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Ein Befriedungsversuch und sein Ende
(Juni 1937 bis Februar 1938)

Fast ein Jahr nach dem Juli-Vertrag wurde ein Ansatz zur Erfüllung des Befriedungsversprechens gewonnen durch die Einrichtung des Volkspolitischen Referates, das schon Schuschniggs Februar-Erklärung statt der nicht gebilligten Vereinsgründung vorgesehen hatte. Aber selbstverständlich ging es auch dabei nicht ohne Quertreibereien ab. Viel rascher als dieses politisch wesentliche Volkspolitische Referat war das von den Legitimisten als Gegengewicht geforderte Traditionsreferat eingerichtet, als ob dafür irgendein dringliches Bedürfnis bestanden hätte. Es wurde auch nicht, wie zuerst vorbereitet, der an der Spitze des Österreichisch-Deutschen Volksbundes und im Turnerbund und Alpenverein angesehene Wiener Rechtsanwalt Dr. Arthur Seyß-Inquart, eine Persönlichkeit mit starken Verbindungen zur "Illegale" und besonders zur , zugleich zum Staatsrat und zum Referenten bei der V. F. (die ja noch immer als alleinige Quelle der politischen Willensbildung ausgegeben wurde) bestellt. Vielmehr erhielt am 20. Juli Seyß nur die Berufung in den Staatsrat mit Sonderaufgaben "zur Heranziehung bisher abseits stehender Kreise", wie es in einem merkwürdigen Amtsdeutsch hieß. Das Referat selbst vertraute man indessen einem Dr. Walter Pembaur aus [139] Innsbruck an, der nur einem engen Kreis durch eine Schrift über Nationalismus und Ethik bekannt war und als zurückhaltende Natur sich dem Machtdrang eines Zernatto gegenüber unmöglich durchsetzen konnte. Als Pembaur z. B. seine These von dem notwendigen Primat der Kultur von der Politik zur Herbeiführung einer nationalen Renaissance in Österreich in einem Vortrag an der Universität Wien entwickeln wollte, da wurde ihm sogar dies, wie um sein Ansehen völlig zu untergraben, wegen eines formalen Fehlers bei der Anmeldung der Veranstaltung unmöglich gemacht. Noch mehr als bei Glaise-Horstenau, der immerhin im Kabinett seine Stimme nachdrücklicher gebrauchte, erschöpfte sich Pembaurs Tätigkeit in der Behandlung von Einzelfällen. Eine Fühlungnahme mit den breiten Massen der nationalen Opposition konnte er trotz vielen guten Willens bei persönlichen Verhandlungen zwischen legalen und "illegalen" Stellen niemals einleiten.

Im Gegenteil, um eine neue Friedensstimmung nur ja nicht aufkommen zu lassen, stellte Zernatto eben im Sommer 1937 ein Sturmkorps der V. F. auf, das den Terror der eingegangenen Wehrverbände, aus denen seine Mitglieder entnommen wurden, sofort erneuerte und seit seinen ersten Überfällen in Kärntner Städten allenthalben die Überzeugung im Volke bestärkte, daß jedes Paktieren mit diesem System aussichtslos sei. In dieser Richtung wirkte auch die offen zugegebene Bespitzelung von Teilnehmern des Deutschen Sängerfestes in Breslau oder die Strafmaßnahmen gegen die Stadt Wels, die ein österreichisch-deutsches Frontkämpfertreffen in nationalsozialistischer Gesinnung begrüßt hatte. Nach neuen Verschleppungen wurde im folgenden Oktober zwar dennoch die Ernennung von Volkspolitischen Referenten in den einzelnen Bundesländern durchgedrückt und etwa für Neujahr konnten Optimisten endlich mit einem Wirksamwerden dieses ganzen, eigentümlich legal-illegalen Apparats rechnen. Gewiß ist darüber der unmittelbar angegebene Zweck - eine Heranziehung der nationalen Opposition zur Mitarbeit in Staat und V. F. - wenn er überhaupt möglich war, unerfüllbar geworden und der Eintritt der oft angekündigten Mitgliedersperre am 31. Oktober blieb ein belangloses Ereignis. Aber mindestens einige dieser Referenten [140] wie Prof. Dadieu in Steiermark, Ing. Breitenthaller in Oberösterreich und Dr. Reiter in Salzburg sind trotz aller Gegenminen ihrer Auftraggeber sowie Seyß selbst Wegbereiter einer kommenden Machtergreifung des Nationalsozialismus gewesen. Die Einfügung in die trügerischen Formen des Systems erforderte ein hohes Maß von Entsagung, Geschicklichkeit und Vertrauen; die Handhabung des zweischneidigen Schwertes der Scheinlegalität durch diese Männer aber stellte die Geschlossenheit des Systems zum erstenmal von Innen her in Frage.

Sogar die Zulassung des Führerbuches wurde ein Ereignis, das die hippokratischen Züge des sich erschöpfenden Systems nicht verleugnen konnte. Sein Verbreitungsverbot war selbstverständlich eine der ersten Maßnahmen von Dollfuß zur Rettung der "Unabhängigkeit" Österreichs, wie er sie verstand, gewesen. Nun erhob sich mit der Einleitung der Normalisierung zwangsläufig auch die Forderung nach der Beseitigung eines Verbotes, das als geradezu sinnbildlich für das Auseinanderleben der beiden deutschen Staaten angesehen werden mußte. Endlich, im Juli 1937, gelang es dem damals neuernannten Staatsrat Seyß-Inquart die Einwilligung Schuschniggs für die Wiederzulassung zu erreichen und zwar der Originalfassung, nicht etwa einer "österreichischen Ausgabe". Aber ein Stacheldraht von Einschränkungen in der buchhändlerischen Werbung - so durfte u. a. nur je ein Stück des Buches in eine Auslage kommen - sollte die gefürchtete Wirkung wenigstens in der Öffentlichkeit abschwächen; und dies, obwohl Schuschniggs Weltblatt treuherzig versicherte, gerade die Lesung von Mein Kampf würde jedermann die Augen über den Abstand zwischen österreichisch-vaterländischer und nationalsozialistischer Auffassung öffnen. Verschiedene tätliche Anschläge des V. F.-Sturmkorps gegen Buchauslagen und Boykottversuche gegen Buchhändler führten nicht zum Ziele, da die Betroffenen sich gegen die Getreuesten des Kanzlers auf ihn selbst beriefen und eine Intervention Berlins in diesem Falle ihn um jeden Kredit bringen konnte. Da holte Schuschnigg zu einem wirklich erstaunlichen Gegenzuge aus und verfaßte unter Beihilfe seiner Berater Ludwig und Adam binnen [141] weniger Monate selbst ein Kanzlerbuch, das wohl die Antwort auf die ihm innerlich verhaßte Zulassung von Mein Kampf vorstellen sollte und angefangen von den Äußerlichkeiten als gewolltes Gegenstück zum Führerbuch auf dem Weihnachtsmarkt erschien. Freilich was für ein Gegenstück! Zur Befremdung sogar der eingesessenen Vaterländischen in einem eben in Wien aufgemachten, jüdischen Emigrantenverlag (Thomasverlag Hegner) erschienen, in Antiqua gedruckt und mit einem salonfähigen, kühl wirkenden Umschlag versehen, so trat das Werk Dreimal Österreich! in die pseudodeutsche Bücherwelt jener Jahre ein. Der Anlage nach war es eine Art politischer Biographie des so hoch gestiegenen, erst vierzigjährigen Autors, ohne weltanschauliche Beschwernis zu lesen, dagegen durch allerlei Anekdoten und Enthüllungen von Treppengeheimnissen der Gegenwartspolitik noch zugkräftiger aufgemacht. Der absichtlich literarisch gewählte Stil verdeckte geschickt an der Oberfläche die wahre Verteilung von Haß und Liebe, als ob schon durch solche Kunstmittel ihm auch das abwartende Berlin und das umworbene Prag als Verbreitungsgebiet offen bleiben müßten.

Für den Kenner des Systems war freilich eben dieses Buch die dokumentarische Offenbarung des Systems in seiner Sünden Maienblüte. So wenn Schuschnigg die Gefügigkeit Starhembergs damit quittierte, daß er diesen gewissenlosen Lebemann und vielfachen Bankrotteur als Patrioten von antikem Profil zeichnet; oder wenn er die Erziehung bei den Feldkircher Jesuitenpatres also sogar nach seiner Auffassung zu betont national kennzeichnet; oder wenn er in größter Gelassenheit den bizarren Titel damit erklärt, daß seine Biographie sich so wie die Entwicklung seines Vaterlandes in das Österreich Kaiser Franz Josephs, das Österreich Ignaz Seipels und das Österreich Engelbert Dollfuß' untergliedere, wodurch alle seiner "Tradition" unbequemen Volksbewegungen als nicht geschichtswürdig erschienen; oder wenn er in der Darstellung der Juli-Ereignisse behauptet, er würde sich sehr kurz fassen, da sie sonst nur frisch vernarbte Wunden wieder aufreißen müßte, und er nach dieser Einleitung Seiten hindurch ein mit mehreren Wachleuten aufgenommenes Gedächtnisprotokoll über den Tod von Dollfuß [142] wörtlich abdruckt. Und was soll man erst über die Beiträge sagen, die Schuschnigg zu seiner eigenen Politik liefert? Er, der Justizminister des Kabinetts Dollfuß, schildert die Einleitung der Diktatur so, als ob es überhaupt keine Verfassung von 1920/29 gegeben hätte, auf die sein Chef und er selbst ihr Gelöbnis leisteten und sich damit ihren Normen unterwarfen. Dadurch erspart er sich freilich mit dem von ihm und seinesgleichen aufgerollten Staatsstreichproblem sich auseinanderzusetzen und die von ihm mitverantwortete, mehr als einjährige Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erfährt (wohl schon in Rücksicht auf die demokratischen Freunde in Westeuropa) mit keinem Worte eine Erwähnung. Einen doppelten Bluff stellt seine Zitierung des Juliabkommens dar: In anderem Zusammenhang erwähnten wir schon, wie er bei der wörtlichen Anführung des Vertrages gerade die entscheidende, auf die Führerrede vom Mai 1935 verweisende Präambel ausläßt; unmittelbar darauf überrascht er den Leser mit der Veröffentlichung des wichtigsten Befriedungsartikels aus dem vertraulichen Berchtesgadener Protokoll des 11. Juli, dessen Vorhandensein bisher überhaupt bestritten wurde, um dann sofort zu neuer Verwirrung hinzuzufügen, mehr sei nicht beschlossen worden, alle Behauptungen der NSDAP. über einen nicht erfüllten "Geheimvertrag" seien also falsch gewesen! Die Krönung dieses Bekenntnisses unter dem Titel Dreimal Österreich aber bildet die Anordnung eines dreifachen Buchabschlusses, was jedem Leser Gelegenheit gibt, eine der drei Masken - oder auch gar keine für das richtige Gesicht des vieldeutigen Kanzlers zu halten. In diese Epiloge sind auch Erläuterungen über den Abbau der Arbeitslosigkeit und die Erfolge der nach dem 11. Juli eingeleiteten Befriedungsaktion mit vergleichenden statistischen Angaben über die Zahl der Erwerbslosen bzw. der politischen Häftlinge einbezogen, wobei auch hier sich ein unentwirrbarer Knäuel von Widersprüchen zwischen Behauptungen und Tatsachen ergibt, den die überheblichste Ironie schwerlich wettmachen kann.

Angefangen von der Veröffentlichung dieses sogenannten Kanzler-Buches mehrten sich um die Jahreswende 1937/38 die Anzeichen dafür, daß der "Frontführer" wohl infolge nervöser [143] Überspannung (die er zwar einem ausländischen Zeitungsmann gegenüber ausdrücklich in Abrede stellen wollte) und durch seine Scheinerfolge in der Sabotage von Befriedung und Normalisierung geblendet das gerade für seine politische Seiltänzerei wichtige Augenmaß verliere. Das merkwürdigste, der Öffentlichkeit bekanntgewordene Dokument dafür ist ein in den ersten Januartagen in der achsenfeindlichen Londoner Zeitung Daily Telegraph erschienenes, ausführliches Interview. In einer merkwürdigen Mischung von Zynismus und Aufrichtigkeit bricht bei dieser Gelegenheit der noch in Dreimal Österreich literarisch und diplomatisch verklausulierte, aber weder durch den Juni 1934 noch 1936 gebrochene Haß gegen die deutsche Freiheitsbewegung in all ihren Erscheinungsformen durch. Gleich voran der lapidar erscheinende, an den wirklichen Verhältnissen gemessen allerdings empörende Satz, Österreich trenne ein Abgrund vom Nationalsozialismus! Denn Österreich, wird dann ausgeführt, sei nicht für willkürliche Gewalt, sei gegen eine (nationalstaatliche) Zentralisation; es kenne nur einen Gott und das sei nicht der Staat oder die Nation oder der dehnbare Begriff Rasse. Die Kinder Österreichs seien Kinder Gottes, die nicht vom Staate mißbraucht werden, Österreich verabscheue als humanitärer Staat den Terror, usw. Nach dieser für den Kontrahenten des Julipaktes unglaublichen, vor allem für den Beifall eines gewissen ausländischen Publikums bestimmten Attacke kamen merkwürdige Erörterungen über die letzten Ziele Schuschniggs. Er gab offen zu, sich nur in dem Vorgehen, nicht in den Hoffnungen von den offiziellen Legitimisten zu unterscheiden und die angeblich rasch zunehmende Annäherung der sogenannten Donaustaaten als beste Plattform für diese Zukunft zu betrachten; keine Überstürzung, sondern langsames Schaffen der Bedingungen für die Restauration! Mussolini wurde nur gelobt, weil er sich nicht in die auswärtigen und inneren Angelegenheiten Österreichs einmische, das keineswegs im Schlepptau Italiens laufe. Deutschland bekam zu hören, daß Österreich sich zwar seiner Bindung zu ihm bewußt sei, aber den Anschluß, der es zu einer Provinz, einem zweiten Bayern, herabsinken ließe, durchaus ablehne. Prophetisch, wenn auch in ganz anderem Sinne als dieser Europäer es [144] meinte, wurde seine Erklärung, daß er zum Unterschiede von früher für die Erhaltung des europäischen Status quo sei, denn jede Änderung könne leicht vom Schlechtern sein. So bewegte sich die sogenannte Unabhängigkeitspolitik des Ballhausplatzes in einem unentrinnbaren, kreislaufartigen Geduldspiel von höchst problematischen, großösterreichischen Ansprüchen im Hintergrunde und einer bejahten, mit allem Jammer einer lebensunfähigen Kleinstaatlichkeit behafteten kleinösterreichischen Wirklichkeit im Vordergrunde.

Als der Bundespressechef Oberst Adam noch einmal zu einer Neujahrsansprache ans Mikrophon trat, da wußte er - an die Adresse von Freund und Feind gerichtet - kein wirksameres Argument vorzubringen, als die Tatsache, daß alle Vorhersagen über einen Zusammenbruch oder auch nur eine Änderung des Systems sich Jahr für Jahr als unrichtig erwiesen hätten und deshalb auch künftig alle Hoffnungen oder Befürchtungen auf eine Änderung der Verhältnisse begraben werden könnten. Dieses vom zugrundegegangenen Völkerstaat übernommene "Fortwursteln", das Taaffe-Wort, das einer der System-Gelehrten gelegentlich sogar vor Wiener Jugendbildnern als Staatsräson zu verteidigen wagte, brachte wohl schwerste Nervenproben für die unterirdische Arbeit der "Illegale", für die auf öffentlichen Posten in Staat, Kultur und Wirtschaft Ausharrenden und für die einer gesunden Lebensmöglichkeit überhaupt beraubte Bevölkerung mit sich. Aber Schuschniggs Grundsatz "österreichische Provisorien dauern ewig" war eben denn doch nicht mehr als pathetisch vorgebrachter Unsinn! Seine Kräfte und seine Künste mußten sich, sofern nicht ein unvorhergesehener Zufall ihm noch einmal zu Hilfe käme, im fortwährenden Leerlauf allgemach erschöpfen. Die österreichische Ideologie vertrug freilich geduldig ihre Abwandlungen. Außer den Donauraumplänen kehrte man gelegentlich auch wieder die These einer Seelenverwandtschaft mit der Schweiz hervor. Der Herbst-Appell der V. F., ihr "Tag von Nürnberg", wurde nach Innsbruck verlegt, wie um eine Sonderstellung zwischen den Achsen-Mächten zu markieren, die auch die Aufspaltung Europas in neue Fronten widerlege.

Tatsächlich wurden in Österreich sogar immer wieder "Freiwillige" für Rotspanien geworben und es dauerte lange, [145] bis gewisse Wiener Systemzeitungen die spanischen Bürgerkriegsparteien nicht mehr als "Regierungstruppen" und "Rebellen" unterschieden; erst unter starkem Druck Italiens entschloß sich anfangs 1938 der Kanzler die Beziehungen zu Valencia-Barcelona endlich vollständig zu lösen. Aber selbst Italien erreichte nichts gegen den stumm beharrlichen Widerstand des Ballhausplatzes in der immer dringenderen Frage einer Neuorientierung zu Jugoslawien, wie dies der Politik der Achse entsprochen hätte. Trotz eines entsprechenden Absatzes in dem Venediger Schluß-Kommuniqué unterblieb jede Annäherung an Stojadinovic, als ob sich seit 1934 die Welt zwischen Adria und Donau in ihrer politischen Ausrichtung gleich geblieben wäre. So sehr man in Belgrad auch weiterhin das Bollwerk gegen Restaurationspläne fürchtete, so leicht wickelte sich durch Umgehung dieses heiklen Punktes der Verkehr mit dem Prag der Benesch, Hodza und Krofta ab, wo die Angst vor Hitler und Henlein alles andere überschattete. Schuschnigg verrannte sich geradezu in die Idee einer Dreieckkonstruktion Budapest-Wien-Prag, womit die angeblich völkerverbindenden Mission des österreichischen Separatismus unter Beweis gestellt sein würde. Ganz Europa konnte auf der Budapester Zusammenkunft der Romprotokollstaaten Januar 1938 bemerken, wie der Kanzler des "zweiten deutschen Staates" ungeachtet seines Versprechens vom vorletzten Juli sogar beim Trinkspruch zum Unterschied von Graf Ciano eine Nennung Deutschlands unterließ. Da Italien bei der Neuordnung seiner Wirtschaftsbeziehungen nach dem Sanktionenkrieg Österreich nicht mehr die abnormen, einseitig zu seinen Ungunsten sich auswirkenden Vorzugszölle von 1934 gewähren konnte, wäre Wien um so mehr auf eine Anlehnung an den reichsdeutschen Vierjahresplan und die großen, daraus sich ergebenden Möglichkeiten angewiesen worden. Die von Göring unterstützten Pläne und Vereinbarungen einer Ausweitung des Handelsvolumens hätten zur Überwindung der Zahlungsschwierigkeiten, u. a. die Steigerung des deutschen Fremdenverkehrs nach Österreich verlangt, die aber der Bundesregierung im Grunde ebenso unerwünscht war wie jede umfassende Bindung an das weit überlegene Wirtschaftssystem [146] des Reiches. So konnte freilich die Überwindung der tatsächlich bestehenden Schwierigkeiten nicht von der Stelle rücken. So näherte man sich auch von dieser Seite, wenn auch mit noch so zweifelhaftem Erfolg, der Linie Prag-Paris. Dazu gehörte schließlich nicht zuletzt die Anhänglichkeit an die Genfer Liga selbst dann, als ihr Italien endgültig den Rücken kehrte und Deutschland sich für immer davon lossagte. Es sollte schon als Beweis guten Willens gelten, wenn der österreichische Vertreter mit anderen Repräsentanten von Kleinstaaten und im Sinne Englands die Trennung der Völkerbundssatzungen von den Friedensdiktaten verlangte. Die Bevormundung durch das Genfer Finanzkomitee, die die Zionswächter der Unabhängigkeit so willig hingenommen hatten, war allerdings durch eine Reihe Zufälle sehr verringert worden. Der von den Auslandsgläubigern eingesetzte Direktor van Hengel, der mit der Leitung der einzigen übrig gebliebenen und aus Steuergeldern wiederhergestellten Großbank den Griff auf die ganze österreichische Wirtschaft gelegt hatte, verunglückte bei einem Besuch seiner holländischen Heimat tödlich, und sein aus ganz anderem Holz geschnitzter Landsmann und Kollege Rost van Tonningen verabschiedete sich aus eigenem Antriebe von seiner Stelle als Finanzberater, um sich politischen Aufgaben zu Hause zuzuwenden - und zwar zur peinlichen Überraschung der Wiener Herren auf Grund seiner bei ihnen gewonnenen Erfahrungen in einem dem Nationalsozialismus verwandten Sinne. Die so unverdient eingetretene Befreiung von den Genfer Fesseln - denn nun konnte der französische Berater der Nationalbank schlechterdings nicht allein in Wien zurückbleiben - bedeutete angesichts des Niederganges dieser noch 1935 so großsprecherischen Einrichtung der Weltdemokratie allerdings nicht mehr viel für das Prestige dieser Regierung Schuschnigg, die mit ihrer "unabhängigen" Außenpolitik in immer unmöglichere Gesellschaft geraten war.

Wohin sollte aber die Reise in der Innenpolitik gehen? An der Oberfläche war der Parteienstaat abgeschafft und die Allgegenwart der V. F. hergestellt. Der Machttrieb ihres Generalsekretärs Zernatto verfolgte, ohne das von Starhemberg kompromittierte Wort Fascismus zu wiederholen, viel folge- [147] richtiger als es bisher in Österreich geschehen war, die Übertragung größerer Vorbilder. Da wurde ein V.-F.-Werk Neues Leben aufgezogen, das gleichzeitig mit Dopo lavoro und Kraft durch Freude den Wettbewerb aufnehmen sollte; durch monopolartige Vergünstigungen bei Urlaubsreisen u. ä. sowie Pflege von politisch-"neutralem" Volksbrauch suchte man immer weitere Kreise, die an sich gar nichts mit der politischen Vaterländerei zu tun haben wollten, in gesellschaftliche Abhängigkeit zu ziehen. Die NS.-Volkswohlfahrt fand ihre Nachahmung in dem Mutterschutzwerk der V. F., in dem Kinderferienwerk und der Winterhilfe der Bundesregierung. Wie ernst Schuschnigg die Aufgaben der Mütterhilfe auffaßte, das hatte er schon, wie wir wissen, durch die Belassung Starhembergs als Protektor bewiesen, und hierher gehört auch seine höhnische Behandlung aller Anregungen auf Verbesserung der Lage kinderreicher Familien, selbst wenn sie ihm von geistlicher Seite nahegebracht wurden. Das Kinderferienwerk selbst erhielt sich hauptsächlich als eine schon von Dollfuß eingeleitete Aktion zur Unterstützung vaterländischer Alpenwirte, denen ihre Sommergäste ausgeblieben waren. Für die Winterhilfe aber, die sich schon im Titel als Sache der Regierung statt des Volkes repräsentierte, waren die Briefe bezeichnend, die im Herbste 1937 zu Zehntausenden den Haushaltungen zugestellt wurden, und in denen der Kanzler durch seine Drohungen gegen Säumige die sonst durch Subventionen aus öffentlicher Hand verschleierten Mißerfolge der Vorjahre zugab. Wie hätte erst das Österreich so wohlwollende Ausland gestaunt, wenn die Ziffern des "illegalen" Hilfswerkes (Leiter: Langoth-Linz) zu entsprechendem Vergleich hätten bekanntgegeben werden können! Von einem Unstern verfolgt blieb die groteske Konkurrenz der etwa vierfach stärkeren illegalen Hitler-Jugend, das V.-F.-Werk Österreichs Jungvolk, mochten auch noch soviel Steuergelder ohne Befragung der Bevölkerung hineingepumpt werden. Da nach dem Konkordat die Aufrechterhaltung der konfessionell katholischen Jugendbünde außer Zweifel stand, blieben so die eigentlichen Sturmtruppen des christlichen Ständestaates seiner eigenen Staatsjugend fern. Angesichts des natürlichen Rassengefühls der deutschen Jugend hier, der sonst tolerierten [148] Borniertheit der jüdischen Jugend dort, mußte sich auf diesem Felde wenigstens die Regierung zu einer "konfessionellen" Scheidung bequemen, die aber den sonstigen Grundsätzen der jüdisch finanzierten V. F. stracks zuwider lief. Verlegte sie sich auf den Beitrittszwang, wie er sonst üblich war, auch bei der Jugend, so leistete sie nur der nationalsozialistischen Durchdringung unfreiwillig Vorschub; begnügte sie sich mit der Freiwilligkeit, so konnte sie nur auf die kindlichsten Jahrgänge zählen, während die älteren abseits der im Jungvolk dargebotenen Gelegenheiten ihr "illegales" Jungenleben zu führen wußten.

Unter solch unausrottbaren Widersprüchen litt auch die Entfaltung der österreichischen Turn- und Sportfront, einer Nachahmung der reichsdeutschen nationalen Zusammenfassung der Leibesübungen, für die bis zuletzt Starhemberg verantwortlich zeichnete, wenn er auch mit der immerhin unumgänglichen fachlichen Arbeit herzlich wenig zu tun hatte. Für diese Teilfront blieb die zionistische Hakoah eine wichtige Stütze, indessen die nationalen Bünde wie Alpenverein und Turnerbund nur dank dem Juli-Abkommen gerade noch zugelassen blieben. Ein Schlaglicht wirft auf diese Verhältnisse die Geschichte von den Hakoah-Sportlerinnen, die, als Vertreterinnen Österreichs für die Olympiade bestimmt (!), sich weigerten, nach Hitler-Deutschland zu reisen und deshalb gemaßregelt werden mußten. Unterstützt von der jüdischen Sportpresse war der Fußballkapitän Hugo Meisl eifrig beflissen, das volkstümliche Rasenspiel als Unterlage für eine Art österreichischen Nationalgefühls zu mißbrauchen, wie das insbesondere bei der alljährlichen Veranstaltung des Mitropacups zum Ausdruck kam, wobei zwar Italien, aber nicht Deutschland zu Mitteleuropa gezählt wurde. Begreiflich, daß der Sportler Meisl ebenso wie der Versicherungsspekulant Berliner zu den "großen Österreichern" gezählt, und auch an seinem Ehrengrabe der Israelitischen Kultusgemeinde entsprechende Ehrungen dargebracht wurden. Bei anderen Sportzweigen wie Skilauf und Handballspiel war freilich alle Liebesmüh und Drohung des Obersten Turn- und Sportführers nicht ausreichend, um den braunen Einschlag auch nur oberflächlich verschwinden zu lassen. - Die Organisationssucht der V. F. und die unbedenkliche Übertragung "auslän- [149] discher" Errungenschaften aber erstreckte sich über kulturelle, soziale und sportliche Einrichtungen schließlich sogar auf die Erfassung der "Auslandsösterreicher", die man den Auslandsdeutschen als selbständige Gruppen zur Seite zu stellen wagte; für die Übertragung von auslandösterreichischen Rundfunksendungen nahm man einen "neutralen" holländischen Kurzwellensender zum Vermittler an, wie um sogar vor aller Welt die Unnatur dieses V.-F.-Apparates zu demonstrieren.

So stand es um die Adoption nationalsozialistischer Gemeinschaftsschöpfungen im Rahmen der V. F. ähnlich wie um stattlich emporschießende Wassertriebe, die trotz ihrer Größe den Kenner nicht über ihre Nichtsnutzigkeit hinwegzutäuschen vermögen. Aber konnte den originellen Schöpfungen des Ständestaates Besseres nachgesagt werden? Die V. F. selbst sollte als Ganzes nichts mit dem Einparteiprinzip des Nationalsozialismus und Fascismus zu tun haben, sondern eine Überwindung des Parteistaates überhaupt und die Anbahnung einer berufsständischen Demokratie durch die einzig zulässige Zusammenfassung aller patriotisch gesinnten Staatsbürger zur politischen Willensbildung darstellen. Tatsächlich erreichte sie auf dem bewährten Doppelwege der Anwendung äußersten behördlichen Druckes einerseits und der Geringfügigkeit der verlangten Leistungen anderseits die Ansammlung von rund drei Millionen Namen in ihren Mitgliederkarteien. Entfiel davon allein fast eine Million auf Wien, so verzichtete man nach den Erfahrungen des Schmelzer Aufmarsches dennoch auf die Wiederholung von Massenkundgebungen und begnügte sich mit gelegentlichen Aufzügen von Amtswaltern. Nach langen Vorankündigungen wurde im Zusammenhang mit der Ernennung der volkspolitischen Referenten endlich eine Mitgliedersperre eingeführt; aber auch dabei ist es bezeichnend gewesen, wenn noch jede Anmeldung durch Postkarte mit dem Stempel wenigstens vom 31. Oktober 1937 als Eintrittsbillett in diese "Front" genügte.

Das war denn freilich eine sehr fragwürdige Grundlage für die Verwirklichung der Ständeverfassung, die deshalb Jahr um Jahr hinausgeschoben wurde. Die einzigen berufsständischen Wahlen, die gleichsam probeweise im Herbste 1936 [150] stattfanden, galten der Landwirtschaft und haben keine Nachfolge mehr gefunden. Das Wagnis fiel anscheinend zufriedenstellend aus, aber eben wieder nur an der Oberfläche betrachtet. Denn die vom Pfarrhof beeinflußten Bauern bildeten seit je die Kader der Christlichsozialen und waren nun die Mitglieder der V. F., während die anders gesinnten Landwirte viel eher als die städtische Bevölkerung sich dem Eintritt in die Front entziehen konnten. So entfielen zwar wirklich ansehnliche Mehrheiten auf die der V. F. genehmen, berufsständischen Kandidaten, aber es stand entgegen dem einfachsten Sinn einer ständischen Ordnung nur mehr ein Bruchteil der in dem Berufe tätigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer dahinter. Obwohl den bäuerlichen Wahlen bald die gewerblichen folgen sollten, blieb die weitere Entwicklung in dieser Hinsicht aus, da eben eine Trennung der berufsständischen Durchbildung von dem politischen Aufbau sich als unerfüllbar erwies und die Forderungen der V. F. wieder von vornherein die berufsständische Forderung kompromittierten. Auch um die Jahreswende 1937/38 war noch kein Ende dieses Kreislaufes abzusehen und die provisorische Verfassung mit ihren grenzenlosen Machtvollkommenheiten für die Regierung dauerte fort, da der berufsständische Aufbau leider noch nicht vollendet sei. Der Bundespräsident Miklas blieb ohne irgendwelche Umstände im Amte, obwohl sein unter ganz anderen Verhältnissen verliehenes Mandat längstens mit dem Dezember 1936 erloschen gewesen wär, und die stattliche Zahl von Staats-, Bundeskultur-, Bundeswirtschafts- und Länderräten hinderte Schuschnigg nicht, bei jeder ihm passend erscheinenden Gelegenheit das ganze Haus der Bundesgesetzgebung zu übergehen und die Gesetze auf kurzem Wege autoritär herauszugeben. Mit welcher Skrupellosigkeit die angeblichen Fanatiker eines verfassungsgemäß verankerten Rechtsstaates ihrer eigenen Schöpfung spotteten, beweist vielleicht, daß ein schon lange vorbereitetes Tierschutzgesetz nicht in Kraft treten konnte, weil die Gutachten von Bundeswirtschafts- und -kulturrat einander widersprachen und die Regierung dadurch ihre Hände für gebunden erklärte; als aber ein in die Rechtsverhältnisse unzähliger Österreicher eingreifendes Gesetz über Verwaltungs- [151] strafverfahren in Diskussion stand, und von vielen Seiten auf seine Bedeutung für die innere Befriedung verwiesen wurde, da ließ Schuschnigg den ihm genehmen Entwurf ohne Befragung der Kammern, ja mit Übergehung der Voten des Ministerrates einfach während der Urlaubszeit als Gesetz veröffentlichen. Welcher Achtung sich diese Verfassungskünste bei der nie darüber befragten Bevölkerung erfreuten, verriet der einstige Verfassungsminister Dr. Ender selbst durch seinen Vorschlag, das künstliche Fünf-Kammer-System zu vereinfachen.

Doch wichtiger noch als das Versagen der V. F. und der Verfassung ist für die Beurteilung der Schuschnigg-Ära ihr Verhalten in den zwei gerade in Österreich zu brennender Bedeutung emporgestiegenen Forderungen an jede den liberalen Parteienstaat überwindende Volksordnung: Unter dem Eindruck der deutschen Rassengesetzgebung regten sich schon 1933 im vaterländischen Lager Stimmen (z. B. Kunschak), die eine "christliche" Lösung der Judenfrage, etwa wie sie später in Ungarn versucht wurde, zur Debatte stellten. Auch die Bekämpfung des Marxismus konnte als Reaktion der bodenständigen Bevölkerung im Sinne Luegers gedeutet werden. Aber wir bemerkten schon, wie nacheinander das "gutgesinnte", bisher liberale Judentum, und nach dem 12. Februar sogar ein großer Teil der vielfach erst in den letzten zwanzig Jahren aus dem Osten zugewanderten Anhänger des Roten Rathauses, sich dem neuen System anbequemten; die große Wiener bürgerliche Presse ist für die erste Gruppe, die von Prag finanzierte Orbis-Gruppe (z. B. Der Wiener Tag) für die zweite bezeichnend gewesen. Die letzte Zurückhaltung fiel aber mit der Kanzlerschaft des Herrn von Schuschnigg hinweg, dem jüdischer Umgang persönliches Bedürfnis war, der sich von Krenek und Jaromir Weinberger Opern widmen ließ, und der den noch schwach glimmenden Antisemitismus der Christlichsozialen mit den Worten abtat: "Wer sich zum Vaterland bekennt, ist uns willkommen!" - kein Wunder, wenn es in der Leopoldstadt hieß, Dollfuß sei gut gewesen, Schuschnigg jedoch sei aus Gold! Anläufe des Bürgermeisters Schmitz, durch Neuaufnahme junger Ärzte aus dem CV. die ganz verjudeten Spitäler Wiens etwas "christlicher" zu machen, oder durch [152] Absonderung der Katholiken von den übrigen Konfessionen (also der Juden und der protestantischen Deutschen!), für die Schulen dasselbe zu tun, konnten von den Betroffenen kaum ernst genommen werden. Der Vertreter der "Israeliten" im Wiener Stadtrat hatte allerdings die Stirn, selbst darüber große Beschwerden zu führen, und eine recht bescheidene Aktion des Vizebürgermeisters Kresse "Christen kauft bei Christen!" in der Vorweihnachtszeit 1937 löste bis zur Rücktrittsforderung gesteigerte Drohungen der sonst überall bevorzugten Judenschaft aus. So blieb die "Toleranz", die Nachdenken und Verantwortlichkeit sich ersparte und die Judenfrage ignorierte, der Ausweg des christlichen Ständestaates und der staattragenden V. F.

Ganz unmittelbar steigerte sich die Unfähigkeit des Systems aber in der chronischen Arbeitslosigkeit und in dem Kinderschwund zu einer völkischen Lebensbedrohung. Der Verfassungsbruch von 1933 und die Heranziehung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes sollten nach Angabe der Urheber des Staatsstreiches in der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Aufrichtung Österreichs begründet sein. Bis Mitte 1934 schwebte aber das Land gerade infolge dieser Politik fortwährend zwischen offener und verdeckter Revolution und ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen mußten nun als Begründung für das Ausbleiben greifbarer Erfolge herhalten. Auch in den folgenden Jahren änderte sich angesichts der Erleichterung durch die Römischen Protokolle und trotz der oberflächlich eingetretenen Ruhe nichts an der Verelendung weitester Volksschichten, sowohl der Industriearbeiter wie der Gebirgsbauern. Neben den in der Kleinstaatlichkeit Österreichs seit Anbeginn dieser traurigen Schöpfung fortwirkenden Ursachen kam die seit 1922 zum alleinigen Gesetz der Währungspolitik erhobene Sicherung des Schillings um jeden Preis und unter gleichzeitiger Auflockerung der Devisenbestimmungen hinzu. Die ungeheure Passivität der Handelsbilanz baute man seit Dollfuß so planmäßig ab, als ob der forcierte Außenhandel die innere Kaufkraft der Bevölkerung nicht nur noch mehr schwächen müßte. Schuschnigg aber erstickte, wovon besonders seine Neujahrskundgebungen zeugen, jede noch so berechtigte [153] Aktion zur inneren Befriedung immer wieder mit dem Hinweis, die Wirtschaft gehe voran, der wirtschaftliche Aufbau dürfe nicht durch "Politisieren" gestört werden! Gerade die Erfolglosigkeit der bisherigen Bemühungen (mit Einschluß der inneren Anleihen von 1933 und 1937) galt als Freibrief dafür, das System noch ein weiteres Jahr fortzusetzen. Jede Zeitung brachte Listen von Zahlungseinstellungen, die wieder neues geschäftliches Unheil nach sich zogen. Nur mehr die Zahlen der unterstützten Arbeitslosen wurden bekanntgegeben, indessen die weit größere Klasse der einer gänzlichen Verelendung preisgegebenen "Ausgesteuerten" und der regelmäßigen Beschäftigung überhaupt entzogenen Jungarbeiter sogar der Regierung unbekannt blieb. Jetzt wissen wir von einem Verhältnis von einem Arbeitslosen auf zehn Köpfe der Bevölkerung nach fünf Systemjahren, was dem Zustand des noch weit mehr industrialisierten Reiches im Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme gleichkommt.

Nach all dem nimmt es nicht wunder, wenn dieses Österreich, das den Rekord in der europäischen Selbstmordstatistik erreichte, nach der Zahl der Eheschließungen und insbesondere der Geburten einer förmlichen Bevölkerungsschrumpfung entgegensah. In der Bundeshauptstadt war dieser vom individuellen zum generellen Selbstmord fortschreitende Zustand sogar schon eingetreten, selbst die monatlichen statistischen Anzeigen, für die es hier keine solchen Rettungsmittel wie bei der Verschleierung der Erwerbslosigkeit gab, stellten noch mehr als je vorher ein erschreckendes Mißverhältnis von Wiegen und Särgen fest. Dabei war schon vor 1933 die Entwicklung nach unten auf einem Punkt angelangt, daß eine Wiener Volksschule nach der anderen wegen Schülermangel schließen mußte. Und doch kam in diesen Zahlen ja nicht einmal die andauernde Überfremdung Wiens durch das Ostjudentum und das Vordringen von Slowaken und Tschechen in dem vielfach verjudeten Grundbesitz des Wien benachbarten Marchfeldes zum Ausdruck. Auf die betonte Gleichgültigkeit Schuschniggs gegenüber solchen an das Mark des so oft genannten Vaterlandes greifenden Vorgängen haben wir schon verwiesen. Eine geradezu klassische Kritik aber haben sie in den Briefen eines ungenannten "Land- [154] arztes" an die Linzer Tagespost gefunden. Mochten die Zeitungsblätter alsbald nach ihrem Erscheinen beschlagnahmt werden, so war der Eindruck dieser Darstellung nicht mehr zu verwischen, die maschinenschriftlich weit über den gewöhnlichen Leserkreis des Provinzblattes hinaus Verbreitung fand. Jenseits von aller Tagespolitik wies der "Landarzt" darauf hin, wie in der Frage der Volkserhaltung und -vermehrung im modernen Staate sich die Spiegelbilder seines wahren moralischen und materiellen Zustandes begegneten und zugleich die privatesten und die öffentlichsten Verhältnisse hiermit einer letzten Bewährungsprobe unterlägen. Gelinge der von den österreichischen Staatsmännern so oft und laut verkündeten neuen Gesellschaftsordnung die große Wende, die der Liberalismus versäumte, nicht in dem Ausmaß, wie es im Dritten Reiche alsbald zutage trat, dann müßte sich zwangsläufig die Annahme durchsetzen, daß ihr Weg nicht zu Ende gegangen werden könne. Denn was bedeutete schließlich die "Unabhängigkeit" des Landes, wenn der Bevölkerungsüberdruck nichtdeutscher Nachbarn zwangsläufig über kurz oder lang sich Eintritt in den geschichtlichen Raum des Alpendeutschtums zu verschaffen wissen werde?

Aber konnte das System überhaupt noch mit weitgestreckten Zeiträumen rechnen, sobald der Bogen überspannt wurde? Vergebens war eine von hoher deutscher Stelle ausgegangene, in gemessener Form und öffentlich erfolgte Warnung aus dem Spätherbst 1937 verhallt. Die dem Auswärtigen Amt nahe stehende Diplomatische Korrespondenz wies an der Hand der - wie die Legitimisten erklären konnten - von Schuschnigg gebilligten Erklärung des Prinzen Fürstenberg nach, daß nicht die Unabhängigkeit und der Legitimismus die zwei Grundpfeiler der österreichischen Staatlichkeit bilden könnten, sondern nach dem Juli-Vertrag die Unabhängigkeit und der deutsche Charakter des Staates einander entsprechen müßten. Leider, so hieß es etwa weiter, verlege die österreichische Regierung noch immer ganz einseitig den Nachdruck ihrer Maßnahmen auf Wahrung dessen, was sie als "Unabhängigkeit" ansehe, indessen die schwersten Verstöße gegen die deutsche Verpflichtung des Staates unbeachtet blieben... Die Ausfälle Schuschniggs in [155] seinem Kanzler-Buche, in seinem Abgrund-Interview und auf der Budapester Konferenz bildeten trotz jenes rechtzeitig ergangenen Warnungsschusses für seine Hilfstruppen das Signal für eine jede Vorsicht außer acht lassende neue Kampagne. Am Neujahrsmorgen 1938 verkündeten schwarz-gelbe Plakate mit dem Doppeladler einen Versammlungssturm des Eisernen Ringes "für die Unabhängigkeit Österreichs" mit dem Aufgebot seiner sämtlichen Redner (darunter der üble Emigrant Professor von Hildebrand) an allen größeren Plätzen des Landes und in einem Zeitpunkt, der mit der Budapester Römer-Protokoll-Konferenz absichtsvoll zusammenfiel. Wider Erwarten der Veranstalter wurden ungeachtet aller polizeilichen Aufgebote diese 50 Veranstaltungen aber geradezu eine Gelegenheitsmacherei für die "Illegalen", die überall die Straßen und teilweise auch die Versammlungslokale selbst erfüllten. Die Erregung darüber war noch wach, als ein Empfang italienischer Militärschüler in Wien der "verbotenen" Hitler-Jugend Gelegenheit bot, sich in großen Kundgebungen vor dem Westbahnhof den Ausländern zu zeigen und sie mit aufklärenden Schriften zu versehen.

Nun ging noch im Januar ein besinnungsloser Rachefeldzug der Behörden und der V. F. los. Man verhaftete den Dr. Tavs von der bisher polizeilich anerkannten nationalsozialistischen Landesleitung, durchsuchte die Büroräume der Teinfaltstraße und erklärte auch den uns seit dem Februar 1937 bekannten Siebenerausschuß für aufgelöst. Es hagelte nur so Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. War mit der Auflösung des Siebenerausschusses der Notsteg zur Landesleitung des Hauptmanns Leopold abgebrochen, so rüttelte man auch an der von der Regierung selbst in der zweiten Hälfte des Vorjahres eingerichteten, schmalen Brücke. Nach Berufung des rücksichtslosen Legitimisten Zellburg zum Gendarmeriegeneral behauptete Zernatto bei einer Versammlung in Salzburg sogar, die Aufgabe der volkspolitischen Referenten sei nicht die Verständigung mit der nationalen Opposition, sondern vielmehr deren Bekämpfung! Abgesehen von der Herausforderung, dies gerade in dem Bundeslande zu erklären, wo dem zuständigen Referenten Dr. Reiter eine gute Fühlungnahme mit [156] der Opposition schon geglückt war, hatte Schuschniggs Vertrauensmann, da nur eine nachträgliche Verschleierung, aber kein Widerruf dieser Erklärung erfolgte, so das Zusatzabkommen vom Juli 1936 formal beseitigt; denn dort hatte sich ja die Bundesregierung zur Heranziehung der nationalen Opposition ausdrücklich verpflichtet, wenn dem Kanzler auch die Auswahl der Mittelsmänner überlassen blieb. Tatsächlich erbat Dr. Seyß-Inquart sofort seine Beurlaubung als Staatsrat und reiste ins Reich. Am 30. Januar glaubten die regierungsnahen Blätter Anlaß zu haben, die Verschiebung der Reichstagssitzung mit der Erschöpfung der Reichspolitik zu erklären, wie auch Hitler sich künftig hauptsächlich der Architektur zuwenden würde. Die ausländischen Korrespondenten ließen sich dahin instruieren, daß das Ende der Befriedungsversuche gekommen sei, und die Unabhängigkeitspolitik vor einem Siege auf der ganzen Linie stehe.


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz