Der Juli-Vertrag von 1936 und seine
Verleugnung
Am 11. Juli 1936 wurde die Öffentlichkeit aufs höchste durch die
Meldung über eine Verständigung zwischen den "beiden deutschen
Staaten" überrascht. Die Reichsregierung und die Bundesregierung
hätten neue Grundlagen für ihre in Natur und Geschichte
begründete, aber dreieinhalb Jahre lang unterbrochene Zusammenarbeit
gefunden. Anerkannter Ausgangs- [121] punkt der Neuregelung bildeten die
Erklärungen des Führers in seiner vorjährigen
Mai-Rede. Ausdrücklich nur in diesem Sinne erkannte Deutschland die
vielgenannte "Unabhängigkeit", d. h. die Staatlichkeit
Österreichs an. Die Bundesregierung hinwiederum verpflichtete sich, ihre
Politik eingedenk der Tatsache, daß Österreich ein deutscher Staat
sei, zu führen. Im Hinblick auf die stets von dem außenpolitischen
Kräfteparallelogramm mitbestimmte staatliche Struktur Österreichs
hätte schon die hier verpflichtend festgelegte Ausrichtung der
Ballhauspolitik zu einer entsprechenden, inneren Kräfteverlagerung
führen müssen. Aber damit und mit der in der Präambel
angeführten Zitierung der Führerrede nicht genug, wurde im
Staatsvertrag die Einleitung einer Reihe von Maßnahmen festgelegt, welche
seine Durchführung sicherstellen sollten; mochten damit auch
Ausschüsse der beiderseitigen Außenämter betraut werden, so
übertrug sich jeder ihrer Erfolge zwangsläufig sofort auch auf den
inneren Zustand Österreichs. Wenn die Reichsregierung von einer
"Einmischung mit Einschluß der Frage der österreichischen
NSDAP.", die also trotz Verbot fortbestand, absehen wollte, dann war damit nur
die Ausgangsstellung der Reichsführung von 1933 unterstrichen, wonach
der Kampf der Bewegung in Österreich sich ohne Einsatz der staatlichen
Machtmittel Deutschlands im Rahmen der hier geltenden Legalität zu
vollziehen habe. Der Verfassungsbruch des Systems hatte freilich die
Voraussetzungen dazu willkürlich beseitigt und gleichzeitig das
Verhältnis der beiden Seiten zueinander auf des Messers Schneide
getrieben. Wenn jetzt Schuschnigg unter dem Druck der wider sein Erwarten und
Zutun umgestalteten auswärtigen Lage feierlich eine "Normalisierung" der
Beziehungen zu Berlin versprach, die dem Reich hingegen z. B. die
Aufhebung der Grenzsperre ermöglichte, so war damit unabdingbar die
Pflicht zur Herbeiführung einer "Befriedung" der nationalen Opposition
verbunden, deren wachsender Druck ihn von der anderen Seite her zum
Abschluß gedrängt hatte.
In Erwägung dieser Tatsache wurde noch vor dem förmlichen
Vertragsabschluß zwischen dem Kanzler und dem bevollmächtigten
Gesandten von Papen in Wien am 11. Juli, [122] auf dem Obersalzberg
am 10. Juli ein zunächst streng vertraulich behandeltes
Gedächtnisprotokoll zwischen dem Führer selbst und dem dazu von
Schuschnigg beauftragten Staatsrat Glaise-Horstenau genau festgelegt, in
welchem die Heranziehung der "nationalen Opposition" von der Wiener
Regierung ausdrücklich zugesagt war; die von der Gegenseite zugebilligte
Zusicherung, daß dem Kanzler selbst die Auswahl der in Betracht
kommenden Persönlichkeiten zustehe, bildete keinesfalls, wie er es
später praktizierte, einen Freibrief, der alle Zusicherungen in den auch
damals nicht sehr überzeugenden guten Willen Schuschniggs stellte. Denn
als eigentlicher Treuhänder wurde für das Wirksamwerden dieser
Maßnahmen der unbedingt loyale Glaise-Horstenau vom Führer
gewünscht und von Schuschnigg anerkannt. Wie weitgehend die Folgen des
11. Juli damals von Wien anerkannt wurden, geht überzeugend aus den
näheren Bedingungen über die sofort zu erlassende Amnestie
für die eingekerkerten Nationalsozialisten und über die
Rückführung der Flüchtlinge hervor, die eben nur in einem
völlig geänderten innenpolitischen Klima in Österreich
durchführbar war. Obwohl nur von einer "nationalen Opposition" in diesem
als Gentleman-Agreement seiner rechtlichen Natur nach zu umschreibenden
Dokument die Rede war, um der künftigen politischen Formgebung in
Österreich (zumal in Hinblick auf die gleichlaufende sudetendeutsche
Bewegung) nicht vorzugreifen, konnte es sich nach Sinn und Wortlaut der
Vereinbarungen nie und nimmer um ein anderes Problem als die
Überführung der "Illegale" ins gesetzmäßige,
öffentliche Leben handeln, was ja auch von Glaise als Kronzeugen nie
anders aufgefaßt wurde. Zweifellos haben die unabhängig von
anderen Versuchen ins Werk gesetzten Verhandlungen zwischen Papen und
Glaise ein Vertragswerk ausgearbeitet, das in seinen offenen und seinen
vertraulichen Teilen von großer volkspolitischer Bedeutung war. Es zog mit
nüchternem Blick die erfreulichen wie die bedauerlichen Tatsachen der
Lage in Rechnung und bot dem Bundeskanzler für die Betätigung
seines jetzt mehr denn je betonten Versöhnungswillens eine große
Chance. Er hatte es von nun an in der Hand, die unnatürlich und
verderblich verkrampften Verhältnisse ohne [123]
Überstürzung und ohne Störung verständnisvoll zu
lösen. Zu seiner Unterstützung und gleichsam als ein Unterpfand des
nun von aller Welt teils erhofften, teils befürchteten, aber jedenfalls im
Vertrage verankerten Neuen Kurses berief er noch am 11. Juli selbst
Glaise-Horstenau zum Bundesminister mit Sonderaufgaben zur inneren Ordnung
und den noch jungen, bisherigen Kabinettschef des Bundespräsidenten
Miklas, Guido Schmidt, zum Staatssekretär für die
Auswärtigen Angelegenheiten in die zunächst sonst noch
unveränderte Bundesregierung. Die nationalsozialistische Opposition
erklärte auf den ihr zur Verfügung stehenden
Wegen - darunter auch im "illegalen"
Beobachter - unter Rückstellung aller noch so berechtigten
Vergeltungsforderungen ihr Möglichstes zum Gelingen des vom
Führer selbst gutgeheißenen Werkes beizutragen.
Der erste Eindruck des Juli-Abkommens war ein gewaltiger. Mit einem
unwahrscheinlich kühnen Zug schien mit einem Male, wie es
Staatssekretär Schmidt selbst ausdrückte, die deutsche Zwietracht
mitten ins Herz getroffen! Eine wahre Aufruhrstimmung ergriff alle
in- und ausländischen Nutznießer des über dreijährigen
Bruderkrieges, während die "Brückenbauer", allen voran der
Minister Glaise-Horstenau selbst, in dem Staatsvertrag allein nur die Einleitung zu
einer den deutschen Charakter Österreichs betonenden, friedlichen
Umbildung des Gemeinwesens ansahen, das erst dann in jeder Weise seinen
naturgegebenen Platz an der Seite des immer mehr emporblühenden
Reiches ausfüllen würde. Noch ehe die beiderseitigen Hindernisse
für den Personenverkehr über die Grenze hätten fallen
können, wurde die von gewissen Kreisen als unentbehrlich angesehene
Sperre der publizistischen Erzeugnisse des Reiches durchbrochen. Von Vierteljahr
zu Vierteljahr war bisher eine Dollfuß-Verordnung, die schlechterdings alle
reichsdeutschen Zeitungen verbot und erst entsprechende reichsdeutsche
Gegenmaßnahmen ausgelöst hatte, verlängert worden.
Lediglich der Frankfurter Zeitung war unter Berufung auf Wünsche
aus Wirtschaftskreisen später eine Ausnahmebehandlung zugestanden
worden; aber sogar die katholisch gefärbte Saarbrücker
Zeitung verlor mit dem Tage, da sie eine reichsdeutsche [124] wurde, die
Zulassungserlaubnis und nur auf dem Umwege über die auch oft genug
beschlagnahmten Danziger Nachrichten konnte der eifrige Wiener
Zeitungsleser (von "illegalen" Aushilfen abgesehen) sich über das Dritte
Reich ohne unerwünschte Vermittler unterrichten. Dabei ist zu bemerken,
daß auch in der härtesten Kampfzeit bis Juli 1934 die (sachlich noch
so gerechtfertigte) Polemik gegen das Wiener System nur einen Sektor neben
anderen in der nationalsozialistischen Presse ausfüllte, indessen ein
großer Teil der Systempresse überhaupt nur von der Negation sich
fortfristete. Jetzt wurde sofort wechselseitig ein halbes Dutzend Zeitungen
zugelassen; darunter als Vorbereitung für den kommenden freien Verkehr
in der Essener National-Zeitung ein parteiamtliches Organ, das für
Österreich eine eigene Wiener Schriftleitung mit dem hier
bewährten, klugen und kenntnisreichen Dr. Hans Krüger
besetzte, und einen für die öffentliche Meinung wichtig gewordenen
Kolportagedienst errichtete. Noch breitere Kreise wurden durch die fast
unbeschränkte Freigabe der Zeitschriften, und zwar mit Einschluß des
Illustrierten Beobachters, erfaßt; waren doch bisher nur
österreichische Ausgaben einiger "Illustrierter" geduldet, die alle Bilder
von führenden Männern der Bewegung, von Aufmärschen
u. a. durch harmlosere Darstellungen ersetzen mußten. Die vom
Reiche dringend gewünschte weitere Auflockerung der Pressesperre bis zu
ihrem gänzlichen Fall hatte allerdings eine Voraussetzung nötig,
nämlich eine innere Wandlung des österreichischen Zeitungswesens,
von der man noch nichts bemerken konnte. Schuschnigg lieferte dazu selbst im
Juli 1936 einige, wenig verheißungsvolle Beiträge, als er den
Schriftleiter Dr. Canaval des ihm nahestehenden Sturm über
Österreich mit der politischen Aufsicht der Wiener Kolportage
Telegraf-Blätter betraute, wodurch ein neuer
krypto-marxistisch-legitimistischer Wechselbalg entstand, oder indem er einen in
Innsbruck unmöglich gewordenen klerikalen Hetzredakteur mit allen
Zeichen des Vertrauens in die Wiener Zentrale der V. F. einberief.
Wenn der mit dem Juli-Abkommen bewirkte Durchbruch am sinnfälligsten
im Alltag der Publizistik zum Ausdruck kommen mußte, so
eröffneten sich aber auch auf anderen bis- [125] her hoffnungslos
verschütteten Gebieten neue Aussichten. Die für nicht
geschäftliche Zwecke gesperrte Ausreise ins Reich machte nun bald einer
kontrollierten Neuordnung Platz, wonach jeder Paßinhaber ohne
nähere Begründung eine Dauerbewilligung für Reisen ins
Reich verlangen konnte. Das ermöglichte nicht allein einen dichten
(nebenbei auch für "illegale" Kurierdienste ausgenützten)
Personenverkehr ins Reich; es konnten sich vielmehr die Volksgenossen diesseits
und jenseits der Grenzen auch auf Tagungen und Versammlungen, sofern sie nur
nicht betont politisch waren, vereinigen. So fielen auch die schmerzlichsten
Fesseln der Alpenvereins- und Schutzvereinsarbeit: Hofrat Maximilian Mayer,
dessen umsichtige Führung die Südmark auch in schwerster Zeit vor
dem völligen Erliegen bewahrt und das Emporkommen einer legitimistisch
gefärbten, das Donaudeutschtum verwirrenden Konkurrenzgründung
verzögert hatte, konnte wieder die Verbindung mit dem VDA. aufnehmen;
Professor von Klebelsberg in Innsbruck aber, der die Führung des gesamten
Alpenvereins trotz aller Spaltungsversuche in der Hand behalten hatte, durfte in
einer festlichen Doppelveranstaltung in Bad Tölz und Innsbruck wieder die
Bergsteiger zusammenführen und die für das Alpenvolk so wichtige
Hüttenarbeit aufnehmen lassen. Nach Überwindung zahlloser
Schwierigkeiten und nach vorgenommenen Satzungsänderungen gelang
allmählich auch die teilweise Wiederaufrichtung des durch den Julisturm
besonders hergenommenen, weitverzweigten Deutschen Turnerbundes, dessen
Wichtigkeit für die Charakterstählung weiter Kreise hoch
anzuschlagen war; ähnlich stand es mit der Wiederaufrichtung der
früher besonderen Aufgaben der Anschlußarbeit dienenden
Einrichtungen wie des Österreichisch-Deutschen Volksbundes und der
Österreich-Deutschen Arbeitsgemeinschaft oder des Deutschen Klubs in
Wien und anderer vereinsmäßiger Zusammenschlüsse. All
diese unleugbaren Errungenschaften des 11. Juli sind ohne die geduldige
Kleinarbeit des Ministers Glaise-Horstenau und des späteren Staatsrates
Seyß-Inquart nicht zu denken. Bis zu dieser Linie vermochten die
Brückenbauer noch den widerstrebenden Kanzler vorzudrängen, der
sich von anderen Systemgrößen soweit unterschied, als er sich trotz
[126] seiner
überheblichen Rhetorik der Folgen eines offenen Vertragsbruches
bewußt blieb. Dennoch ist der doppelzüngige Beschützer des
Doppeladlers soweit wie irgendeiner der
Dollfuß-Verschworenen von einer
wirklichen Erfüllung des Juli-Vertrages nach Geist und Buchstaben entfernt
gewesen. Noch in seinem zu Ende 1937 erscheinenden
"Kanzler-Buche" wird er die Stirne haben, bei der Zitierung des
Juli-Abkommens die es einleitende und fürs Ganze entscheidende
Anführung der Führerrede vom Mai 1935 einfach zu unterschlagen.
Symbolisch für den Sieg des verneinenden Geistes über den
unantastbaren Buchstaben des Vertrages wurde die
Durchführungsverordnung, wonach Gaststätten die nun für
reichsdeutsche Besucher freigegebene Hakenkreuzfahne nur zusammen mit den
Staatsfarben und noch drei anderen Fahnen hissen durften!
Ohne rednerische Übertreibung kann man sagen, daß die
"vaterländische" Sabotage des Juli-Abkommens am Tage seiner
Unterzeichnung begann. Den Vereinbarungen mit dem Reiche entsprach es, wenn
die Öffentlichkeit zunächst nur mit dem Texte des in Wien
unterzeichneten Staatsvertrages ohne das
Gentleman-Agreement von Berchtesgaden bekanntgemacht wurde. Aber in
absichtlicher Entstellung der Tatsachen, die zu dem Vertrag geführt hatten
und in ihm festgesetzt waren, behauptete die Wiener Regierungspropaganda, die
von Dollfuß und seinem Nachfolger getriebene
Außen- und Innenpolitik sei nun vom Reiche geradezu sanktioniert worden;
denn das "unabhängige" Österreich
habe - eine groteske Tautologie! - nie eine andere als "deutsche"
Politik gemacht und der Nationalsozialismus bleibe nach wie vor verboten, es
könne also auch von einer Kursänderung in der Innenpolitik nicht die
Rede sein! Auf derselben Zeitungsseite des 12. Juli, die den Vertragstext brachte
und dessen gänzliche Belanglosigkeit für die Auseinandersetzung
mit der "Illegale" kühn behauptete, konnte man auch schon den Wortlaut
eines neuartigen "Staatsschutzgesetzes" finden, das die Verfolgung der
"Staatsfeinde" auch für die Zukunft sicherstellte. Hätte diese
Vernebelung noch als Rückzugsmanöver eine gewisse
Erklärung finden können, so ging das System schon in der zweiten
Juli-Hälfte, als die zugesagte große Amnestie in Kraft treten sollte,
zum ersten [127] Gegenangriff
über. Um einen Anlaß dazu war man wirklich nicht verlegen.
Beim olympischen Staffellauf nach Berlin, der von der ungarischen Grenze her
quer durch Wien ging, kam es zu Kundgebungen der Jugend, die bei einer
wirklich angestrebten Normalisierung der
deutsch-österreichischen Beziehungen gar nichts Auffälliges an sich
getragen hätte. Freilich paßte hierzu schon die während der
Feierlichkeit auf dem Heldenplatz gehaltene Ansprache des Sportführers
Starhemberg sehr wenig, die zum Unterschied von den Vertretern nichtdeutscher
Völker bei demselben Anlaß kein einziges freundliches Wort
für das Gastland der Olympischen Bewerbe anbrachte. Die Scharfmacher
aber stürzten sich sofort auf die Ausnutzung jener "Zwischenfälle",
z. B. das Absingen des Deutschlandliedes als einer Gelegenheit zur
Kompromittierung der Nationalsozialisten und des neuen Abkommens, das ihnen
eigentlich ebenso wie diese verhaßt war. Die Wiener V. F. zwang die
Beamten und Angestellten, unterstützt von gewissen kryptomarxistischen
Kreisen, zu einer "Massenkundgebung" gegen die sogenannte Gefährdung
des Vaterlandes durch die Umtriebe der nach wie vor verfehmten "Illegale", die
auf ihr Sündenregister jetzt auch noch den Ungehorsam gegen den
angeblichen Unterwerfungswillen des Führers bekam. Als
Sühnemaßnahme wurde sogar die Amnestie in
Verwaltungsstrafsachen unterbrochen. Bei diesen vom Zaun gebrochenen und
durch besonders dreiste Fälschungen hervorstechenden Umtrieben trat zur
Überraschung der Öffentlichkeit der neue
V. F.-Generalsekretär Zernatto auffällig in Erscheinung und
sein Name ist seither in unheilvoller Weise mit der Verkümmerung des
Juli-Werkes bis zur Erschöpfung seiner Möglichkeiten verbunden
geblieben. Er hat mit der Duldung durch den vertragschließenden Kanzler in
sogenannten Vaterländischen Wandzeitungen und auf jedem sonst ihm
zugänglichen Wege in den V. F.-Organisationen ganz falsche
Vorstellungen über die Bedeutung des
Juli-Werkes verbreitet, die, statt die Zeit zur Verbündeten der
Verständigung zu machen, sie zuletzt ausschlossen. Zernatto war es, den
bald darauf der Kanzler dazu ausersah, in seiner Anwesenheit mehr als einmal zu
erklären, daß er, Schuschnigg, außer [128] den öffentlich
bekanntgegebenen Verpflichtungen im Juli keine anderen "geheimen"
eingegangen sei. Man verließ sich
also - ein verdammt charakterloses und gefährliches
Spiel! - darauf, daß das Reich öffentlich nichts dagegen
unternehmen könne, ohne das System der von ihm bevorzugten
zweiseitigen Pakte unheilvoll zu kompromittieren. Und dann hoffte man wieder
durch Erfüllung im einzelnen, der Anerkennung der ganzen
Verpflichtungen entgehen zu können.
Wenn ein Stein in ruhiges Wasser geworfen wird, so wird es kurze Zeit Ringe
aufwerfen und dann doch bald wieder unbewegt im Himmelslicht daliegen. So hat
sich wohl auch Schuschnigg die Wirkung des von ihm als unvermeidlich
erkannten Juli-Abkommens vorgestellt, obwohl er damit in Wahrheit nur einer
längst überfälligen Strömung Eingang verschafft hatte,
die wohl oder übel einmal die Führung an sich reißen
mußte. Sobald der Jubel des Volkes über die ersten Freigelassenen
verhallt und auf seine berechtigten Hoffnungen der erste Reif gefallen war,
fühlte Schuschnigg den gewohnten Boden unter seinen Füßen
und wandte all sein Sinnen und Trachten auf Zeitgewinn. Eben das, was
geradlinig zur Normalisierung und Befriedung geführt hätte, vermied
er mit einer aalglatten Geschmeidigkeit. Einen recht brauchbaren Plan seines
neuen Ministers von Glaise zur Heranziehung der Nationalsozialisten unter
Auswertung der nun einmal bestehenden Verfassungsformen wies er mit dem
Hinweis zurück, daß er als Kanzler seine eigenen Wege gehen
müsse. Den allenthalben umlaufenden Meldungen über eine weitere
Regierungsumbildung und über Ministerbesuche im Reiche begegnete er
mit dem höhnischen Hinweis, daß ihm darüber nichts bekannt
sei, und er sich Art und Zeitpunkt einer Änderung im Kabinett als ganz
persönlichen Entschluß vorbehalte. Schuschnigg legte sich seit dem
11. Juli in der Tat eine eigenartig machiavellistische Regierungskunst zurecht,
indem er zwar Glaise und Schmidt gegenüber den vaterländischen
Radikalinskis unbedingt zu halten entschlossen war, zwischen sie und ihre
Kollegen jedoch gleichsam eine Isolierschicht einlegte. Guido Schmidt blieb
Staatssekretär und konnte im November auch einen recht gut verlaufenen
Besuch in der Reichshaupt- [129] stadt machen. Aber die
Bürokratie am Ballhausplatz wie die Außenposten der Diplomatie
führten unter ihrem bisherigen Mentor, dem Gesandten Hornbostel, ihre
separatistische Politik weiter; der einzige mit Schmidt harmonierende Mitarbeiter
war ein aus dem Unterrichtsministerium geholter jüngerer Beamter
(Dr. Wilhelm Wolf). Glaise-Horstenau wurde zwar anläßlich
der erstbesten Kabinettsumbildung mit Aufgaben des Innenministeriums betraut
und ihm endlich ein entsprechender Kanzleistab beigegeben, was zuerst
unterblieben war; aber die Polizeigewalt blieb seinem Wirkungskreis entzogen
und statt einer konstruktiven Tätigkeit sich zu widmen, mußte er
seinen allgemein gerühmten guten Willen auf den Versuch zur Abstellung
unzähliger Beschwerden aufwenden.
Als Schuschnigg sich zu einem neuen Entschluß aufraffte, im Oktober noch
ein letztesmal gegen die Restbestände der Heimwehr durchgriff, ihre
Auflösung verkündete und die Jämmerlinge der
Starhemberg-Führerschaft, die eben ihrem bisherigen Condottiere noch
einmal Treue geschworen, auf sich als dem Postengeber verpflichtete, schien die
Art seiner Regierungsumbildung eher der Erschwerung einer Befriedung im Sinne
des von Glaise verbürgten Juli-Abkommens zu dienen. Die Justiz
z. B. übergab der Jude Winterstein dem vom C. V.
gewünschten Herrn Pilz, dessen Ruf im Aussinnen neuartiger Verfolgungen
der Nationalsozialisten während seiner Amtszeit als Bezirkshauptmann
begründet war. Ein Paradestück dieser Politik mit doppeltem Boden
war der Kampf um den Rücktritt des Bundespressechefs Eduard Ludwig,
dessen weiteres Verbleiben selbst Schuschnigg als unvereinbar mit dem Geist des
Juli-Abkommens anerkennen mußte. Statt nun für einen neuen Kurs
Sorge zu tragen, ernannte er entgegen allen wohlgemeinten Ratschlägen den
Oberst Adam aus dem Reichspost-Kreis, der als ehemaliger Berufsoffizier
vielleicht in der Form, als Legitimist gewiß nicht in der Sache von Ludwigs
Spuren abwich. Damit hatte es noch keineswegs sein Bewenden. Er zog den auf
der einen Seite verabschiedeten Günstling mit Zeichen unveränderten
Wohlwollens auf der anderen "zu besonderen Aufgaben" in seiner unmittelbaren
Umgebung heran, erzwang kurz darauf seine "Wahl" zum Präsidenten der
neugegründeten [130] Bundes-Pressekammer
und vernahm wohlgefällig von den wochenlangen demonstrativen
Kundgebungen der bisher durch Ludwigs Taktik großgezogenen
jüdischen Journaille für ihren
Gönner. - Nach ähnlichen Grundsätzen verfuhr der
Kanzler, was leicht reihenweise mit Beispielen zu belegen wäre, auch bei
sonst auftretenden Personalfragen in Staat und V. F. Statt, wie es der
Glaise-Plan vorgesehen, durch Aufnahme von Verbindungsmännern die
Legalisierung der Nationalsozialisten vorzubereiten, führte er solche
Verhandlungen immer wieder auf den toten Punkt, nicht ohne dabei die
Unterhändler nach Möglichkeit noch im nationalen Lager zu
diskreditieren. Ein weiteres, von ihm oft angewandtes Mittel war, wie schon oben
angedeutet, für eine Neubesetzung auch im Zeichen des
Juli-Abkommens unmögliche Scharfmacher in Vorschlag zu bringen, um
sie dann zum Zeichen seiner Loyalität gegen nicht wesentlich bessere
Elemente wieder preiszugeben. Ebenso stimmte er seine zahlreichen
"programmatischen" Reden nach wie vor auf Kampf gegen den "Staatsfeind
Nazismus" ab, um dann inmitten seiner Polemik und schon deshalb, wie
beabsichtigt, wirkungslos die Erklärung abzugeben, daß der
nationalen Opposition die Tore der V. F. weit geöffnet seien.
Der Höhepunkt der zwischen Hoffnung und Verzicht stehenden,
verworrenen Nach-Juli-Periode, war der größte Appell, zu dem es die
V. F. unter Einsatz härtester Druckmittel überhaupt brachte
und der bezeichnenderweise in dieser Form nicht mehr wiederholt wurde. Am 18.
Oktober fand dieser, wie der Wiener Witz sagte,
"Schmelz-Auftrieb" auf dem großen altösterreichischen Exerzierplatz
statt, wobei aber die Anwesenden nur einen lyrischen Erguß des Kanzlers
zu hören bekamen. Die seit Tagen in Wien umgehenden Gerüchte, so
außerordentliche Vorbereitungen müßten einer
Erklärung von ungewöhnlicher Bedeutung dienen, wurden allerdings
gründlich widerlegt. Weder die Versöhnung der nationalen
Opposition noch die Heimholung Ottos konnten die aufgebotenen Massen, sofern
sie sich nicht überhaupt rechtzeitig vom Festplatz gedrückt hatten,
zur Kenntnis nehmen. Dagegen sprach der Kanzler von einem Dreiklang des
Liedes der Arbeit, der Erde, der Jugend zur Symphonie "Heimat"
Österreich - das ist nur wenig Manna für das
hun- [131] gernde Volk gewesen
und daran änderte auch nichts die Tatsache, daß der aus Nazifurcht
und Geldmangel schon zur Auflösung bestimmte Freiwillige Arbeitsdienst
an diesem Tag weit größeren Mustern folgend mit dem Spaten auf
der Schulter aufmarschiert war. Die sogar für Schuschnigg auffällige
Dürftigkeit der von der Organisation der V. F. abgegebenen
Äußerungen erklärte sich mit daraus, daß er es aus guten
Gründen vorgezogen hatte, die politische Marschlinie einem noch viel
gefügigeren Publikum am Vorabend im Parlamentsgebäude
bekanntzugeben. Während er hier nur in ganz allgemeinen Redensarten auf
eine kommende, der nationalen Befriedung dienende organisatorische
Erweiterung der V. F. hinwies, machte er das unter dem Eindruck des
Juli-Abkommens festgefahrene Schiff des Legitimismus wieder flott und bat die
Schwarz-Gelben lediglich um Rücksicht aus taktischen Gründen.
Auch für die Zukunft behielten sie ihre, dem Totalitätsanspruch der
V. F. eigentlich zuwiderlaufende Begünstigung einer völlig
autonomen Spitzenorganisation im "Eisernen Ring". Gerade im Zeichen des
Juli-Abkommens durfte die Wiesnersche Propaganda verkünden, die
Thronbesteigung Ottos sei das zuverlässigste Mittel zur Verhinderung einer
dauernden Normalisierung der deutsch-österreichischen Verhältnisse.
Der Kaisergemeinderummel aber feierte um so mehr fröhliche
Urständ, als der Kanzler zwar den Willen des österreichischen
Volkes, nicht eine Aktion der Regierung für die endgültige Regelung
der Staatsform entscheidend erklärt hatte, gleichzeitig jedoch den
Legitimisten mitteilen ließ, er denke bei dieser Äußerung des
Volkswillens durchaus nicht an die (von beiden Teilen so gefürchtete)
Form einer freien Volksabstimmung.
Einen Augenblick lang durchzuckte ein greller Strahl wie ein Vorbote befreiender
Gewitter die stickige Luft, in der sich jene Lemuren wohlfühlten. Eine
Anzahl Männer, die mit Wissen des Kanzlers im
Siebener-Ausschuß (Vorsitz: Dr. Jury) vereinigt waren und ein
eigenes Büro in der Wiener Teinfaltstraße unterhielten, berieten sich
über die unter den gegebenen Verhältnissen zweckmöglichste
Form zur Heranziehung der Nationalen Opposition am öffentlichen Leben.
Unter Zugrundlegung der Erfahrungen mit der seinerzeitigen Aktion Reinthaller
ent- [132] stand der Plan zur
Gründung eines Deutsch-Sozialen Volksbundes, dem Schuschnigg
anscheinend abwartend gegenüberstand. Da gelang es im Februar 1937
für einen Aufruf hierzu im ersten Anlauf die Unterschrift von 500
Persönlichkeiten zu gewinnen; hervorragende Vertreter von
Österreichs Kultur und Wirtschaft zeugten als Proponenten im Sinne des
österreichischen Vereinsgesetzes durch ihre Namen für die
unabdingbare Bedeutung und Dringlichkeit des trotz des 11. Juli gänzlich
ungelösten Befriedungsproblems. Erstmalig gelang es durch die
Schnelligkeit des Vorgehens, Schuschniggs Kreise empfindlich zu stören
und ihn "legal" unter Druck zu setzen. Wohl oder übel ließ er sich
herbei, am 12. Februar zusammen mit dem Siebener-Ausschuß den
damaligen "illegalen Landesleiter" Hauptmann Leopold zu empfangen. Zwei Tage
später sagte er öffentlich ein Volkspolitisches Referat in der
V. F. zu, das den Nationalsozialisten endlich einen festumschriebenen
Anteil an der Innenpolitik geben sollte. Dagegen hielt er an seiner Ablehnung der
geplanten Vereinsgründung unbedingt fest, angeblich aus Sorge wegen der
auf den anderen Flügeln der V. F. zu befürchtenden
Gegenwirkungen; tatsächlich aber in Furcht vor der dann zu erwartenden
Weiterentwicklung der Dinge - hatte doch das bloße Bekanntwerden
der Idee eines Deutsch-Sozialen Volksbundes sofort die Stärke der
unterirdisch strömenden nationalen Welle jedermann zum
Bewußtsein gebracht und einen mit der Zwangsorganisation der V. F.
nicht vergleichbaren Erfolg voraussehen lassen.
Doch dessen ungeachtet wurde die Bereitschaft der nationalen Führung zu
einer neuen Bewährungsfrist für den guten Willen der
Bundesregierung, welche die Ausführung des
Juli-Programms zu verantworten hatte, noch durch den für Ende Februar
angekündigten Staatsbesuch des Reichsaußenministers Baron
Neurath gestärkt. Durch eine neue unmittelbare Fühlungnahme sollte
das Verhältnis der beiden deutschen Staaten in Durchführung des
grundsätzlich bereits Beschlossenen einer Besserung zugeführt
werden, die sich endlich auch wohltätig nach innen äußern
mußte. Die Wiesner-Legitimisten lasen sogar, obgleich die von den
"Vereinsgründern" drohenden Ge- [133] fahren offenbar
abgewendet waren, aus der angekündigten Wiederaufnahme der
Juli-Politik die ärgsten Befürchtungen heraus. Fast kam es zum
Bruche des offiziellen mit dem Krypto-Legitimismus und seinem wahren
Führer Schuschnigg, als er mit einer bei ihm gegen diese Seite völlig
ungewohnten Härte den Plan Ottos durchkreuzte, als Privatmann die
Schweizer Grenze zu überschreiten und eine vorläufige Hofhaltung
in einem Alpenorte aufzuschlagen. Die außenpolitischen Motive zu diesem
Schritt gegen das "Experiment" waren freilich zwingend. Denn andernfalls
wäre Österreich unfehlbar in den Wirbelwind der doppelten
Habsburgergegnerschaft der Achsenmächte und der Kleinen Entente
geraten, über die ja mindestens Jugoslawien keinen Zweifel ließ.
Soweit war die Lage Februar 1937 gereift. Der Neurath-Besuch hätte denn
auch in einer gewissen Atmosphäre der Korrektheit verlaufen und eine
wirkliche Entspannung vorbereiten können. Da prellten, der stillen
Zustimmung des Kanzlers gewiß, die vaterländischen Scharfmacher
zum Gegenangriff vor. Zuerst überschüttete man die Proponenten des
Deutsch-Sozialen Volksbundes ungeachtet ihrer loyalen Zurückhaltung mit
gemeinsten Anschuldigungen, die sich allerdings selbst richteten; so die groteske
Unterstellung, es hätten sich in ganz Österreich nur 500 wohlsituierte
Friedensstörer gefunden, hinter denen überhaupt keine arbeitenden
Menschen stünden. Ein Linzer Blatt, das ihre Namen brachte, wurde dem
Ruin zugeführt und dem Minister, der sich für sie verwendete, mit
dem sofortigen Sturz gedroht. Die Verhinderung der Häuserbeflaggung
für den ersten reichsdeutschen Staatsbesuch seit 1931 und die üble
Instruierung der Tagespresse, die Beamten- und Parteiminister des Dritten Reiches
gegeneinander auszuspielen suchte, verhießen weitere boshafte
Verwicklungen. Unbekümmert darum wurde der Willkomm Neuraths am
22. Februar ein Tag lang vermißter öffentlicher
Freudenbezeigungen der Wiener. Trotz der für einen Volksauflauf
ungünstig gewählten Zeit fanden sich über 100 000
Menschen zur Spalierbildung längs der breiten Mariahilferstraße ein;
seit Jahren hatte Wien einen solch elementaren Jubel nicht mehr erlebt. Kaum war
aber der Wagen Neuraths vorbeigekommen, als sich die Polizei und für
[134] diesen Tag gedungene
Gewalttäter auf diejenigen stürzten, deren Vergehen in nichts
anderem als einem Gruß für den Gast der Bundesregierung bestand.
Es kam zu unerquicklichen Szenen, die ihre Fortsetzung in der Absperrung des
von Neurath bezogenen, mit den gefährlichen Hakenkreuzfahnen
geschmückten Hotels gegen das Publikum, im Erscheinen
skandalöser Aufsätze und Nachrichten über die
Vorgänge auf der Mariahilferstraße in der Wiener Tagespresse und
schließlich in der von der Regierung vorbereiteten Art der Abreise Neuraths
fanden; unter Einsatz selbst berittener Polizei wurden die Straßen zum
Westbahnhof vom Publikum freigehalten und durch eigens von der Provinz
herangeholte, bezahlte V. F.-Männer besetzt, die in aufdringlicher
Weise Hoch Österreich! Schuschnigg! u. ä. während der
Vorbeifahrt des Ministers zu rufen hatten. Solche Vorgänge wertete auch
das Ausland viel lebhafter als den öligen Trinkspruch des Systemkanzlers
beim Empfang im Belvedere auf die hoffentlich immer zunehmende Harmonie
zwischen den beiden deutschen Staaten. Vergebens verhallten Erklärungen
Papens und Glaise-Horstenaus über die Nutzung der dem Frieden
dienenden Mission des von Adolf Hitler entsandten Außenministers
für das Gesamtdeutschtum. Als Nachspiel gab es sogar noch
Beförderungen der hauptsächlich für die Vorkommnisse des
22. Februar verantwortlichen Personen, darunter die Ernennung des Wiener
Polizeipräsidenten Skubl statt des angeblich zu laxen Sicherheitsministers
Neustädter, dem auch noch die Zulassung der
Volksbund-Aktion zur Last fiel. Der Bundeskanzler selbst aber erklärte in
einer Ansprache vor der V. F. in Eisenstadt, über die man aus Prager
Zeitungen noch Genaueres als aus Wiener erfuhr, daß Übergriffe von
Gerichten und Behörden gegen die Braunen straffrei bleiben
würden.
Die unnatürliche Ausdehnung der "Exekutive", die dem Staat wider Willen
seit den ersten Bürgerblockregierungen als Erbteil anhaftete, steigerte sich
seit 1933 derart, daß sie sogar in den Kulturraum dieses deutschen Landes
einbrach und wo sie nicht bezwingen konnte, wenigstens Verwirrung anstiftete.
So gab es unablässig Reibungsflächen mit den evangelischen
Bekenntnissen, da sie neben dem immer mehr als Staatsreligion hervortretenden
Katholizismus auf die Stufe der bloßen Dul- [135] dung
zurücksanken. Durch ihre Spannung mit dem Regime ergab sich wieder ein
gewisser Gleichklang mit dem um ihres politischen Bekenntnisses verfolgten
Volksgenossen - die Stellungnahme etwa des Superintendenten
Heinzelmann von Villach interessierte ganz Österreich; die da und dort
recht stark einsetzenden Kirchenübertritte aber wurden dafür von den
Behörden fast wie eine "illegale" Mitgliedschaft bewertet und durch
Verwaltungsschikanen aufgehalten. Das hinderte aber, schon um der
Gönnerschaft Englands willen, auf der anderen Seite nicht die gelegentliche
Schaustellung der in Österreich, gemessen an der weltanschaulichen
Vereinheitlichung im Dritten Reiche, herrschenden Bekenntnisfreiheit! Dieselbe
Kunst wandte man an die Verhältnisse der Hochschule an. Dieselbe
Diktatur, die sofort der Deutschen Studentenschaft die rechtliche Anerkennung
entzog, ihre selbstgeschaffenen Einrichtungen einer vom Ministerium
abhängigen Sachwalterschaft überantwortete, durch einen eigenen
Hochschulkommissär viele hundert drakonische Disziplinarstrafen
austeilte, in jede Hohe Schule Polizeiwachstuben setzte, und schließlich
auch noch den Besuch "vaterländischer" Pflichtvorlesungen erzwang, sie
verband sich mit dem C. V. (katholischen Verbindung) auf Gedeih und
Verderb und - beließ trotz aller Verfolgung im Einzelnen das im Reiche einer
neuen Idee aufgeopferte Waffenstudententum mit seinem Brauchtum. Ja, um
überhaupt den mit Polizeigewalt aufgenötigten
"vaterländischen" Firnis zu erhalten, waren die Sachwalter von Fall zu Fall
doch immer wieder zu Kompromissen mit der unerschütterlichen,
großen Mehrheit der "Nazi-Studenten" genötigt, die mit ihren
studentischen Zusammenschlüssen vielfach noch "illegale" Gliederungen
"tarnten". Dieses Verfahren setzte sich in die Fakultäten fort, wo man
ebenso die Gegenlinie verbiegen und spalten wollte, aber im großen und
ganzen nicht mehr als ein elastisches Ausbiegen der geschwächten Front
erreichte, die nach wie vor bestand. Fast alle Hochschulen der Ostmark haben so
wie in der studentischen Auslese auch zur politischen und geistigen
Führerschaft der Bewegung ihr Teil beigetragen, und der Freiheitskampf
von Graz oder Innsbruck ist nicht ohne den Einsatz seiner Hochschulen zu
beschreiben. Hier sei beispielhaft nur auf die in [136] besondere Nähe
zu dem von dem C. V. Freunde Schuschniggs, Pernter, verwalteten
Unterrichtsministerium stehende Universität Wien hingewiesen. Schon im
Sommer 1933 beschwor eine im "Verwaltungsarchiv" erschienene
Aufsatzreihe namhaftester Juristen über den Verfassungsbruch eine
Verfolgungswelle herauf; ein weiterer Streitpunkt bildete der Beitrittszwang zur
V. F. Allein drei frühere Rektoren, der Strafrechtslehrer Graf
Gleispach (der Urheber des deutschen Studentenrechtes), der Historiker und
Kriegsschuldforscher Hans Übersberger und der Naturforscher Othenio
Abel mußten ihre Wirksamkeit ins Reich verlegen. Von zwei in der
Seipel-Zeit im Regierungslager als deutsche Männer hervortretenden
Professoren der Rechtsfakultät wurde K. G. Hugelmann grundlos
verhaftet, in den Hungerstreik getrieben, und auch E. Schönbauer
schweren gesundheitlichen Schädigungen
ausgesetzt. - Im Zuge des Juli-Abkommens wurden die organisatorischen
und personalpolitischen Verhältnisse kaum
geändert - nach wie vor besetzte der Minister Lücken in den
Fakultäten weniger mit Emigranten, die wie von Hildebrand dem
gesellschaftlichen Boykott verfielen, als mit Persönlichkeiten, die etwa
wegen jüdischer Versippung den Fortbestand des Regimes wünschen
mußten, ohne ihm deshalb innerlich anzugehören. Aber das geistige
Leben erhielt einen frischeren Luftzug durch wechselseitige
Besuchsvorträge und Kongresse reichsdeutscher und österreichischer
Gelehrter. Auch gelang es im Zeichen der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung
der schwer bedrängten Mittelschullehrerschaft die geistige Förderung
zu bieten, die sie erwartete: So ging in tausend Stück das von 16
Mitarbeitern verfaßte Österreichwerk, hg.
Srbik-Nadler, in Lehrer- und Schülerbüchereien, ein Erfolg, der bei
seiner 1935 unter der lebhaften Anteilnahme von
Glaise-Horstenau erfolgten Planung noch nicht gesichert war. Mitarbeiter dieses
wegweisenden Buches finden sich auch in der von
Seyß-Inquart begründeten Monatsschrift Die Warte, die nun
ein Sprechsaal der "betont Nationalen" wurde, oder in der ebenfalls Seyß
nahestehenden, der völkischen Schulung weiter Kreise dienenden,
jugendfrischen Wochenschrift Der Turner. Diese Zugeständnisse
wenigstens konnten im Zeichen des "11. Juli" das System
nicht versagen und, so beschei- [137] den sie gemessen an
den berechtigten Erwartungen waren, genügten sie (wie die jüdische
und legitimistische Kritik bewies), das Selbstvertrauen seiner Anhänger zu
erschüttern.
So wenig als nur irgendmöglich für Befriedung und Normalisierung
im Sinne der vorjährigen Juli-Verpflichtung; soviel als möglich
dagegen für Legitimismus und Donauraumpolitik, die den Widerspruch
dazu bedeuteten - zwischen Anziehung und Abstoßung lenkte
Schuschnigg noch das ganze Jahr 1937 das unglückselige, seiner
tüchtigsten Mannschaft beraubte Staatsschiff durch die Untiefen der
europäischen Politik. Vergeblich warnte der Duce bei einer
April-Begegnung in Venedig, die wesentlich frostiger als die vorhergehenden
verlief, vor einer Überspannung des Bogens. Er ließ seine
Empfehlung einer Heranziehung der Nationalsozialisten an derselben Stelle durch
Gajda veröffentlichen, wo kurz vorher eine scharf betonte Warnung vor
legitimistischen Experimenten gestanden hatte. Schuschnigg aber, der bei
Einleitung der Reise öffentlich nur der Freundschaft mit Italien und Ungarn
gedacht, mußte nun im Venediger Communiqué mindestens
grundsätzlich die Vorrangstellung Deutschlands an allen
mitteleuropäischen Lösungen zugestehen. Nichtsdestoweniger
richtete er seine außenpolitische und publizistische Arbeit auch weiterhin
auf die sogenannte Organisierung des Donauraumes. Immer wieder kreisten seine
Gedanken um Pläne, wie sie seit seinem Prager Vortrag in Erinnerung
blieben und eine große Verwandtschaft mit den Absichten des
tschecho-slowakischen Ministerpräsidenten Hodza und des dahinter
stehenden Quai d'Orsay aufwiesen. Die österreichische Regierung
unterstützte also trotz des 11. Juli eine Konzeption, die dem mit Paris und
nun auch mit Moskau verbündeten Benesch-Staat eine führende
Rolle zuschob und den natürlichen Widerstand des wirklich erstrangigen
Donaustaates heraufbeschwor. Noch während des Berliner Besuches von
Benito Mussolini im September führte Schuschnigg unter einem Vorwande
eine neuerliche Begegnung mit dem tschechischen Regierungschef in Baden bei
Wien herbei. Ohne Rücksicht auf die Achse wurde eine Art wechselseitiger
Lebensversicherung des tschechischen und österreichischen Systems
neuerlich vor aller Welt bekräftigt; das Interesse Wiens an [138] dem sudetendeutschen
Aktivismus und Separatismus war durch Pressestimmen und Empfänge
aktivistischer Politiker ebenfalls offenkundig und es lag sicher nicht an der
mangelnden Rückenstützung durch die Ballhauspolitik, wenn die
von Benesch und Hodza gegen Henlein gerichteten Februarversprechungen nicht
zum erwünschten Ziele führten. Das Reich selbst freilich konnte
nach solchen Erfahrungen nur mehr in abwartender Stellung zusehen, wie sich
dieses System voll gewagter Halbheiten und Widersprüche angesichts der
stets steigenden Weltgeltung Deutschlands allmählich totlaufen
würde.
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