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Bd. 2: Der deutsche Landkrieg, Zweiter Teil:
Vom Frühjahr 1915 bis zum Winter 1916/1917

[1] Kapitel 1: Die politischen Grundlagen
für die Entschlüsse der Obersten Heeresleitung
vom Frühjahr 1915 bis zum Herbst 1916

Major Adalbert v. Wallenberg

1. Die Grundlagen für die Kriegführung Deutschlands seit 1915.

Der große Lehrmeister des deutschen Generalstabes vor dem Weltkriege, Feldmarschall Graf Schlieffen, hatte die Ansicht vertreten, daß ein kommender Krieg zwischen den europäischen Großmächten nicht lange dauern könne, und daß es ganz besonders für Deutschland notwendig wäre, ihn so schnell wie möglich zu beenden. Graf Schlieffen hatte dieser Anschauung neben militärischen besonders wirtschaftliche Überzeugungen zugrunde gelegt, da er nicht geglaubt hatte, der mit Milliardenaufwand bewirkte Ernährungsgang von Millionen könne für längere Zeit aus dem gewohnten Geleise geworfen werden.

Die Ansicht von der notwendigen und deshalb mit starker Sicherheit auch zu erwartenden Kürze des Zukunftskrieges war nicht nur im Generalstab, sondern auch in den politischen und wirtschaftlichen Stellen des Reiches maßgebend gewesen. Am klarsten aber hatte sie sich im Aufmarschplan des Generalstabs ausgewirkt, der mit jeder Zeile die schnellste Niederwerfung, zunächst der westlichen Gegner, forderte. Deutlich stand hinter solcher Forderung die Warnung, daß eine Verzögerung oder Verlängerung der Kriegführung dem deutschen Vaterlande verhängnisvoll werden mußte.

Nicht die Richtigkeit dieses Gedankens, wohl aber der auf ihm aufgebaute operative Plan brach mit dem Ausgang der Marne-Schlacht von 1914 zusammen. Der neue Generalstabschef, General v. Falkenhayn, versuchte noch bis in den Spätherbst hinein, die Vernichtungsoffensive gegen die westlichen Gegner fortzusetzen. Dann aber mußte er zwangsläufig seine Maßnahmen einem sich länger hindehnenden Feldzuge anpassen, ganz gleichgültig, ob dieser früher für möglich gehalten war oder nicht. Falkenhayn mußte sich entschließen, auf lange Sicht zu arbeiten, mochten seine operativen Anschauungen sich diesem Zwang auch nur ungern anpassen. Mit dem Beginn des Jahres 1915 war die Lage in dieser Hinsicht klar.

Der Grund hierfür war einfach: Deutschland hatte nicht mehr die Kräfte, die Entscheidung in schnellem Anlauf zu erzwingen und mußte sich daher dem Feinde gegenüber zu halten versuchen, bis sich neue Möglichkeiten boten, den Krieg zu beenden.

[2] Mit dieser Tatsache traten aber Umstände in den Vordergrund, die zum großen Teil in der Vorkriegszeit wenig durchdacht waren und die nun eine weitgehende Umwälzung der ganzen Kriegführung herbeiführen mußten. Die wirtschaftlichen Probleme mußten scharf in den Kreis der Berechnungen einbezogen werden. Um nicht vorzeitig dem langsam wirkenden Druck der britischen Seemacht zu erliegen, mußten Gegenmaßregeln ergriffen werden: defensive durch Einstellung der Wirtschaftspolitik, offensive durch Angriff gegen die englischen Blockadewaffen. Diese offensiven Maßnahmen aber mußten zum Kreuzer- und U-Boot-Krieg führen, dadurch zu neuen Konflikten mit Mächten, die bisher abseits gestanden hatten.

Den Feinden gab das Hinausschieben der Entscheidung die Möglichkeit, sich mit den ihnen zu Gebote stehenden reichen Mitteln neue Bundesgenossen zu schaffen, den Kreis der gegen die Mittelmächte im Felde stehenden Staaten zu erweitern. Damit begann das politische Werben um die Neutralen, ein Aufgabenkomplex, in dem Deutschland von vornherein in der Hinterhand war, weil es, von der Welt abgeschlossen, weniger zu bieten hatte.

Da ihm die Verbindungen über die großen Räume der Welt gesperrt waren, hatte es vornehmlich einer Waffe gegenüber schwersten Stand, welche die Entente mit raffinierter Überlegung ausbaute: die Waffe der Propaganda. Wenn die Feinde in ihren eigenen Staaten, wie in dem noch neutralen Teil der Erde die öffentliche Meinung mit konsequenter Entschlossenheit - wie auch schon vor dem Kriege - gegen Deutschland vergifteten, so stand es dem fast wehrlos gegenüber. Keinesfalls aber durfte diese weitgehende Wehrlosigkeit im deutschen Volke zur Entsagung und zum Verzicht führen.

Das Ergebnis dieser Entwicklung, die mit dem Jahre 1915 offenkundig wurde, war nicht nur, daß neben der militärischen die politische und wirtschaftliche Kriegführung in den vornehmsten Teil des Aufgabenkreises der Staatslenker eintrat; das Ergebnis war auch, daß diese drei Arten der Kriegführung sich enger untereinander verknüpften, daß eine ohne die andere schlechterdings nicht mehr bestehen, keinerlei für den Gang der Dinge wirklich maßgebenden Erfolge zeitigen konnte. Militärische Vorteile mußten zum Zweck politischer Auswertung geschaffen, militärische Operationen auf Grund wirtschaftlicher Bedürfnisse eingeleitet werden.

Damit aber wurde eines von grundlegender Wichtigkeit für Deutschland: nämlich die Gesamtorganisation der zentralen Stellen, die den Krieg zu führen hatten; ihr Zusammenschluß zu einem festen Willen, der in einer Spitze, in einem Manne oder einer Gruppe von Männern, seinen Ausdruck fand. Hier mußte das politische Moment vorwalten, da es allein imstande war, die militärischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten richtig abzuwägen, sie fest an sich anzugliedern und dem Wollen und Können des deutschen Volkes eine klare und entschlosse Richtung vorzuschreiben.

[3] Wie aber sah die Gesamtorganisation der den Krieg führenden Zentralstellen tatsächlich in Deutschland aus?

Die verantwortliche Leitung der deutschen Politik hatte der Reichskanzler. Die Staatssekretäre des Äußeren, des Inneren, des Schatzamtes, der Marine und der Kolonien, die auf den Gesamtbereich der Kriegführung unmittelbar beeinflussend wirkten, waren ihm untergeordnet. Und ebenso unterstand ihm als preußischem Ministerpräsidenten der preußische Kriegsminister. So weit war die Organisation im wesentlichen klar und einfach, sie änderte sich aber im Augenblick der Mobilmachung.

Schon im Frieden bereits hatte die Marine eine Anzahl sogenannter Immediatstellen, also Behörden, die, in sich vollständig selbständig, niemandem verantwortlich waren als der Person des Kaisers. Es gab den Chef des Admiralstabes, den Chef der Hochseeflotte, den sehr einflußreichen Chef des Marinekabinetts und andere Männer, die nebeneinander arbeiteten, ohne daß ein zentraler Wille die gesetzliche Möglichkeit gehabt hätte, sie in eine bestimmte Richtung zu zwingen.

Noch unklarer aber wurde die Gesamtorganisation durch das bei der Mobilmachung ins Leben tretende Kriegsgebilde der Obersten Heeresleitung.

Spitze der Obersten Heeresleitung war der Kaiser, dem als ausführendes, naturgemäß so gut wie selbständiges Organ der Chef des Generalstabs des Feldheeres zur Seite stand. Wollte der Reichskanzler den Chef des Generalstabs zur Anerkennung seiner politischen Anschauungen und Absichten bewegen, so mußte er - der jetzt wirkenden Organisation nach - über die Person des Kaisers gehen. Der preußische Kriegsminister, der entscheidend an die Anschauungen des Generalstabschefs gebunden war, unterstand wiederum nicht diesem, sondern dem Reichskanzler. Zwischen der Obersten Heeresleitung und der vielköpfigen Leitung der Marine gab es aber überhaupt keine straffe Zusammenfassung; und von der Kriegführung in den Kolonien erhielt der Generalstabschef nur auf privaten Wegen Kenntnis.

Diese Organisation entstammte dem preußischen Vorbild von 1870, als im Großen Hauptquartier der Ministerpräsident, der Generalstabschef und der Kriegsminister gleichberechtigt nebeneinander unter des greisen Königs Leitung ihre Ämter ausübten. Damals hatte die Organisation gut gearbeitet; aber damals gab es weder eine wesentliche Marine, noch Kolonien, noch einen sich lang hindehnenden, mit schweren politischen und wirtschaftlichen Problemen belasteten Feldzug. Vor allem aber hatte damals die politische Führung ein Bismarck in der Hand, der auch bei unklarer Verteilung der Verantwortung imstande war, seine starke Persönlichkeit durchzusetzen.

Man wird um den Schluß nicht herumkommen, daß die Vorbereitung der deutschen Gesamtkriegsleitung für den Weltkrieg mangelhaft war. Damit soll für diesen Mangel keine Kritik bestimmter Persönlichkeiten ausgesprochen werden. [4] Je tiefer man in die Zusammenhänge und Schwierigkeiten des Weltkrieges eindringt, desto mehr wird man zu der Überzeugung kommen, daß auf allen Seiten und von allen Stellen des Vaterlandes ganz Außerordentliches erstrebt und geleistet ist, und daß es deshalb nichts Widersinnigeres gibt, als sogenannte Schuldfragen aufzurollen und die Verantwortung für das nationale Unglück hin und her zu schieben. Das entbindet aber nicht davon, die Ereignisse in ihrem organisatorischen und geschichtlichen Aufbau klar zu übersehen, sowohl um der historischen Wahrheit als auch um Deutschlands Zukunft willen.

Anders, zielbewußter hatten die Feinde ihre Gesamtkriegsleitung aufgebaut; sie waren darin den Mittelmächten erheblich überlegen; zum Vergleich sei ihre Organisation bei den beiden stärksten und entschlossensten Gegnern angeführt. In Frankreich gab es seit 1906 einen Obersten Rat der Nationalen Verteidigung - conseil supérieur de la défense nationale -, dessen Vorsitzender der Ministerpräsident war. Seine stimmberechtigten Mitglieder waren die Minister des Äußeren, des Inneren, der Finanzminister, der Kriegsminister und der Kolonialminister; als beratende Mitglieder waren ihm (unter anderen) der Chef des Generalstabes der Armee und der Chef des Admiralstabes zugeteilt. Es gab also keine Stellen, auf die der Ministerpräsident nicht ganz bestimmten und entscheidenden Einfluß auszuüben in der Lage war.

Ganz ähnlich war die Gliederung in England. Der Reichsverteidigungsausschuß - imperial defence committee - stand unter dem Vorsitz des Premierministers. Seine Mitglieder waren die Minister des Äußeren, der Kolonien, für Indien, der Finanzen, der Kriegsminister, der Chef des Reichsgeneralstabes, der Direktor der Operationsabteilung des Generalstabes, der Erste Lord der Admiralität (Marineminister), der Erste Seelord (Flottenchef) und der Direktor der Nachrichtenabteilung der Admiralität.

In beiden Fällen, sowohl in Frankreich wie in England, waren also alle nur irgend für den Krieg in Betracht kommenden Stellen in eine Behördengruppe zusammengefaßt und in beiden Ländern diese Behördengruppe dem obersten politischen Leiter unterstellt. Wie weit der Ministerpräsident oder Premierminister die Leitung des Gesamtkrieges nun auch tatsächlich fest in die Hand nahm, hing selbstverständlich zuletzt von der Persönlichkeit ab. England und Frankreich haben in den letzten Kriegsjahren in Lloyd George und Clémenceau die Männer gefunden, die der Kriegführung ihren Stempel aufdrückten und auch die Feldherren und Generalstabschefs lediglich als Werkzeuge ihres Willens betrachteten. Selbst der sieggekrönte und gefeierte Marschall Foch sollte bei Kriegsausgang erfahren, daß er den Anordnungen seines Ministerpräsidenten zu gehorchen habe.

Grundverschieden verlief die Entwicklung in Deutschland. Begünstigt durch die Verworrenheit der ursprünglichen Gesamtorganisation, trat hier seit 1915 in geradezu auffallender Weise die Stellung der Obersten Heeresleitung in den [5] Vordergrund. Die Ursache hierfür ist nicht in der extremen Ausnutzung der Wehrkraft zu suchen, denn eine ähnliche und sogar schärfere Ausnutzung findet sich auch in Frankreich. Die Ursache liegt einfach darin, daß in der Stellung des Chefs des Generalstabes des Feldheeres sich die stärkeren Persönlichkeiten befanden, die nicht nur in ihrem eigenen Gebiet planmäßig und willenskräftig arbeiteten, sondern auch bei der allgemeinen Unklarheit der Gliederung und der Unsicherheit des Willens über ihr Gebiet hinaus in andere Aufgabenkreise eingriffen und - bei der Schwäche der anderen - überzugreifen sich gezwungen sahen.

