Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
Kapitel 6: Der Krieg auf der Westfront
von Mitte September 1914 bis Mitte April 1915 (Forts.)
Oberst Friedrich Immanuel
3. Der Kampf um Antwerpen
Die Bedeutung Antwerpens als Stadt, Hafen, Festung.
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Wo sich die Schelde am weitesten nach Osten hin ausbiegend dem niedrigen
Höhenrande des Kempenlandes nähert, hat sich das 1912 mit den
Vororten rund 400 000, ohne Vororte 250 000 Bewohner
zählende Antwerpen zum Haupthafen Belgiens und zu einem der
bedeutendsten Stapelplätze Europas entwickelt. Bis Antwerpen
aufwärts können auf der Schelde die größten Seeschiffe
gelangen. Über Antwerpen geht der Gesamtaußenhandel Belgiens,
sowie des größeren Teils des deutschen Rheingebiets und der
Schweiz. Die Glanzzeit Antwerpens lag im 16. Jahrhundert, als Antwerpen der
bei weitem bedeutendste Hafen Europas und zugleich eine Fabrikstadt erster
Ordnung war. Später sank es zugunsten Rotterdams und Londons. Erst die
Schiffbarmachung und Öffnung der Schelde im 19. Jahrhundert erhob es
wieder zu seiner heutigen Stellung. Seine Lage gegenüber der englischen
Küste ließ es für
Friedens- und Kriegszwecke als die natürliche Eingangspforte englischen
Einflusses erkennen.
Die Festung Antwerpen (Skizze 13) war
einer vollständigen Umklammerung
dadurch entzogen, daß sie im Norden sehr enge von neutralem
(niederländischem) Gebiet umgeben war. Im Süden,
Südwesten und Südosten legten sich die starken Wasserlinien der
Schelde und ihrer Nebenflüsse um den Platz, der durch sie auf mehr als
einem Drittel der gesamten Frontenentwicklung geschützt wurde. Von
besonderer Stärke und Bedeutung war der im Südosten und
Süden in etwa 15 Kilometer die Festung umziehende 300 bis 400 Meter
breite, von hohen [364] Dämmen eingeschlossene
Nethe-Fluß. Von nassen Wiesen und zahlreichen Wassergräben
begleitet, stellt er einen Verteidigungsabschnitt von
außergewöhnlicher Stärke dar,
der - von Osten nach Westen
genannt - durch die Panzerwerke Broechem, Kessel, Lierre, Koningshoyckt,
Wavre-Ste. Cathérine, Waelhem, Breendonck, Liezele, Bornhem
abgeschlossen wurde. Die Zwischenfelder wurden durch ständige
Zwischenwerke (Redouten) beherrscht, nämlich zwischen Lierre und
Koningshoyckt: Tallaert; zwischen Koningshoyckt und Wavre Ste.
Cathérine: Boschbeek und Dorpvelde; zwischen Wavre Ste.
Cathérine: Duffel (Fortin du chemin de fer). Die gesamten Werke aller
Fronten waren nach dem System Brialmonts angelegt. Ihre Widerstandskraft
beruhte auf der in den Werken unter
heb- und senkbaren Panzerkuppeln zusammengefaßten starken Artillerie.
Wassergräben bildeten das Haupthindernis aller dieser Werke, deren
Panzer- und Hohlbauten zwar gegen die bekannten schwersten Geschütze,
nicht aber gegen die nicht bekannt gewordenen deutschen
30-cm- und 42-cm-Kaliber berechnet waren. Hierin lag die Schwäche der
Festung, die keine Möglichkeit hatte, diesen schwersten Geschützen
des Angreifers zu trotzen. Die nicht durch Wasserlinien besonders gedeckte
Außenfront im Osten zwischen der Nethe und der niederländischen
Grenze und das westliche
Schelde-Ufer wurden gleichfalls durch Panzerwerke geschlossen. Der
Gesamtumfang der durch die Fortslinie bezeichneten Außenfront betrug
über 130 Kilometer. Den inneren Gürtel stellten acht ältere,
noch gut erhaltene, aber der neuzeitlichen schweren Artillerie nicht gewachsene
Forts dar. Die Stadt besaß einen einfachen Sicherheitsabschluß durch
ein flankiertes Abschlußgitter. Die Zitadelle im Norden der Stadt sowie die
Brückenköpfe des westlichen
Schelde-Ufers waren ältere Werke, deren hauptsächlichste
Widerstandskraft in nassen Gräben bestand.
Seit Mitte August 1914 waren umfangreiche Armierungsarbeiten und ausgedehnte
Überschwemmungen im Gange. König Albert, der mit fünf
Divisionen des belgischen Heeres am 20. August nach Antwerpen kam und alle
militärischen Kräfte des Landes dorthin zusammenzog, war
entschlossen, unter Vermeidung der Schwächen der Verteidigung von
Lüttich und Namur, Antwerpen bis aufs äußerste zu halten. Die
Zwischenfelder zwischen den Forts, besonders der Ostfront, wurden durch
Schützengräben mit ausgedehnten Verdrahtungen ausgebaut, alle
Ortschaften und Gehöfte zur nachhaltigen Verteidigung eingerichtet.
[365]
Skizze 13: Antwerpen
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Die strategische Bedeutung Antwerpens lag im September 1914 nicht mehr in der
Möglichkeit, hier englische Truppen zu operativen Zwecken zu landen, da
die Folgen des schnellen Vormarsches der Deutschen über Brüssel
hinaus und die Abdrängung britischer Streitkräfte in südlicher
Richtung deren Verwendung an dieser Stelle ausschalteten. Dagegen übte
das belgische Heer, das sich auf die "Lagerfestung" Antwerpen stützte,
einen sehr fühlbaren Druck gegen die rechte Flanke, weiterhin gegen die
Verbindungen der Deutschen aus, die sich hierdurch gezwungen sahen, zu deren
Schutz beträchtliche Kräfte im Raume
Löwen - Mecheln - Brüssel stehen zu lassen. Je
schärfer sich die Besatzung Antwerpens [365] fühlbar machte, desto stärker
mußten die deutschen Deckungstruppen bemessen werden. Die dort
belassenen zwei Armeekorps hatten in der Entscheidungsschlacht an der Marne
gefehlt. Auch beherrschte Antwerpen die Seeküste in einer Weise,
daß die Deutschen nicht in der Lage waren, Kräfte auf
Dünkirchen, Calais und Boulogne vorgehen zu lassen, so lange das
belgische Heer von Antwerpen aus auf die deutschen Verbindungen zu
drücken vermochte.
Der Rückzug des belgischen Heeres nach Antwerpen.
Nach dem Falle von Lüttich stellte sich das belgische Heer, fünf
Divisionen stark, unter König Albert planmäßig hinter der
Gette beiderseits von Tirlemont bereit, die
Kavallerie-Division auf dem linken Flügel bei Diest. Eine gemischte
Brigade stand bei Huy im
Maas-Tal, eine Division in Namur. In dieser Verteilung erwartete das Heer den
Anmarsch der Franzosen und Engländer, wie es in oftmaligen Beratungen
im Laufe der letzten Jahre vereinbart worden war. Die Ententehilfe blieb aber
aus.
[366] Am 18. August griff die deutsche 1. Armee die
Gette-Stellung mit der Absicht an, das belgische Heer von Antwerpen
abzuschneiden. Die Lage der Belgier begann gefährlich zu werden, als die
deutsche Umfassung über Diest auf Aerschot bedrohliche Fortschritte
machte. König Albert erkannte, daß die Behauptung des
Gette-Abschnitts nicht länger möglich war, und befahl am 18. abends
zunächst den Rückzug hinter die Dyle bei Löwen, von dort
nach Antwerpen, so daß es der deutschen 1. Armee nicht mehr gelang, sie
von dieser Festung abzuschneiden. Das belgische Heer fand seine neue Aufgabe
darin, von Antwerpen aus durch Vorstöße gegen den Rücken
der deutschen Armeen und deren rückwärtige Verbindungen starke
deutsche Kräfte zu binden. Auch die bei Huy und in Namur stehenden
belgischen Truppen traten den Abzug nach Antwerpen an und erreichten auf
weiten Umwegen die Lagerfestung am 4. September.
Der belgische Ausfall vom 24. bis 26. August 1914.
Um die deutschen Verbindungen zu decken, stand das III. Reservekorps unter dem
Oberbefehl des Generals v. Beseler südlich der Dyle halbwegs zwischen
Mecheln und der Linie
Löwen - Brüssel. König Albert setzte am 24.
abends vier
Infanterie-Divisionen und die Kavallerie-Division mit folgenden Zielen zum
Angriff an: auf dem westlichen Flügel die 5. Division auf Straße
Mecheln - Brüssel, in der Mitte die 1. und 6. Division von
Mecheln nach Süden, die 2. Division und die
Kavallerie-Division auf Straße
Mecheln - Löwen. Die Belgier machten zunächst
erhebliche Fortschritte und drängten die Deutschen, ihren rechten
Flügel umfassend, aus den vorderen Abschnitten bis in die Linie
Grimberghen - Vilvorde (7 Kilometer nördlich
Brüssel) - Thildonck zurück. Als die belgischen
Truppen sich der Stadt Löwen näherten, brachen in der Stadt
Unruhen aus. Das von der Nordseeküste im Antransport an die Westfront
befindliche IX. Reservekorps traf rechtzeitig in der Gegend von Löwen ein,
um aus der Fahrt heraus in den Kampf einzugreifen und den bedrängten
Brandenburgern zu helfen. Als ausreichende Kräfte zur Hand waren, gingen
beide Korps zum allgemeinen Gegenangriff gegen die Mitte der belgischen Front
und zur Umfassung beider Flanken vor. Die beiden deutschen Reservekorps
schlugen sich vortrefflich und zwangen die Belgier, nach starken Verlusten am 26.
in die Festung zurückzugehen. Das belgische Oberkommando erreichte
aber durch seinen vorübergehenden Erfolg, daß das deutsche IX.
Reservekorps, das nach der Kanalküste vorgehen sollte, vorerst an die
Stellung von Antwerpen gefesselt blieb. Der Aufstand in Löwen wurde mit
berechtigter Strenge niedergeschlagen, wobei die Stadt durch Brand empfindlich
litt.
Der belgische Ausfall vom 9. bis 13. September 1914.
General Joffre rechnete damit, daß zu der beabsichtigten Entscheidung an
der Marne deutscherseits alle Kräfte eingesetzt werden würden. So
war es verständlich, daß er anordnete, daß auch die belgischen
Truppen erneut zum Angriff [367] schreiten sollten. Gelang es ihnen, die
Deckungstruppen zu werfen, so war hiermit die Unterbrechung der einzigen, also
unentbehrlichen Bahnverbindung des deutschen rechten Flügels erreicht.
Schlug der Angriff fehl, so fesselte er wenigstens die südlich Antwerpen
stehenden deutschen Kräfte. Daher wurde das belgische Oberkommando
angewiesen, einen erneuten Stoß von Antwerpen aus in Richtung auf
Brüssel - Löwen zu führen.
Die Deutschen (III. Reservekorps und
Marine-Division) hatten gegen Antwerpen eine Sperrstellung in der Linie
Aerschot - südlich
Mecheln - Termonde eingenommen. Termonde, ein sehr wichtiger
Eisenbahn- und Straßenmittelpunkt an der Schelde oberhalb Antwerpen,
wurde am 9. September von starken belgischen Kräften angegriffen und
konnte von den hier stehenden schwachen Abteilungen nicht gehalten werden. Die
Belgier befestigten Termonde als Stützpunkt zur Deckung der Verbindung
zwischen Antwerpen und
Gent - Brügge - Ostende.
Der belgische Ausfall richtete sich gegen die 24 Kilometer breite Linie Haecht (an
der Dyle nördlich
Löwen) - Wolverthem (9 Kilometer nordwestlich
Brüssel). Der Stoß sollte mit den Divisionen 3, 6, 2 und der
Kavallerie-Division umfassend gegen Löwen, in der Mitte durch die
Divisionen 5 und 1 gegen Brüssel, auf dem rechten (westlichen)
Flügel durch die 4. Division von Termonde her geführt werden. Der
erste Ansturm gelang: die deutschen Vorposten wurden am 9. September
vertrieben, die erste Linie gegen Abend dieses Tages zum Ausweichen
genötigt. Admiral v. Schroeder hielt mit der 5.
Reserve-Division (6. Reserve-Division war westwärts entsandt) und der zu
Kiel-Wilhelmshaven aufgestellten und dem III. Reservekorps unterstellten
Marine-Division den feindlichen Stoß auf. Auch diesmal konnten
zufälligerweise einige Bataillone und Batterien des XV. Armeekorps zur
Hilfe herangezogen werden, die sich gerade auf der Bahnfahrt aus Lothringen
über Brüssel nach Nordfrankreich befanden. Ferner zog General v.
Beseler die zum Vorstoß gegen die Kanalküste angesetzte 6.
Reserve-Division eiligst wieder in die Kampffront vor Antwerpen, wohin
schließlich auch Landwehrtruppen des Generalgouvernements Belgien
herangeholt wurden.
Am 10. und 11. machten die Belgier Fortschritte, indem die 2. Division Wesemael
(halbwegs
Aerschot - Löwen) nahm, die
Kavallerie-Division bis an den Osteingang von Löwen herankam. Dagegen
verzögerte sich das belgische Vordringen in der Mitte und am
Westflügel, wo die Belgier unter mühsamen Kämpfen nur
einzelne Ortschaften gewinnen konnten.
Am 11. schritten die Deutschen, verstärkt durch alle irgendwie
abkömmlichen Etappentruppen des Generalgouvernements, zum
allgemeinen Gegenstoß. Sie blieben auf dem linken Frontabschnitt westlich
der Senne in der Verteidigung und wiesen auf den Höhen bei
Grimberghen - Brusseghem alle Angriffe der Belgier ab. Dagegen
gingen sie beiderseits der Dyle zum Durchbruch vor und [368] warfen den belgischen Umfassungsflügel
in der Linie
Haecht - Elewyt auf Mecheln zurück. Am 13. September gab
das belgische Oberkommando den Kampf auf und befahl den Rückmarsch
in den Antwerpener Festungsbereich.
Die Aufstellung der Armeegruppe Beseler.
Bereits am 7. September 1914, also noch vor der für die deutschen Waffen
schicksalsschweren
Marne-Schlacht, entschloß sich die Oberste Heeresleitung, mit den Belgiern
endgültig abzurechnen, Antwerpen zu nehmen, um die rechte Heeresflanke
von der dauernden Bedrohung zu befreien. Als die Wendung der
Marne-Schlacht zu deutschen Ungunsten erfolgt war, blieb die Heeresleitung erst
recht bei ihrem Entschluß, denn nun trat die Möglichkeit in den
Vordergrund, daß englische Heeresteile die Verbindung mit Antwerpen
anstreben würden, um früher oder später von hier aus gegen
die Flanke und die Verbindungen der Deutschen zu wirken. Die
Belagerungsarmee, deren Zusammenziehung und Bereitstellung nur
allmählich und unter Überwindung großer Schwierigkeiten
sich vollziehen konnte, bestand unter dem Kommandierenden General des III.
Reservekorps, General der Infanterie v. Beseler, aus:
- III. Reservekorps,
- Marine-Division (unter Admiral v. Schroeder),
- 4. Ersatz-Division,
- 1. bayerische Landwehr-Brigade,
- 37. Landwehr-Brigade,
- 26. Landwehr-Brigade.
Zusammen: 67 Bataillone, 31 Feld-Batterien, 4½ schwere Batterien, und
den erforderlichen Sondertruppen aller Art, mit Ausnahme der Flieger und
Luftschiffer nur aus
Reserve-, Landwehr-, Landsturmtruppen, sowie aus neu aufgestellten
Marineabteilungen bestehend.
Die Belagerungsartillerie stand unter Generalleutnant Borckenhagen und belief
sich nach dem Eintreffen aller Verstärkungen auf:
40 |
10- und 13-cm Kanonen, |
72 |
15-cm-Haubitzen, |
48 |
21-cm-Mörser, |
5 |
30,5-cm schwere Küstenmörser, |
4 |
30-cm österreichisch-ungarische Skoda-Mörser, |
4 |
42-cm kurze Marine-Kanonen, |
zusammen 173 |
schwere Geschütze, darunter 13 schwerste. |
Die Pioniere unter General Friemel umfaßten die Regimenter 24 und 25, 4
einzelne Kompagnien, eine Anzahl von Scheinwerferzügen. Die
Sonderwaffen zählten 2
Festungs-Luftschiffer-Abteilungen, mehrere
Eisenbahn-, Telegraphen- [369] und Vermessungsabteilungen.
Festungsmaschinengewehrtruppen wurden nach Bedarf auf die Divisionen,
Brigaden, Belagerungsartillerie
abteilungs- oder truppweise verteilt.
Die Kampfstärke der Belagerungsarmee belief sich im höchsten Falle
auf 85 000 Mann. Die Festungsbesatzung, gestützt auf Werke von
scheinbar unbegrenzter Widerstandsfähigkeit und sehr erhebliche
Geländevorteile, betrug 6 belgische Divisionen, zu denen im Laufe der
Belagerung 2 Brigaden englischer Verstärkungen traten, 30 aktive und 20
Reserve-Festungs-Batterien, in den Panzertürmen 30
15-cm-Geschütze, 6 Pionier-Bataillone. Da die belgischen Divisionen 3 bis
4 gemischte Brigaden zählten und mit Artillerie stark ausgestattet, neben
der Feldarmee noch 8 Bataillone Festungsartillerie mit 51 Batterien und 6
Festungspionier-Bataillonen vorhanden waren, ergab sich für den
Verteidiger eine bedeutende zahlenmäßige Überlegenheit.
Der deutsche Angriffsplan.
Der im Frieden ausgearbeitete Angriffsplan ("Angriffsentwurf") sah den
Hauptangriff gegen die Ostfront im Rahmen der Gesamteinschließung der
Festung vor, zu deren Bezwingung 11 Divisionen für erforderlich erachtet
wurden. Da aber General v. Beseler nur über 3 Divisionen (5., 6.
Reserve-Division und Marine-Division) verfügte und nachträglich
die 4.
Ersatz-Division sowie 3 gemischte
Landwehr-Brigaden erhielt, also 5 bis 6 Divisionen mit wenig Feldartillerie
einsetzen konnte, so mußte ein von Grund auf neuer Angriffsplan
aufgestellt werden.
Der Angriff gegen die vom Gelände am wenigsten geschützte
Ostfront verbot sich, weil es galt, die Hauptverbindungslinie des rechten
deutschen Heeresflügels, die große Bahn
Tirlemont - Brüssel - Mons -
Maubeuge, unter allen Umständen gegen die Unternehmungen der
Festungsbesatzung zu schützen und die Verbindung der letzteren mit
Brüssel zu verhindern. Ein Angriff gegen die Westfront würde
vielleicht noch wirkungsvoller gewesen sein, da er zur baldigen
Beschießung der Stadt führte und den Belgiern den Weg nach Westen
versperrte. Aber alle Überlegungen sprachen dagegen. An einen Abzug der
Belgier nach Westen glaubte man nicht, weil die Verteidigung Antwerpens eine
nationale Aufgabe des belgischen Volkes zu sein schien und mit der Preisgabe der
Festung das Land im Besitz der Deutschen war, von dem noch verbliebenen
kleinen Rest an der flandrischen Küste abgesehen. Vielmehr glaubte man
erwarten zu müssen, daß sich das belgische Heer so lange in
Antwerpen halten würde, bis die Entente, namentlich England, Hilfe
brachte.
Unter Würdigung aller dieser Umstände entschloß sich
General v. Beseler dazu, den Angriff von Süden her zu führen,
obwohl er mit Rücksicht auf die Überwindung des sumpfigen, stark
befestigten
Nethe-Abschnittes in taktischer und technischer Hinsicht besonders schwierig
schien. "Schwierigkeiten sind dazu da, [370] daß sie vom festen Willen
überwunden werden!" Der Antrag, gleichzeitig einen Nebenangriff von
Westen her anzusetzen, der sehr verlockend schien und, wie die Ereignisse
dargetan haben, große strategische Bedeutung gewonnen hätte,
mußte seitens der Obersten Heeresleitung wegen Mangels an Kräften,
namentlich an Munition, abgelehnt werden.
Einleitungskämpfe, 26. bis 30. September 1914.
Die Truppengliederung des Angriffs setzte das III. Reservekorps, mit der 6.
Reserve-Division rechts, mit der 5.
Reserve-Division links, gegen die Angriffsfront Fort
Lierre - Fort Wavre Ste. Cathérine an, im Osten begrenzt
durch die Bahnlinie
Aerschot - Lierre, im Westen durch den Kanal von Löwen.
Westlich des III. Reservekorps ging über Mecheln die
Marine-Division im Raum zwischen dem Kanal von Löwen und dem Kanal
von Willebroeck gegen die Front Redoute de Duffel
("Eisenbahn-Fort") - Fort Waelhem vor. Links der
Marine-Division lag bis Termonde der Abschnitt der 4.
Ersatz-Division.
Zum Flankenschutz rechts diente bei Aerschot die 26.
Landwehr-Brigade, links zwischen Termonde und Alost die 37.
Landwehr-Brigade. Gegen die Ostfront beobachtete Detachement Uckermann
(Führer
Reserve-Ulanen-Regiment 3) in der Stärke von 4 Schwadronen, 2
Geschützen, 2 Maschinengewehren, ½ Zug Pioniere, 2
Marine-Radfahrer-Kompagnien. Die Westfront mußte wegen Mangels an
Truppen unbeobachtet bleiben.
Diese Bereitstellungen erfolgten derart, daß am 27. September die
Entfaltung der Kräfte und die Einleitung des Angriffs beginnen
konnten.
Die belgischen Streitkräfte standen am 27. mit schwachen
Sicherheitsbesatzungen von der 2., 3., 6. Division in der Front Fort
Lierre - Fort Waelhem, Vorposten auf den Höhen zwischen
Heyst op den
Bergh - Putte, sowie südlich Mecheln. Die Masse der
belgischen Armee war um Alost mit der Absicht eng versammelt, in den
nächsten Tagen gegen den linken deutschen Flügel zum umfassenden
Angriff zu schreiten.
Der deutsche Stoß kam dem belgischen Plane zuvor und überraschte
den Gegner. Am 27. September begann die allgemeine deutsche
Vorwärtsbewegung. Die 6.
Reserve-Division nahm bis zum 28. abends fast kampflos den wichtigen
Höhenzug Heyst op den
Bergh - Putte. Rechts von ihr erreichte die 26.
Landwehr-Brigade die Nethe-Brücken östlich Heyst op den Bergh,
Detachement Uckermann Westerloo. Die
Marine-Division bemächtigte sich bis zum 28. nach einigen
Kämpfen der Stadt Mecheln, sah sich aber durch das Feuer der Fortslinie
am weiteren Vordringen gehindert. Die 4.
Ersatz-Division, der die 37. Landwehr-Brigade unterstellt wurde, drang bis
nördlich der Bahnlinie
Mecheln - östlich Termonde vor und sicherte durch die
Zurückbiegung der Front an den
Dendre-Abschnitt oberhalb
Termonde - Alost die westliche Flanke der Belagerungsarmee.
[371] Die Belgier waren damit in die Verteidigung
gedrückt und sahen sich im wesentlichen zum Abzug in den Bereich der
Festungsgeschütze gezwungen. Die Kräfte waren so verteilt,
daß die 1. und 2. Division im Hauptkampffeld Fort
Lierre - Fort Waelhem, die 3. und 6. im Südwestabschnitt Fort
Waelhem - Fort Bornhem, die 4. Division und
Kavallerie-Division bei und westlich Alost standen. Die 5. Division bildete die
Hauptreserve.
Unter dem Schutze der deutschen Infanteriestellungen vollzog sich bis zum 28.
September der Artillerieaufmarsch. Da es sich zunächst um die
Durchbrechung der belgischen Fortslinie bei Fort Wavre Ste. Cathérine
handelte, um von hier die Front nach Osten hin aufzurollen, wurde die deutsche
Belagerungsartillerie östlich und südlich Mecheln in Stellung
genommen. Als Ziele erhielten:
- 30,5-cm-Batterien Buch und Scharf Fort Waelhem,
- 30,5-cm-Batterie Neumann Fort Wavre St. Cathérine,
- 42-cm-Batterie Becker Fort Wavre Ste. Cathérine,
- 30-cm-Batterie (österreichisch-ungarische) Fort Koningshoyckt,
- 42-cm-Batterie Erdmann Fort Lierre.
Die Zwischenwerke Dorpvelde und Boschbeek wurden von je zwei
21-cm-Mörser-Batterien unter Feuer genommen. Die sämtlichen
Nethe-Brücken und das Wasserwerk nördlich Waelhem wurden als
wichtige Ziele von besonderen Batterien beschossen.
Nachdem die Beobachtung in dem mit vielen Gehöften, Dörfern,
Häusergruppen, Wäldern, Parkanlagen bedeckten Gelände
nicht ohne Mühe festgelegt worden war, begann schon am Abend des 28.
das schwere Artilleriefeuer, dem der Verteidiger lebhaft, aber mit geringem Erfolg
antwortete. Unter dem Schutz des deutschen Feuers blieb die Infanterie im
dauernden Vorgehen. Am 30. abends war
Reserve-Infanterie-Regiment 12 der 5. Reserve-Division bereits bis auf 700 Meter
an Fort Wavre Ste. Cathérine herangekommen, die 6.
Reserve-Division hatte gegen Fort Koningshoyckt hin die Dörfer
Koningshoyckt und Wavre Ste. Cathérine erreicht, die 26.
Landwehr-Brigade Berlaer besetzt und einen belgischen Vorstoß gegen ihre
rechte Flanke abgewiesen, wo der Feind Panzerwagen mit Maschinengewehren
ins Gefecht brachte. Die
Marine-Division gelangte bis an den Abschnitt des Vrouweuvliet nördlich
Mecheln, 1200 Meter vor Fort Waelhem. Weiter nach Westen zog sich die
deutsche Front über die Orte
Heffen - Thisselt - Lippeloo bis St. Amand an der Schelde.
Abteilung Uckermann stand auf dem äußersten rechten Flügel
bei Herenthals.
Das Vorgehen der Deutschen bis an die Nethe.
General v. Beseler befahl den Sturm gegen die Forts Wavre Ste. Cathérine
und Waelhem für den Nachmittag des 1. Oktober. Zwar hatte das
Artilleriefeuer gegen die Front Zwischenwerk
Boschbeek - Fort Waelhem noch nicht bis zur
Kampfunfähigkeit geführt, allein Munitionsmangel und die
Bedrohung des [372] deutschen rechten Armeeflügels durch
die veränderte strategische Gesamtlage ließen einen längeren
Aufschub nicht zu.
Reserve-Infanterie-Regiment 8 vermochte beim ersten Sturm das Zwischenwerk
Boschbeek nicht zu nehmen und erlitt beim zweimaligen Sturmversuch erhebliche
Verluste, da die Hindernisse noch nicht ausreichend zerstört waren.
Dagegen stürmte links neben
Reserve-Infanterie-Regiment 8 das Reserve-Infanterie-Regiment 48, dem die 2.
Kompagnie
Pionier-Regiments 24 mit Schnellbrücken und Drahtscherentrupps zugeteilt
war, trotz heftigen Feuers mittels einer Schnellbrücke über den 12
Meter breiten Wassergraben noch am Abend des 1. Oktober das Zwischenwerk
Dorpvelde. Westlich davon nahm
Reserve-Infanterie-Regiment 12 Fort Wavre Ste. Cathérine, das
größte, erst 1904 erbaute, mit besonders starken Betonräumen
bewehrte Werk der Festung. "Die den Sturmkolonnen voraneilenden
Deckungstruppen überrannten das 800 bis 900 Meter tiefe Angriffsfeld",
berichtete die Darstellung des Obersten v. Tschischwitz, "ohne Aufenthalt, und
erreichten den äußersten Grabenrand. An zwei Stellen brachten die
Pioniere die Schnellbrücken ins Wasser und waren trotz heftigen Feuers aus
den
Flankierungs-Schnellfeuergeschützen bereits 5,50 Uhr nachmittags die
ersten am inneren Grabenrand. Ihnen folgte auf dem Fuße der
Bataillonskommandeur, Major Kleemann, mit der 1. und 2. Kompagnie, drang
stürmend in das Fort ein und stieß bis zur Kehle durch." Die
Beschießung hatte geradezu vernichtend gewirkt. Die beiden
Panzertürme, in jedem zwei
15-cm-Kanonen, waren zerstört. Vier Panzertürme mit
Sturmabwehrkanonen waren, bis auf einen, außer Gefecht gesetzt, auch die
Kasernen, Schutzhohlräume, Kehlgrabenwehr hatten infolge Zerschlagens
der Betondecke stark gelitten, jedenfalls war die Wirkung von 44 Schuß
schwerster Geschütze von fast 500 abgegebenen entscheidend.
Das linke Flügelregiment der 5.
Reserve-Division, Reserve-Infanterie-Regiment 52, kam bis auf 1000 Meter an
Bahnhof Fruitenborg heran. Der Sturm auf Fort Waelhem durch das rechte
Flügelregiment der
Marine-Division erwies sich noch nicht als durchführbar, da das Werk
kampf- und feuerfähig geblieben war. Was am 1. Oktober nicht erreicht
worden war, wurde in der Nacht zum 2. nachgeholt. Die deutsche schwerste
Artillerie nahm nochmals das Feuer gegen das Zwischenwerk Boschbeek und das
Fort Waelhem auf, worauf ersteres durch Leutnant Tiemann, Adjutant beim I.
Bataillon
Pionier-Regiments 24, nach Abgabe von fünf Schuß aus einem
schweren Minenwerfer kampflos besetzt wurde, während Fort Waelhem am
2. nachmittags die weiße Flagge aufzog. Das Werk hatte durch die
Beschießung schwer gelitten.
Vor der Front der 6. Reserve-Division war es am 1. Oktober noch nicht zum
entscheidenden Vorgehen gekommen. Daher verlegte die Angriffsartillerie ihr
Feuer am 2. Oktober vormittags auf die Linie Fort
Lierre - Fort Koningshoyckt. Seit Mittag verstummte die Artillerie
des letzteren. Am Abend wurde [373] das Werk vom
Reserve-Infanterie-Regiment 20 besetzt. Die Verwüstung war eine
vollständige, seit dem 30. September waren fast alle Geschütze
außer Gefecht gesetzt, am 2. Oktober machte die Entzündung des
Geschoßlagers das Fort unhaltbar. Am Abend des 2. flog das Zwischenwerk
Tallaert auf, am 3. früh wurde das völlig zusammengeschossene, von
der Besatzung aufgegebene Fort Lierre besetzt.
Als letztes Werk im Gelände südlich der Nethe fielen am 4. Oktober
früh Redoute Duffel dem
Marine-Infanterie-Regiment 2 in die Hand, nachdem die belgische Besatzung die
wichtigsten Teile des von der deutschen Artillerie zusammengeschossenen
Werkes selbst gesprengt hatte und dann abgezogen war. Hiermit war die erste
große Aufgabe des Angreifers erfüllt, der Weg zur Nethe nach
Eroberung der vor ihr liegenden und sie bestreichenden Forts Lierre,
Koningshoyckt, Wavre Ste. Cathérine, Waelhem freigemacht.
Der Eindruck dieser Ereignisse auf die Belgier war ein niederschmetternder.
Ebensowenig wie Lüttich und Namur hatte sich Antwerpen der
Zerstörungskraft der deutschen Artillerie und der Angriffswucht der
Sturmtruppen gewachsen gezeigt. "Die Wirkung der schweren deutschen
Artillerie", berichtete die belgische amtliche Darstellung, "die man bei
Lüttich, Namur, Maubeuge und am 29. September bei den Forts Wavre Ste.
Cathérine und Waelhem erfahren hatte, ließen an dem Schicksal,
das der Befestigungen von Antwerpen wartete, keinen Zweifel aufkommen.
Entgegen der Meinung, welche man bis dahin allgemein gehabt hatte, konnte die
Lagerfestung der Feldarmee nicht mehr lange Schutz bieten. Von diesem Tage an
faßte dann auch das Oberkommando den Zeitpunkt ins Auge, wo die Armee
den Platz verlassen mußte, um zu verhüten, binnen kurzer Frist die
Waffen strecken zu müssen."
England war von dieser Wendung der Dinge in höchstem Maße
peinlich berührt, denn es sah im Verluste von Antwerpen eine ernstliche
Gefährdung seiner strategischen und politischen Stellung auf dem
Festlande. Es trat daher in Verhandlungen mit der belgischen und
französischen Regierung, um Belgien zur Behauptung Antwerpens zu
bestimmen. Der Erste Lord der britischen Admiralität, Churchill, traf am 3.
Oktober als Vertreter der englischen Regierung bei König Albert in
Antwerpen ein. Er schloß mit ihm folgenden Vertrag: "Die belgische
Regierung trifft sofort durchgreifende Maßnahmen, um die Verteidigung
Antwerpens noch zehn Tage fortzusetzen. Dagegen verspricht die britische
Regierung, nach drei Tagen mitzuteilen, ob und wann eine Unternehmung zur
Entlastung Belgiens durchgeführt werden soll. Kann England diese
Erklärung nicht abgeben, so soll Belgien wieder Freiheit des Handelns
haben, die Verteidigung Antwerpens aufzugeben und die Feldarmee aus der
Festung zurückzuziehen. Für diesen Fall verpflichtet sich die
britische Regierung, den Abmarsch der belgischen Feldarmee von Gent aus oder
von irgendwo anders her zu unterstützen. Ferner verpflichtet sich die
englische Regierung, die örtliche Verteidigung [374] Antwerpens materiell und personell zu
unterstützen, indem sie Truppen und Geschütze sendet." Aus diesem
Abkommen ergibt sich klar die starke Beunruhigung, welche England durch die
gefährliche Lage Antwerpens ergriffen hatte. Es fürchtete sowohl die
Festsetzung der Deutschen an der flandrischen Küste wie auch die alsdann
von dorther drohende Unterseebootgefahr. Zwischen den beiden
Oberbefehlshabern Joffre und French fanden Verhandlungen statt, um Truppen
zur Rettung Antwerpens bereitzustellen. Vorläufig stand nur die englische
Marine-Brigade Aston bei Ostende zur Verfügung. Verstärkungen
sollten aus England herangezogen werden, während Frankreich eine
Marine-Brigade von Paris und die 87.
Territorial-Division von Le Havre nach Ostende zu senden hatte, um auf diese
Weise ein gemeinsames Entsatzkorps von 42 000 Mann zu bilden. Dieses
Korps war zum Vormarsch über
Brügge - Gent gegen den deutschen linken Flügel vor
Antwerpen bestimmt, um mit den Bewegungen der
französisch-englischen Hauptkräfte zusammenzuwirken, deren
Aufgabe es war, aus der Gegend von
Amiens - Arras - Lille umfassend gegen die deutsche
Nordflanke vorzubrechen.
Die Erzwingung des Übergangs über die Nethe.
Die Belgier hatten sich nach dem Verluste der Fortslinie
Lierre - Waelhem hinter den Abschnitt der Nethe
zurückgezogen, einer 400 Meter breiten Überschwemmungssperre,
die zur nachhaltigen Verteidigung sorgfältig eingerichtet war. Das deutsche
Oberkommando ersah die Orte Lierre und Duffel zu Durchbruchspunkten aus.
Der Angriff auf Lierre wurde durch die Bezwingung des Forts Kessel eingeleitet,
das durch
42-cm-Batterie Erdmann und durch eine
österreichisch-ungarische 30,5-cm-Batterie mit 57 bzw. 66 Schuß so
zusammengeschossen wurde, daß es als "Ruine" am 3. Oktober früh
von den Belgiern aufgegeben und am 5. bei Tagesanbruch durch die Abteilung
Brink der 26.
Landwehr-Brigade kampflos besetzt wurde. Um die von mehreren Nebenarmen
der Nethe durchzogene Stadt Lierre und die oberhalb und unterhalb gelegenen
Gehöfte kam es zu außerordentlich erbitterten Kämpfen, denn
die Belgier richteten ein verheerendes Massenfeuer gegen die deutsche Infanterie,
die sich über mehrere Arme der Nethe herangearbeitet hatte, der es
zunächst aber an unmittelbarer Unterstützung durch Feldartillerie
fehlte. Die
Reserve-Infanterie-Regimenter 35, 26, 24 gerieten zeitweise in gefährdete
Lagen, bis es der
Pionier-Kompagnie zur Nedden (1. Reserve-Pioniere 3) gelang, unter den denkbar
schwierigsten Verhältnissen Kriegsbrücken in Lierre und einen
Brückenkopf südlich der Stadt herzustellen. Diese Brücken
konnten zum Herüberziehen der Artillerie benutzt werden, die mit vier
Geschützen in den Straßenkampf in Lierre eingriff. Abwärts
Lierre drangen je zwei Bataillone der
Reserve-Infanterie-Regimenter 26 und 24 über den Fluß und
mußten dort, die Nethe mit einem zweifelhaften Übergang [375] nahe hinter sich, volle sechs Stunden ohne
Unterstützung einem überlegenen Feinde gegenüber ausharren,
der am 6. Oktober zum Gegenstoß schritt, um die Deutschen in die Nethe zu
werfen.
Mit der Durchführung dieses Gegenstoßes wurde der englische
General Paris betraut, der als Nachfolger Astons mit den ersten englischen
Verstärkungen, einer
Marine-Brigade, von Ostende her in Antwerpen eingetroffen war und mit starken
Teilen in den Kampf eingriff. Allein die
belgisch-englischen Truppen verstanden es nicht, die für sie
außerordentlich günstige Lage kraftvoll, schnell und namentlich
einheitlich genug auszunutzen. Statt eines allgemeinen Angriffs gingen sie nur mit
zwei Regimentern vor und gaben somit die Möglichkeit aus der Hand,
zwischen den
Reserve-Infanterie-Regimentern 26 und 24 hindurch die Nethe unterhalb Lierre zu
gewinnen und die Deutschen von ihrem einzigen Übergang über die
Nethe abzuschneiden. Erst nach schweren Stunden verlustreichen Ausharrens im
feindlichen Artilleriemassenfeuer traf für die beiden stark gelichteten
deutschen Regimenter Hilfe ein. Am Frühmorgen des 6. Oktobers
erschienen zunächst Teile des
Reserve-Infanterie-Regiments 20, dann am linken Flügel des
Reserve-Infanterie-Regiments 24, Abteilung Kleist der 5.
Reserve-Division (2 Bataillone Reserve-Infanterie-Regiments 8 und
Reserve-Jäger-Bataillon 3), auch brachte der Einsatz der II. Batterie
Reserve-Feldartillerie-Regiments 6 bei Lierre eine entscheidende Erleichterung.
Daher gab General Paris den Angriff auf und zog die ihm unterstellten
belgisch-englischen Truppen in eine nordwärts gelegene zweite Stellung
zurück. Hiermit war die Gewinnung des
Nethe-Abschnittes bei und unterhalb Lierre für die Deutschen gesichert, um
so mehr, als inzwischen die
42-cm-Batterie Erdmann das Fort Broechem zusammengeschossen hatte, das
bisher bestreichend gegen die Deutschen bei und unterhalb Lierre wirken konnte.
Mehr als 2½ Tage hatte die deutsche Infanterie in allerschwerster Lage und
unter blutigen Verlusten ausharren müssen, bis die harte Aufgabe
gelöst war.
Der Erfolg der 6. Reserve-Division öffnete auch der links von ihr
angesetzten 5.
Reserve-Division den Übergang über die Nethe dadurch, daß
die linke Flanke der Belgier durch die Fortschritte der 6.
Reserve-Division gefährdet wurde. Im Laufe des 6. Oktobers gewann die 5.
Reserve-Division, durch die opferwillige Hingebung der Pioniere und durch das
Eingreifen der Feldartillerie auf nächste Schußweite bestens
unterstützt, auf ihrer ganzen Front oberhalb, bei und unterhalb Duffel den
Nethe-Abschnitt, wobei Schnellbrücken, Boote, Flöße als
Übergangsmittel dienten.
Bei der Marine-Division gelang der Übergang über die Nethe
nördlich Mecheln am 6. nicht, da die starken belgischen Stellungen auf dem
Nordufer noch nicht hinreichend durch die deutsche Artillerie erschüttert
worden waren. Erst als die 5.
Reserve-Division die Nethe überwunden hatte, gab der Feind den
Widerstand auch der
Marine-Division gegenüber auf.
[376] So war der zweite und offenbar schwerste Teil
der Belagerung erfüllt: der
Nethe-Abschnitt war überwunden und hiermit der Zugang zu dem
schwachen inneren Festungsgürtel erzwungen. Der Ruhm, diese Aufgabe
gelöst zu haben, gebührt der tapferen 6.
Reserve-Division und der Pionier-Kompagnie zur Nedden, deren Führer
leider zwei Wochen darauf seine Heldenlaufbahn mit dem Tode besiegeln sollte.
Auf deutscher Seite bediente man sich mit ausgezeichnetem Erfolg der schweren
Minenwerfer, die, von den Pionieren bedient, einen gewaltigen Eindruck
ausübten und die Kampfkraft des Gegners bei der
Nethe-Verteidigung lähmten.
Der Übergang über die Nethe entschied das Schicksal Antwerpens,
denn der innere Fortsgürtel war für einen nachhaltigen Widerstand
nicht mehr geeignet. Der Fall der Festung war eine Frage weniger Tage, obwohl
am Frühmorgen des 6. über Gent auch die 1. und 2. Brigade der
englischen
Marine-Division in Antwerpen eingetroffen waren.
Die letzten Kämpfe.
Während das III. Reservekorps und die
Marine-Division den Übergang über die Nethe erkämpften,
deckte die 4.
Ersatz-Division den Raum zwischen dem Kanal von Willebroeck und der
Schelde. Sie hielt die ihr gegenüber befindlichen belgischen Divisionen 3
und 6 fest, band also sehr starke feindliche Kräfte. Auf dem westlichen
Flügel der 4.
Ersatz-Division übernahm die ihr unterstellte 37.
Landwehr-Brigade (6 Bataillone, 2 Schwadronen, 3 Batterien, ½ Bataillon
schwere Feldhaubitzen, 1
Pionier-Kompagnie) bei Alost die Flankendeckung. Sie hatte sich
gegenüber die belgische 4. Division bei Termonde, die
Kavallerie-Division bei Wetteren. Der Versuch der 37.
Landwehr-Brigade am 26. September, Termonde zu nehmen, mißlang, auch
Alost ging vorübergehend verloren. Da das Oberkommando der
Belagerungsarmee den Abzug der belgischen Divisionen bei
Termond - Wettern nicht als wahrscheinlich ansah, aber mit dem
verzweifelten Entschluß, Antwerpen seinem Schicksal zu überlassen
und die Feldarmee aus der Festung zu retten, rechnen mußte, gewann die
Abschließung des Platzes auf der Westfront an Bedeutung. Daher wurde die
37.
Landwehr-Brigade, verstärkt durch 2 Batterien schwere Feldhaubitzen,
beauftragt, Termonde zu nehmen. Zu ihrer Ablösung besetzte die neu
eingetroffene 1.
Reserve-Ersatz-Brigade Jung am 4. Oktober Alost. Die 37.
Landwehr-Brigade ging mit der Abteilung Oberstleutnant v. Cosel (2 Bataillonen,
2 Batterien, 1
Pionier-Kompagnie) auf dem östlichen
Dendre-Ufer von Alost gegen Termonde vor, während die Masse der
Brigade bei Schoonaerde die Schelde überschreiten sollte, um Termonde
von Nordwesten her zu umfassen. Beide Unternehmungen scheiterten am
hartnäckigen Widerstand der Belgier.
Trotz dieses Mißerfolges der Deutschen übte der von der 37.
Landwehr-Brigade ausgeübte Druck einen sehr wirksamen Einfluß
auf den Gegner aus, der [377] für die Verbindungen Antwerpens nach
Westen hin zu fürchten begann. Die belgische 6. Division wurde in aller
Eile nach dem rechten Flügel bei
Termonde - Lokeren gezogen. In Antwerpen fand am 6. Oktober ein
Kriegsrat statt, dem als englischer Vertreter Churchill beiwohnte. Da sich die
englische und französische Heeresleitung über den in Aussicht
genommenen sofortigen Entsatzversuch für Antwerpen nicht einigen
konnten, beschlossen Joffre und French, daß der große
englisch-französische Vorstoß zur Rettung Antwerpens über
Lille geführt werden sollte, in der Hoffnung, daß sich Antwerpen mit
englischer Hilfe so lange werde halten können, bis der Vormarsch von Lille
her wirksam geworden war. Der Entschluß der
englisch-französischen Heeresleitung drang nicht bis zur Kenntnis der
belgischen Führung in Antwerpen durch. So kam es, daß die
Verteidiger sich entschlossen, sofort auf die innere Fortslinie Antwerpens
zurückzugehen, welche General Paris mit den 3 englischen Brigaden und
einigen belgischen Verbänden solange als möglich halten sollte. Die
Masse des belgischen Heeres wurde auf das westliche
Schelde-Ufer zurückgezogen, um dort den von Westen her erwarteten
Entsatzversuch zu unterstützen. Die belgische Regierung wurde nach
Ostende verlegt.
In Zeebrügge wurde am 7. Oktober die englische 7.
Infanterie-Division Cappes gelandet und ging nach Brügge vor, wo
Generalleutnant Rawlenson den Oberbefehl über das zu bildende
Entsatzheer übernahm und auf das Eintreffen französischer Truppen
und der englischen 3.
Kavallerie-Division wartete. In Antwerpen selbst führte General Paris
den Oberbefehl. Er ließ die Forts 1 bis 8 der inneren Linie durch die
belgischen Festungstruppen besetzen, zwischen und hinter welchen die 3
englischen Brigaden bereitgestellt wurden. Die Stadt war von der belgischen 2.
Division belegt. Die Masse des belgischen Heeres zog auf das westliche
Schelde-Ufer ab.
Die deutsche Belagerungsarmee schob sich am 7. und 8. Oktober Schritt um
Schritt gegen die innere Fortslinie heran, um das Eingreifen der schweren
Artillerie abzuwarten, die erst nach Fertigstellung der Brücken über
die Nethe nachgezogen werden konnte.
Am 7. Oktober besetzte auf dem rechten Flügel die 26.
Landwehr-Brigade kampflos Fort Broechem und Zwischenwerk Massenhoven.
Ersteres hatte verhältnismäßig nur geringe Zerstörungen
seiner Panzertürme durch die deutsche und
österreichisch-ungarische schwerste Artillerie, im ganzen 144 Schuß,
erlitten, dagegen waren die
Kasernen- und Schutzhohlräume arg mitgenommen, an fünf
Stellen durchschlagen. Rechts der 26.
Landwehr-Brigade täuschte die zwar schwache, aber sehr geschickt
geführte und ungemein bewegliche Abteilung Uckermann den Gegner
über die deutsche Absicht derart, daß er glaubte, hier sehr erhebliche
Kräfte gegenüber zu haben.
Am 8. Oktober ging die Masse der deutschen schweren Artillerie in Stellung, um
die als Einbruchsstelle in Aussicht genommene Front Fort 3, 4, 5
nieder- [378] zukämpfen. Hinsichtlich der
Beschießung der Stadt traf am 6. abends folgende Anordnung der Obersten
Heeresleitung beim Oberkommando der Belagerungsarmee ein:
"Es ist dringend erforderlich, durch schnellen Fall
von Antwerpen die dort befindlichen Truppen für den rechten
Heeresflügel verfügbar zu machen. Hierzu erscheint es geboten, nicht
zu warten, bis
15-cm-Kanonen eine Stellung erreichen, die Beschießung des Stadtinnern
einschließlich Hafen gestattet, sondern wenigstens mit einer Batterie
sogleich wenige Schüsse mit äußerster Schußweite
gegen die Vorstädte abzugeben, um darauf sofort mit ganz kurzer
Befristung Aufforderung zur Übergabe an den Kommandanten ergehen zu
lassen. Vorbereitungen zum Instellungbringen der übrigen Kanonen zum
Beschießen des Stadtinnern brauchen dadurch nicht berührt zu
werden."
Am 7. Oktober waren die weittragendsten
Geschütze - 15-cm-Schirmlafetten-Batterien - auf etwa
16 000 Meter, die äußerste Schußweite, herangebracht
worden. Dem Kommandanten von Antwerpen wurde durch Vermittlung des
spanischen Militärattachés in Brüssel mit Befristung bis
Mitternacht vom 7. zum 8. Oktober die Beschießung der Stadt angesagt. Als
um diese Zeit noch keine Antwort eingetroffen war, eröffnete 12,25 Uhr
morgens
II./Fußartillerie-Regiments 8 mit
15-cm-Schirmlafetten-Batterien, bald darauf auch
13-cm-Batterien das Feuer aus einer Stellung 2 Kilometer östlich Lierre
gegen die südlichen Vorstädte Antwerpens.
Die Wirkung auf die Bevölkerung war, obwohl die Beschießung so
schonend als nur irgend möglich ausgeführt wurde, eine
außerordentlich große. Jedermann, auch die englische Führung,
sah ein, daß weiterer Widerstand zwecklos sein mußte, denn die
durchaus veralteten Forts des inneren Gürtels kamen für eine auch
nur einigermaßen erfolgreiche Gegenwehr überhaupt nicht in
Betracht. Daher teilte General Paris bereits am 8. Oktober frühmorgens
durch Fernsprecher dem General Rawlenson nach Brügge mit, daß
die Festung nicht mehr zu halten sei, und daß er zur Räumung
schreiten werde. Zu diesem Entschluß trugen die von der Westfront
eintreffenden sehr ungünstigen Nachrichten wesentlich bei.
Im Morgennebel des 7. Oktobers gingen 2 Bataillone der 37.
Landwehr-Brigade bei Schoonaerde auf Kähnen über die Schelde
und hielten sich tapfer gegen belgische Angriffe, bis am 8. die übrigen
Truppen der Brigade auf einer Kriegsbrücke über den Strom gelangt
waren. Ihr folgte die 1. bayerische
Landwehr-Brigade (6 Bataillone, 1 Schwadron, 1 Batterie, 1
Pionier-Kompagnie), welche, aus den Vogesen kommend, bei Brüssel
ausgeladen und im Eilmarsch herangekommen war. Die beiden deutschen
Landwehr-Brigaden hatten nunmehr fast die gesamte belgische Feldarmee sich
gegenüber. Sie war am Morgen des 7. Oktober bei und oberhalb Antwerpen
vom rechten aufs linke Ufer der Schelde übergegangen und befand sich,
durch das unübersichtliche Gelände [379] gedeckt, im Abmarsch auf Ostende.
Generalleutnant v. Werder, Führer der 4.
Ersatz-Division, beauftragt mit der Leitung der Bewegungen auf dem linken
Schelde-Ufer, wurde angewiesen, schnell und mit möglichst starken
Kräften die Gegend von Lokeren zu gewinnen, um den Belgiern und
Engländern den Abmarsch auf Gent zu verlegen.
Es wäre den Belgiern ein Leichtes gewesen, mit versammelter Kraft
über die an Zahl weit unterlegenen, vereinzelt ankommenden deutschen
Marschkolonnen auf dem nördlichen
Schelde-Ufer herzufallen und ihn einen Schlag zu versetzen, da keine deutschen
Verstärkungen zur Verfügung standen. Der englische General
Rawlenson schob zwei Drittel der englischen 7.
Infanterie-Division, dazu eine französische
Marine-Brigade, nach Gent vor, das belgische Heer besetzte mit starken
Nachhuten den
Terneuzen-Kanal auf der nur 6 Kilometer breiten Strecke zwischen Gent und der
holländischen Grenze. Eine englische
Kavallerie-Brigade stand bei Encloo, dem belgischen Hauptquartier. Bei
Brügge befand sich die hinterste Brigade der englischen 7.
Infanterie-Division, in Ostende die belgische 1. Division, die noch mit der
Eisenbahn von Antwerpen über Gent dorthin hatte gelangen
können.
Angesichts dieser großen Truppenmassen, die sich rein abwartend
verhielten, drangen die dem Generalleutnant v. Werder unterstellten deutschen
Truppen nach Norden vor, um den von Antwerpen her erwarteten belgischen und
englischen Truppen den Weg zu verlegen. Die deutsche Führung
nördlich der Schelde war sich der großen Gefahr nicht bewußt,
in der sie schwebte, und die ihr drohte, falls der am
Terneuzen-Kanal und bei Gent versammelte Feind zum Angriff schritt. Sie
glaubte, daß die Masse des Gegners noch in Antwerpen
war - tatsächlich war sie längst nach Westen hin
entschlüpft.
Die Übergabe der Festung.
Am 9. Oktober ging die 1. Ersatz-Reserve-Brigade Jung von Alost auf Gent vor,
stieß bei
Quatrecht - Melle auf französische Marinetruppen, die von
englischer und belgischer Artillerie unterstützt wurden, und konnte trotz
großer Opfer den Widerstand nicht brechen. Indessen hatte gerade das
Eingreifen der Brigade Jung einen starken Eindruck gemacht und den Feind
veranlaßt, seinen Gegenangriff aufzugeben und den Marsch nach Westen zu
beschleunigen. Am 9. erreichten: die 37.
Landwehr-Brigade Lokeren, die 9. Ersatz-Brigade Zeveneeken, die 13. und 33.
Ersatz-Brigade Berlaere, allen voraus aber die 1. bayerische
Landwehr-Brigade Moerbeke, nur noch 4 Kilometer von der holländischen
Grenze entfernt.
In der Meinung, daß nach der inzwischen erfolgten Übergabe
Antwerpens das
belgisch-englische Heer noch nahe westlich der Festung stand, drehten die
deutschen Kolonnen am 10. Oktober rechtwinklig nach Osten hin ab, dem
feindlichen Hauptheere den Rücken kehrend. Die drei englischen Brigaden
und die [380] belgische 2. Division unter General Paris waren
am 8. Oktober von Antwerpen aufgebrochen, um über
St. Nicolas - Lokeren Gent zu erreichen. Als die Nachricht
einging, daß Lokeren bereits von den Deutschen besetzt sei, entschloß
sich der englische General, über
St. Gilles-Waes - Moerbeke hart an der holländischen
Grenze entlang abzubiegen, ja er hoffte, auf Bahnhof Moerbeke
Eisenbahngerät zur Verladung der Truppen zu finden. Tatsächlich
erreichte die englische Vorhut Moerbeke und begann mit der Verladung, als die 1.
bayerische
Landwehr-Brigade bei Moerbeke eintraf. Es kam zu einem sehr blutigen Gefecht,
in das noch 2 Batterien der 4.
Ersatz-Division eingriffen. Die Bayern machten 1300 Belgier und
Engländer zu Gefangenen. Am 10. abends standen die Deutschen mit der
13. Ersatz-Brigade bei Kettermuit, der 37.
Landwehr-Brigade bei St. Nicolas, der 9.
Ersatz-Brigade bei St. Paul, der 1. bayerischen
Landwehr-Brigade bei St. Gilles-Waes, während die 33.
Ersatz-Brigade gegen Gent deckte. Der weitere deutsche Vormarsch war ein
Luftstoß, denn der Feind war über die holländische Grenze
getreten, wo 28 000 Mann, darunter 2000 Engländer, entwaffnet und
interniert wurden. Die Masse der 3 englischen Brigaden war nach Westen hin,
hart längs der holländischen Grenze entkommen.
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A 9. Oktober übergaben die Vertreter der Stadt dem General v. Beseler die
wehrlos daliegende, von Besatzung und Feldheer geräumte Stadt. Die
Belagerung hatte nur 13 Tage gedauert. Die Beute betrug etwa 1300
Geschütze mit über 900 000 Schuß, große
militärische Vorräte aller Art, namentlich aber gewaltige Mengen von
Getreide, überseeischen Waren, Metallen, Erdöl, Fellen, Wolle in
den Lagerhäusern des Hafens. Die Stadt hatte nicht
übermäßig gelitten, 106 Häuser waren zerstört,
insbesondere hatten sich die Bombenwürfe der deutschen Luftkreuzer
wirksam erwiesen. Die Zahl der Gefangenen war eine sehr geringe, da die Masse
des Feldheeres frühzeitig abgezogen, ein großer Teil nach Holland
übergetreten war. Die deutschen Verluste waren schwer. Sie sind aber im
Verhältnis zu dem, was in kürzester Zeit erreicht wurde, trotzdem
nicht hoch zu nennen.
Die Einnahme Antwerpens war nicht das Ergebnis einer Belagerung im
eigentlichen Sinne. Bei der geringen Zahl der einzusetzenden Kräfte hatte
der Angreifer sich zur Niederkämpfung eines schmalen Abschnittes
neuzeitlicher Panzerwerke durch den Einsatz der schwersten Artillerie
entschließen müssen, um alsdann den Durchbruch über die
angestaute Nethe, zuletzt die Erzwingung der Übergabe der Kernfestung
mittels der kurzen Beschießung der Stadt anzustreben. Da ein
Abschluß der Westfront wegen Mangels an Truppen und Munition leider
nicht möglich war und deshalb der sehr richtige Vorschlag des Generals v.
Beseler seitens der Obersten Heeresleitung abgelehnt werden mußte,
ließ sich das Entkommen des
belgisch-englischen Heeres aus Antwerpen nicht verhindern. Diese Wendung ist
vom Standpunkt der Gesamtkriegführung zu beklagen. Zwar hatten [381] die Deutschen Antwerpen, aber die wertvollste
Beute, das
belgisch-englische Feldheer, entzog sich der Gefangennahme. So entschwand ein
sehr schwer wiegender moralischer und strategischer Erfolg, denn gerade die
Belgier hatten erheblichen Anteil daran, daß der Vormarsch an der
Küste zum Halten kam, und haben sich in den Schlachten an der Yser als
hartnäckige Feinde erwiesen. Dieser Ausgang, der unter den obwaltenden
Verhältnissen beim besten Willen nicht zu vermeiden war, schmälert
jedoch in keiner Weise die hohen Verdienste Beselers und seiner tapferen
Truppen. Die Einnahme Antwerpens ist einer der staunenswertesten Erfolge in der
Geschichte des Festungskrieges. Noch nie hatten sich die technischen Mittel des
Angriffs denen des an Zahl nach erheblich stärkeren Verteidigers in einem
solchen Maße überlegen gezeigt. Die Widerstandskraft und die
Unternehmungslust des Verteidigers waren binnen weniger Tage in physischer
wie in moralischer Hinsicht gebrochen. Neben den technischen
Rücksichten aber erwies sich auch hier die alte Wahrheit, daß
Männer, nicht aber Mauern oder Wassergräben, auch nicht die
stärksten Panzer und die dicksten Betonmauern über das Schicksal
einer Festung entscheiden. Daß die eingesetzten deutschen Truppen in der
hier an sie herantretenden Art des Krieges nicht hatten geschult werden
können, hinderte sie nicht, ihre ungewohnten Aufgaben glänzend zu
erfüllen. Deutsche Truppen, deutsche Tatkraft, deutscher unwiderstehlicher
Angriffsdrang haben sie gelöst.
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