Möglichkeit,
sich mit den ihnen zu Gebote stehenden reichen Mitteln neue Bundesgenossen zu
schaffen, den Kreis der gegen die Mittelmächte im Felde stehenden Staaten
zu erweitern. Damit begann das politische Werben um die Neutralen, ein
Aufgabenkomplex, in dem Deutschland von vornherein in der Hinterhand war,
weil es, von der Welt abgeschlossen, weniger zu bieten hatte.
Da ihm die Verbindungen über die großen Räume der Welt
gesperrt waren, hatte es vornehmlich einer Waffe gegenüber schwersten
Stand, welche die Entente mit raffinierter Überlegung ausbaute: die Waffe
der Propaganda. Wenn die Feinde in ihren eigenen Staaten, wie in dem noch
neutralen Teil der Erde die öffentliche Meinung mit konsequenter
Entschlossenheit - wie auch schon vor dem
Kriege - gegen Deutschland vergifteten, so stand es dem fast wehrlos
gegenüber. Keinesfalls aber durfte diese weitgehende Wehrlosigkeit im
deutschen Volke zur Entsagung und zum Verzicht führen.
Das Ergebnis dieser Entwicklung, die mit dem Jahre 1915 offenkundig wurde,
war nicht nur, daß neben der militärischen die politische und
wirtschaftliche Kriegführung in den vornehmsten Teil des Aufgabenkreises
der Staatslenker eintrat; das Ergebnis war auch, daß diese drei Arten der
Kriegführung sich enger untereinander verknüpften, daß eine
ohne die andere schlechterdings nicht mehr bestehen, keinerlei für den
Gang der Dinge wirklich maßgebenden Erfolge zeitigen konnte.
Militärische Vorteile mußten zum Zweck politischer Auswertung
geschaffen, militärische Operationen auf Grund wirtschaftlicher
Bedürfnisse eingeleitet werden.
Damit aber wurde eines von grundlegender Wichtigkeit für Deutschland:
nämlich die Gesamtorganisation der zentralen Stellen, die den Krieg zu
führen hatten; ihr Zusammenschluß zu einem festen Willen, der in
einer Spitze, in einem Manne oder einer Gruppe von Männern, seinen
Ausdruck fand. Hier mußte das politische Moment vorwalten, da es allein
imstande war, die militärischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten
und Notwendigkeiten richtig abzuwägen, sie fest an sich anzugliedern und
dem Wollen und Können des deutschen Volkes eine klare und entschlosse
Richtung vorzuschreiben.
[3] Wie aber sah die Gesamtorganisation der den
Krieg führenden Zentralstellen tatsächlich in Deutschland aus?
Die verantwortliche Leitung der deutschen Politik hatte der Reichskanzler. Die
Staatssekretäre des Äußeren, des Inneren, des Schatzamtes, der
Marine und der Kolonien, die auf den Gesamtbereich der Kriegführung
unmittelbar beeinflussend wirkten, waren ihm untergeordnet. Und ebenso
unterstand ihm als preußischem Ministerpräsidenten der
preußische Kriegsminister. So weit war die Organisation im wesentlichen
klar und einfach, sie änderte sich aber im Augenblick der
Mobilmachung.
Schon im Frieden bereits hatte die Marine eine Anzahl sogenannter
Immediatstellen, also Behörden, die, in sich vollständig
selbständig, niemandem verantwortlich waren als der Person des Kaisers.
Es gab den Chef des Admiralstabes, den Chef der Hochseeflotte, den sehr
einflußreichen Chef des Marinekabinetts und andere Männer, die
nebeneinander arbeiteten, ohne daß ein zentraler Wille die gesetzliche
Möglichkeit gehabt hätte, sie in eine bestimmte Richtung zu
zwingen.
Noch unklarer aber wurde die Gesamtorganisation durch das bei der
Mobilmachung ins Leben tretende Kriegsgebilde der Obersten Heeresleitung.
Spitze der Obersten Heeresleitung war der Kaiser, dem als ausführendes,
naturgemäß so gut wie selbständiges Organ der Chef des
Generalstabs des Feldheeres zur Seite stand. Wollte der Reichskanzler den Chef
des Generalstabs zur Anerkennung seiner politischen Anschauungen und
Absichten bewegen, so mußte
er - der jetzt wirkenden Organisation
nach - über die Person des Kaisers gehen. Der preußische
Kriegsminister, der entscheidend an die Anschauungen des Generalstabschefs
gebunden war, unterstand wiederum nicht diesem, sondern dem Reichskanzler.
Zwischen der Obersten Heeresleitung und der vielköpfigen Leitung der
Marine gab es aber überhaupt keine straffe Zusammenfassung; und von der
Kriegführung in den
Kolonien erhielt der Generalstabschef nur auf privaten
Wegen Kenntnis.
Diese Organisation entstammte dem preußischen Vorbild von 1870, als im
Großen Hauptquartier der Ministerpräsident, der Generalstabschef
und der Kriegsminister gleichberechtigt nebeneinander unter des greisen
Königs Leitung ihre Ämter ausübten. Damals hatte die
Organisation gut gearbeitet; aber damals gab es weder eine wesentliche Marine,
noch Kolonien, noch einen sich lang hindehnenden, mit schweren politischen und
wirtschaftlichen Problemen belasteten Feldzug. Vor allem aber hatte damals die
politische Führung ein Bismarck
in der Hand, der auch bei unklarer
Verteilung der Verantwortung imstande war, seine starke Persönlichkeit
durchzusetzen.
Man wird um den Schluß nicht herumkommen, daß die Vorbereitung
der deutschen Gesamtkriegsleitung für den Weltkrieg mangelhaft war.
Damit soll für diesen Mangel keine Kritik bestimmter
Persönlichkeiten ausgesprochen werden. [4] Je tiefer man in die Zusammenhänge und
Schwierigkeiten des Weltkrieges eindringt, desto mehr wird man zu der
Überzeugung kommen, daß auf allen Seiten und von allen Stellen des
Vaterlandes ganz Außerordentliches erstrebt und geleistet ist, und daß
es deshalb nichts Widersinnigeres gibt, als sogenannte Schuldfragen aufzurollen
und die Verantwortung für das nationale Unglück hin und her zu
schieben. Das entbindet aber nicht davon, die Ereignisse in ihrem
organisatorischen und geschichtlichen Aufbau klar zu übersehen, sowohl
um der historischen Wahrheit als auch um Deutschlands Zukunft willen.
Anders, zielbewußter hatten die Feinde ihre Gesamtkriegsleitung aufgebaut;
sie waren darin den Mittelmächten erheblich überlegen; zum
Vergleich sei ihre Organisation bei den beiden stärksten und
entschlossensten Gegnern angeführt. In Frankreich gab es seit 1906 einen
Obersten Rat der Nationalen
Verteidigung - conseil supérieur de la défense
nationale -, dessen Vorsitzender der Ministerpräsident war.
Seine stimmberechtigten Mitglieder waren die Minister des Äußeren,
des Inneren, der Finanzminister, der Kriegsminister und der Kolonialminister; als
beratende Mitglieder waren ihm (unter anderen) der Chef des Generalstabes der
Armee und der Chef des Admiralstabes zugeteilt. Es gab also keine Stellen, auf
die der Ministerpräsident nicht ganz bestimmten und entscheidenden
Einfluß auszuüben in der Lage war.
Ganz ähnlich war die Gliederung in England. Der
Reichsverteidigungsausschuß - imperial defence
committee - stand unter dem Vorsitz des Premierministers. Seine
Mitglieder waren die Minister des Äußeren, der Kolonien, für
Indien, der Finanzen, der Kriegsminister, der Chef des Reichsgeneralstabes, der
Direktor der Operationsabteilung des Generalstabes, der Erste Lord der
Admiralität (Marineminister), der Erste Seelord (Flottenchef) und der
Direktor der Nachrichtenabteilung der Admiralität.
In beiden Fällen, sowohl in Frankreich wie in England, waren also alle nur
irgend für den Krieg in Betracht kommenden Stellen in eine
Behördengruppe zusammengefaßt und in beiden Ländern diese
Behördengruppe dem obersten politischen Leiter unterstellt. Wie weit der
Ministerpräsident oder Premierminister die Leitung des Gesamtkrieges nun
auch tatsächlich fest in die Hand nahm, hing selbstverständlich
zuletzt von der Persönlichkeit ab. England und Frankreich haben in den
letzten Kriegsjahren in Lloyd George und Clémenceau die Männer
gefunden, die der Kriegführung ihren Stempel aufdrückten und auch
die Feldherren und Generalstabschefs lediglich als Werkzeuge ihres Willens
betrachteten. Selbst der sieggekrönte und gefeierte Marschall Foch sollte
bei Kriegsausgang erfahren, daß er den Anordnungen seines
Ministerpräsidenten zu gehorchen habe.
Grundverschieden verlief die Entwicklung in Deutschland. Begünstigt
durch die Verworrenheit der ursprünglichen Gesamtorganisation, trat hier
seit 1915 in geradezu auffallender Weise die Stellung der Obersten Heeresleitung
in den [5] Vordergrund. Die Ursache hierfür ist nicht
in der extremen Ausnutzung der Wehrkraft zu suchen, denn eine ähnliche
und sogar schärfere Ausnutzung findet sich auch in Frankreich. Die Ursache
liegt einfach darin, daß in der Stellung des Chefs des Generalstabes des
Feldheeres sich die stärkeren Persönlichkeiten befanden, die nicht
nur in ihrem eigenen Gebiet planmäßig und willenskräftig
arbeiteten, sondern auch bei der allgemeinen Unklarheit der Gliederung und der
Unsicherheit des Willens über ihr Gebiet hinaus in andere Aufgabenkreise
eingriffen
und - bei der Schwäche der anderen - überzugreifen
sich gezwungen sahen.
Woher es kam, daß in Deutschland die militärischen
Persönlichkeiten stärker waren als die politischen, ist eine
Nebenfrage. Man mag es mit allgemeinen Charakterzügen des deutschen
Volkes begründen, wird aber doch nicht daran vorbeigehen können,
daß die Erziehung des deutschen Generalstabes zu verantwortungsfreudiger
und logisch gerichteter Tätigkeit innerhalb des Volksganzen vielleicht nicht
ihresgleichen hatte.
An sich war die Entwicklung, wie sie sich seit 1915 herausbildete, nicht etwa
gesund; sie ist auch nie von den militärischen Leitern der
Kriegführung angestrebt worden. General Ludendorff sprach aus einem
richtigen Gefühl, als er im Herbst 1916 bei Übernahme der
Geschäfte des Ersten Generalquartiermeisters den Ausspruch tat, er wolle
kein solch "politischer General" werden wie der General v. Falkenhayn.
Als er aber dann die schwankenden politischen, organisatorischen und
persönlichen Verhältnisse erkannte, wie sie wirklich lagen, da war er
noch weniger wie sein Vorgänger imstande, sich auf die
militärischen Aufgaben zu beschränken.
Es trat schon rein äußerlich in der Obersten Heeresleitung in die
Erscheinung, daß sie sich seit Ende 1914 stark auf die politische Seite
einstellte. Die militärischen
Presse- und Propagandastellen gewannen an Bedeutung. Eine Sektion "Politik"
wurde ins Leben gerufen, aus der sich dann sehr bald die "Politische Abteilung"
entwickelte.
Hätte diese "Politische Abteilung" sich darauf beschränken
können, die Verbindung mit dem Auswärtigen Amt oder mit dem
Reichskanzler aufrechtzuerhalten, hätte der Generalstabschef sie lediglich
gebraucht, um die Berliner Behörden zu unterrichten und seinerseits
Weisungen aus der Wilhelmstraße zu erhalten, so wäre dies
theoretisch durchaus annehmbar gewesen. Diese Beschränkung erwies sich
für General v. Falkenhayn aber als unmöglich. Mit ganz
wenigen Ausnahmen erhielt er nicht einmal dann Weisungen vom Reichskanzler
oder vom Staatssekretär des Äußeren, wenn er sie zu erlangen
suchte. Wie der Leiter der Gesamtpolitik Deutschlands eigentlich den Krieg zu
führen gedachte, darüber herrschte im Großen Hauptquartier
dauernd starke Unklarheit. Die hohen politischen Behörden des Reiches
hüllten sich über manche entscheidende Frage in Schweigen; wenn
aber Herr v. Bethmann Hollweg oder Herr v. Jagow [6] bei der Obersten Heeresleitung erschienen, dann
war ihnen nicht das Auftreten gegeben, um den militärischen Führer
zu überzeugen und ihn unter ihren Willen zu zwingen.
Auch wenn dieses festgestellt werden muß, soll hier doch jede absprechende
persönliche Kritik unbedingt vermieden werden. Die Aufgabe, die des
politischen Führers Deutschlands im Weltkriege harrte, war so schwer,
daß niemand sich unterfangen soll, den besten Willen der Männer
herabzusetzen, die sie nicht bewältigt haben.
Hier kommt es nur auf die Feststellung einer bestimmten Tatsache an; und
Tatsache war, daß General v. Falkenhayn sich selbst aus eigenen
Überlegungen seine politische Überzeugung verschaffen
mußte, unabhängig von den dazu berufenen Stellen. Tatsache war
aber auch, daß diese Entwicklung, die sich von 1915 bis 1918
ununterbrochen steigerte, nicht gesund war; denn die Oberste Heeresleitung hatte
weder die Vorbildung noch die Organe, um wirklich einwandfreie Politik zu
treiben. Als Ergebnis konnte stets nur ein halbes Ausschalten der politischen
Reichsstellen herauskommen: ein Nebeneinanderherarbeiten und ein Mangel an
straffer politischer Führung, der sich weder durch Charakterstärke
noch durch überragende Willenskraft ausgleichen ließ.
Deshalb ist die Aufgabe, die politischen Grundlagen für die
Entschlüsse der Obersten Heeresleitung zu beschreiben, nicht einfach. Es
ist stets auseinanderzuhalten, ob bei den Entschlüssen der Kanzler die
Grundlagen gab, für den das Auswärtige Amt nach dem eigenen
Ausspruch des verantwortlichen Leiters, des Staatssekretärs v. Jagow, nur
ein Anhängsel war, oder die Oberste Heeresleitung selber. Und weiter
muß in Rücksicht gezogen werden, was die zweite militärische
Hauptwaffe, die vielköpfig gegliederte Marine, dazu sagte, deren
Bedeutung um so mehr wuchs, je mehr die Wichtigkeit der Unterseewaffe erkannt
wurde. Es kann nicht verschwiegen werden, daß sich oft ein Widerstreit von
Meinungen erhob, der die einzige formelle Spitze umtobte, den die deutsche
Organisation kannte: den Kaiser. Viel Kraft wurde im inneren, aufreibenden
Kampfe gegeneinander verbraucht. Es ist keine Phrase, sondern sehr ernste
Wahrheit: der Geist Bismarcks fehlte.
Da der Reichskanzler mit seinen Anschauungen und Weisungen zurückhielt
und - bewußt oder unbewußt - gegen die "Generale",
über die er oft klagte, nicht aufkam, müssen in erster Linie die
politischen Anschauungen des Generals v. Falkenhayn erörtert
werden. Dem sind dann die Anschauungen des Reichskanzlers, hier und da auch
anderer führender Persönlichkeiten des Reiches
gegenüberzustellen, und es ist abzuwägen, welche Anschauung im
einzelnen für den Gang der Ereignisse den Ausschlag gegeben oder auf sie
bedeutungsvollen Einfluß ausgeübt hat.
Es muß also zunächst klargelegt werden, wie sich General
v. Falkenhayn seit 1915 die militärische, politische und
wirtschaftliche Führung des Krieges dachte.
[7] Falkenhayn hatte erkannt, daß der
Vernichtungsgedanke des Grafen Schlieffen
aus Mangel an Kräften auf
lange Zeit zurückgestellt werden mußte. Ihn an die Spitze eines
Programms zu stellen, hätte bedeutet, in gänzlich veränderter
Lage mit Schlagworten zu operieren. Infolgedessen mußte zunächst
der Krieg im großen defensiv geführt werden; es mußte nach
Falkenhayns Anschauung mit dem Personal und Material, das dem deutschen
Volke zur Verfügung stand, so sparsam umgegangen werden, daß
man lange aushalten
konnte - so lange, bis eine Veränderung der Lage oder eine
Verschiebung der Kräfteverhältnisse die Möglichkeit bot, den
Krieg zu beenden. Offensiven waren nach seiner Überzeugung nur so weit
zu führen, als sie dringend nötig waren, um bestimmte
militärische, politische oder wirtschaftliche Ziele zu erreichen oder
ebensolche Gefahren abzuwenden.
Man hat für diese Anschauungen des Generals v. Falkenhayn den
Ausdruck "Ermattungsstrategie" erfunden. Der Ausdruck ist unschön und
trifft auch nicht das Richtige; denn der Generalstabschef konnte nicht die
Erwartung haben, die sich täglich verstärkenden Feinde im ganzen zu
"ermatten". Sein Handeln war vielmehr durch einen Zwang bestimmt: durch die
Überzeugung von der Unmöglichkeit, nach der
Marne-Schlacht militärische Vernichtungsoperationen zu führen, und
durch die Hoffnung, daß die Lage sich im Lauf der Zeit ändern und
auf militärischem oder politischem Gebiet Möglichkeiten zur
Kriegsbeendigung bieten könne. Daß diese Hoffnung nicht ganz
trügerisch war, hat die spätere Entwicklung in Rußland
bewiesen.
General v. Falkenhayn liebte es, seine Anschauungen mit der Art und Weise zu
vergleichen, wie Friedrich
der Große den Siebenjährigen Krieg
führte, nachdem ihm die erste Vernichtungsoperation bei Kolin
mißglückt war. Friedrich der Große hat seitdem die Offensive
auch nur benutzen können, um sich einzelner Feinde zu erwehren, nicht um
sie zur Annahme eines Friedensdiktates zu zwingen. Im übrigen hat er,
gleichzeitig Feldherr und Staatsmann, nach jeder Friedensmöglichkeit
ausgespäht, die sich ihm bot, und diese keineswegs durch irgendwelche
diktatorischen Forderungen belastet.
Denn das ist natürlich mit der politischen und militärischen
Anschauung, wie sie General v. Falkenhayn vertrat, verbunden.
Irgendwelche Kriegsziele in bezug auf volle oder verschleierte Eroberungen
mußten zum mindesten dem Feinde gegenüber fallen gelassen
werden, der auch nur die geringste Möglichkeit zur Anknüpfung von
Friedensbesprechungen bot. Für Erobererträume war die Lage
Deutschlands zu ernst geworden, und wenn es auf irgendeine Weise denkbar
erschien, aus dieser Lage herauszukommen, so durfte man selbst vor der
Möglichkeit von Verzichten nicht zurückschrecken.
Ob allerdings der Friede eher im Osten oder im Westen, eher von den Russen oder
von den Engländern zu erlangen war, das war eine Frage, deren
Beantwortung für den Generalstabschef sehr schwer war, soweit sie
über die [8] Bewertung der jeweiligen militärischen
Lage hinausging. Nach der siegreichen Offensive im Osten 1915 regte Falkenhayn
an, gegenüber der russischen Regierung Friedensfühler
auszustrecken. Die Anstrengungen, die der Kanzler in dieser Hinsicht unternahm,
scheiterten damals, aber die spätere Entwicklung der Dinge in
Rußland hat bewiesen, daß es richtig war, in Petersburg den Hebel
anzusetzen. Denn eine ernsthafte Möglichkeit, mit England zu einer
Übereinkunft zu gelangen, war während der ganzen Dauer des
Krieges kaum erkennbar.
Der Reichskanzler aber hoffte auf diese Möglichkeit. Er, der im Verein mit
dem Staatssekretär v. Jagow schon im Frieden an einer Aussöhnung
des
deutsch-britischen Gegensatzes gearbeitet hatte, hoffte noch im Kriege, diese Politik
wieder aufnehmen zu können. Nicht, daß er ein entsprechendes
Programm der Obersten Heeresleitung mitgeteilt
hätte - dazu waren wohl seine Gedanken und Pläne zu sehr in
der Schwebe. Aber blitzartig ließ hier und da eine Anweisung erkennen,
nach welcher Richtung sich sein Geist bewegte, zum Beispiel, wenn er auf die
Kunde von einem Luftschiffangriff auf englische Küstenplätze in
einem zornigen Telegramm an die Oberste Heeresleitung erklärte, es sei
ihm nicht möglich, Politik zu treiben, wenn die Oberste Heeresleitung
immer wieder seine Pläne durchkreuzte.
Das ließ ahnen, welche Entwicklung Bethmann Hollweg erhoffte. Da er
aber niemals eine klare entschlossene Richtung wies, auch nicht erklärte,
was dementsprechend zu geschehen und was im großen zu unterbleiben
habe, waren seine Ausführungen keineswegs überzeugend, zumal
wenn etwa gleichzeitig das Auswärtige Amt eine Bitte des Fürsten
Lichnowsky weitergab, in England keine Landsitze aus der Luft anzugreifen, auf
denen er Gastfreundschaft genossen habe. Hier schienen der rauhen Gewalt des
Kriegsbedürfnisses sogar Privatrücksichten vorangestellt zu
werden.
Zu den britischen Hoffnungen des Reichskanzlers paßte seine Abneigung
vor einem Entgegenkommen gegen Rußland. Ihm schien die russische
Gefahr für alle Zeiten die schwerste für Deutschland, und den
russischen Koloß zu zerschlagen der Verbündeten wesentlichste
Kriegsaufgabe. In diesem Gedankenkreis, aus dem auch seine spätere
Polenpolitik erwuchs, bewegte er sich seit Anfang 1915, unbeeinflußt durch
den immer klarer werdenden Vernichtungswillen, das knock out
Englands.
Trotz seinen geheimen Hoffnungen, den Frieden im Westen wiederherzustellen,
scheute sich Herr v. Bethmann Hollweg aber nicht, auch selbst an Deutschlands
Westgrenze mit dem Annexionsgedanken zu spielen. Einzelne offene
Äußerungen im Kreise der Obersten Heeresleitung ließen
darüber keinen Zweifel. Es scheint eben, als wenn sich der Reichskanzler
zu völliger Klarheit dessen, was er wollte, erst ganz allmählich
durchrang. Das absolut nüchterne und einfach logische Denken des
Generalstabschefs war ihm entschieden überlegen und unsympathisch.
Daraus mag sich auch erklären, daß er selbst solche politischen
[9] Geschehnisse vor der Obersten Heeresleitung
geheim hielt, die deren Entschlüsse entscheidend hätten beeinflussen
müssen.
So waren die Organisationen in Deutschland eingestellt und die Anschauungen
geschichtet, unter denen die großen entscheidenden Entschlüsse
für die Kriegführung von 1915 und 1916 gefaßt werden
mußten. Zunächst war es der erste grundlegende Entschluß, der
dem Gedanken des "lange währenden" Krieges Rechnung tragen
mußte.
|