Woher es kam, daß in Deutschland die militärischen Persönlichkeiten stärker waren als die politischen, ist eine Nebenfrage. Man mag es mit allgemeinen Charakterzügen des deutschen Volkes begründen, wird aber doch nicht daran vorbeigehen können, daß die Erziehung des deutschen Generalstabes zu verantwortungsfreudiger und logisch gerichteter Tätigkeit innerhalb des Volksganzen vielleicht nicht ihresgleichen hatte.

An sich war die Entwicklung, wie sie sich seit 1915 herausbildete, nicht etwa gesund; sie ist auch nie von den militärischen Leitern der Kriegführung angestrebt worden. General Ludendorff sprach aus einem richtigen Gefühl, als er im Herbst 1916 bei Übernahme der Geschäfte des Ersten Generalquartiermeisters den Ausspruch tat, er wolle kein solch "politischer General" werden wie der General v. Falkenhayn. Als er aber dann die schwankenden politischen, organisatorischen und persönlichen Verhältnisse erkannte, wie sie wirklich lagen, da war er noch weniger wie sein Vorgänger imstande, sich auf die militärischen Aufgaben zu beschränken.

Es trat schon rein äußerlich in der Obersten Heeresleitung in die Erscheinung, daß sie sich seit Ende 1914 stark auf die politische Seite einstellte. Die militärischen Presse- und Propagandastellen gewannen an Bedeutung. Eine Sektion "Politik" wurde ins Leben gerufen, aus der sich dann sehr bald die "Politische Abteilung" entwickelte.

Hätte diese "Politische Abteilung" sich darauf beschränken können, die Verbindung mit dem Auswärtigen Amt oder mit dem Reichskanzler aufrechtzuerhalten, hätte der Generalstabschef sie lediglich gebraucht, um die Berliner Behörden zu unterrichten und seinerseits Weisungen aus der Wilhelmstraße zu erhalten, so wäre dies theoretisch durchaus annehmbar gewesen. Diese Beschränkung erwies sich für General v. Falkenhayn aber als unmöglich. Mit ganz wenigen Ausnahmen erhielt er nicht einmal dann Weisungen vom Reichskanzler oder vom Staatssekretär des Äußeren, wenn er sie zu erlangen suchte. Wie der Leiter der Gesamtpolitik Deutschlands eigentlich den Krieg zu führen gedachte, darüber herrschte im Großen Hauptquartier dauernd starke Unklarheit. Die hohen politischen Behörden des Reiches hüllten sich über manche entscheidende Frage in Schweigen; wenn aber Herr v. Bethmann Hollweg oder Herr v. Jagow [6] bei der Obersten Heeresleitung erschienen, dann war ihnen nicht das Auftreten gegeben, um den militärischen Führer zu überzeugen und ihn unter ihren Willen zu zwingen.

Auch wenn dieses festgestellt werden muß, soll hier doch jede absprechende persönliche Kritik unbedingt vermieden werden. Die Aufgabe, die des politischen Führers Deutschlands im Weltkriege harrte, war so schwer, daß niemand sich unterfangen soll, den besten Willen der Männer herabzusetzen, die sie nicht bewältigt haben.

Hier kommt es nur auf die Feststellung einer bestimmten Tatsache an; und Tatsache war, daß General v. Falkenhayn sich selbst aus eigenen Überlegungen seine politische Überzeugung verschaffen mußte, unabhängig von den dazu berufenen Stellen. Tatsache war aber auch, daß diese Entwicklung, die sich von 1915 bis 1918 ununterbrochen steigerte, nicht gesund war; denn die Oberste Heeresleitung hatte weder die Vorbildung noch die Organe, um wirklich einwandfreie Politik zu treiben. Als Ergebnis konnte stets nur ein halbes Ausschalten der politischen Reichsstellen herauskommen: ein Nebeneinanderherarbeiten und ein Mangel an straffer politischer Führung, der sich weder durch Charakterstärke noch durch überragende Willenskraft ausgleichen ließ.

Deshalb ist die Aufgabe, die politischen Grundlagen für die Entschlüsse der Obersten Heeresleitung zu beschreiben, nicht einfach. Es ist stets auseinanderzuhalten, ob bei den Entschlüssen der Kanzler die Grundlagen gab, für den das Auswärtige Amt nach dem eigenen Ausspruch des verantwortlichen Leiters, des Staatssekretärs v. Jagow, nur ein Anhängsel war, oder die Oberste Heeresleitung selber. Und weiter muß in Rücksicht gezogen werden, was die zweite militärische Hauptwaffe, die vielköpfig gegliederte Marine, dazu sagte, deren Bedeutung um so mehr wuchs, je mehr die Wichtigkeit der Unterseewaffe erkannt wurde. Es kann nicht verschwiegen werden, daß sich oft ein Widerstreit von Meinungen erhob, der die einzige formelle Spitze umtobte, den die deutsche Organisation kannte: den Kaiser. Viel Kraft wurde im inneren, aufreibenden Kampfe gegeneinander verbraucht. Es ist keine Phrase, sondern sehr ernste Wahrheit: der Geist Bismarcks fehlte.

Da der Reichskanzler mit seinen Anschauungen und Weisungen zurückhielt und - bewußt oder unbewußt - gegen die "Generale", über die er oft klagte, nicht aufkam, müssen in erster Linie die politischen Anschauungen des Generals v. Falkenhayn erörtert werden. Dem sind dann die Anschauungen des Reichskanzlers, hier und da auch anderer führender Persönlichkeiten des Reiches gegenüberzustellen, und es ist abzuwägen, welche Anschauung im einzelnen für den Gang der Ereignisse den Ausschlag gegeben oder auf sie bedeutungsvollen Einfluß ausgeübt hat.

Es muß also zunächst klargelegt werden, wie sich General v. Falkenhayn seit 1915 die militärische, politische und wirtschaftliche Führung des Krieges dachte.

[7] Falkenhayn hatte erkannt, daß der Vernichtungsgedanke des Grafen Schlieffen aus Mangel an Kräften auf lange Zeit zurückgestellt werden mußte. Ihn an die Spitze eines Programms zu stellen, hätte bedeutet, in gänzlich veränderter Lage mit Schlagworten zu operieren. Infolgedessen mußte zunächst der Krieg im großen defensiv geführt werden; es mußte nach Falkenhayns Anschauung mit dem Personal und Material, das dem deutschen Volke zur Verfügung stand, so sparsam umgegangen werden, daß man lange aushalten konnte - so lange, bis eine Veränderung der Lage oder eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse die Möglichkeit bot, den Krieg zu beenden. Offensiven waren nach seiner Überzeugung nur so weit zu führen, als sie dringend nötig waren, um bestimmte militärische, politische oder wirtschaftliche Ziele zu erreichen oder ebensolche Gefahren abzuwenden.

Man hat für diese Anschauungen des Generals v. Falkenhayn den Ausdruck "Ermattungsstrategie" erfunden. Der Ausdruck ist unschön und trifft auch nicht das Richtige; denn der Generalstabschef konnte nicht die Erwartung haben, die sich täglich verstärkenden Feinde im ganzen zu "ermatten". Sein Handeln war vielmehr durch einen Zwang bestimmt: durch die Überzeugung von der Unmöglichkeit, nach der Marne-Schlacht militärische Vernichtungsoperationen zu führen, und durch die Hoffnung, daß die Lage sich im Lauf der Zeit ändern und auf militärischem oder politischem Gebiet Möglichkeiten zur Kriegsbeendigung bieten könne. Daß diese Hoffnung nicht ganz trügerisch war, hat die spätere Entwicklung in Rußland bewiesen.

General v. Falkenhayn liebte es, seine Anschauungen mit der Art und Weise zu vergleichen, wie Friedrich der Große den Siebenjährigen Krieg führte, nachdem ihm die erste Vernichtungsoperation bei Kolin mißglückt war. Friedrich der Große hat seitdem die Offensive auch nur benutzen können, um sich einzelner Feinde zu erwehren, nicht um sie zur Annahme eines Friedensdiktates zu zwingen. Im übrigen hat er, gleichzeitig Feldherr und Staatsmann, nach jeder Friedensmöglichkeit ausgespäht, die sich ihm bot, und diese keineswegs durch irgendwelche diktatorischen Forderungen belastet.

Denn das ist natürlich mit der politischen und militärischen Anschauung, wie sie General v. Falkenhayn vertrat, verbunden. Irgendwelche Kriegsziele in bezug auf volle oder verschleierte Eroberungen mußten zum mindesten dem Feinde gegenüber fallen gelassen werden, der auch nur die geringste Möglichkeit zur Anknüpfung von Friedensbesprechungen bot. Für Erobererträume war die Lage Deutschlands zu ernst geworden, und wenn es auf irgendeine Weise denkbar erschien, aus dieser Lage herauszukommen, so durfte man selbst vor der Möglichkeit von Verzichten nicht zurückschrecken.

Ob allerdings der Friede eher im Osten oder im Westen, eher von den Russen oder von den Engländern zu erlangen war, das war eine Frage, deren Beantwortung für den Generalstabschef sehr schwer war, soweit sie über die [8] Bewertung der jeweiligen militärischen Lage hinausging. Nach der siegreichen Offensive im Osten 1915 regte Falkenhayn an, gegenüber der russischen Regierung Friedensfühler auszustrecken. Die Anstrengungen, die der Kanzler in dieser Hinsicht unternahm, scheiterten damals, aber die spätere Entwicklung der Dinge in Rußland hat bewiesen, daß es richtig war, in Petersburg den Hebel anzusetzen. Denn eine ernsthafte Möglichkeit, mit England zu einer Übereinkunft zu gelangen, war während der ganzen Dauer des Krieges kaum erkennbar.

Der Reichskanzler aber hoffte auf diese Möglichkeit. Er, der im Verein mit dem Staatssekretär v. Jagow schon im Frieden an einer Aussöhnung des deutsch-britischen Gegensatzes gearbeitet hatte, hoffte noch im Kriege, diese Politik wieder aufnehmen zu können. Nicht, daß er ein entsprechendes Programm der Obersten Heeresleitung mitgeteilt hätte - dazu waren wohl seine Gedanken und Pläne zu sehr in der Schwebe. Aber blitzartig ließ hier und da eine Anweisung erkennen, nach welcher Richtung sich sein Geist bewegte, zum Beispiel, wenn er auf die Kunde von einem Luftschiffangriff auf englische Küstenplätze in einem zornigen Telegramm an die Oberste Heeresleitung erklärte, es sei ihm nicht möglich, Politik zu treiben, wenn die Oberste Heeresleitung immer wieder seine Pläne durchkreuzte.

Das ließ ahnen, welche Entwicklung Bethmann Hollweg erhoffte. Da er aber niemals eine klare entschlossene Richtung wies, auch nicht erklärte, was dementsprechend zu geschehen und was im großen zu unterbleiben habe, waren seine Ausführungen keineswegs überzeugend, zumal wenn etwa gleichzeitig das Auswärtige Amt eine Bitte des Fürsten Lichnowsky weitergab, in England keine Landsitze aus der Luft anzugreifen, auf denen er Gastfreundschaft genossen habe. Hier schienen der rauhen Gewalt des Kriegsbedürfnisses sogar Privatrücksichten vorangestellt zu werden.

Zu den britischen Hoffnungen des Reichskanzlers paßte seine Abneigung vor einem Entgegenkommen gegen Rußland. Ihm schien die russische Gefahr für alle Zeiten die schwerste für Deutschland, und den russischen Koloß zu zerschlagen der Verbündeten wesentlichste Kriegsaufgabe. In diesem Gedankenkreis, aus dem auch seine spätere Polenpolitik erwuchs, bewegte er sich seit Anfang 1915, unbeeinflußt durch den immer klarer werdenden Vernichtungswillen, das knock out Englands.

Trotz seinen geheimen Hoffnungen, den Frieden im Westen wiederherzustellen, scheute sich Herr v. Bethmann Hollweg aber nicht, auch selbst an Deutschlands Westgrenze mit dem Annexionsgedanken zu spielen. Einzelne offene Äußerungen im Kreise der Obersten Heeresleitung ließen darüber keinen Zweifel. Es scheint eben, als wenn sich der Reichskanzler zu völliger Klarheit dessen, was er wollte, erst ganz allmählich durchrang. Das absolut nüchterne und einfach logische Denken des Generalstabschefs war ihm entschieden überlegen und unsympathisch. Daraus mag sich auch erklären, daß er selbst solche politischen [9] Geschehnisse vor der Obersten Heeresleitung geheim hielt, die deren Entschlüsse entscheidend hätten beeinflussen müssen.

So waren die Organisationen in Deutschland eingestellt und die Anschauungen geschichtet, unter denen die großen entscheidenden Entschlüsse für die Kriegführung von 1915 und 1916 gefaßt werden mußten. Zunächst war es der erste grundlegende Entschluß, der dem Gedanken des "lange währenden" Krieges Rechnung tragen mußte.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte