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Der Juli-Vertrag von 1936 und seine Verleugnung

Am 11. Juli 1936 wurde die Öffentlichkeit aufs höchste durch die Meldung über eine Verständigung zwischen den "beiden deutschen Staaten" überrascht. Die Reichsregierung und die Bundesregierung hätten neue Grundlagen für ihre in Natur und Geschichte begründete, aber dreieinhalb Jahre lang unterbrochene Zusammenarbeit gefunden. Anerkannter Ausgangs- [121] punkt der Neuregelung bildeten die Erklärungen des Führers in seiner vorjährigen Mai-Rede. Ausdrücklich nur in diesem Sinne erkannte Deutschland die vielgenannte "Unabhängigkeit", d. h. die Staatlichkeit Österreichs an. Die Bundesregierung hinwiederum verpflichtete sich, ihre Politik eingedenk der Tatsache, daß Österreich ein deutscher Staat sei, zu führen. Im Hinblick auf die stets von dem außenpolitischen Kräfteparallelogramm mitbestimmte staatliche Struktur Österreichs hätte schon die hier verpflichtend festgelegte Ausrichtung der Ballhauspolitik zu einer entsprechenden, inneren Kräfteverlagerung führen müssen. Aber damit und mit der in der Präambel angeführten Zitierung der Führerrede nicht genug, wurde im Staatsvertrag die Einleitung einer Reihe von Maßnahmen festgelegt, welche seine Durchführung sicherstellen sollten; mochten damit auch Ausschüsse der beiderseitigen Außenämter betraut werden, so übertrug sich jeder ihrer Erfolge zwangsläufig sofort auch auf den inneren Zustand Österreichs. Wenn die Reichsregierung von einer "Einmischung mit Einschluß der Frage der österreichischen NSDAP.", die also trotz Verbot fortbestand, absehen wollte, dann war damit nur die Ausgangsstellung der Reichsführung von 1933 unterstrichen, wonach der Kampf der Bewegung in Österreich sich ohne Einsatz der staatlichen Machtmittel Deutschlands im Rahmen der hier geltenden Legalität zu vollziehen habe. Der Verfassungsbruch des Systems hatte freilich die Voraussetzungen dazu willkürlich beseitigt und gleichzeitig das Verhältnis der beiden Seiten zueinander auf des Messers Schneide getrieben. Wenn jetzt Schuschnigg unter dem Druck der wider sein Erwarten und Zutun umgestalteten auswärtigen Lage feierlich eine "Normalisierung" der Beziehungen zu Berlin versprach, die dem Reich hingegen z. B. die Aufhebung der Grenzsperre ermöglichte, so war damit unabdingbar die Pflicht zur Herbeiführung einer "Befriedung" der nationalen Opposition verbunden, deren wachsender Druck ihn von der anderen Seite her zum Abschluß gedrängt hatte.

In Erwägung dieser Tatsache wurde noch vor dem förmlichen Vertragsabschluß zwischen dem Kanzler und dem bevollmächtigten Gesandten von Papen in Wien am 11. Juli, [122] auf dem Obersalzberg am 10. Juli ein zunächst streng vertraulich behandeltes Gedächtnisprotokoll zwischen dem Führer selbst und dem dazu von Schuschnigg beauftragten Staatsrat Glaise-Horstenau genau festgelegt, in welchem die Heranziehung der "nationalen Opposition" von der Wiener Regierung ausdrücklich zugesagt war; die von der Gegenseite zugebilligte Zusicherung, daß dem Kanzler selbst die Auswahl der in Betracht kommenden Persönlichkeiten zustehe, bildete keinesfalls, wie er es später praktizierte, einen Freibrief, der alle Zusicherungen in den auch damals nicht sehr überzeugenden guten Willen Schuschniggs stellte. Denn als eigentlicher Treuhänder wurde für das Wirksamwerden dieser Maßnahmen der unbedingt loyale Glaise-Horstenau vom Führer gewünscht und von Schuschnigg anerkannt. Wie weitgehend die Folgen des 11. Juli damals von Wien anerkannt wurden, geht überzeugend aus den näheren Bedingungen über die sofort zu erlassende Amnestie für die eingekerkerten Nationalsozialisten und über die Rückführung der Flüchtlinge hervor, die eben nur in einem völlig geänderten innenpolitischen Klima in Österreich durchführbar war. Obwohl nur von einer "nationalen Opposition" in diesem als Gentleman-Agreement seiner rechtlichen Natur nach zu umschreibenden Dokument die Rede war, um der künftigen politischen Formgebung in Österreich (zumal in Hinblick auf die gleichlaufende sudetendeutsche Bewegung) nicht vorzugreifen, konnte es sich nach Sinn und Wortlaut der Vereinbarungen nie und nimmer um ein anderes Problem als die Überführung der "Illegale" ins gesetzmäßige, öffentliche Leben handeln, was ja auch von Glaise als Kronzeugen nie anders aufgefaßt wurde. Zweifellos haben die unabhängig von anderen Versuchen ins Werk gesetzten Verhandlungen zwischen Papen und Glaise ein Vertragswerk ausgearbeitet, das in seinen offenen und seinen vertraulichen Teilen von großer volkspolitischer Bedeutung war. Es zog mit nüchternem Blick die erfreulichen wie die bedauerlichen Tatsachen der Lage in Rechnung und bot dem Bundeskanzler für die Betätigung seines jetzt mehr denn je betonten Versöhnungswillens eine große Chance. Er hatte es von nun an in der Hand, die unnatürlich und verderblich verkrampften Verhältnisse ohne [123] Überstürzung und ohne Störung verständnisvoll zu lösen. Zu seiner Unterstützung und gleichsam als ein Unterpfand des nun von aller Welt teils erhofften, teils befürchteten, aber jedenfalls im Vertrage verankerten Neuen Kurses berief er noch am 11. Juli selbst Glaise-Horstenau zum Bundesminister mit Sonderaufgaben zur inneren Ordnung und den noch jungen, bisherigen Kabinettschef des Bundespräsidenten Miklas, Guido Schmidt, zum Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten in die zunächst sonst noch unveränderte Bundesregierung. Die nationalsozialistische Opposition erklärte auf den ihr zur Verfügung stehenden Wegen - darunter auch im "illegalen" Beobachter - unter Rückstellung aller noch so berechtigten Vergeltungsforderungen ihr Möglichstes zum Gelingen des vom Führer selbst gutgeheißenen Werkes beizutragen.

Der erste Eindruck des Juli-Abkommens war ein gewaltiger. Mit einem unwahrscheinlich kühnen Zug schien mit einem Male, wie es Staatssekretär Schmidt selbst ausdrückte, die deutsche Zwietracht mitten ins Herz getroffen! Eine wahre Aufruhrstimmung ergriff alle in- und ausländischen Nutznießer des über dreijährigen Bruderkrieges, während die "Brückenbauer", allen voran der Minister Glaise-Horstenau selbst, in dem Staatsvertrag allein nur die Einleitung zu einer den deutschen Charakter Österreichs betonenden, friedlichen Umbildung des Gemeinwesens ansahen, das erst dann in jeder Weise seinen naturgegebenen Platz an der Seite des immer mehr emporblühenden Reiches ausfüllen würde. Noch ehe die beiderseitigen Hindernisse für den Personenverkehr über die Grenze hätten fallen können, wurde die von gewissen Kreisen als unentbehrlich angesehene Sperre der publizistischen Erzeugnisse des Reiches durchbrochen. Von Vierteljahr zu Vierteljahr war bisher eine Dollfuß-Verordnung, die schlechterdings alle reichsdeutschen Zeitungen verbot und erst entsprechende reichsdeutsche Gegenmaßnahmen ausgelöst hatte, verlängert worden. Lediglich der Frankfurter Zeitung war unter Berufung auf Wünsche aus Wirtschaftskreisen später eine Ausnahmebehandlung zugestanden worden; aber sogar die katholisch gefärbte Saarbrücker Zeitung verlor mit dem Tage, da sie eine reichsdeutsche [124] wurde, die Zulassungserlaubnis und nur auf dem Umwege über die auch oft genug beschlagnahmten Danziger Nachrichten konnte der eifrige Wiener Zeitungsleser (von "illegalen" Aushilfen abgesehen) sich über das Dritte Reich ohne unerwünschte Vermittler unterrichten. Dabei ist zu bemerken, daß auch in der härtesten Kampfzeit bis Juli 1934 die (sachlich noch so gerechtfertigte) Polemik gegen das Wiener System nur einen Sektor neben anderen in der nationalsozialistischen Presse ausfüllte, indessen ein großer Teil der Systempresse überhaupt nur von der Negation sich fortfristete. Jetzt wurde sofort wechselseitig ein halbes Dutzend Zeitungen zugelassen; darunter als Vorbereitung für den kommenden freien Verkehr in der Essener National-Zeitung ein parteiamtliches Organ, das für Österreich eine eigene Wiener Schriftleitung mit dem hier bewährten, klugen und kenntnisreichen Dr. Hans Krüger besetzte, und einen für die öffentliche Meinung wichtig gewordenen Kolportagedienst errichtete. Noch breitere Kreise wurden durch die fast unbeschränkte Freigabe der Zeitschriften, und zwar mit Einschluß des Illustrierten Beobachters, erfaßt; waren doch bisher nur österreichische Ausgaben einiger "Illustrierter" geduldet, die alle Bilder von führenden Männern der Bewegung, von Aufmärschen u. a. durch harmlosere Darstellungen ersetzen mußten. Die vom Reiche dringend gewünschte weitere Auflockerung der Pressesperre bis zu ihrem gänzlichen Fall hatte allerdings eine Voraussetzung nötig, nämlich eine innere Wandlung des österreichischen Zeitungswesens, von der man noch nichts bemerken konnte. Schuschnigg lieferte dazu selbst im Juli 1936 einige, wenig verheißungsvolle Beiträge, als er den Schriftleiter Dr. Canaval des ihm nahestehenden Sturm über Österreich mit der politischen Aufsicht der Wiener Kolportage Telegraf-Blätter betraute, wodurch ein neuer krypto-marxistisch-legitimistischer Wechselbalg entstand, oder indem er einen in Innsbruck unmöglich gewordenen klerikalen Hetzredakteur mit allen Zeichen des Vertrauens in die Wiener Zentrale der V. F. einberief.

Wenn der mit dem Juli-Abkommen bewirkte Durchbruch am sinnfälligsten im Alltag der Publizistik zum Ausdruck kommen mußte, so eröffneten sich aber auch auf anderen bis- [125] her hoffnungslos verschütteten Gebieten neue Aussichten. Die für nicht geschäftliche Zwecke gesperrte Ausreise ins Reich machte nun bald einer kontrollierten Neuordnung Platz, wonach jeder Paßinhaber ohne nähere Begründung eine Dauerbewilligung für Reisen ins Reich verlangen konnte. Das ermöglichte nicht allein einen dichten (nebenbei auch für "illegale" Kurierdienste ausgenützten) Personenverkehr ins Reich; es konnten sich vielmehr die Volksgenossen diesseits und jenseits der Grenzen auch auf Tagungen und Versammlungen, sofern sie nur nicht betont politisch waren, vereinigen. So fielen auch die schmerzlichsten Fesseln der Alpenvereins- und Schutzvereinsarbeit: Hofrat Maximilian Mayer, dessen umsichtige Führung die Südmark auch in schwerster Zeit vor dem völligen Erliegen bewahrt und das Emporkommen einer legitimistisch gefärbten, das Donaudeutschtum verwirrenden Konkurrenzgründung verzögert hatte, konnte wieder die Verbindung mit dem VDA. aufnehmen; Professor von Klebelsberg in Innsbruck aber, der die Führung des gesamten Alpenvereins trotz aller Spaltungsversuche in der Hand behalten hatte, durfte in einer festlichen Doppelveranstaltung in Bad Tölz und Innsbruck wieder die Bergsteiger zusammenführen und die für das Alpenvolk so wichtige Hüttenarbeit aufnehmen lassen. Nach Überwindung zahlloser Schwierigkeiten und nach vorgenommenen Satzungsänderungen gelang allmählich auch die teilweise Wiederaufrichtung des durch den Julisturm besonders hergenommenen, weitverzweigten Deutschen Turnerbundes, dessen Wichtigkeit für die Charakterstählung weiter Kreise hoch anzuschlagen war; ähnlich stand es mit der Wiederaufrichtung der früher besonderen Aufgaben der Anschlußarbeit dienenden Einrichtungen wie des Österreichisch-Deutschen Volksbundes und der Österreich-Deutschen Arbeitsgemeinschaft oder des Deutschen Klubs in Wien und anderer vereinsmäßiger Zusammenschlüsse. All diese unleugbaren Errungenschaften des 11. Juli sind ohne die geduldige Kleinarbeit des Ministers Glaise-Horstenau und des späteren Staatsrates Seyß-Inquart nicht zu denken. Bis zu dieser Linie vermochten die Brückenbauer noch den widerstrebenden Kanzler vorzudrängen, der sich von anderen Systemgrößen soweit unterschied, als er sich trotz [126] seiner überheblichen Rhetorik der Folgen eines offenen Vertragsbruches bewußt blieb. Dennoch ist der doppelzüngige Beschützer des Doppeladlers soweit wie irgendeiner der Dollfuß-Verschworenen von einer wirklichen Erfüllung des Juli-Vertrages nach Geist und Buchstaben entfernt gewesen. Noch in seinem zu Ende 1937 erscheinenden "Kanzler-Buche" wird er die Stirne haben, bei der Zitierung des Juli-Abkommens die es einleitende und fürs Ganze entscheidende Anführung der Führerrede vom Mai 1935 einfach zu unterschlagen. Symbolisch für den Sieg des verneinenden Geistes über den unantastbaren Buchstaben des Vertrages wurde die Durchführungsverordnung, wonach Gaststätten die nun für reichsdeutsche Besucher freigegebene Hakenkreuzfahne nur zusammen mit den Staatsfarben und noch drei anderen Fahnen hissen durften!

Ohne rednerische Übertreibung kann man sagen, daß die "vaterländische" Sabotage des Juli-Abkommens am Tage seiner Unterzeichnung begann. Den Vereinbarungen mit dem Reiche entsprach es, wenn die Öffentlichkeit zunächst nur mit dem Texte des in Wien unterzeichneten Staatsvertrages ohne das Gentleman-Agreement von Berchtesgaden bekanntgemacht wurde. Aber in absichtlicher Entstellung der Tatsachen, die zu dem Vertrag geführt hatten und in ihm festgesetzt waren, behauptete die Wiener Regierungspropaganda, die von Dollfuß und seinem Nachfolger getriebene Außen- und Innenpolitik sei nun vom Reiche geradezu sanktioniert worden; denn das "unabhängige" Österreich habe - eine groteske Tautologie! - nie eine andere als "deutsche" Politik gemacht und der Nationalsozialismus bleibe nach wie vor verboten, es könne also auch von einer Kursänderung in der Innenpolitik nicht die Rede sein! Auf derselben Zeitungsseite des 12. Juli, die den Vertragstext brachte und dessen gänzliche Belanglosigkeit für die Auseinandersetzung mit der "Illegale" kühn behauptete, konnte man auch schon den Wortlaut eines neuartigen "Staatsschutzgesetzes" finden, das die Verfolgung der "Staatsfeinde" auch für die Zukunft sicherstellte. Hätte diese Vernebelung noch als Rückzugsmanöver eine gewisse Erklärung finden können, so ging das System schon in der zweiten Juli-Hälfte, als die zugesagte große Amnestie in Kraft treten sollte, zum ersten [127] Gegenangriff über. Um einen Anlaß dazu war man wirklich nicht verlegen.

Beim olympischen Staffellauf nach Berlin, der von der ungarischen Grenze her quer durch Wien ging, kam es zu Kundgebungen der Jugend, die bei einer wirklich angestrebten Normalisierung der deutsch-österreichischen Beziehungen gar nichts Auffälliges an sich getragen hätte. Freilich paßte hierzu schon die während der Feierlichkeit auf dem Heldenplatz gehaltene Ansprache des Sportführers Starhemberg sehr wenig, die zum Unterschied von den Vertretern nichtdeutscher Völker bei demselben Anlaß kein einziges freundliches Wort für das Gastland der Olympischen Bewerbe anbrachte. Die Scharfmacher aber stürzten sich sofort auf die Ausnutzung jener "Zwischenfälle", z. B. das Absingen des Deutschlandliedes als einer Gelegenheit zur Kompromittierung der Nationalsozialisten und des neuen Abkommens, das ihnen eigentlich ebenso wie diese verhaßt war. Die Wiener V. F. zwang die Beamten und Angestellten, unterstützt von gewissen kryptomarxistischen Kreisen, zu einer "Massenkundgebung" gegen die sogenannte Gefährdung des Vaterlandes durch die Umtriebe der nach wie vor verfehmten "Illegale", die auf ihr Sündenregister jetzt auch noch den Ungehorsam gegen den angeblichen Unterwerfungswillen des Führers bekam. Als Sühnemaßnahme wurde sogar die Amnestie in Verwaltungsstrafsachen unterbrochen. Bei diesen vom Zaun gebrochenen und durch besonders dreiste Fälschungen hervorstechenden Umtrieben trat zur Überraschung der Öffentlichkeit der neue V. F.-Generalsekretär Zernatto auffällig in Erscheinung und sein Name ist seither in unheilvoller Weise mit der Verkümmerung des Juli-Werkes bis zur Erschöpfung seiner Möglichkeiten verbunden geblieben. Er hat mit der Duldung durch den vertragschließenden Kanzler in sogenannten Vaterländischen Wandzeitungen und auf jedem sonst ihm zugänglichen Wege in den V. F.-Organisationen ganz falsche Vorstellungen über die Bedeutung des Juli-Werkes verbreitet, die, statt die Zeit zur Verbündeten der Verständigung zu machen, sie zuletzt ausschlossen. Zernatto war es, den bald darauf der Kanzler dazu ausersah, in seiner Anwesenheit mehr als einmal zu erklären, daß er, Schuschnigg, außer [128] den öffentlich bekanntgegebenen Verpflichtungen im Juli keine anderen "geheimen" eingegangen sei. Man verließ sich also - ein verdammt charakterloses und gefährliches Spiel! - darauf, daß das Reich öffentlich nichts dagegen unternehmen könne, ohne das System der von ihm bevorzugten zweiseitigen Pakte unheilvoll zu kompromittieren. Und dann hoffte man wieder durch Erfüllung im einzelnen, der Anerkennung der ganzen Verpflichtungen entgehen zu können.

Wenn ein Stein in ruhiges Wasser geworfen wird, so wird es kurze Zeit Ringe aufwerfen und dann doch bald wieder unbewegt im Himmelslicht daliegen. So hat sich wohl auch Schuschnigg die Wirkung des von ihm als unvermeidlich erkannten Juli-Abkommens vorgestellt, obwohl er damit in Wahrheit nur einer längst überfälligen Strömung Eingang verschafft hatte, die wohl oder übel einmal die Führung an sich reißen mußte. Sobald der Jubel des Volkes über die ersten Freigelassenen verhallt und auf seine berechtigten Hoffnungen der erste Reif gefallen war, fühlte Schuschnigg den gewohnten Boden unter seinen Füßen und wandte all sein Sinnen und Trachten auf Zeitgewinn. Eben das, was geradlinig zur Normalisierung und Befriedung geführt hätte, vermied er mit einer aalglatten Geschmeidigkeit. Einen recht brauchbaren Plan seines neuen Ministers von Glaise zur Heranziehung der Nationalsozialisten unter Auswertung der nun einmal bestehenden Verfassungsformen wies er mit dem Hinweis zurück, daß er als Kanzler seine eigenen Wege gehen müsse. Den allenthalben umlaufenden Meldungen über eine weitere Regierungsumbildung und über Ministerbesuche im Reiche begegnete er mit dem höhnischen Hinweis, daß ihm darüber nichts bekannt sei, und er sich Art und Zeitpunkt einer Änderung im Kabinett als ganz persönlichen Entschluß vorbehalte. Schuschnigg legte sich seit dem 11. Juli in der Tat eine eigenartig machiavellistische Regierungskunst zurecht, indem er zwar Glaise und Schmidt gegenüber den vaterländischen Radikalinskis unbedingt zu halten entschlossen war, zwischen sie und ihre Kollegen jedoch gleichsam eine Isolierschicht einlegte. Guido Schmidt blieb Staatssekretär und konnte im November auch einen recht gut verlaufenen Besuch in der Reichshaupt- [129] stadt machen. Aber die Bürokratie am Ballhausplatz wie die Außenposten der Diplomatie führten unter ihrem bisherigen Mentor, dem Gesandten Hornbostel, ihre separatistische Politik weiter; der einzige mit Schmidt harmonierende Mitarbeiter war ein aus dem Unterrichtsministerium geholter jüngerer Beamter (Dr. Wilhelm Wolf). Glaise-Horstenau wurde zwar anläßlich der erstbesten Kabinettsumbildung mit Aufgaben des Innenministeriums betraut und ihm endlich ein entsprechender Kanzleistab beigegeben, was zuerst unterblieben war; aber die Polizeigewalt blieb seinem Wirkungskreis entzogen und statt einer konstruktiven Tätigkeit sich zu widmen, mußte er seinen allgemein gerühmten guten Willen auf den Versuch zur Abstellung unzähliger Beschwerden aufwenden.

Als Schuschnigg sich zu einem neuen Entschluß aufraffte, im Oktober noch ein letztesmal gegen die Restbestände der Heimwehr durchgriff, ihre Auflösung verkündete und die Jämmerlinge der Starhemberg-Führerschaft, die eben ihrem bisherigen Condottiere noch einmal Treue geschworen, auf sich als dem Postengeber verpflichtete, schien die Art seiner Regierungsumbildung eher der Erschwerung einer Befriedung im Sinne des von Glaise verbürgten Juli-Abkommens zu dienen. Die Justiz z. B. übergab der Jude Winterstein dem vom C. V. gewünschten Herrn Pilz, dessen Ruf im Aussinnen neuartiger Verfolgungen der Nationalsozialisten während seiner Amtszeit als Bezirkshauptmann begründet war. Ein Paradestück dieser Politik mit doppeltem Boden war der Kampf um den Rücktritt des Bundespressechefs Eduard Ludwig, dessen weiteres Verbleiben selbst Schuschnigg als unvereinbar mit dem Geist des Juli-Abkommens anerkennen mußte. Statt nun für einen neuen Kurs Sorge zu tragen, ernannte er entgegen allen wohlgemeinten Ratschlägen den Oberst Adam aus dem Reichspost-Kreis, der als ehemaliger Berufsoffizier vielleicht in der Form, als Legitimist gewiß nicht in der Sache von Ludwigs Spuren abwich. Damit hatte es noch keineswegs sein Bewenden. Er zog den auf der einen Seite verabschiedeten Günstling mit Zeichen unveränderten Wohlwollens auf der anderen "zu besonderen Aufgaben" in seiner unmittelbaren Umgebung heran, erzwang kurz darauf seine "Wahl" zum Präsidenten der neugegründeten [130] Bundes-Pressekammer und vernahm wohlgefällig von den wochenlangen demonstrativen Kundgebungen der bisher durch Ludwigs Taktik großgezogenen jüdischen Journaille für ihren Gönner. - Nach ähnlichen Grundsätzen verfuhr der Kanzler, was leicht reihenweise mit Beispielen zu belegen wäre, auch bei sonst auftretenden Personalfragen in Staat und V. F. Statt, wie es der Glaise-Plan vorgesehen, durch Aufnahme von Verbindungsmännern die Legalisierung der Nationalsozialisten vorzubereiten, führte er solche Verhandlungen immer wieder auf den toten Punkt, nicht ohne dabei die Unterhändler nach Möglichkeit noch im nationalen Lager zu diskreditieren. Ein weiteres, von ihm oft angewandtes Mittel war, wie schon oben angedeutet, für eine Neubesetzung auch im Zeichen des Juli-Abkommens unmögliche Scharfmacher in Vorschlag zu bringen, um sie dann zum Zeichen seiner Loyalität gegen nicht wesentlich bessere Elemente wieder preiszugeben. Ebenso stimmte er seine zahlreichen "programmatischen" Reden nach wie vor auf Kampf gegen den "Staatsfeind Nazismus" ab, um dann inmitten seiner Polemik und schon deshalb, wie beabsichtigt, wirkungslos die Erklärung abzugeben, daß der nationalen Opposition die Tore der V. F. weit geöffnet seien.

Der Höhepunkt der zwischen Hoffnung und Verzicht stehenden, verworrenen Nach-Juli-Periode, war der größte Appell, zu dem es die V. F. unter Einsatz härtester Druckmittel überhaupt brachte und der bezeichnenderweise in dieser Form nicht mehr wiederholt wurde. Am 18. Oktober fand dieser, wie der Wiener Witz sagte, "Schmelz-Auftrieb" auf dem großen altösterreichischen Exerzierplatz statt, wobei aber die Anwesenden nur einen lyrischen Erguß des Kanzlers zu hören bekamen. Die seit Tagen in Wien umgehenden Gerüchte, so außerordentliche Vorbereitungen müßten einer Erklärung von ungewöhnlicher Bedeutung dienen, wurden allerdings gründlich widerlegt. Weder die Versöhnung der nationalen Opposition noch die Heimholung Ottos konnten die aufgebotenen Massen, sofern sie sich nicht überhaupt rechtzeitig vom Festplatz gedrückt hatten, zur Kenntnis nehmen. Dagegen sprach der Kanzler von einem Dreiklang des Liedes der Arbeit, der Erde, der Jugend zur Symphonie "Heimat" Österreich - das ist nur wenig Manna für das hun- [131] gernde Volk gewesen und daran änderte auch nichts die Tatsache, daß der aus Nazifurcht und Geldmangel schon zur Auflösung bestimmte Freiwillige Arbeitsdienst an diesem Tag weit größeren Mustern folgend mit dem Spaten auf der Schulter aufmarschiert war. Die sogar für Schuschnigg auffällige Dürftigkeit der von der Organisation der V. F. abgegebenen Äußerungen erklärte sich mit daraus, daß er es aus guten Gründen vorgezogen hatte, die politische Marschlinie einem noch viel gefügigeren Publikum am Vorabend im Parlamentsgebäude bekanntzugeben. Während er hier nur in ganz allgemeinen Redensarten auf eine kommende, der nationalen Befriedung dienende organisatorische Erweiterung der V. F. hinwies, machte er das unter dem Eindruck des Juli-Abkommens festgefahrene Schiff des Legitimismus wieder flott und bat die Schwarz-Gelben lediglich um Rücksicht aus taktischen Gründen. Auch für die Zukunft behielten sie ihre, dem Totalitätsanspruch der V. F. eigentlich zuwiderlaufende Begünstigung einer völlig autonomen Spitzenorganisation im "Eisernen Ring". Gerade im Zeichen des Juli-Abkommens durfte die Wiesnersche Propaganda verkünden, die Thronbesteigung Ottos sei das zuverlässigste Mittel zur Verhinderung einer dauernden Normalisierung der deutsch-österreichischen Verhältnisse. Der Kaisergemeinderummel aber feierte um so mehr fröhliche Urständ, als der Kanzler zwar den Willen des österreichischen Volkes, nicht eine Aktion der Regierung für die endgültige Regelung der Staatsform entscheidend erklärt hatte, gleichzeitig jedoch den Legitimisten mitteilen ließ, er denke bei dieser Äußerung des Volkswillens durchaus nicht an die (von beiden Teilen so gefürchtete) Form einer freien Volksabstimmung.

Einen Augenblick lang durchzuckte ein greller Strahl wie ein Vorbote befreiender Gewitter die stickige Luft, in der sich jene Lemuren wohlfühlten. Eine Anzahl Männer, die mit Wissen des Kanzlers im Siebener-Ausschuß (Vorsitz: Dr. Jury) vereinigt waren und ein eigenes Büro in der Wiener Teinfaltstraße unterhielten, berieten sich über die unter den gegebenen Verhältnissen zweckmöglichste Form zur Heranziehung der Nationalen Opposition am öffentlichen Leben. Unter Zugrundlegung der Erfahrungen mit der seinerzeitigen Aktion Reinthaller ent- [132] stand der Plan zur Gründung eines Deutsch-Sozialen Volksbundes, dem Schuschnigg anscheinend abwartend gegenüberstand. Da gelang es im Februar 1937 für einen Aufruf hierzu im ersten Anlauf die Unterschrift von 500 Persönlichkeiten zu gewinnen; hervorragende Vertreter von Österreichs Kultur und Wirtschaft zeugten als Proponenten im Sinne des österreichischen Vereinsgesetzes durch ihre Namen für die unabdingbare Bedeutung und Dringlichkeit des trotz des 11. Juli gänzlich ungelösten Befriedungsproblems. Erstmalig gelang es durch die Schnelligkeit des Vorgehens, Schuschniggs Kreise empfindlich zu stören und ihn "legal" unter Druck zu setzen. Wohl oder übel ließ er sich herbei, am 12. Februar zusammen mit dem Siebener-Ausschuß den damaligen "illegalen Landesleiter" Hauptmann Leopold zu empfangen. Zwei Tage später sagte er öffentlich ein Volkspolitisches Referat in der V. F. zu, das den Nationalsozialisten endlich einen festumschriebenen Anteil an der Innenpolitik geben sollte. Dagegen hielt er an seiner Ablehnung der geplanten Vereinsgründung unbedingt fest, angeblich aus Sorge wegen der auf den anderen Flügeln der V. F. zu befürchtenden Gegenwirkungen; tatsächlich aber in Furcht vor der dann zu erwartenden Weiterentwicklung der Dinge - hatte doch das bloße Bekanntwerden der Idee eines Deutsch-Sozialen Volksbundes sofort die Stärke der unterirdisch strömenden nationalen Welle jedermann zum Bewußtsein gebracht und einen mit der Zwangsorganisation der V. F. nicht vergleichbaren Erfolg voraussehen lassen.

Doch dessen ungeachtet wurde die Bereitschaft der nationalen Führung zu einer neuen Bewährungsfrist für den guten Willen der Bundesregierung, welche die Ausführung des Juli-Programms zu verantworten hatte, noch durch den für Ende Februar angekündigten Staatsbesuch des Reichsaußenministers Baron Neurath gestärkt. Durch eine neue unmittelbare Fühlungnahme sollte das Verhältnis der beiden deutschen Staaten in Durchführung des grundsätzlich bereits Beschlossenen einer Besserung zugeführt werden, die sich endlich auch wohltätig nach innen äußern mußte. Die Wiesner-Legitimisten lasen sogar, obgleich die von den "Vereinsgründern" drohenden Ge- [133] fahren offenbar abgewendet waren, aus der angekündigten Wiederaufnahme der Juli-Politik die ärgsten Befürchtungen heraus. Fast kam es zum Bruche des offiziellen mit dem Krypto-Legitimismus und seinem wahren Führer Schuschnigg, als er mit einer bei ihm gegen diese Seite völlig ungewohnten Härte den Plan Ottos durchkreuzte, als Privatmann die Schweizer Grenze zu überschreiten und eine vorläufige Hofhaltung in einem Alpenorte aufzuschlagen. Die außenpolitischen Motive zu diesem Schritt gegen das "Experiment" waren freilich zwingend. Denn andernfalls wäre Österreich unfehlbar in den Wirbelwind der doppelten Habsburgergegnerschaft der Achsenmächte und der Kleinen Entente geraten, über die ja mindestens Jugoslawien keinen Zweifel ließ.

Soweit war die Lage Februar 1937 gereift. Der Neurath-Besuch hätte denn auch in einer gewissen Atmosphäre der Korrektheit verlaufen und eine wirkliche Entspannung vorbereiten können. Da prellten, der stillen Zustimmung des Kanzlers gewiß, die vaterländischen Scharfmacher zum Gegenangriff vor. Zuerst überschüttete man die Proponenten des Deutsch-Sozialen Volksbundes ungeachtet ihrer loyalen Zurückhaltung mit gemeinsten Anschuldigungen, die sich allerdings selbst richteten; so die groteske Unterstellung, es hätten sich in ganz Österreich nur 500 wohlsituierte Friedensstörer gefunden, hinter denen überhaupt keine arbeitenden Menschen stünden. Ein Linzer Blatt, das ihre Namen brachte, wurde dem Ruin zugeführt und dem Minister, der sich für sie verwendete, mit dem sofortigen Sturz gedroht. Die Verhinderung der Häuserbeflaggung für den ersten reichsdeutschen Staatsbesuch seit 1931 und die üble Instruierung der Tagespresse, die Beamten- und Parteiminister des Dritten Reiches gegeneinander auszuspielen suchte, verhießen weitere boshafte Verwicklungen. Unbekümmert darum wurde der Willkomm Neuraths am 22. Februar ein Tag lang vermißter öffentlicher Freudenbezeigungen der Wiener. Trotz der für einen Volksauflauf ungünstig gewählten Zeit fanden sich über 100 000 Menschen zur Spalierbildung längs der breiten Mariahilferstraße ein; seit Jahren hatte Wien einen solch elementaren Jubel nicht mehr erlebt. Kaum war aber der Wagen Neuraths vorbeigekommen, als sich die Polizei und für [134] diesen Tag gedungene Gewalttäter auf diejenigen stürzten, deren Vergehen in nichts anderem als einem Gruß für den Gast der Bundesregierung bestand. Es kam zu unerquicklichen Szenen, die ihre Fortsetzung in der Absperrung des von Neurath bezogenen, mit den gefährlichen Hakenkreuzfahnen geschmückten Hotels gegen das Publikum, im Erscheinen skandalöser Aufsätze und Nachrichten über die Vorgänge auf der Mariahilferstraße in der Wiener Tagespresse und schließlich in der von der Regierung vorbereiteten Art der Abreise Neuraths fanden; unter Einsatz selbst berittener Polizei wurden die Straßen zum Westbahnhof vom Publikum freigehalten und durch eigens von der Provinz herangeholte, bezahlte V. F.-Männer besetzt, die in aufdringlicher Weise Hoch Österreich! Schuschnigg! u. ä. während der Vorbeifahrt des Ministers zu rufen hatten. Solche Vorgänge wertete auch das Ausland viel lebhafter als den öligen Trinkspruch des Systemkanzlers beim Empfang im Belvedere auf die hoffentlich immer zunehmende Harmonie zwischen den beiden deutschen Staaten. Vergebens verhallten Erklärungen Papens und Glaise-Horstenaus über die Nutzung der dem Frieden dienenden Mission des von Adolf Hitler entsandten Außenministers für das Gesamtdeutschtum. Als Nachspiel gab es sogar noch Beförderungen der hauptsächlich für die Vorkommnisse des 22. Februar verantwortlichen Personen, darunter die Ernennung des Wiener Polizeipräsidenten Skubl statt des angeblich zu laxen Sicherheitsministers Neustädter, dem auch noch die Zulassung der Volksbund-Aktion zur Last fiel. Der Bundeskanzler selbst aber erklärte in einer Ansprache vor der V. F. in Eisenstadt, über die man aus Prager Zeitungen noch Genaueres als aus Wiener erfuhr, daß Übergriffe von Gerichten und Behörden gegen die Braunen straffrei bleiben würden.

Die unnatürliche Ausdehnung der "Exekutive", die dem Staat wider Willen seit den ersten Bürgerblockregierungen als Erbteil anhaftete, steigerte sich seit 1933 derart, daß sie sogar in den Kulturraum dieses deutschen Landes einbrach und wo sie nicht bezwingen konnte, wenigstens Verwirrung anstiftete. So gab es unablässig Reibungsflächen mit den evangelischen Bekenntnissen, da sie neben dem immer mehr als Staatsreligion hervortretenden Katholizismus auf die Stufe der bloßen Dul- [135] dung zurücksanken. Durch ihre Spannung mit dem Regime ergab sich wieder ein gewisser Gleichklang mit dem um ihres politischen Bekenntnisses verfolgten Volksgenossen - die Stellungnahme etwa des Superintendenten Heinzelmann von Villach interessierte ganz Österreich; die da und dort recht stark einsetzenden Kirchenübertritte aber wurden dafür von den Behörden fast wie eine "illegale" Mitgliedschaft bewertet und durch Verwaltungsschikanen aufgehalten. Das hinderte aber, schon um der Gönnerschaft Englands willen, auf der anderen Seite nicht die gelegentliche Schaustellung der in Österreich, gemessen an der weltanschaulichen Vereinheitlichung im Dritten Reiche, herrschenden Bekenntnisfreiheit! Dieselbe Kunst wandte man an die Verhältnisse der Hochschule an. Dieselbe Diktatur, die sofort der Deutschen Studentenschaft die rechtliche Anerkennung entzog, ihre selbstgeschaffenen Einrichtungen einer vom Ministerium abhängigen Sachwalterschaft überantwortete, durch einen eigenen Hochschulkommissär viele hundert drakonische Disziplinarstrafen austeilte, in jede Hohe Schule Polizeiwachstuben setzte, und schließlich auch noch den Besuch "vaterländischer" Pflichtvorlesungen erzwang, sie verband sich mit dem C. V. (katholischen Verbindung) auf Gedeih und Verderb und - beließ trotz aller Verfolgung im Einzelnen das im Reiche einer neuen Idee aufgeopferte Waffenstudententum mit seinem Brauchtum. Ja, um überhaupt den mit Polizeigewalt aufgenötigten "vaterländischen" Firnis zu erhalten, waren die Sachwalter von Fall zu Fall doch immer wieder zu Kompromissen mit der unerschütterlichen, großen Mehrheit der "Nazi-Studenten" genötigt, die mit ihren studentischen Zusammenschlüssen vielfach noch "illegale" Gliederungen "tarnten". Dieses Verfahren setzte sich in die Fakultäten fort, wo man ebenso die Gegenlinie verbiegen und spalten wollte, aber im großen und ganzen nicht mehr als ein elastisches Ausbiegen der geschwächten Front erreichte, die nach wie vor bestand. Fast alle Hochschulen der Ostmark haben so wie in der studentischen Auslese auch zur politischen und geistigen Führerschaft der Bewegung ihr Teil beigetragen, und der Freiheitskampf von Graz oder Innsbruck ist nicht ohne den Einsatz seiner Hochschulen zu beschreiben. Hier sei beispielhaft nur auf die in [136] besondere Nähe zu dem von dem C. V. Freunde Schuschniggs, Pernter, verwalteten Unterrichtsministerium stehende Universität Wien hingewiesen. Schon im Sommer 1933 beschwor eine im "Verwaltungsarchiv" erschienene Aufsatzreihe namhaftester Juristen über den Verfassungsbruch eine Verfolgungswelle herauf; ein weiterer Streitpunkt bildete der Beitrittszwang zur V. F. Allein drei frühere Rektoren, der Strafrechtslehrer Graf Gleispach (der Urheber des deutschen Studentenrechtes), der Historiker und Kriegsschuldforscher Hans Übersberger und der Naturforscher Othenio Abel mußten ihre Wirksamkeit ins Reich verlegen. Von zwei in der Seipel-Zeit im Regierungslager als deutsche Männer hervortretenden Professoren der Rechtsfakultät wurde K. G. Hugelmann grundlos verhaftet, in den Hungerstreik getrieben, und auch E. Schönbauer schweren gesundheitlichen Schädigungen ausgesetzt. - Im Zuge des Juli-Abkommens wurden die organisatorischen und personalpolitischen Verhältnisse kaum geändert - nach wie vor besetzte der Minister Lücken in den Fakultäten weniger mit Emigranten, die wie von Hildebrand dem gesellschaftlichen Boykott verfielen, als mit Persönlichkeiten, die etwa wegen jüdischer Versippung den Fortbestand des Regimes wünschen mußten, ohne ihm deshalb innerlich anzugehören. Aber das geistige Leben erhielt einen frischeren Luftzug durch wechselseitige Besuchsvorträge und Kongresse reichsdeutscher und österreichischer Gelehrter. Auch gelang es im Zeichen der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung der schwer bedrängten Mittelschullehrerschaft die geistige Förderung zu bieten, die sie erwartete: So ging in tausend Stück das von 16 Mitarbeitern verfaßte Österreichwerk, hg. Srbik-Nadler, in Lehrer- und Schülerbüchereien, ein Erfolg, der bei seiner 1935 unter der lebhaften Anteilnahme von Glaise-Horstenau erfolgten Planung noch nicht gesichert war. Mitarbeiter dieses wegweisenden Buches finden sich auch in der von Seyß-Inquart begründeten Monatsschrift Die Warte, die nun ein Sprechsaal der "betont Nationalen" wurde, oder in der ebenfalls Seyß nahestehenden, der völkischen Schulung weiter Kreise dienenden, jugendfrischen Wochenschrift Der Turner. Diese Zugeständnisse wenigstens konnten im Zeichen des "11. Juli" das System nicht versagen und, so beschei- [137] den sie gemessen an den berechtigten Erwartungen waren, genügten sie (wie die jüdische und legitimistische Kritik bewies), das Selbstvertrauen seiner Anhänger zu erschüttern.

So wenig als nur irgendmöglich für Befriedung und Normalisierung im Sinne der vorjährigen Juli-Verpflichtung; soviel als möglich dagegen für Legitimismus und Donauraumpolitik, die den Widerspruch dazu bedeuteten - zwischen Anziehung und Abstoßung lenkte Schuschnigg noch das ganze Jahr 1937 das unglückselige, seiner tüchtigsten Mannschaft beraubte Staatsschiff durch die Untiefen der europäischen Politik. Vergeblich warnte der Duce bei einer April-Begegnung in Venedig, die wesentlich frostiger als die vorhergehenden verlief, vor einer Überspannung des Bogens. Er ließ seine Empfehlung einer Heranziehung der Nationalsozialisten an derselben Stelle durch Gajda veröffentlichen, wo kurz vorher eine scharf betonte Warnung vor legitimistischen Experimenten gestanden hatte. Schuschnigg aber, der bei Einleitung der Reise öffentlich nur der Freundschaft mit Italien und Ungarn gedacht, mußte nun im Venediger Communiqué mindestens grundsätzlich die Vorrangstellung Deutschlands an allen mitteleuropäischen Lösungen zugestehen. Nichtsdestoweniger richtete er seine außenpolitische und publizistische Arbeit auch weiterhin auf die sogenannte Organisierung des Donauraumes. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Pläne, wie sie seit seinem Prager Vortrag in Erinnerung blieben und eine große Verwandtschaft mit den Absichten des tschecho-slowakischen Ministerpräsidenten Hodza und des dahinter stehenden Quai d'Orsay aufwiesen. Die österreichische Regierung unterstützte also trotz des 11. Juli eine Konzeption, die dem mit Paris und nun auch mit Moskau verbündeten Benesch-Staat eine führende Rolle zuschob und den natürlichen Widerstand des wirklich erstrangigen Donaustaates heraufbeschwor. Noch während des Berliner Besuches von Benito Mussolini im September führte Schuschnigg unter einem Vorwande eine neuerliche Begegnung mit dem tschechischen Regierungschef in Baden bei Wien herbei. Ohne Rücksicht auf die Achse wurde eine Art wechselseitiger Lebensversicherung des tschechischen und österreichischen Systems neuerlich vor aller Welt bekräftigt; das Interesse Wiens an [138] dem sudetendeutschen Aktivismus und Separatismus war durch Pressestimmen und Empfänge aktivistischer Politiker ebenfalls offenkundig und es lag sicher nicht an der mangelnden Rückenstützung durch die Ballhauspolitik, wenn die von Benesch und Hodza gegen Henlein gerichteten Februarversprechungen nicht zum erwünschten Ziele führten. Das Reich selbst freilich konnte nach solchen Erfahrungen nur mehr in abwartender Stellung zusehen, wie sich dieses System voll gewagter Halbheiten und Widersprüche angesichts der stets steigenden Weltgeltung Deutschlands allmählich totlaufen würde.


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz