Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
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Kapitel 7: Der Krieg im Herbst und Winter im
Osten
Oberst Friedrich Immanuel
1. Das Landwehrkorps Woyrsch bis September
1914.
Die Abmachungen des deutschen Generalstabes mit dem
österreichisch-ungarischen für den Fall des Zweifrontenkrieges
waren nur in ganz großen Zügen getroffen worden, denn "Graf
Schlieffen fürchtete einen Vertrauensbruch, wie ein solcher auch
tatsächlich vorgekommen war."1 Österreich-Ungarn2 entschloß sich, etwa drei
Fünftel seiner Kampfstärke gegen Rußland, zwei
Fünftel gegen Serbien einzusetzen. Auf beiden
Kriegsschauplätzen wollte es angriffsweise verfahren, denn es hoffte,
dem feindlichen Aufmarsch zuvorzukommen, und plante, den Krieg von
vornherein in Feindesland zu tragen. Diese Erwartungen haben sich, von
kurzen Anfangserfolgen abgesehen, nicht verwirklichen lassen. Die gegen
Rußland aufgestellten Armeen erwiesen sich als nicht stark genug, um
den russischen Gegendruck auszuhalten, der nach den ersten Erfolgen des
k. u. k. Heeres in Südostpolen eintrat. Rußland war
bereits seit Monaten in der Mobilmachung begriffen
und - im Gegensatz zu den Berechnungen des
österreichisch-ungarischen Generalstabes - völlig
schlagfertig, als der entscheidende Kampf begann. Gleichwohl beabsichtigte
das k. u. k.
Armee-Oberkommando, den Krieg gegen Rußland so zu führen,
daß die linke Flügelarmee Dankl auf Lublin, die östlich
neben ihr stehende Armee Auffenberg auf Cholm vorgehen sollte, um sich
zunächst in den Besitz der
Bug-Linie zu bringen. Sodann sollten sich auch die beiden Armeen des
rechten
Flügels - Brudermann über Brody,
Boehm-Ermolli über Chotin - in Bewegung setzen. So sollte der
ganze russische Aufmarsch, den man im Bogen
Iwangorod - Rowno - Shmerinka annahm, noch vor
seiner Vollendung über den Haufen geworfen und dann der
gemeinsame Vormarsch aller Armeen auf Kiew angetreten werden.
Die Voraussetzungen erwiesen sich aber als nicht zutreffend. Die Russen
waren ebenso schnell, überdies in fast doppelter Überzahl zur
Stelle, so daß der strahlenförmig auseinandergehende
österreichisch-ungarische Angriff von Anfang an den Keim des
Mißerfolges in sich trug.
Der der Gesamtkriegführung zugrunde liegende deutsche Kriegsplan
sah für den Osten vor, daß sich Deutschland mit einem
Mindestmaß von Truppen in
Ost- [453] preußen begnügen, die
Hauptlast der Kriegführung auf dem östlichen
Kriegsschauplatz aber dem
österreichisch-ungarischen Verbündeten überlassen
mußte. Der k. u. k. Generalstab drängte im
Gefühl der Schwäche seiner Streitmittel und in Beunruhigung
über die Loslösung Italiens vom Dreibunde schon vor
Kriegsbeginn an mit steigender Ungeduld darauf, daß Deutschland so
schnell wie möglich Maßnahmen zur Unterstützung
Österreich-Ungarns im Kampfe gegen Rußland treffen sollte. Man
erwartete, daß erhebliche deutsche Kräfte aus Ostpreußen
über den mittleren Narew auf Siedlce vorgehen würden, um
den aus Galizien kommenden k. u. k. Armeen die Hand zu reichen.
Auch wurde auf eine unmittelbare Unterstützung der galizischen
Armeen durch deutsche Kräfte gerechnet.
Da sich diese Gedanken und Wünsche nicht verwirklichen
ließen, hatten die beiden Generalstäbe sich dahin
verständigt, daß Deutschland zunächst ein Armeekorps
zur Deckung des linken k. u. k. Heeresflügels stellen sollte,
bis weitere deutsche Kräfte verfügbar wurden. Dieses
Armeekorps war das schlesische Landwehrkorps Woyrsch. Es erhielt die
Aufgabe, anschließend an den linken Flügel der
k. u. k. Armeen aus der Linie
Beuthen - Kreuzburg in allgemeiner Richtung gegen
Iwangorod vorzugehen. Es war an Fußtruppen stärker als ein
deutsches Armeekorps in gewöhnlicher Zusammensetzung, doch war
es nicht möglich gewesen, ihm genügend Feldartillerie und
schwere Artillerie zuzuteilen. Es umfaßte die 3. und 4.
Landwehr-Division, 10 Brigade-Ersatz-Bataillone, etwas Reiterei, 2
Feldartillerie-Regimenter, einige technische Truppen, zusammen 37
Bataillone, 12 Batterien.
Rechts des Korps Woyrsch sammelte sich bei Krakau das
österreichisch-ungarische Landsturmkorps Kummer, dem eine
Kavallerie-Division unterstellt wurde. Das Korps war zum Teil dürftig
ausgerüstet und hatte die Aufgabe, hart am nördlichen Ufer der
Weichsel entlang stromabwärts als unmittelbarer Flankenschutz der
Armee Dankl den Fluß zwischen Sandomir und Iwangorod zu
erreichen, um im Verein mit dem Korps Woyrsch russische
Angriffsstöße aus Iwangorod abzuweisen, nach
Möglichkeit aber auch in die Kämpfe auf dem östlichen
Weichsel-Ufer einzugreifen. Die deutsche Ostgrenze wurde in der Linie
Kalisz - Alexandrowo durch
Festungs- und Besatzungstruppen, meistens Landsturm, geschützt. Da
sich die Russen westlich Warschau ruhig verhielten und sich auf die
Verwendung von Grenzschutztruppen und Kavallerie beschränkten,
so reichten die geringen deutschen Kräfte aus, um das Korps Woyrsch
in der offenen linken Flanke zu decken, die von Warschau her auf das
empfindlichste gefährdet werden konnte, falls die Russen von ihrer
sehr bedeutenden Überlegenheit Gebrauch machten. Sie verzichteten
aber auf jede angriffsweise Tätigkeit in Polen westlich der Warschau
und ließen sich durch die außerordentlich geschickte
Führung und Verschleierung des Korps Woyrsch über dessen
Schwäche im Vergleich zu der ihm gestellten sehr schweren Aufgabe
gründlich täuschen.
Die Aufklärungstruppen des Korps
Woyrsch - Kavallerie und
Radfahrer - [454] besetzten bereits am 3. August die Linie
Kalisz - Wielun - Czenstochowa - Bendzin und
sicherten dadurch das für Deutschlands Wirtschaftslage und
Kriegführung unentbehrliche oberschlesische Kohlengebiet. Die
Russen zogen sich in die Lysa Gora zwischen Kielce und Bzin zurück
und zerstörten
Eisenbahn- und Straßenbrücken, auch den großen Tunnel
bei Miechow im Zuge der von Iwangorod nach der Südostecke
Oberschlesiens führenden Bahnlinie.
Russischerseits setzten sich am 21. August sehr schwerfällig, aber doch
nach einheitlichem Plan die Armeen mit folgenden Zielen in Bewegung:
- 4. Armee Ewert auf Krasnik,
- 5. Armee Plehwe auf Samostje,
- 3. Armee Rußki auf Sokal,
- 8. Armee Iwanow auf Tarnopol,
- 7. Armee Brussilow auf Czernowitz.
Der rechte Flügel erhielt einen beträchtlichen Vorsprung, um
den Westflügel des Gegners zu binden und zu umfassen, bis der linke
russische Flügel herangekommen sein konnte. Die
österreichisch-ungarische Heeresleitung beabsichtigte, mit den Armeen Dankl und Auffenberg über die beiden westlichen Armeen des Feindes
herzufallen und sie zu schlagen, bevor der russische Druck von Osten her
gegen die Front
Lemberg - Czernowitz fühlbar geworden war. Am
linken
Weichsel-Ufer hatten die Russen als Flankendeckung gegen die Korps
Kummer und Woyrsch in die Gegend südlich und südwestlich
Iwangorod nicht weniger als sechs
Kavallerie- und Kosaken-Divisionen vorgeschoben, hinter ihnen die auf etwa
drei gemischte Brigaden zu schätzende Hauptreserve der Festung.
Während die Armee Dankl am 24. und 25. August bei Krasnik
siegreich kämpfte, wurde das Korps Kummer auf dem linken
Weichsel-Ufer an der unteren Kamienna nördlich Tarlow von
großer Überlegenheit angegriffen und zum verteidigungsweisen
Kampfe in der Linie
Lasoczin - Ostrowiec - Wierzbnik genötigt. Korps
Woyrsch, das der
österreichisch-ungarischen Heerführung nicht unmittelbar
unterstellt war, sondern sich mit ihr von Fall zu Fall ins Benehmen zu setzen
hatte, löste seine Aufgabe in vortrefflicher Weise dadurch, daß
es - zugleich sich die volle Bewegungsfreiheit
wahrend - sehr weit nach Norden hin ausholte. Auf diese Weise
unterstützte es den linken Flügel des Korps Kummer operativ
und schützte zugleich die schlesische Grenze gegen russische
Unternehmungen von Warschau wie von Iwangorod her. Allerdings stellten
diese Bewegungen sehr erhebliche Ansprüche an die
Marschfähigkeit der Truppen, die sich hinsichtlich ihrer Ausdauer
und Leistungsfähigkeit auf den schlechten Straßen
Südwestpolens glänzend bewährten. Das Korps trieb die
russische Reiterei vor sich her und marschierte von Czenstochowa
über
Nowo-Radomsk - Przedborz - Konskie auf Sydlowiec
(30 Kilometer südwestlich Radom), wo es am 25. August so bereit
stand, daß es die vor dem Korps Kummer befindlichen russischen
Kräfte in der [455] Flanke bedrohte und somit die
Flankendeckung des
österreichisch-ungarischen Heeres im operativen Sinne löste.
Inzwischen war durch den Gegenstoß großer russischer Massen
die Armee Dankl in die Verteidigung geworfen worden. Zur Entlastung des
bedrohten Westflügels wurde das Korps Kummer in der Nacht vom
29. August bei Jozefow, wo Notbrücken geschlagen worden waren,
vom linken auf das rechte
Weichsel-Ufer gezogen, allein auch diese Truppen konnten die Kampflage
der Armee nicht wenden, sondern sahen sich bei Opole in unentschiedene
Kämpfe verwickelt. In dieser Lage griff die k. u. k.
Heeresleitung auf die Hilfe des Korps Woyrsch zurück und
veranlaßte es, unter Belassung der notwendigsten Deckungstruppen
auf dem linken
Weichsel-Ufer mit den Hauptkräften zur unmittelbaren
Unterstützung der Armee Dankl in die Schlacht am rechten Ufer des
Stromes einzugreifen. Generaloberst v. Woyrsch ging am 1. September aus
der Linie
Wierzbnik - Radom in südöstlicher Richtung
gegen die Weichsel vor und warf den Feind bei Kasanow und Sjenno
zurück. Dann überschritt das Korps, durch die Gruppe Kummer
gedeckt, in der Gegend von Jozefow die Weichsel, um sich der Armee Dankl
zur Verfügung zu
stellen - "als Kerntruppe", wie der
österreichisch-ungarische Bericht sagt, ein ehrendes Zeugnis für
den Wert, den die Bundesgenossen den
Deutsch-Schlesiern in der Stunde der Not zollten. Das Korps Woyrsch
konnte keine sofortige Verwendung finden, um, wie es ursprünglich
beabsichtigt war, unmittelbar von der Weichsel aus zur Umfassung des
russischen rechten Flügels zu wirken. Die dringende Gefahr für
die Armee Dankl lag jetzt darin, daß sie auf ihrem rechten Flügel
umfaßt und unter Trennung von der Armee Boroevic (bisher
Auffenberg) in das Sumpfgelände des Tanew geworfen wurde. Da dem General Dankl zur Abwendung dieser Gefahr Reserven nicht mehr zur
Verfügung standen, wurde das Korps Woyrsch hinter der
Schlachtlinie vorbei vom linken nach dem rechten Flügel gezogen und
am 7. September in der Front
Turobin - Tarnawa hinter dem Bache Por eingesetzt, wo es bis
zum 9. "wie ein Fels" stand, an welchem sich alle russischen Angriffe
zersplitterten. Drei Tage lang schlugen sich die deutschen Landwehren mit
überraschender Zähigkeit und deckten, alle russischen
Vorstöße siegreich abweisend, den Rückzug der Armee
Dankl über den Tanew, um sich am 11. September auf Janow, dann
über den San bei Ulanow und weiterhin über den unteren Leg
zurückzuziehen. Das tapfere Korps hat unter den allerschwierigsten
Umständen seine Aufgabe erfüllt, der Armee Dankl den
Rückmarsch zu ermöglichen.
Wenn auch die Verluste auf dem Schlachtfelde und während der
Loslösung vom Feinde bedeutend gewesen sind, wenn selbst eine
Anzahl von zerschossenen Geschützen zurückgelassen werden
mußte, wie zum Beispiel eine ganze
Landsturm-Batterie in verzweifeltem Nahkampfe unterging, so hat die
schlesische Landwehr ihre Treue gegenüber dem hart
bedrängten Bundesgenossen ruhmvoll [456] gehalten. Man hatte das Korps
Woyrsch bereits für verloren erachtet und hoffte nicht mehr darauf,
daß es sich durch die Massen der nachdrängenden Russen
durchschlagen werde. Aber das scheinbar Unmögliche wurde doch
erreicht durch scharfe Abwehr, ja durch manchen Gegenstoß,
namentlich aber durch
Gewalt- und Nachtmärsche bei mangelhafter Verpflegung und
dürftiger Unterkunft. Das Korps gelangte in die Gegend östlich
Krakau, wo es nach ungeheuren Leistungen zur wohlverdienten Ruhe
übergehen konnte. Es bildete die Verbindung zwischen der Armee
Dankl und der neuen deutschen 9. Armee in Oberschlesien, die sich
inzwischen zur Unterstützung des
österreichisch-ungarischen Heeres bereitgestellt hatte. "Wir nahmen
sofort Verbindung mit ihm auf", berichtet Ludendorff, "und sorgten, so gut
es ging, für seine Ergänzung und Neuausstattung. Auf seine
Bitte erhielt es auch schwere Artillerie. Wir konnten ihm nur ein
Landwehr-Bataillon geben, das alte Feldhaubitzen hatte. Die Taten des
Landwehrkorps sind eine stolze Erinnerung für alle Beteiligten. Sie
bilden zugleich einen vollgültigen Beweis für die Güte
unserer Armee, für die Richtigkeit unserer Heereseinrichtungen sowie
für den hervorragenden Wert der Ausbildung unserer Soldaten vor
dem Kriege. Dies setzte uns in den Stand, im Osten mit
Landwehr- und Landsturm-Formationen in immer steigendem Maße
den Krieg zu führen."3
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