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Österreich im Spiel der Mächte
und Deutschlands Wiedererhebung

Aller angewandter Machiavellismus konnte das österreichische System des Gegenreiches nicht dem verhängnisvollen Gesetz der Entscheidung von Außen her entziehen. Indessen eine Art vaterländischer Staatsreligion alle öffentlichen Verhältnisse nach dem Ereignis des 25. Juli in seiner Deutung durch die Regierungspropaganda auszurichten strebte und damit sogar das Ausland weitgehend irreführte, unterlag das Verhältnis der europäischen Mächte zueinander und besonders hinsichtlich des Dritten Reiches wesentlicher Abwandlungen. Gewiß hatte die Freiheitspolitik des Führers, für die der Austritt aus dem Versailler Völkerbund im Oktober 1933 von sinnbildlicher Bedeutung wurde, zunächst eine weltpolitische Vereinsamung Deutschlands zur Folge. Aussichtsreicher als das Verhältnis zu den Westmächten und ihren Trabanten blieben die Beziehungen zu Italien, das für den status quo von Versailles und Genf längst nicht mehr sein zunehmendes Gewicht in die Waagschale der europäischen Entscheidungen warf. Auch die Römerprotokolle vom März 1934 sollten nach italienischer und ungarischer Lesart durch Einschränkung der von Paris und Genf aus gelenkten Kleinen Entente und der Donaupläne von Paris und Prag mit den Interessen des Reiches in gewissem Maße gleichlaufen und nicht nur, wie es allerdings die Lesart des Ballhausplatzes blieb, eine Barriere gegen den sogenannten Pangermanismus bedeuten. In Wien nahm man sehr gerne das Prestige und die wirtschaftlichen Vorteile, welche die Freundschaft Roms boten, entgegen, aber sah damals schon das [105] Problem der Kleinen Entente ganz unter dem Horizont kurzsichtiger Sondervorteile. Die Gegnerschaft Italiens zu Jugoslawien, die dann zur Zeit des Marseiller Königsmordes eine dramatische Höhe erreichte, fand allerdings in der Kroatensonderpolitik maßgebender Wiener Cliquen eine starke Resonanz; aber die Absicht, die dahinter stand, die südslawische Einheit als Bollwerk gegen Habsburg zu treffen, deckte sich wohl kaum mit Italiens realistischen Motiven.

Anders entwickelte sich das Verhältnis Wien-Prag, an dem Rom keinen unmittelbaren Anteil nahm, insofern, als die Machthaber in der Anschlußfeindlichkeit des Hradschin ein ebenso wertvolles Aktivum erblickten als der dem Staatswesen der Legionäre eingeborene Haß gegen die Habsburger wieder die Vertraulichkeit erschwerte. Es entstand darüber Jahre hindurch eine eifervolle Interpretation jeder Benesch-Rede und jedes Schlußkommuniqués der Kleinen Entente, ob sie noch und in welchem Grade für die Ablehnung der Restauration bekundeten oder wenigstens wohin sich der Akzent der bekannten Benesch-Formel "weder Restauration noch Anschluß" verschoben habe. Eine grundsätzliche Gegnerschaft wie zu Jugoslawien ist alledings zum Tschechenstaate mit seinen dreieinhalb Millionen unterdrückter Deutschen auch dann nicht aufgekommen, als die Flügel-Emigranten das Feuer in Brünn und Prag eifrig schürten. Den Marxistenführern der Tschechenrepublik lag das Hemd näher als der Rock und der Kampf zuerst gegen die sudetendeutschen Nationalsozialisten unter Jung und Knirsch und dann gegen die sie ablösende Heimatfront Henleins schuf eine ungeschriebene, aber wichtige Übereinstimmung zwischen den Prager und den Wiener Machthabern auf dem innenpolitischen Gebiete, die irgendwie auch auf die äußeren Beziehungen beider trotz der Demokratie und Pariser Allianz dort und der Diktatur und des römischen Schutzes hier abfärben mußte. Es gehört zu den beschämendsten Tatsachen der an solchen überreichen Sonderbündelei, daß die Dollfuß-Notverordnungen zur gesetzwidrigen Unterdrückung der deutschen Freiheitsbewegung in Österreich das Modell für gleichgerichtete Maßnahmen der Prager Regierung gegen die sudetendeutsche Form des Nationalsozialismus, insbesondere auch für das Parteiverbot gebildet [106] haben. Es scheint vor allem das Verdienst der Wiener tschechischen Gesandtschaft gewesen zu sein, die verhältnismäßige Harmlosigkeit der kryptolegitimistischen Vaterländerei gemessen an ihrem Gegenspieler, der nationalsozialistischen "Illegale", in Prag nachgewiesen zu haben; je "autoritärer" sich das System über die wahre Volksmeinung hinwegsetzte, desto schwächer wurde merkwürdigerweise die "demokratische" Kritik tschechischer und deutscher Zunge in Prag. Nicht genug damit, lieferte Beneschs' Preßbüro sogar weiter die Mittel zur Erhaltung der stockjüdischen Wiener Orbis-Presse, die längst ihre roten Kampftöne gemildert hatte und nur das Chor der vaterländischen Presse um einige ebenso nazifeindliche, aber nicht legitimistische Stimmen bereicherte. Das diplomatische Duell zwischen Prag und Wien reduzierte sich also auf die Frage, ob der von Stenockerzeel aus betriebenen offenen Restaurationsforderung ein Riegel vorgeschoben werden dürfe, während alle anderen Differenzpunkte der "Unabhängigkeit" Österreichs gutgeschrieben wurden.

Gleich nach dem blutigen Juli 1934 kam es zwischen den Trauerklagen um den Verlust von Dollfuß auf der schon durch Litwinows Eintritt charakterisierten Vollversammlung der Genfer Liga zu schwierigen Auseinandersetzungen. Auch der neue Bundeskanzler hatte sich als sehr verwendbare Figur im Spiel der großen Mächte erwiesen und das autoritär-ständisch-christliche Österreich gab, ohne auf die Vorbehalten der Schweiz, Belgiens und Portugals zu achten, seine Stimme für den Eintritt der Sowjet-Union in das Genfer Parkett ab; die Ironie der Geschichte wollte es sogar, daß sein Name aus alphabetischen Gründen bei diesem höchst problematischen Akt an der ersten Stelle der einladenden Mächte stand. Schuschnigg und der seiner würdige, ihn vertretende Außenminister Berger-Waldenegg mit dem Hahnenschwanz wollten nun den Lohn für ihr Wohlverhalten einheimsen. Wider Erwarten gelangte aber auch diesmal kein Österreicher in den Rat und die dringend gewünschte Verstärkung der Februar-Erklärung der drei Großmächte über die Unabhängigkeits-Sicherung begegnete vielen Schwierigkeiten, weil die Kleine Entente dafür den klaren Verzicht Wiens auf Restaurationspläne einhandeln wollte. Ein [107] Regiefehler, der gleichzeitig zu Hause vorfiel - Worte des Erzherzogs Eugen über die bevorstehende Rückkehr Ottos bei einer Dankschreibenüberreichung in der burgenländischen Hauptstadt - konnte nur mit Mühe durch eine feierliche, allerdings doppelzüngige Erklärung Bergers - "die Habsburger-Frage ist derzeit nicht aktuell!" - eingerenkt werden. Es kam daraufhin zwar im letzten Augenblick zu einer Wiederholung der Konsultativverpflichtung; doch die Frage eines förmlichen Nichteinmischungspaktes zugunsten Österreichs d. h. seiner derzeitigen Machthaber, an dem nach Anschauung der Genfer Paktomanen sogar Deutschland hätte teilnehmen müssen, wurde vertragt und in das Programm der damals von Barthou eingeleiteten französisch-italienischen Verhandlungen aufgenommen. Große Hoffnungen setzte das Wiener Kabinett in Unkenntnis der eigentlichen Motive des Duce, die es auch nur nach seinen eigenen Maßen abschätzte, auf die nach Überwindung der ungarisch-jugoslawischen Krise rasch fortschreitende Entspannung der Beziehungen der Vormacht der Römer-Protokolle zur Schutzmacht der Kleinen Entente; und dies um so mehr, als die Winter-Reise Mr. Lavals als Nachfolger des ermordeten Barthou sich gleichzeitig auf die Versöhnung mit dem fascistischen und dem päpstlichen Rom erstreckte und anscheinend auf beiden Flügeln von Erfolg begleitet war. Entsprechend dem französisch-italienischen Kommuniqué vom Januar 1935 und den darauf folgenden Londoner Beratungen (in die sich nun Schuschnigg und Berger-Waldenegg ohne Gefahr des Verlustes ihrer römischen Rückendeckung auch persönlich einschalten konnten) kam es auf der italienisch-westmächtlichen Konferenz von Stresa im April 1935 zu einer neuen, ausdrücklichen Versicherung, daß die Sorge um Österreichs Unabhängigkeit eine gemeinsame dieser Mächte sei.

Die für das fascistische Italien selbstverständliche und auch im Vertragstext begründete Voraussetzung dabei war die fortdauernde Gemeinsamkeit der Politik in allen Lebensfragen; indessen feierte die Wiener Presse "Stresa" wie einen entscheidenden Sieg des Ballhausplatzes in der willkürlichen Annahme, daß die Übereinstimmung der drei Mächte in der Österreich-Politik die stabile Voraussetzung all ihrer künftigen Entschei- [108] dungen sein würde. Doch viel wichtiger als die platonischen Österreich-Erklärungen von Genf und Stresa sollte die nun aller Welt sichtbare Erstarkung des Dritten Reiches werden, deren reibungslose Durchführung ihm allerdings in allen Tagesfragen der europäischen Politik mit Einschluß Österreichs größte Zurückhaltung auferlegte. Nach Heimholung der Saar verkündete der Führer die Wiederherstellung der Deutschland durch anderthalb Jahrzehnte entzogenen Wehrhoheit aus eigener Kraft. Wenn die westeuropäischen Kronhüter von Versailles diesem ersten entscheidenden Schlag gegen das von Genf bisher behütete Kleinod der kollektiven Sicherheit keinerlei staatsmännische Konzeption entgegensetzten, dann doch auch deshalb, weil sie ihre Politik auf faule Einsätze wie den österreichischen Separatismus versplitterten und gerade ihr umworbener, neuer Partner, der Duce, an der Entmachtung des Reiches gar kein Interesse hatte. Auch hier traten die Systemmänner abseits von den Empfindungen, die Italien und in diesem Falle ganz besonders Ungarn beherrschten, und erhärteten vor allem noch einmal die Scheidung der Geister im Lande selbst, die weiß Gott nicht mit Mitgliederzahlen der V. F. widerlegt werden konnte. Die Regierung verharrte gegenüber der großen Befreiungstat jenseits der Reichsgrenze in kühler Neutralität und bedauerte nur, daß ihre peinliche Vertragstreue nicht zu ähnlichen Ergebnissen führe. Alle äußeren Freudenkundgebungen der Bevölkerung wie Beflaggung u. ä. wurden nach Möglichkeit unterbunden, dafür aber eine die Ehre des Reiches besudelnde Hetze in den getrennten Lagern des Kryptomarxismus und Legitimismus geduldet. Doch das deutsche Volk der Ostmark, mit der "Illegale" als Kern, nahm mit ungeduldig schlagenden Herzen die sieglodernden Fanale des deutschen Freiheitskampfes wahr und setzte der sich immer länger ausdehnenden Verfolgung in der eigenen Heimat verdoppelte Zuversicht entgegen.

Gegen diese Wiedererrichtung einer dem Bedürfnis der Reichsverteidigung entsprechenden deutschen Wehrmacht, die gerade nach Stresa nicht mehr zu vereiteln war, erhob sich noch einmal die verdoppelte Geschäftigkeit gewisser Unbelehrbarer, die dabei die "Unabhängigkeit" Österreichs wie ein unan- [109] tastbares Credo der europäischen Politik wahrnahmen. Derselbe Mr. Eden, der in der Moskauer Oper das God save the king respektvoll anhörte und die Erweiterung des franko-russischen Bündnisses nach Sowjetrußland wohlwollend zuließ, wird noch im Frühjahr 1936 seinen so verfänglich gemeinten Fragebogen an Hitler richten, um die deutsche Außenpolitik auch in der Österreich-Frage zu fesseln. Als aber im Mai 1935, in maßloser Übersteigerung der Sicherheitsidee und in innerem Widerspruch zur Stresakombination Laval im Verein mit Benesch das Sowjet-Rußland zum Verbündeten erhob und so die Revolutionierung der europäischen Machtverhältnisse durch das neue Deutschland mit Hilfe der Einkreisung widerlegen wollte, da ergriff der Führer vor dem Reichstag zu einer umfassenden und gründlichen Abrechnung das Wort. Sie enthielt in verpflichtenden Sätzen auch schon die grundsätzliche und für die Zukunft maßgeblich gebliebene Stellungnahme des Dritten Reiches zur Eigenstaatlichkeit Österreichs. Sie verwies auf die Lebenseinheit des deutschen Volkes und auf die elementare Gewalt seiner nationalen Erneuerung, der unmöglich an Grenzpfählen Halt geboten werden könne; sie gab unmißverständlich zu Gehör, daß nur ein im Einklang zum Volkswillen bestehendes Regime Dauer haben könne und diese Voraussetzung in Österreich nicht gegeben sei; wenn diesen beiden Tatsachen aber Rechnung getragen würde, dann - aber auch nur dann - stehe der Respektierung der bisher nur mißbrauchten österreichischen Unabhängigkeit nichts mehr im Wege. War damit alles gesagt, was in dieser Stunde vorbedeutend der Welt und besonders den Machthabern in der Nachbarschaft zu Gehör zu bringen war, so enthielt die Stelle über Italien kurz und gewichtig den Hinweis, daß einer vollkommenen Freundschaft nur die verschiedene Auffassung über die österreichische Frage hinderlich sei. - Trotz der vom Führer geübten, staatsmännischen Zurückhaltung in der Form seiner Forderung an Schuschnigg, ließ diesen das schlechte Gewissen wieder eine Gelegenheit zur Umkehr versäumen, und gab ihm doch keine Ruhe. So faßte er den theatralischen Entschluß, Adolf Hitler vor dem Forum seines ernannten Bundestages eine feierliche Erwiderung zu geben. So gut es eben ging, wurde in der äußeren Aufmachung [110] die noch der ganzen Welt vor Augen stehende Reichstagssitzung kopiert und Schuschnigg verschwendete nun seine von ihm selbst so hoch eingeschätzte Redekunst in politisch fruchtlosen Variationen über das melodramatische Thema, daß Österreich, will heißen das System, über alles, nur nicht über seine Ehre mit sich reden lasse! Wie gewöhnlich bei diesem Kanzler war auch diesmal das, was er nicht sagte, mindestens ebenso bezeichnend: alle Anknüpfungspunkte, die in der Führerrede mit der Polemik gegen die Friedensdiktate, gegen die versuchte Einkreisungspolitik und zugunsten der Gleichberechtigung der Besiegten für einen von wirklichem Verantwortungsbewußtsein erfüllten österreichischen Staatsmann vorgelegen hätten, wurden einfach übergangen. Aber die Bewährungsfrist der blassen Redner, ob sie nun in der Genfer Versammlung oder gar nur im Wiener Scheinparlament dozierten, hatte am längsten gedauert.

Italien hatte seine Rückenverbindung jenseits der Alpenkämme gesichert und konnte den Schleier von der Vorbereitung eines Unternehmens lüften, das es weit in die afrikanische Welt hinein führen sollte, und die herkömmliche Freundschaft mit England einer harten Probe unterziehen mußte. Da verschob Sir Anthony Eden, damals Englands jugendlicher Völkerbundsminister, mit erstaunlicher Wendigkeit die ganze Auseinandersetzung zwischen einer älteren, besitzenden und einer jüngeren, begehrenden Mittelmeermacht in ein doktrinäres Ringen um kollektive Sicherheit und um Durchsetzung von Genfer Sanktionen, an denen sich auch das Frankreich Lavals im Hinblick auf mögliche Analogiefälle an seiner Ostgrenze halb wider Willen beteiligte und denen Deutschland schon um grundsätzlicher Erwägungen willen fernblieb. Diese kritische Wendung der führenden Mächte, abseits der in Wien als dauernd angenommenen Lage, erregte am Ballhausplatz stärkste Besorgnisse. Aussprüche wie der des Herrn Berger-Waldenegg, daß Österreich wichtiger als Abessinien sei, machten außer in Paris nur noch in Prag Eindruck, wo die Warnungen der Wiener Machthaber vor der beiden gemeinsamen "drohenden Gefahr" auf immer größeres Verständnis trafen, je unabdingbarer die Sudetendeutsche Partei nach den Maiwahlen 1935 die mißachteten [111] Lebensansprüche der dreieinhalb Millionen Volksgenossen anmeldete. Das Sowjetbündnis des Hradschin hinderte nicht die Vermittlung gewisser böhmischer Aristokraten und Berger-Waldenegg folgte einer Einladung nach Tabor umso mehr, als Benesch gleichzeitig sich mit den Ansprüchen der Kurie auszugleichen verstand; am Gesamtstaatlichen Katholikentag in Prag beteiligte sich unter Berufung auf seine sudetendeutsche Herkunft auch der Wiener Kardinal Innitzer; die Wiener Beziehungen der sudetendeutschen Aktivisten, der Christlichsozialen und Landbündler, waren alsbald von der sudetendeutschen Führung nicht mehr zu übersehen. Mit Hilfe solcher Querverbindungen mußte man auch die Sanktionskrise überstehen.

Gegenüber diesem Experiment entzog sich Wien unter Berufung auf die gefährdete Lage eines Kleinstaates sehr geschickt einer wirklich eindeutigen Stellungnahme für Italien oder die Sanktionsmächte. Es erklärte in Genf sein großes Bedauern über die auftretenden Schwierigkeiten und versicherte seine Anhänglichkeit an die ihm so freundliche Institution der Weltdemokratie; in gleichem Atem aber folgte die Erklärung, daß Österreich (ebenso wie Ungarn und Albanien) sich nicht an den Sanktionen gegen Italien beteiligen könne, weil seine Dankverpflichtung gegen den Duce noch jüngeren Datums sei. Der englische Gesandte in Wien ließ es zwar nicht an heftigen (der österreichischen Öffentlichkeit vorenthaltenen) Gegenvorstellungen fehlen, daß England sich durch seine Kredithilfe von 1931 um die "Freiheit" Österreichs mindestens ebenso verdient gemacht habe. Aber Schuschnigg hatte seine Rechnung nicht ohne seine Freunde im Lager der Sanktionisten gemacht. Die für Ungarn recht empfindlich entwickelten wirtschaftlichen Druckmittel gegen die Sanktionsverweigerer traten für Österreich nicht in Erscheinung, und im Dezember kam sogar unter Lobsprüchen der Genfer Vertreter (mit Einschluß der Engländer) ein vom System angestrebtes Übereinkommen mit den Auslandsgläubigern der Credit-Anstalt zustande, obwohl sich die Regierung dabei durch den als Korruptionisten weithin bekannten Freund Starhembergs, den jungen Finanzminister Dr. Draxler, vertreten ließ. Und während die italie- [112] nische Importkurve zugunsten Österreichs, weil es an einer Stelle den Ring der wirtschaftlichen Belagerung offen hielt, eine nie geahnte Höhe erreichte, ließ sich der Bundeskanzler anfangs 1936 zu einem wirtschaftlichen Vortrag in das völkerbundtreue Prag einladen. Er redete vor einem dafür gut abgestimmten Publikum der wirtschaftlichen Annäherung der Donaustaaten das Wort, unter welchem Begriff er so wie die französische Diplomatie die Tschechei ein-, das Deutsche Reich aber ausschloß; dies - und das war der eigentliche Anknüpfungspunkt für das Prager Publikum - sollte ohne Vorwegnahme etwaiger späterer politischer Entscheidungen vor sich gehen. Dieser in der gegebenen politischen Lage recht auffällige und von der Systempresse noch entsprechend unterstrichene Vorstoß war nach Inhalt und Form ein echter Schuschnigg-Wechselbalg; wie bezeichnend ließ er die Zahlen seiner Statistiken auf- und abmarschieren, ohne des Deutschen Reiches, des allerbesten Kunden der Südoststaaten, auch nur zu gedenken oder des grundverschiedenen Verhältnisses von Prag und Wien zum Donauschicksal zu erwähnen. So war das Ganze ein in Paris und London viel bemerkter Versuch, auch unabhängig von Rom und mit der ungenannten Spitze gegen Berlin eine Kombination zwischen Budapest und Prag zu entwickeln, die, mit den Plänen des Ministerpräsidenten Hodza verwandt, in Ungarn in den festgefahrenen Ideen des früheren Staatssekretärs Elemer Hantos ein Gegenstück besaß. Mit leichter Mühe gelang es dem im Sanktionskrieg unüberwindlich gebliebenen Duce in einer neuen römischen März-Konferenz, von Gömbös unterstützt, diese Seifenblase zum Platzen zu bringen; was allerdings für die Zukunft das Aufsteigen von neuen nicht verhinderte, obwohl regelmäßige Zusammenkünfte der Protokollstaaten festgelegt wurden.

Weit wichtiger als das Prager Schattenspiel wurde für eine, freilich sich nur vor wenigen Wissenden abzeichnende Zukunft das Mißlingen aller Anstrengungen Schuschniggs, die Straße zurück nach Stresa wieder freizumachen, wozu der Quai d'Orsay besonders vor dem Sieg der Volksfront ohne Rücksicht auf das sonst so gehütete Prestige der Genfer Liga sehr gern bereit war. Die Vorgänge um die neue, ins Frühjahr [113] 1936 fallende Freiheitstat des Führers, die Wiederbesetzung der Rheinlande und damit die zusammenhängende, zunächst gerade England befremdende Kündigung des Locarno-Vertrages mit ihren tödlichen Folgen für die Paktomanie, das alles deutete schon auf die neue und nun entscheidende Annäherung der Außenpolitik von Rom und Berlin, die durch die Berufung des Grafen Ciano zum Außenminister einen lebhaften Antrieb erhielt. Schuschnigg begriff, zum Unterschied von Starhemberg, was für das System-Österreich auf dem Spiele stand. Die Restaurationspläne sind, zur Zeit des "unpolitischen" Prager Vorstoßes, schon zu Sondierungen des Heimwehrfürsten während seiner Reise zum Begräbnis Georgs V. für reif erachtet worden. Der Kanzler zog sie, ohne dem heimatlichen Krypto-Legitimismus irgendwie Abbruch zu tun, wieder zurück. Er ließ zwar bei einem sogenannten Bundesappell der V. F. Starhemberg das große Wort führen, und nach Auffassung der Judenzeitungen die Anschlußideologie feierlich begraben, indessen dem noch am Regieren verhinderten Hause alle Hochachtung gezollt wurde. In der ihm eigenartigen Urwüchsigkeit bezeichnete damals der Fürst die ihm zugeschriebenen Pläne zur Übernahme einer Reichsverweserschaft als "himmelschreienden Blödsinn". Aber wie immer dem sei, den Versuchen Schuschniggs alle Brachialgewalt der bisherigen "Selbstschutzverbände", d. h. besonders der Heimwehr überflüssig zu machen, setzte Starhemberg beharrlichen Widerstand entgegen und wollte sich keineswegs in die nur nach außen hin so überragende Stellung als Bundesführer der V. F. unter Verzicht auf seine Hausmacht einengen lassen. Vergebens wie sein Plan, unter dem Titel einer Freiwilligen Miliz-Österreichischer Heimatschutz die Sturmscharen und die Turnerschaft der Klerikalen zu mediatisieren, war der von entgegengesetzten Interessen eingegebene Versuch des Kanzlers, die Wehrverbände zu entpolitisieren und zu entwaffnen; ein Versuch, in einem von ihm in den ehrwürdigen Räumen des Belvedere-Schlosses veranstalteten Gesellschaftsabend die ihm hörigen Sturmschar-Terroristen als Kulturverband zu erklären, konnte freilich bei Freund und Feind nur ein Lächeln abgewinnen.

[114] Gerade hinsichtlich der Wehrverfassung Erfolge zu erreichen, lag dem Bundeskanzler nicht nur wegen seiner oft betonten Abstammung aus altösterreichischer Generalsfamilie am Herzen. Denn hierin überschnitten sich in eigentümlicher Weise die äußeren und die inneren Bedingungen seines vielgekünstelten Systems. Hatte der Minister Vaugoin seinerzeit Waffen und Uniform des Soldatenstandes in seiner Weise wieder zu Ehren gebracht, so suchte Schuschnigg die Furche der altösterreichischen Tradition noch tiefer zu ziehen, als ob die Vorstellungswelt des habsburgischen Völkerstaates in einem bescheidenen und im Grunde unfreiwilligen Gemeinwesen deutscher Männer ebenso am Platze wäre. Wir wissen, wie sehr man sich 1933 beeilte, statt der bewährten, den reichsdeutschen Mustern angenäherten Uniformen wieder die k. u. k. Muster in der "Armee" einzuführen. Im blutigen Jahr 1934 ging zwar der Plan, gelegentlich der Einweihung des Wiener Frontsoldatenehrenmals ein "unpolitisches" Treffen aller ehemals österreichisch-ungarischen Kriegsteilnehmer zu veranstalten, ganz daneben - aber die Neugierigen bekamen außer den in Zivil verbliebenen Herren Miklas und von Schuschnigg und der Geistlichkeit im Ornat eine ganze Reihe Systemgrößen und ein paar leibhaftige Erzherzöge in farbenbunten k. u. k. Friedensuniformen zu sehen, was für eine solche Gelegenheit immerhin eine Überraschung bedeutete. Etwas später wurden auch die rot-weiß-roten Fahnen des Bundesheeres gegen die aus dem Museum geholten schwarz-gelben - darunter solche mit religiösen Sinnbildern aus der Gegenreformation - ausgetauscht. Die Heeresschule, welche die Republik in Enns eingerichtet hatte, wurde in die Theresianische Militärakademie in der zur "Kaisergemeinde" verwandelten Wiener-Neustadt zurückverlegt; später durfte sie sogar einen Bruder "Kaiser" Ottos als "privaten" Zögling aufnehmen. Die Offiziere wurden mit den von Miklas verliehenen Ordenssternen, Ritter- und Komturenkreuzen überschüttet, indessen das in deutscher Blutskameradschaft vor dem Feinde erworbene Eiserne Kreuz nicht mehr getragen werden sollte. Durch die Aufstellung von Milizkörpern unter dem seiner Aufgabe selbst mißtrauenden General Hülgerth und die allmähliche, bescheidene Vergrößerung des Bundesheers gelang- [115] ten viele ehemalige Offiziere wieder in Dienstverwendung oder bekamen wenigstens in den Ämtern der V. F. Beschäftigung, wenn sie einer gehörigen Siebung nach legitimistischen Gesichtspunkten standhielten. Frontverdienste allein galten selbst vor den 1934/35 mit Schreckensurteilen amtierenden "Militärgerichten" (bei denen aber der "Verhandlungsleiter", das zivile Organ des Systems, das große Wort führte) nichts. Hauptmann Dr. Bodo Kaltenboeck, um ein einziges Beispiel aus einer Unsumme herauszugreifen, hatte in seinem Buche Armee im Schatten Wesentliches zum Ruhme des alten Heeres und seiner undankbaren Aufgabe gesagt und war auch jenseits der rot-weiß-roten Grenze gehört worden. Als er noch, wie viele andere, an die Zukunft des Heimatschutzes glaubte, da war er hoch angesehen; als er aber seine Enttäuschung nicht mehr verhehlte und daraus die politischen Folgerungen zog, wandte sich das Blatt und auch er mußte wegen "illegaler" Betätigung die moderne Folterkammer der Untersuchungshaft und die Öde des Systemgefängnisses kennenlernen. Seine Rache war eines Mannes und Soldaten würdig: noch in der Systemzeit erschien sein Unfug in der Ortenau, wo der Gegenwart das Spiegelbild der Geschichte vorgehalten wird, und nach dem Umbruch kam das schon 1934 niedergeschriebene Törichte Auge mit den großartigen Visionen eines politischen Gefangenen heraus... Die Verfehmung des einzig noch überlebenden, deutschösterreichischen Feldherrn, des Generals Alfred Krauß, Siegers über die Timok-Division und von Karfreit, könnte ebenso wie das Schicksal der gemaßregelten jungen Wehrmänner in der -Standarte 89 weitere geschichtliche Beispiele liefern.

Seine persönliche Beweisprobe über die Stellung der Wehrmacht im Staate meinte Schuschnigg (der ja sein eigener "Landesverteidigungsminister" blieb, wobei ihm der von Dollfuß her bekannte, kryptolegitimistische General Zehner als Staatssekretär zur Seite stand) in der Einführung der "Bundesdienstpflicht" am 1. April 1936 abzugeben. Wie alles, was das System mit einigem Recht selbst als Errungenschaft aufzählte, war auch sie nicht ohne eine vorausgegangene Tat des Reiches - in diesem Falle die ein Jahr zurückliegende Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit - zu denken. Die Einführung einer ein- [116] jährigen Dienstpflicht schien nun, da das Risiko nicht mehr groß war, den "Vaterländern" geradezu ein dringend notwendiger Prestigeausgleich und ein Ventil für die verheerende Arbeitslosigkeit der jungen Jahrgänge. Obwohl die formalen Proteste der wieder einmal wichtig tuenden Kleinen Entente vorauszusehen waren, beugte man jeder Gefahr schon durch die undurchsichtige Fassung des nach dem Buchstaben, aber entgegen dem Sinn der Bundesverfassung in einem einzigen Tage durchgepeitschten Bundesgesetzes vor. Zumal dieses Ereignis auf einen 1. April fiel, waren viele Österreicher geneigt, den ihnen bis zur Stunde ganz unbekannten Begriff einer "Bundesdienstpflicht", die mit oder ohne Waffe abgeleistet werden konnte, überhaupt nicht ernst zu nehmen. Zu dieser Unklarheit trug allerdings auch die Uneinigkeit im Kabinette das Ihre bei, da Starhemberg - was auch nur bei der Wehrbewegung in einem Staat wider Willen möglich war - sich als Führer des Heimatschutzes seit je gegen eine allgemeine Wehrpflicht ausgesprochen hatte! Nun, eine organische Festigung der Wehrkraft Österreichs durch diese Regierung war auch jetzt nicht vom Ausland zu fürchten, wenn die Manövertanks nicht mehr aus Pappe waren und ein paar schneidige Militärflieger mit importierten Maschinen aufstiegen; der dazu gehörige zivile Luftschutz etwa ist auf ausdrücklichen Wunsch des Kanzlers bis zuletzt auf einige Schaustellungen beschränkt geblieben. Ob also nun der "Nazismus" der Jugend eher durch ihre Unterstellung unter ein wenigstens zum Teil kryptolegitimistisches Offizierskorps bekämpft würde (wie Schuschnigg meinte) oder aber die Einschränkung des Waffentragens auf eine geringfügige Minderheit überhaupt notwendig mache (was Starhemberg behauptete), - diese Frage spitzte sich auf eine Auseinandersetzung innerhalb des Systems zu, nach deren Entscheidung erst die tatsächliche Durchführung der Wehrpflicht (mit dem alten Einjährigenrecht für die Abiturienten) möglich wurde.

Da bot ein ganz Österreich aufrüttelnder Finanzskandal der bedenkenlosen Geschicklichkeit des Kanzlers die Handhabe, unter dem Vorwand einer Rettung des sonst heillos kompromittierten Systems sich von der Belastung durch verschiedene seiner politischen Freunde zu befreien, obwohl die Schuld durchaus nicht [117] so einseitig verteilt war. Anfangs des Jahres war mit dem jüdischen Generaldirektor Berliner der Lebensversicherungsgesellschaft "Phönix" einer der Finanzmänner (wohl durch Selbstmord) verschieden, die in Wien noch wie zu Zeiten der Monarchie den Mittelpunkt weitverzweigter Spekulationen behaupteten und schon deshalb für die System-Männer mit einem Nimbus umgeben blieben, den besser die Kriminalpolizei hätte rechtzeitig beseitigen sollen. Das Ehrengrab der jüdischen Kultusgemeinde für Berliner war auch von sehr namhaften "christlichen" Persönlichkeiten mit Kränzen geschmückt worden, die seiner Großzügigkeit in der Schaffung und Erhaltung von Verbindungen noch nach seinem Tode die Ehre gaben. Leider blieb dieser Zauber nur mehr von sehr kurzer Dauer; denn schon im März kam die ganze unreelle, dem Zusammenbruch entgegentreibende Geschäftsgebarung zutage. Wie im Falle Credit-Anstalt mußte die staatliche Gesetzgebung eingreifen und durch Sondersteuern zur Belastung des ganzen Versicherungswesens die ärgste Schädigung der Phönix-Kunden abwenden. Die internationale Verflechtung des Phönix-Geschäftes erstreckte sich freilich zum Unterschied von jenem noch kaum überwundenen Unglücksfall hauptsächlich auf Mitteleuropa und den Nahen Osten und die Organisation in nationale Sondergesellschaften befreite Österreich von neuen unabsehbaren Haftverpflichtungen; nur für Deutschland kamen solche nicht in Frage, weil das Münchner Phönix-Geschäft sich schon vorher von den jüdischen Wiener Einflüssen befreit hatte und vollständig gesund erwies. Schuschnigg aber rühmte sich noch, daß Österreich, das so viele Stürme überdauert habe, auch den Phönix-Sturm überdauern werde, beseitigte den mit Berliner geschäftlich verbundenen General Vaugoin von der Präsidentschaft der Bundesbahnen - auch der geschäftstüchtige Stockinger wurde bald darnach als Handelsminister unmöglich - und wandte sich als Drachentöter der Korruption hierauf erneut der Liquidierung der Heimwehr zu.

Die andauernde Ignorierung der Friedensmission von Papens und die Behandlung des österreichischen Nationalsozialismus als einer jeglichen Verfolgung ausgelieferten "Illegale" bekam nun sogar nach Schuschniggs Auffassung ihre [118] gefährliche Seite. Konnte angesichts der außenpolitischen Kräfteverlagerung in Europa nicht eines Tages über seinen Kopf hinweg eine unmittelbare Verständigung zwischen Berlin und Rom auch über diese Frage Platz greifen? Da er sich wenigstens über die wahren Qualitäten seines Bundesgenossen Starhemberg keiner Täuschung hingab, und nach dem Phönixskandal die Heimwehr als politische Machtgruppe für sturmreif hielt, sollte sie die Zeche im voraus bezahlen, die er der nationalen Opposition ohne Preisgabe der Grundlagen des Systems aufzutischen gedachte. Schon die Entsendung des Staatsrates Glaise-Horstenau, dessen gute Beziehungen zu reichsdeutschen Militärkreisen bekannt waren, als Vertreter der Bundesregierung zur Berliner Prinz-Eugen-Feier im April 1936 ließ aufhorchen. Starhemberg, der endlich auch einen Klimawechsel verspürte, erleichterte durch sein albernes Verhalten ungemein die Absichten des ihm in der Durchführung von Intrigen weit überlegenen Kanzlers. Er stellte öffentlich seine Treue unter Bedingungen und drohte, die Entwaffnung der Heimwehr um keinen Preis zuzugeben; auch dies allerdings mit einer Einschränkung: "Nur über meinen Kopf geht derzeit der Weg zur Entwaffnung des Heimatschutzes!" In höchst unangebrachter Weise wollte er das Interesse Italiens auf sich ziehen und gratulierte dem Duce im Namen des österreichischen Fascismus zur Aufhebung der Genfer Sanktionen. Da griff Schuschnigg mit raschem Griffe ein, nötigte den Vizekanzler zur Demission, ließ vom Ministerrat ein neues V. F.-Statut genehmigen, wonach der Bundeskanzler - also er statt des Fürsten! - von Amts wegen Frontführer sei und verwandelte das Zwittergebilde "Freiwillige Miliz-Österreichischer Heimatschutz" in eine unter der Oberleitung von Berufsmilitärs stehende "Frontmiliz". Wie vorauszusehen, verzichtete Starhemberg, als er sein großes Wort hätte einlösen müssen, Hals über Kopf auf jeden Widerstand, ließ sich mit dem Restbestand seiner Würden als Turn- und Sportführer und Protektor des Mutterschutzwerkes abfinden und reiste mit seinem jüdischen Freunde und Financier Mandl nach Rom, um dort nur seine politische Abdankung bestätigt zu erhalten. Vergebens glaubte er in einer Reorganisierung der nun entmachteten, aber [119] noch nicht aufgelösten Heimwehr einen letzten Trumpf in der Hand zu haben.

Die überraschende Nachricht vom Sturze des Fürsten galt im In- und Auslande als Abkehr vom reinen Terrorismus, wie er ohne und mit Verfassung seit über drei Jahren geübt wurde, und für ganz kurze Zeit gewann der Sieger Beifall auch jenseits der unsichtbaren Schranke, die seine Regierung nach wie vor von dem gesunden Volksbewußtsein trennte. Nur wenigen Eingeweihten war damals bekannt, daß Schuschnigg die Konzentration der Macht in seiner Hand mit einem Schritt verbunden hatte, der scheinbar der Versöhnung, tatsächlich aber wohl nur der Spaltung der nationalen Opposition und dem besseren Ansehen des Systems im Auslande hätte dienen sollen. An demselben Tage, an dem der Bundeskanzler Starhemberg den Stuhl vor die Tür setzte, ließ er ohne jede vorherige Sondierung den Unterrichtsminister Schobers, Professor Heinrich von Srbik, dessen Berliner Vorträge im Wintersemester als ein geistiger Brückenschlag gewirkt hatten, zu sich bitten und bot dem Historiker den Vizekanzlerposten an; auf die nur billige Forderung von Srbiks nach Bürgschaften für eine gedeihliche Wirksamkeit inmitten eines ihm innerlich fremden System - hatte er doch schon früher eine Berufung in den Staatsrat aus ähnlichen Gründen abgelehnt - brach Schuschnigg die Verhandlungen sofort wieder ab, spielte grundlos den persönlich Gekränkten und nahm eine belanglose Heimwehrgröße, den Baron Baar-Baarenfels, auf den leergewordenen Posten, um ihn gelegentlich gegen den obersten Heimwehrführer auszuspielen. Unter dem Gerede von vaterländischer Konzentration verbarg sich eben nichts anderes als der Machtanspruch eines politischen Katholizismus und Unlust zur Durchführung der immer vordringlicheren großen Befriedungsaktion.

Den an sich nicht unangemessen erscheinenden Versuch, durch Srbiks Ernennung die deutsche Versöhnung zunächst als innenpolitische Lösung vorwärtszutreiben, ließ Schuschnigg ohne zulängliche Motivierung fallen. Die Ernennung des bis dahin wenig bekannten Schriftstellers Guido Zernatto zum Generalsekretär der V. F., die gleichzeitig mit dem Rücktritt [120] Starhembergs von der Frontführung erfolgte, erschien zwar zusammen mit der Kontrolle der Wehrverbände irgendwie etwas Neues vorzubereiten. Auch der Unterton der Reden Schuschniggs milderte sich zum erstenmal nach der nationalen Seite hin und bewegte sich in Andeutungen einer kommenden Amnestie. Unbeschadet des nutzlosen Ausgangs der Begegnung des Kanzlers mit von Srbik blieben die Gespräche von Glaise-Horstenau mit Papen in Fluß und es bedurfte eines neuen Anstoßes im Raume der Außenpolitik, um endlich von dieser Seite her die grundsätzliche Entscheidung für die Befriedung zu erreichen. Der Duce, der kurz vorher Starhemberg geschnitten hatte, lud plötzlich den nunmehrigen Alleininhaber der Macht zu sich nach "Rocca delle caminale" und es kam abseits des diplomatischen und journalistischen Getriebes zu einer sehr vertraulichen Unterredung, für die es bezeichnend war, daß die sonst bei Schuschnigg-Reisen so redseligen Zeitungen sich diesmal für eine möglichste Herabstimmung ihrer Bedeutung verwendeten. Eben dank des Zögerns der Zionswächter der österreichischen "Unabhängigkeit", das Notwendige rechtzeitig von sich aus zu tun, kam die österreichische Frage neuerdings aufs zwischenstaatliche Geleise. Doch diesmal war es gerade die Vormacht der Römerprotokolle, die der Unnatur der vom Genfer Geist eingegebenen Kollektivaktionen ein Ziel auch in dieser Zone setzte und eine unmittelbare Verständigung Wiens mit Berlin als Notwendigkeit erklärte.


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz