Der Durchbruch der
Volkserhebung
(12. Februar bis 11. März
1938)
Das Maß war endlich voll. Die am 4. Februar vorgenommenen
Personaländerungen im obersten Reichsdienst sahen auch die Abberufung
des Botschafters von Papen vor. Während die Wiener Blätter
Kombinationen über seine Nachfolge anstellten, wurde er noch einmal zum
Führer nach Berchtesgaden berufen und ihm eine letzte Aufgabe innerhalb
seiner Wiener Mission anvertraut. Er hatte über Guido Schmidt dem
Bundeskanzler die unveränderte Absicht der Reichsregierung mitzuteilen,
auf dem Boden des Juli-Abkommens zum Frieden mit Österreich und in
Österreich zu gelangen; würde dies aber durch das Verhalten der
Bundesregierung, wie es jetzt schien, endgültig unmöglich, dann
hätte sie mit den Folgen eines offenen Bruches zu rechnen. Obwohl nun der
Bundeskanzler als Hauptverantwortlicher selbst diese Lage herbeigeführt
hatte und der "vaterländische" Radikalismus, den er großgezogen,
[157] ihn zu den
äußersten Folgerungen seiner Handlungsweise drängte, nahm
er, vor eine offene Entscheidung gedrängt, doch eine neue Schwenkung
vor. Er entschloß sich nach kurzem Bedenken zur Annahme der durch
Papen überreichten Einladung, um eine erste persönliche Aussprache
mit dem Führer zu ermöglichen, die endlich den in Wien seit
über anderthalb Jahren großgezogenen
Mißverständnissen des
Juli-Abkommens ein Ziel zu setzen hatte.
Am 10. Feber war noch "Frontball", am 12. Feber fuhr Schuschnigg in Begleitung
von Schmidt und Papen nach Salzburg, und von da im Auto auf den Obersalzberg,
wo es zu einer sehr lebhaften und entschiedenen Aussprache kam. Der
Führer sagte seinem Gaste auf den Kopf zu, daß die Verfolgung der
Nationalisten in Österreich sofort ein Ende nehmen müsse.
Schuschnigg konnte noch ein letztesmal wählen, ob diese Befriedung mit
oder ohne ihn sich vollziehen würde. Für einen etwa sich ergebenden
Ernstfall hatte sich das Reich, wie er aus der Anwesenheit militärischer
Autoritäten entnehmen konnte, diesmal vorgesehen. Bejahte aber der
österreichische Machthaber das Abkommen, dann hatte er die bisher noch
immer ausständigen Maßnahmen zur Befriedung des Landes
unverzüglich zu setzen: Anerkennung der Freiheit zum
nationalsozialistischen Bekenntnis, Ausrichtung der
Außen- und Wehrpolitik entsprechend dem Wesen des "zweiten deutschen
Staates", bedingungslose Amnestie und Neutralisierung des Sicherheitsdienstes.
Wenn solcherart die erste Entspannung erreicht und der österreichische
Nationalsozialismus aus der ihm widerrechtlich aufgezwungenen
"Illegalität" herausgehoben sei, dann sei die Partei ihrerseits bereit, der
österreichischen Bewegung weitestgehende organisatorische
Selbständigkeit zu gewähren, um alle internationalen
Reibungsflächen zu beseitigen. Neben der selbstverständlichen
Entfernung des deutschfeindlichen Generalstabschefs Jansa ist
Seyß-Inquarts Ernennung zum Innenminister mit Polizeigewalt
persönliche Bedingung gewesen, und gerade von ihm aus war ein
entsprechender Befriedungsplan vorbereitet, wonach z. B. die
Hitler-Jugend in die endlich wieder aufzurichtenden Jugendriegen des Deutschen
Turnerbundes eingegliedert würde. Die Vereinigung ernstester
Entschlossenheit [158] mit
großzügigem Entgegenkommen, sobald sie am Platze war, schien
ihren Eindruck auf Schuschnigg nicht verfehlt zu haben. Er nahm die
Vorschläge des Führers an und kehrte nach anscheinend
befriedigendem Abschluß der Unterredungen am Abend des
12. Februar nach Österreich zurück, wo er bis Mitternacht sich
noch mit dem stets zum Kompromiß neigenden Salzburger
Landeshauptmann Dr. Rehrl besprach. Von nun an zählte jeder Tag,
der zum Frieden zwischen den beiden deutschen Staaten fehlte.
Das Reich beobachtete ruhig und entschlossen die nun in Wien anhebende
Entwicklung darauf, ob seine klar umrissenen billigen Forderungen in die Tat
umgesetzt würden. Alles andere blieb auch noch jetzt als rein
innenpolitische Angelegenheit des Nachbarlandes respektiert. Ein, zwei, drei Tage
vergingen nach Berchtesgaden mit Auseinandersetzungen im innersten Bereich
der Systemführung, welche die Ungeduld aller Bevölkerungskreise,
gleich wo sie standen, aufs äußerste anspannten. Dann hatte wohl die
Vernunft gesiegt. Man vollzog endlich die allgemeine Amnestie.
Wöllersdorfer Häftlinge, "lebenslänglich" Eingekerkerte,
wurden jetzt, nachdem zu den 1936 nicht Entlassenen noch Tausende neue Opfer
hinzugekommen waren, binnen weniger Tage ihrer Familie wiedergegeben; wie
jedoch schon in jenem hoffnungsvollen Juli legte die Regierung darauf Wert, die
Amnestie auf die marxistischen, freilich der Zahl nach viel geringeren
Gefangenen zu erstrecken. Nicht ohne einige Verzögerung und mit einer
irreführenden Erläuterung der V. F. erschien dann die in
Berchtesgaden festgelegte grundsätzliche Erklärung, daß von
nun an das Bekenntnis zum Nationalsozialismus frei
sei - damit war die "Illegalität" von ihren Urhebern schweren
Herzens auf das Formale des künftigen Verhältnisses der
Nationalsozialisten zur V. F. zurückgedrängt. Von diesem
Tage an begann die von der ersten Vorfrühlingssonne losgebrochene
Lawine unaufhaltsam ihren Lauf. Während die bisherigen Machthaber noch
berieten, in welcher vom Parteiabzeichen abweichenden Form das Hakenkreuz
allein zugelassen werden könne, wußten sich schon ungezählte
Hunderttausende das Siegeszeichen Adolf Hitlers wenigstens in einfacher
Prägung zu verschaffen und selbst in [159] der verjudeten
Millionenstadt Wien grüßte jeder Hakenkreuzträger den
anderen in aller Öffentlichkeit mindestens mit dem stummen deutschen
Gruß. Die bisher beiseite gestellten und jedem Angriff der
vaterländischen oder jüdischen Radikalinskis preisgegebenen
Volkspolitischen Referenten waren mit einem Schlage die interessantesten
Personen im Lande und rückten endlich in die ihnen früher
vorenthaltene Mittlerstellung ein, Regierung und V. F. dagegen erschienen
zum erstenmal in die Verteidigung gedrängt und um den Kern der
"illegalen" Kader scharten sich schon die vom System enttäuschten und
bedrückten Massen. Sogar für die Wiener Ravag, die einen Pembaur
noch nicht ans Mikrophon gelassen hatte, kam jetzt die Stunde, wo der Minister
Seyß-Inquart offen zu den österreichischen Nationalsozialisten
sprechen konnte und ihnen eine friedliche, disziplinierte Entwicklung
verhieß, wo sogar der von Dr. Seyß zum Volkspolitischen
Referat herangezogene Dr. Jury, ein ehemaliger Wöllersdorfer
Häftling, die Idee Adolf Hitlers vor den erwartungsvoll gespannten
Hunderttausenden als Notwendigkeit für den Umbau des Staates vertrat. So
sehr diese verantwortlichen Männer die weiterbestehenden
Beschränkungen für die Bewegung auch betonten und an das
Verständnis und die Disziplin ihrer so lange für rechtlos
erklärten Anhänger sich mit Erfolg wandten, so eifrig liefen die
Vorbereitungen für die in naher Zukunft in Aussicht gestellten Deutschen
Tage in Wien und den Landeshauptstädten weiter. Auf ihnen wollte der
österreichische Nationalsozialismus die jahrelange Periode der
"Illegalität" friedlich beenden und das Tor zur Weltöffentlichkeit
öffnen, die jetzt halb wider Willen ihrer bisherigen Selbsttäuschung
bewußt wurde. Doch dazu kam es wider alle berechtigte Erwartung nicht
mehr.
Der Bundeskanzler hatte zum Unterschied vom Juli 1936 die nun genauer
festgelegten Verpflichtungen vom 12. Februar zunächst eingehalten und die
Folge mußte zwangsläufig ein wesentlicher Umbau des bisherigen
Zwangsstaatswesens sein. Die politische Kräfteverteilung des
"Gegenreiches" war unhaltbar geworden. Nichtsdestoweniger verstrickte sich
Schuschnigg in diesen alles entscheidenden Wochen erst recht in die einst
bewußt herbeigeführte Unnatur des Systems, das auch [160] seinen Namen trug. Er
konnte auf sein Doppelspiel mit Gegengewichten nicht mehr verzichten, auch als
die Zeit dafür abgelaufen war. Mag es sich in der Erinnerung noch so
widersinnig ausnehmen, so besteht geschichtlich die Tatsache, daß
Schuschnigg gleichzeitig mit der Heranziehung von
Seyß-Inquart auch mit seinem eigenen, einzigen Rivalen um die Macht in
der V. F., dem Bürgermeister Schmitz, zum Abschluß kam;
und zwar mit einem Schmitz, der in Verleugnung seines einstigen
bürgerlich-radikalen Antimarxismus Seipelscher Prägung bei
volksfrontartigen Plänen angelangt war als dem letzten Rettungsmittel
gegen den bösen Nationalsozialismus. Doch dieser konnte nun nach dem
12. Februar nicht mehr einfach als "illegal" gelten und ließ sich ohne
blutige Katastrophe nie wieder in die Rechtlosigkeit zurückstoßen.
Schon die durch Berchtesgaden notwendig gewordene Kabinettsumbildung
vollzog sich offenbar nur unter großen Schwierigkeiten und Hemmungen.
Neben Seyß-Inquart als dem neuen Mann, auf den alle Welt blickte,
verblieben Glaise-Horstenau und Guido Schmidt, die Männer des
11. Juli. Auch die Zuziehung des Versicherungsfachmanns
Dr. Fischböck, der die Auffangorganisation für den
eingegangenen jüdischen Phönix geschaffen hatte, als
wirtschaftlichen Staatssekretärs entsprach dem angenommenen
Versöhnungs- und Befriedungsprogramm und war für die mit dem
Reiche bevorstehenden Wirtschaftsverhandlungen wichtig. Handelsminister selbst
aber wurde der früher auch in der Heimwehr unangenehm aufgefallene
Führer des christlichsozialen Gewerbebundes (Ing. Raab), der
persönlich für Berliner Verhandlungen untragbar gewesen
wäre; sogar Seyß erhielt den bisherigen obersten Chef der Sicherheit,
die Systemgröße Skubl, als Staatssekretär zugewiesen, und
Zernatto erfuhr noch eine Rangerhöhung zum
Minister - also wieder das alte, seit dem Juli 1936 durchexerzierte
Verfahren der Arbeits- und Verantwortungsteilung, das die Bevölkerung
nach Berchtesgaden für endgültig abgewirtschaftet hielt. Gerade weil
Seyß mit der Kontrolle über das gesamte Sicherheitswesen die Hand
an der Wurzel des ganzen, seit fünf Jahren praktizierten Systems hielt,
stattete der Bundeskanzler die neue Regierung erst recht auch mit Widersachern
der Be- [161] friedung aus, und die
internationale Sensation der Berufung von Nationalsozialisten wurde fast
überboten durch die förmliche Anerkennung des bisher in der
Reserve gehaltenen Krypto-Marxismus in der Ernennung eines alten
Freigewerkschaftlers (Watzek) zum Staatssekretär für
Arbeiterschutz. Dieser Herr drohte gleich bei seiner ersten Kundgebung unter
Berufung auf die Zustimmung Schuschniggs mit dem Generalstreik, falls die
"Freiheit" gefährdet sein würde. Für die Bundeshauptstadt,
Schmitzens unmittelbare Domäne, sollte eine der Regierungsumbildung
entsprechende Neuregelung eintreten, wobei das rote Element aber noch mehr
hervorgestochen wäre. Auch in den Bundesländern begannen
überall für Landes- und Gemeindevertretungen Verhandlungen, die
sowohl der Beteiligung der "nationalen Opposition" als der "Arbeiterschaft"
galten. Diese laut verkündigte Großzügigkeit der alten
Christlichsozialen gleich nach zwei Seiten hin, wirkte um so bedenklicher auf den
Kenner der Verhältnisse, als sie in tatsächlichen
Zugeständnissen von einer höchst unzeitgemäßen
Zurückhaltung blieben und durch einen aufgenötigten Kuhhandel um
einzelne Mandate die Bewegung kompromittieren konnten. Der Ausdehnung der
Berchtesgadener General-Amnestie auf die Roten (mit Einschluß der
Anarchisten!) zur Seite gingen die Forderungen von Gewerkschaftsbund und
Sozialer Arbeitsgemeinschaft, als ob ihnen jedes Zugeständnis für
nationale Vereine und Gliederungen mit Gegenleistungen schmackhaft gemacht
werden müßte. Tatsächlich legten die bisherigen Machthaber
bei jeder sich bietenden Gelegenheit ebensoviel Widerwillen in der
Ausführung der Berchtesgadener Zusagen als Verständnis für
die völlige "Gleichberechtigung" der roten Arbeiterschaft an den
Tag - Schuschnigg selbst hatte die Stirn, dieses von ihm entfesselte,
anhebende Chaos als Konzentration aller aufbauwilligen Kräfte fürs
Vaterland zu bezeichnen!
Die große Führerrede vom 20. Februar, die als erste von den
österreichischen Sendern übernommen und öffentlich
verbreitet werden durfte, stellte in Ernst und Würde vor der gespannt
aufhorchenden Welt noch ein letztenmal die Österreich gebotene
Alternative heraus. Sie unterstrich die von Schuschnigg am Obersalzberg zur
Wiederherstellung des Friedens im [162] deutschen Volke
eingegangene Verpflichtung, die als solche mit Dank quittiert wurde. Gleichzeitig
erfolgte die feierliche und bald nachher in die Weltgeschichte eingegangene
Erklärung des Führers, daß das Reich nicht mehr länger
zusehe, wie 10 Millionen Deutsche an seinen Grenzen nur ihres deutschen
Bekenntnisses wegen gequält und verfolgt werden.
Wie einst im Mai 1935 fand der Bundeskanzler es auch jetzt für gut, einige
Tage nach dem Führer, am 24. Februar, das Wort zu einer Art
Gegenrede vor seinem Bundestag-Scheinparlament zu ergreifen, wieder dieselbe
Verengerung des Horizonts von einer gewaltigen Darlegung
nationalsozialistischer Leistung und Forderung dort, zu einer kleinlichen
Abrechnung mit dem bösen braunen Mann, der das arme kleine Vaterland
nicht zur Ruhe kommen lasse, hier. Denn trotz vieler Umschweife, die schon
durch die Übertragung auf einige reichsdeutsche Sender und durch die
Zulassung des nationalsozialistischen Publikums im eigenen Lande sehr geboten
waren, ließ sich auch diese Schuschnigg-Kundgebung auf den alten Nenner
bringen. Schon in der Einleitung vermied er eine Vorstellung seines neuen
Innenministers, der doch eine neue Ära einzuleiten bestimmt war. Seine
geschichtlichen Erinnerungen erstreckten sich bis ins Jahr 1866 als dem
Ausgangspunkt des Bruderkrieges, verweilten immer wieder bei dem unseligen
Andenken von Dollfuß, dessen Büste vor dem Rednerpult aufgestellt
war, gelangten zu der abgedroschenen Versicherung von dem friedlichen
Charakter des immer wieder mißverstandenen, vaterländischen
Regimes und seiner unentbehrlichen, deutschen Sendung, wieder kam die falsche
Vorspiegelung, die schon so viel Unheil angerichtet hatte, als ob Deutschland die
Unabhängigkeit Österreichs und die Gültigkeit seiner
augenblicklich bestehenden staatlichen Einrichtungen im Juli 1936 oder
irgendeinmal später bedingungslos anerkannt und etwa gar den
österreichischen Nationalsozialisten entsprechende Aufträge gegeben
hätte. Dagegen wog das wiederholt angewandte Wort vom Deutschen
Frieden wenig, zumal es von der merkwürdigen Seitenbemerkung begleitet
war, es hätte nach fünfjährigem Streit, für den
"Österreich" alle Schuld zurückweise, noch des einen "harten" Tages
von Berchtesgaden bedurft. Überhaupt [163] war der Sprechton
seiner Ausführungen noch unversöhnlicher als später die
gedruckte Rede verriet, denn man hatte zur Unterstreichung gewisser Stellen
für ein darauf eingespieltes Publikum von
Sturmkorps-Männern u. ä. gesorgt. Die nach Berlin
gerichteten Bemerkungen über eine (sehr verspätete) Ablehnung der
Kriegsschuldthese und über die Amnestie und die beginnende
Heranziehung der nationalen Opposition wurden mit Schweigen
übergangen. Die als Pfeile gegen die NSDAP. abgelassenen Redensarten,
etwa daß nicht Nationalismus, nicht Sozialismus die Parole sei, sondern
Patriotismus oder das rhetorische Bis hierher und nicht weiter!, sie wurden mit
minutenlangem Beifall der Claque überschüttet; eine Bemerkung,
Österreichs Aufbau könne nicht mit Wunderzahlen aufwarten, fand
bereitwilliges Gelächter, wie das der selbstgefällige Redner wohl
beabsichtigt hatte. Der Gesamteindruck der "flammenden Freiheitsrede" (wie sie
das dafür zuständige Prager Tagblatt sogleich nannte,
indessen die reichsdeutschen Zeitungen sich begreiflicherweise eines Kommentars
enthielten) war der, daß ein unverbesserlicher
Krypto-Legitimist die Hand des Führers nur zum Schein ergriffen und
wieder zurückgestoßen hatte. - Aber wenn es schon am
20. Februar nach dem öffentlichen Gemeinschaftsempfang der
Führerrede allenthalben zu machtvollen Kundgebungen gekommen war, so
zeigte der 24. Februar ganz deutlich, wie trotz alledem die Braunen mit
elementarer Wucht die Oberhand gewannen. An allen Orten Österreichs,
wo Vereinbarungen über die Veranstaltung von Fackelzügen
zwischen V. F. und NSDAP. getroffen
waren - es hätte programmgemäß ja ein winterliches
Friedensfest werden sollen -, da konnten die bisherigen "Illegalen" weit
größere Massen auf die Straße bringen als diejenigen, die mit
Hilfe der Bajonette jahrelang ein Monopol darauf in Anspruch genommen hatten.
Geradezu überwältigend wurde für Freund und Feind der
nationalsozialistische Fackelzug in Linz, der Jugendstadt des Führers, der
weit mehr Teilnehmer zeigte als vor Beginn der Verfolgungen die Partei dort
Anhänger aufgewiesen hatte. In Graz aber, wo die Braunen mit Erfolg sogar
den Hauptplatz für sich in Anspruch genommen hatten, machten sie, als der
Lautsprecher auf dem Rathause so Unerfreuliches zum besten gab, einfach
[164] kehrt und ließen
die Sprechmaschine allein. Hier zogen ja in Zivil mit Armbinde schon
SA.-Wachen vor den Dienstgebäuden der "Illegale" auf.
Jene "weithin hallenden Akkorde der Kanzlerrede", an deren Entwurf wohl der
Literat Franz Werfel beteiligt war, hatten den Rest an Vertrauen aufgezehrt und
im Widerspruch mit ihrer Phrase vom deutschen Frieden einen letzten Kampf um
die Macht in unmittelbare Nähe gerückt. Bestimmend für den
Ablauf der nun einander jagenden letzten Ereignisse wurde die strategisch nicht
unwichtige Tatsache, daß mit Graz in den Alpen südlich Wien und
Linz westlich am Oberlauf der Donau die zwei nach Wien wichtigsten
Städte für die Bundesregierung nur mehr mit dem Einsatz
bewaffneter Macht zu halten waren. Der wie eine Naturgewalt selbst die
Widerstrebenden mitreißende Durchbruch kam hier bei den Besuchen von
Minister Seyß-Inquart zu überwältigendem Ausdruck. Was
bedeutete es schon viel, wenn in den Landhäusern über die Zahl von
ein oder zwei Regierungssitzen verhandelt wurde, welche die bisherigen
Machthaber abzutreten bereit seien? Oder was hatten die Dutzende Vorbehalte des
Kanzlers und seines Ministers Zernatto zur Legalisierung des Nationalsozialismus
für eine Zukunft? Linz stand geradezu im Kreuzfeuer der
europäischen Berichterstattung, als Seyß, von Zehntausenden
umjubelt, unter denen die noch immer "illegale" den
Ordnungsdienst aufrecht erhielt, am 5. März eintraf, um in einer
über alle österreichischen Sender verbreiteten Rede vor den
führenden Nationalsozialisten Oberösterreichs ein für das neue
Verhältnis von Staat und Bewegung grundlegendes Programm
bekanntzugeben. Jedermann empfand, daß die hier noch anerkannten
Einschränkungen allesamt gering wogen gegen die eine Tatsache der
öffentlichen Anerkennung der bisher freventlich geleugneten
Volksbewegung und gegen die Feststellung des Ministers über die
Ersetzung der "Unabhängigkeit" im Sinne von St. Germain durch
eine deutsch gemeinte Funktion Österreichs im Sinne des richtig
verstandenen Juli-Vertrages. Der ebenso die Volksmenge aufwühlende
Besuch von Seyß in Graz hatte seine große Bedeutung in praktischer
Hinsicht. Zum erstenmal seit fünf Jahren, in denen der Haß der
"Nazis" die beste Empfehlung für [165] politische Streber war,
wichen zwei Größen des Systems - in diesem Falle die lokalen
Hauptpersonen der Steiermark - dem Zorn des Volkes und der
bündigen Versicherung der nationalsozialistischen Führung,
daß sie für die Befriedung des Landes untragbar seien. Ganz
Österreich lachte, als ein Druckfehlerkobold in der damals mit
Riesenauflage eingeführten Essener (Nationalzeitung) die Grazer
Siegesnachricht noch durch den Zusatz verschönte, der mit den Roten so
befreundete, bisherige Landesführer der V. F., Dr. Gorbach
sei nach Wien in das Amt des "Volksfrontführers" (statt
Frontführers) Schuschnigg einberufen worden. Bald folgte ihm der
Landeshauptmann Dr. Stepan nach. Anderseits berief die Regierung von
sich aus den vaterländischen Grazer Bürgermeister Schmidt ab, weil
er wohl in Witterung eines nahenden Umschwungs dem Begehren auf Hissung
einer Hakenkreuzfahne am Rathaus nachgegeben hatte.
Aber schon am 27. Februar erging durch die amtliche Wiener Zeitung eine
feierliche Warnung an die (vom SA.-Führer Dr. Uiberreither
ausgezeichnet organisierte) Steiermark, die angeblich den deutschen Frieden
gefährde, und gewisse militärische Maßnahmen gegen die seit
dem 20. Februar als fast aufständisch geltende Hauptstadt an der
Mur kündigten an, daß man gegebenenfalls auch Kanonen und
Bomber für die Erhaltung des Systems einzusetzen bereit sei. Es galt also
bei der Partei, Entschlossenheit mit Vorsicht vereint für die dicht
bevorstehende Entscheidung einzusetzen. Aber selbst die Reichspost
stellte fest, daß z. B. im Ennstal die öffentliche Gewalt schon
auf die S. A. übergehe und ein dortiger Bezirkshauptmann in
Umkehrung des bisher Gewohnten bereits gegen die störende Einmischung
der "Vaterländischen" nach Graz protestierte. Im Landhaus legte das
volkspolitische Referat Listen auf, in die sich fast die gesamte Beamtenschaft
dieser Zwingburg des Systems als gesinnungsverwandt
eintrug. - Dagegen erwies sich der zuerst im
In- und Ausland laut verkündete Plan des jetzt sehr regsamen Zernatto, eine
"Lawine" von 3000 V.-F.-Versammlungen unter dem Titel "Mit Schuschnigg
für Österreich!" abrollen zu lassen, schon als undurchführbar.
Denn auf Grund der gewonnenen Gleichberechtigung
ver- [166] langten die
volkspolitischen Referenten entweder die Teilnahme nationalsozialistischer
Redner an den Frontveranstaltungen oder die Abhaltung eigener Versammlungen
unter demselben gesetzlichen Schutze - eine für das System
katastrophale Alternative. In die Winde verhallten die Klagen des
Generalsekretärs über mangelnde Durchorganisierung der
V. F., wo doch gemessen an ihrer wirklichen Anhängerschaft darin
viel zu viel geschehen war. Auch der sonst geschäftstüchtige Dichter
Zernatto verlor über den Ereignissen, die er nicht mehr übersehen
konnte, den Kopf und zog sich durch ein in dem Märzheft seines Neuen
Leben erscheinendes Lied den Fluch der Lächerlichkeit zu, da er Klage
führte, daß kein Hund auf der Straße mehr seiner Spur folge! Er
hatte damals, freilich ohne es sich zugestehen zu wollen, für sein Neues
Leben in jeder Hinsicht ausgesorgt.
Vorurteilslose Fremde stellten damals schon fest, Österreichs politisches
Antlitz habe sich in den paar Wochen seit dem 12. Februar vollkommen
verändert. Das galt vor allem für die Städte der
Bundesländer, wo das Heil Hitler! in keiner Hinsicht mehr
unterdrückt werden konnte; das galt aber auch für Wien, dessen
Bürgermeister noch immer Schmitz hieß. Doch hier, in der einst unter
blutigen Kämpfen niedergebrochenen Hochburg des
Austro-Marxsmus setzte Schuschnigg den Hebel zu einem verzweifelten Versuch
der Machtbehauptung an, zu der jene Ernennung des Gewerkschafters Watzek den
ersten Schritt gebildet hatte. Noch die Berichte über eine unmittelbar nach
Berchtesgaden abgehaltene, im Zeichen der werdenden Volksfront abgehaltene
Massenversammlung mit dem Wiener Bürgermeister und einem
"ehemaligen" sozialdemokratischen Funktionär als Rednern sind im Inland
unterdrückt worden. Doch angesichts der Vorgänge in den
Bundesländern gelangte ein förmlicher Pakt zwischen Kanzler und
marxistisch ausgerichteten Arbeiterführern zum Abschluß, der sich
der Zustimmung der gesamten, auch bisher bürgerlichen Judenschaft
erfreute. Die Scheinherrschaft der christlichsozialen Häupter im
Gewerkschaftsbund wurde preisgegeben, die Freiheit der Arbeiterpresse und einer
entsprechenden "kulturellen" Betätigung wurde zugesichert, ja sogar die
Wiederherstellung des Schutzbundes [167] unter der leichten
Tarnung eines Wehr- und Sportverbandes zugesagt. Hinsichtlich der
Heranziehung von Marxisten in die Vertretungskörper der theoretisch noch
immer festgehaltenen Mai-Verfassung vereinbarte man, daß sie mindestens
nicht schlechter als die Nationalsozialisten gestellt sein dürften. So sah
nach außen die "Gleichberechtigung" der roten Arbeiterschaft, die
Sühne für den Februar 1934, aus. Wie diese Vereinbarungen
eigentlich gemeint waren, das sagte in erschreckender Deutlichkeit ein Aufruf der
jetzt überaus regen Sozialen Arbeitsgemeinschaften der V. F.,
wonach alle in der Arbeiterschaft bestehenden
Anschauungen - also auch die kommunistische und
anarchistische! - in ihnen freien Ausdruck finden
könnten - mit alleiniger Ausnahme der nationalsozialistischen! Die
Drahtzieher dieser sogenannten neuen Arbeiterbewegung schämten sich
nicht, neben den Arbeitern in den Betrieben sogar die beklagenswerten sozialen
Opfer des bisherigen Systems, die Dauer-Arbeitslosen, zur
Unterschriftensammlung für die "Freiheit" Österreichs zu pressen.
Dabei erhielten sie allerdings aus vielen Betrieben sehr unerwartete Antworten;
besonders aus Ober-Österreich hagelten Protesttelegramme herein, indessen
die Wiener Kolportagepresse von Millionen Unterschriften fabelte, wie in diesen
für jeden Österreicher aufregenden Tagen die Gefahr eines
vollkommenen Chaos, einer verschlechterten Wiederkehr des Parteienstaates
anstieg, aus dem vielleicht die schwarzen Desperados letzten Endes als
Schiedsrichter wieder hochzukommen hofften, das zeigt die Unruhe, die sogar die
abgewirtschafteten Heimwehrhäuptlinge ergriff. Auch sie, voran Fey und
Starhemberg, wollten angesichts des allgemeinen Aufbruchs aller politischen
Geister mit ihren letzten Mannen und dazu noch jeder für sich,
irgendwelche Abenteuer vorbereiten. Selbstverständlich zerfiel
darüber die von Schuschnigg erst vor ein paar Wochen zusammengestellte
Regierung innerlich, wenn auch die Nationalsozialisten nicht daran dachten, ihre
eben gewonnene Schlüsselstellung freiwillig zu räumen.
Da spielte der Bundeskanzler
entgegen dem Sinn und Wortlaut aller mit dem
Führer bzw. Seyß-Inguart eingegangenen Bindungen seinen letzten
Trumpf aus. Kraft seiner Gewalt als Frontführer der V. F. setzte er
zunächst in tiefem Geheim- [168] nis eine der so
hochgepriesenen Dollfuß-Verfassung widersprechende und sogar vom
Bundespräsidenten Miklas abgelehnte "Volksbefragung" (staatlich
verankerter Volksentscheid war es ja nicht) ins Werk! Er fand es für gut,
Mussolini von seinem Plan Mitteilung zu machen; aber die ernste Warnung des
Duce, diese Bombe könnte leicht in seiner Hand platzen, schlug er in den
Wind. Dagegen setzte er seinen Innenminister Seyß erst von dem bereits
dank Zernattos verblendetem Zuspruch unumstößlich gewordenen
[144b]
Dr. Schuschnigg und Minister Zernatto schreiten die Front des
S. K. (Sturmkorps der V. F.) bei der Ankunft in Wien nach der
Rede in Innsbruck ab.
10. 3. 1938.
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Entschluß in Kenntnis; wurden ja damals nebst Millionen Flugzetteln auch
schon falsche Abstimmungsergebnisse am laufenden Bande hergestellt. So fuhr
Schuschnigg zu einer Rede, die seine letzte sein sollte, am 9. März
nach Innsbruck, wo er an die Frontkundgebung vom vergangenen September
anknüpfen wollte. Er begann mit einer nochmaligen Beschwörung
von Dollfuß und einer sehr unangebrachten Erinnerung an Tirols
Landeshelden Andreas Hofer - die
Hoferworte "Mander, s' ischt an der
Zeit!", die er gebrauchte, wurden sofort in einem ganz anderen Sinn als sie
gemeint waren, in ganz Österreich weitergegeben. Daraufhin
verkündete er, höhnisch wie immer, die große
Überraschung, daß am kommenden Sonntag, 13. März,
die Volksabstimmung "gemacht" werde, nach der so lange gerufen worden sei; er
allein verantworte sie und er stehe und falle mit ihr! Zugleich erschien ein recht
wortreicher Aufruf mit der Aufforderung an das Volk Österreichs, sein
Votum für die "Freiheit" des Vaterlandes und für die Führung
Schuschniggs abzugeben. Aus durchsichtigen taktischen Gründen erfuhr
der "deutsche Friede" eine deutliche Erwähnung, als ob das Ja für
Schuschnigg ihn bekräftigen hieße, eine Ablehnung dieser
fragwürdigen Volksabstimmung mit seiner Verneinung gleichbedeutend
wäre; von der so vielgenannten berufsständischen Ordnung, um
derentwillen angeblich auch das Blut der beiden Bürgerkriege von 1934
geflossen war, hörte man plötzlich nichts mehr.
Die nationale Opposition und ihre Vertrauensmänner in Regierung und
V. F. aber hatten sich in der gedrängtesten Frist von Tagen und
Stunden vor allem mit der geplanten Art der Abstimmung, ihrem politischen und
formalrechtlichen Charakter auseinanderzusetzen. Denn damit sollte
offensichtlich die Ent- [169] scheidung über
ihr eigenes Schicksal vorweggenommen werden. Die
Durchführungsbestimmungen nun waren wenigstens für Europa
beispiellos zu nennen. Die Abstimmung würde nicht unter der
unmittelbaren Verantwortung von Regierung und Behörden, sondern von
Landeshauptleuten und Amtswaltern der V. F. veranstaltet. Nur die
V. F.-Leute dürften in den Wahllokalen verbleiben, wodurch auch
bei der Auszählung der Stimmen jede Kontrolle weggefallen wäre.
Es gebe aber auch keine Wählerlisten; jeder Wahlberechtigte könnte
sich mit irgendeinem Personalausweis vorstellen, den die Wahlkommission
abstempeln sollte. Hätte jemand angeblich keine Legitimation zur
Hand - da schon der polizeiliche Meldezettel ausreichend war, hätte
dieser Fall mit Fug und Recht als ausgeschlossen gelten
können! -, so genügte schon die Zustimmung des Wahlleiters
ihn zur Abstimmung zuzulassen. Diese selbst sollte nicht in Zellen stattfinden,
sondern je nach Selbsteinschätzung des Wählers offen oder geheim,
d. h., wer nicht sein Bekenntnis, wie erwartet, offen durch Gebrauch des
vorgedruckten Stimmzettels ablegen würde, der könnte auf einem
Stück Papier etwas anderes schreiben und von dem Vorsitzenden einen
Umschlag dazu verlangen. Nur die reiferen Jahrgänge von 1914
aufwärts durften überhaupt antreten; in Wien aber schloß der
Bürgermeister mit einer Durchführungsverordnung auch fast alle
Vierundzwanzigjährigen aus. Die oberste
V. F.-Leitung ordnete noch zusätzlich an, daß alle
öffentlichen Angestellten an ihrem Dienstort bereits am Vortage
abzustimmen hätten, und dies unter keinen Umständen auf den
allgemeinen Wahltag verschieben dürften. Doch eben all das öffnete
auch dem schlichtesten Manne alsbald die Augen über die Falle, die da
ausgestellt war: Taten die Braunen mit, dann legten sie sich selbst die Schlinge
um den Hals, die Schuschnigg dann jederzeit unter Berufung auf das Votum
für seine Person und sein Prinzip zuziehen konnte; blieben sie fern, wie es
ihnen Herz und Verstand nahelegte, dann waren sie, wie es schon verlautete,
"Meuterer" gegen den "deutschen Frieden" und durch einen organisierten
Wahlschwindel sondergleichen einer fiktiven Mehrheit ausgeliefert, hinter der
schon bestimmte schwarze und rote, jüdische und freimaurerische
Interessenten auf den vernichtenden [170] Streich warteten. Dem
Beamten in der Kanzlei und dem Arbeiter im Betriebe drohte die Entlassung,
wenn er am kommenden Montag nicht die Wahlbestätigung nachweise,
während die dazu Willigen sich wohl mehrere solche leisten konnten. In
Wien, wo die feindlichen Mächte am sichtbarsten waren, breitete sich selbst
unter der in die Bereitschaft der Gliederungen einrückenden Jugend eine
trotzige Entschlossenheit aus, die nicht mehr nach dem Siege fragte; unterlag der
eine oder andere der Berufstätigen dem Druck der Stunde, so wandten sich
noch mehr, die bisher zur Bewegung nicht gefunden hatten, von einem ihnen
bisher in besserem Lichte oder als gleichgültig erschienenen System wie
nach einer Demaskierung ab und vollzogen zunächst für sich den
Schlußstrich unter die Täuschungen der letzten fünf Jahre. In
den Ländern jedoch, wo die wahre Machtverteilung sich in den letzten
Wochen schon geklärt hatte, da stellte sich der neuerdings in seiner
friedlichen Legalisierung bedrohte Nationalsozialismus sofort zum Widerstand
mit all seinen Folgerungen bereit.
Der sowohl für die öffentliche Sicherheit als für den
Berchtesgadener Kurs verantwortliche Minister
Seyß-Inquart gab sich über die Unhaltbarkeit der von Schuschnigg
überfallsartig heraufbeschworenen Lage und ihren eigentlichen Hintergrund
keinem Zweifel hin. Während von zwei auseinanderliegenden Stellungen
her Legitimismus und Marxismus unter Abwerfung ihrer bisherigen
Verkleidungen zum Angriff auf den entfesselten Nationalsozialisinus vordrangen,
indessen in kunterbunter Reihe die Vertreter der in Österreich vorhandenen
Internationalismen sich aus dem Gegensatz zur völkischen
Freiheitserhebung heraus in "Treue"-Kundgebungen und Wahlaufrufen ein
letztesmal zum Worte meldeten und etwa der Präsident der reichen Wiener
Israelitischen Kultusgemeinde dem Generalsekretär der V. F. ein
Vermögen zur freien Verfügung einhändigte, rang Seyß
mit Schuschnigg um Zurückziehung oder wenigstens um Aufschub des
Pseudo-Volksentscheides. Mit des Ministers Zustimmung ließ
Dr. Jury die Parole der Stimmenthaltung hinausgehen, die eine
unanfechtbare, rechtliche Begründung enthielt; durch das sogar die eigene
Mai-Verfassung übergehende und das berufsständische
Grund- [171] gesetz der V. F.
verleugnende Verhalten des Bundeskanzlers sei es überhaupt
unmöglich, eine politische Vertrauensgrundlage festzuhalten und, was an
formalen Bindungen ihm gegenüber eingegangen sei, bestehe nicht mehr.
Vergebens die Anstrengungen Schuschniggs, durch Beschlagnahme des Aufrufs
von Jury und die Zumutung an Seyß, diesen seinen wichtigsten Mitarbeiter
fallen zu lassen, dem unaufhaltsam anrückenden Verhängnis zu
entgehen. Als am 11. März früh
Glaise-Horstenau zurückkam, der einige Tage zuvor ohne Wissen von der
bevorstehenden Wendung nach Stuttgart und erst von da spontan nach Berlin
gereist war, konnte er Seyß nicht allein sein bedingungsloses,
persönliches Einverständnis mitteilen, sondern auch die Tatsache,
daß das Reich den in Berchtesgaden erwogenen Ernstfall eingetreten sehe.
Auf der Schuschnigg-Front dagegen riß ungeachtet der nun alle
Straßen übersäenden Millionen Flugzettel (darunter solche mit
der wahrhaft das Schicksal herausfordernden Bemerkung, die "Nazis"
würden am Sonntag alle Schuschnigg wählen, damit die Welt nicht
sehe, wie wenige ihrer seien) eine von Stunde zu Stunde sich steigende
Nervosität ein. Radio-Wien verkündete zwar immer wieder, die
Sonntagabstimmung finde unter allen Umständen statt, aber einmal wurde
diese, dann wieder jene Durchführungsvorschrift unter dem Druck der
aufgewühlten öffentlichen Meinung geändert.
Freitagvormittag berief man sogar den eben von der Wahl ausgeschlossenen
Jahrgang 1915 zu ihrem "Schutze" ein, in Wahrheit um die jungen Leute in die
Kasernen zu bringen und einen Teil von ihnen als Bürgerkriegsreserve zu
verwenden. Die meisten Garnisonen blieben ohnedies "konfiniert" und selbst auf
Zuwarten und Abhören des Rundfunks angewiesen, indessen der Wiener
Bürgermeister mit der Verteilung von Waffen an die zweifelhaftesten
"Freiheitskämpfer" begann, und die noch immer gegen Graz eingesetzten
"zuverlässigen" Truppen einen neuen Versuch zur Zernierung der Stadt
machten. Hier gelang der Jugend der erste unblutige Sieg über offene
Gewalt, als die Buben und Mädel der höheren Schulen als Protest
gegen die Absetzung eines beliebten Lehrers allesamt ihre Klassenzimmer
verließen und die Hauptstraßen gegen den Vorstoß der
Bewaffneten mit [172] ihren Leibern
abriegelten. Auch in Wien stellte in den Nachmittagsstunden die Polizei den
Kampf gegen die z. B. die Kärntner Straße mit ihren
Sprechchören beherrschende Hitler-Jugend ein. Die Zahl der
Hakenkreuzträger wurde in dem Maße Legion, als die
vaterländischen Zwangsabzeichen von der Bildfläche verschwanden
und da und dort Versuche mit Drei-Pfeilen oder gar mit dem
Sowjet-Stern stattfanden. Das "Deutsche Eck" der
Reichsbahn-Werbestelle vor der Oper passierten Zehntausende Wiener, um vor
dem in Blumen versinkenden Führerbild die Hand öffentlich zum
Deutschen Gruß zu erheben. Die SA. und der
Bundeshauptstadt versammelte sich, der großen Stunde gewärtig,
zum entscheidenden Appell. Dazwischen nahmen sich die noch immer
zettelstreuenden und "wir wählen Schuschnigg!" schreienden, bezahlten
V. F.-Männer auf ihren Lastkraftwagen in Umkehrung jahrelanger
Verhältnisse selbst als die "Unentwegten" aus, was sie freilich nur unter
dem Schutze der augenblicklich noch geltenden Gesetze markierten. Wie schon
bei den Kundgebungen des braunen Wiens am 20. Februar tauchten mit
sinkenden Abend Hakenkreuzarmbinden, ja -fahnen auf. Was bedeuteten da noch
ein paar Verhaftungen durch übereifrige Wachorgane oder die Verteilung
von Extrablättern, die alle Arbeiter zur Treue für das "freie
Österreich" aufforderten oder eine letzte Ausgabe des jüdischen
Telegraf, der sich aus England melden ließ: "Österreichs
Volk erhebt sich für Unabhängigkeit!"?
Denn auch im Ballhauspalais ging der Kampf der fünf Jahre an diesem
11. März zu Ende. Das System entsprach nur dem Gesetz, wonach es
angetreten, wenn der von einem Besuch bei seinen englischen Freunden im
österreichischen Wintersportgebiet eilends nach London
zurückgekehrte Gesandte Baron Frankenstein noch nach einer Intervention
der Westmächte sondierte, nachdem die Italiens ausblieb.
Außenminister von Ribbentrop, der eben auf Abschiedsbesuch an der
Themse weilte, konnte mit entsprechenden Aufklärungen auch dort dienen,
wo man nur ungern auf eine Einmischung in die mitteleuropäische
Neuordnung verzichtete. Der Bundeskanzler selbst hatte sich, nachdem der
Nationalsozialismus den Griff nicht mehr locker ließ, in dem kunstvollen
Netz seiner jahrelang geübten [173] Widersprüche
unrettbar gefangen. Er wußte, daß schon die bloße
Verschiebung der Volksabstimmung so oder so sein politisches Ende
herbeiführe, und zog sie Stunde um Stunde hinaus. Er glaubte aber auch
den Rücktritt von Glaise und Seyß nicht herbeiführen zu
können, da dann vor aller Welt der Bruch des
Juli- und des Februar-Abkommens offenbar gewesen wäre. Er hieß
noch immer Frontführer und mußte sich endlich eingestehen,
daß von einem Einsatz dieser auf dem Papier drei Millionen
zählenden V. F. im Ernstfalle ja gar nicht die Rede sein konnte, und
die von ihm in der Form der verschiedenen Referate eingerichteten
Gegengewichte nun zur völligen Desorganisation führten. So blieb
ihm als letzter Ausweg nur seine Abdankung in die Hände der Garanten der
nationalen Befriedung übrig, wollte er nicht das vollgerüttelte
Maß seiner Schuld durch Entfesselung des blutigen Chaos zum
Überlaufen bringen. Diesmal hatte sich die Bewegung in dem einen Monat
seit dem Berchtesgadener Gespräch ganz anders als 1934 sammeln
können, und stand auch die europäische Politik im Zeichen der
Achse Berlin - Rom, in der kein Platz mehr für den
Dollfuß-Separatismus war. So fiel denn das Los eindeutig, als um etwa
4 Uhr nachmittags die Abstimmung für "aufgeschoben"
erklärt wurde. Minister Seyß, in dessen Hände
zwangsläufig die eigentliche Regierungsgewalt überglitt, ließ
bereits die SA. als Hilfspolizei antreten und vereint mit der Wiener "illegalen"
SA. vollzog die -Standarte 89 als Sühne
für die einst von ihr getragene mißglückte
Juli-Erhebung eine neuerliche Besetzung des Bundeskanzleramtes und seiner
Umgebung. Nach 7 Uhr abends verkündete Schuschnigg endlich
seinen Rücktritt durch den Rundfunk. Wenn er damit einer geschichtlichen
Notwendigkeit Rechnung trug, so verlor auch dieser Schritt jede menschliche
Größe durch kurz hervorgestoßene, unwahre Behauptungen, als
ob er eigentlich nur einer auswärtigen Gewalt weiche, indessen die innere
Lage dies gar nicht erfordert hätte. Erst als die nationalsozialistischen
Kolonnen in allen Gauen sich bereits auf den Aufmarschstraßen sammelten,
entschlossen, "sich ihr Recht selbst zu verschaffen", lief die Kunde vom Sturze
des Bundeskanzlers durch den Äther.
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