[86]
Der "Siegfriede" über das eigene
Volk
(Die Ära
Schuschnigg-Starhemberg)
Der "25. Juli" gewann angesichts der Unnatur der österreichischen
Verhältnisse noch weit unheilvollere Bedeutung als der vorangegangene
"12. Februar". Der Besitz der staatlichen Machtmittel durch die
"Vaterländer", die Ungunst der damaligen europäischen Lage
für das Reich (das auch eine Einmischung seines Gesandten
Dr. Rieth in die Verhandlungen zwischen Regierung und
Aufständischen mit seiner sofortigen Abberufung ahndete), und eine Reihe
unvorhersehbarer Zwischenfälle hatte seit jenen
März-Ereignissen von 1933 den bisherigen Stützen und
Nutznießern des Dollfuß-Kurses eine Handlungsfreiheit
überantwortet, die sie auch zum Bessern hätten brauchen
können. Das wirtschaftlich ohnedies hoffnungslos darniederliegende Land,
mit einem zeitweiligen Stand von 400 000 gezählten Arbeitslosen
war in einem einzigen halben Jahre durch zwei Bürgerkriege
hindurchgegangen; im Österreich von 1934 war mehr Blut geflossen als je
seit der 48er Revolution. Mochte die Regierung die beidemal bewährte
Rückendeckung durch das Ausland auch einer skrupellos die Wahrheit
über die inneren Verhältnisse verhüllenden Propaganda
danken, so hatten die eben beendeten schweren Kämpfe doch gezeigt, wie
starke Gegenkräfte sich inmitten aller Verfolgungen einer nur
äußerlich gebändigten Opposition erheben konnten. Eine
wirtschaftliche Aufrichtung Österreichs und die Erringung einer wirklichen
"Unabhängigkeit" wäre nur auf Grund einer Versöhnung
über den offenen Gräbern möglich gewesen. Adolf Hitler
kündigte im Einvernehmen mit dem Reichspräsidenten von
Hindenburg in hochherzigem Entschluß die Entsendung des bisherigen
Vizekanzlers Franz von Papen als einer zur Vermittlung besonders geeigneten
Persönlichkeit in besonderer Mission nach Wien an. Sonderausgaben mit
dieser Nachricht wurden von Regierungsflugzeugen über den Linien der
noch unbezwungenen tapferen Freiheitskämpfer in Kärnten
abgeworfen und erleichterten ihnen, die den Druck der außenpolitischen
Lage unmittelbar empfanden, den
Entschluß [87] zu ehrenvoller
Waffenstreckung. Auch die Ernennung des Dr. von Schuschnigg zum
Bundeskanzler durch Miklas mit Übergehung des Vizekanzlers
Fürsten Starhemberg, der während der Krise am Lido geweilt und
erst nach der Entscheidung aus dem Ausland eingetroffen war, konnte im ersten
Augenblick als Moment der Entspannung gedeutet werden; wußten
eingeweihte Kreise ja auch, daß er in grellem Widerspruch zur Steigerung
des Regierungsterrors in den letzten Wochen von Dollfuß Verhandlungen
mit dem "illegalen" oberösterreichischen Bauernführer Ing.
Reinthaller anzubahnen verstand, und diese bereiteten eine politische
Bewegungsfreiheit der Nationalsozialisten in Formen vor, wie sie etwa zur Zeit
Konrad Henlein für seine sudetendeutsche Bewegung ausbildete. Neben der
freilich vergeblichen Hoffnung Schuschniggs, dabei auf eine Spaltung der
NSDAP. hinarbeiten zu können, mag damals wie schon früher und
wieder später in ernsten Stunden, auch die Erwägung mitgesprochen
haben, ein Ventil zu öffnen, um den Überdruck des Systems zu
kompensieren. Die Besprechungen über die "Aktion Reinthaller" fanden
durch das Erscheinen der Zeitschrift Der Weg ihre Ergänzung. Dies
hätte während der angekündigten Sendung von Papens als
außerordentlichen Gesandten des Reiches mit unmittelbarer Unterstellung
unter dem Führer und Reichskanzler sich zu einer glücklicheren
Wendung in der Geschichte dieses vielgequälten Landes
zusammenfügen lassen. Selbst der sterbende Recke Hindenburg, einst auch
Kriegsheld Österreichs, hatte dazu seinen Segen noch gegeben.
Doch der Opfer sollten noch lange nicht genug gewesen sein! Der
Bundespräsident, der bisher zur VF. wenigstens persönlich einen
gewissen Abstand einzuhalten gewillt war, kehrte von seiner Kärntner
Sommerfrische (wo er beinahe seiner Bewegungsfreiheit beraubt worden
wäre) mit dem Entschluß zum bedingungslosen Festhalten am
sogenannten Dollfuß-Kurs heim. Unter Berufung auf den angeblichen
Wunsch des sterbenden Dollfuß - glaubwürdig aus der
Situation heraus ist nur sein Wort überliefert, Rintelen möge Frieden
machen - übergab er seinem klerikalen Freunde Schuschnigg das
Kanzleramt, der seinerseits gleichzeitig dem Vizekanzler Starhemberg die
Führung der VF. (die Dollfuß in einer Person vereinigt [88] hatte) übertrug.
Der Heimwehrfürst erreichte für seinen vorläufigen Verzicht
auf Diktaturgelüste auch noch die Verselbständigung des
Außenministeriums statt der bisherigen Personalunion mit dem
Kanzlerposten durch Betrauung des steirischen Heimwehrführers Baron
Berger-Waldenegg; dieser führte sich für die deutschfeindliche Welt
verheißungsvoll ein, indem er das Agrement für Papen erst ausstellte,
als das Auswärtige Amt auf die Umschreibung einer bestimmten Frist
für seinen Auftrag verzichtet; wenn er mit Vorliebe Bismarck im Munde
führte, so nur immer mit dem Hinweis, daß der Reichsgründer
die Staatlichkeit Österreichs voll anerkannt habe, als ob er damit das
Österreich von St. Germain und Lausanne gemeint und jeden
Volksverrat hätte decken wollen; und seine Vorstellung bei den
ausländischen Journalisten enthielt das offene Eingeständnis,
daß er mit Gesinnungsfreunden seinerzeit dem Schoberschen
Zollunionsplan in den Rücken gefallen sei, denn die Deutschen
hätten sich nun einmal, da sie Paris nicht erobern konnten, auf die
Eroberung Wiens verlegt! Dieser schönen Seele konnte beruhigt die
Unabhängigkeit Österreichs anvertraut und nach Starhembergs
Forderung die Herstellung eines "100prozentigen Siegfriedens" im Innern des
Staates in Angriff genommen werden.
[144a]
Absperrung des Stephansdomes während des Requiems
für Dr. Dollfuß. 30. 7. 1934.
|
Die erste Tat der neuen Regierung war nebst der Versorgung der Familie
Dollfuß die Einsetzung von Militärgerichten, die neben den
fortbestehenden Standgerichten über "Rebellen" aller Art Schnellurteile zu
fällen hatten. Allein über die Angreifer des Bundeskanzleramtes und
der Ravag - darunter Planetta und Holzweber, die mit dem
Führergruß auf den Lippen ihr Leben
hingaben - wurden acht Todesurteile verhängt und vollzogen,
außerhalb Wiens weitere fünf deutsche Männer dem
schimpflichen Galgentode überantwortet. Streberei, Sadismus und
Denunziantentum konnten sich ausleben, wenn die Bluturteile nicht schon durch
Winke von oben vorgezeichnet waren. Der Geist dieser
Gelegenheits- und Abschreckungsjustiz, über die schon die Rekorde an
Zahlen der Verurteilten und der verhängten Kerkerstrafen viel aussagten,
sei noch durch ein paar Urteile in Fällen gekennzeichnet, die abseits der
großen Heerstraße der Ereignisse lagen: Ein paar [89] Tage vor dem
Juliaufruhr durchfuhr ein Auto mit nationalsozialistischen Häftlingen ein
Dorf, wo sich die Leute zusammenrotteten; aus ihrer Mitte fällt ein Stein
gegen die Begleitung des Transportes und zerschlägt eine Fensterscheibe,
der Täter wird verhaftet und erhält wegen Aufruhrversuches
lebenslangen schweren Kerker. Oder zwei Ischler Salinenarbeitern wird ein
Versteck von Sprengstoff nachgewiesen; sie können den Beweis
führen, daß sie sich auf diese Weise nur ihres gefährlichen
Besitzes entledigen wollten; vergebens, gemäß dem Buchstaben des
[144b]
Nationalsozialisten im Freihofkeller
in Mödling. 1934.
|
neuen Gesetzes wird das Todesurteil über beide ausgesprochen und, wie es
die unerbittliche Staatsgerichtsordnung vorschrieb, drei Stunden später am
Galgen vollzogen. Oder ein steirischer Oberlehrer, der in einem Gefechte der
Aufständischen seinen einzigen Sohn verloren hat, vermittelt zwischen
diesen und den Gendarmen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden;
trotzdem die Verteidigung seine außerordentlichen Verdienste um die
Heimat in Krieg und Frieden hervorhebt, erhält er von einem
Militärgericht wegen Mitwirkung am Freiheitskampfe lebenslangen
schweren Kerker. Oder ein junger Kärntner Forstadjunkt bietet auf Grund
der Wiener Radiomeldung die SA. seines Ortes zum Ordnungsdienst auf; er
entläßt seine Leute, als die Mitteilung von der Ernennung Rintelens
richtiggestellt wird, sofort nach Hause - auch das reichte schon für
zwölf Jahre schweren Kerkers aus. Dagegen bleiben die zahllosen,
willkürlichen Verhaftungen, Mißhandlungen und Erpressungen aller
Art, die besonders in Kärnten im Zuge der "Säuberung" von den
Söldlingen der Regierung verübt wurden, ohne Sühne. Im
Gegenteil. Der Sicherheitsdirektor von Steiermark setzte die Auffassung durch,
daß alle Unkosten der Regierungsaktionen gegen die "Rebellen" durch
Kontributionen auf vermögendere naziverdächtige Personen
hereingebracht werden müßten; dabei belastete die
Bevölkerung ohnedies schon eine eigene, die Einkommensteuer
ergänzende "Sicherheitssteuer". Es bildet sich geradezu die
Staatsräson heraus, auch nach gänzlicher Einstellung der
nationalsozialistischen Kampfhandlungen, die mit dem tragischen 25. Juli
abgeschlossen waren, den Alarmzustand wie zu Schauzwecken künstlich
aufrechtzuerhalten. Viele Monate hindurch, als längst keine Knallerbse
mehr losging, konnte [90]jedermann vor den
zivilen Staatsgebäuden Posten mit Karabinern sehen, für das
Bundeskanzleramt wurde ein eigenes mit Gasmasken versehenes Gardebataillon
aufgestellt und die in- und ausländischen Besucher des
Haus-, Hof- und Staatsarchivs mußten den Weg zu ihrer Forscherarbeit an
schußbereiten Maschinengewehren vorbei nehmen.
So unheilvoll die von Sondergerichten, Wehrverbänden,
Sicherheitsbehörden und Einzelpersonen in Arbeitsteilung geübte
Abschreckungsmethode auch gewirkt haben mag, so rächte sich die
Zweideutigkeit des Systems doch an seinen Urhebern insoweit, als sie mit dem
Nazismus, der für sie ein vielköpfiges Ungeheuer gewesen sein
muß, nie fertig wurden. Inmitten der furchtbaren Bedrängnis, die
über die Bewegung im Sommer 1934 hereinbrach und auch vielen
Tausenden, die Galgen und Kerker entgingen, das Leben in der Heimat
unerträglich machten, verschaffte die oben kurz gestreifte Aktion
Reinthaller der "Illegale" eine erste Atempause. Als dann im kommenden Oktober
die Regierung eine Indiskretion jüdischer Zeitungen und das daraus im
vaterländischen Lager entstehende Geschrei über die notwendigen
Zugeständnisse zum Anlaß nahm, die Verhandlungen
überhaupt abzubrechen, da war vom Nationalsozialismus bereits eine neue
Taktik entwickelt, die trotz aller unersetzlicher Lücken in der Mannschaft
den Kampf ebenso ungebrochen wie bisher, nur geschmeidiger und
unauffälliger fortführte. Freilich, hatte die Regierung schon
früher mit der Verdrehung aller Begriffe von Legalität sich
behauptet, und die Härte ihrer Maßnahmen durch den "Terror" der
"Nazis" gerechtfertigt, indessen die Reihenfolge der Tatsachen gerade umgekehrt
lag, so ging sie nun vollends an den besiegten und doch nicht
[128b]
Totenfeier der V.F. vor der Hofburg:
Beginn des vaterländischen
Dollfuß-Kultes.
8. 8. 1934.
|
überwundenen Gegner mit vergifteten Waffen heran. Eine gerissene, von
den Juden und Klerikalen mit dem Pressechef Ludwig an der Spitze bearbeitete,
nicht zuletzt auf die Wirkung im wenig unterrichteten Ausland abgestimmte
Propaganda erstickte alle innenpolitischen Friedenshoffnungen von der Wurzel
an. Die gesamte Schuldfrage, wie es zu dem 25. Juli kommen mußte, wurde
auf die natürlich von langer Hand vorbereitete "Ermordung des
Heldenkanzlers, der sein Leben für die Freiheit Österreichs opferte"
reduziert, und dem in zahllosen [91]
Straßenumbenennungen, Denkmal- und Bildnisenthüllungen
sinnfälligen Ausdruck gegeben. Hiermit schien geradezu der archimedische
Punkt gefunden, um den man die bisher so schwach verankerte Ideologie der VF.
wirkungsvoll aufbauen konnte. Der Märtyrer Dollfuß wurde die
Inkarnation eines österreichischen Sonderlebens, das es nun alle
Jahrhunderte hindurch aufzusuchen und auf Kosten von Preußen,
Protestanten, Alldeutschen und anderen dunklen Gewalten hochzustellen galt. Die
Habsburger erhielten auch in Gestalten wie Ferdinand II. und
Franz I. die besten Zensuren und ein eigenes Gesetz zum Schutze der
österreichischen Vergangenheit sicherte diesen Geschichtsbetrieb vor
Störungen, vor allem durch die gefürchtete reichsdeutsche Literatur,
z. B. über die Sixtusbriefe. Politischer Katholizismus und
Heimwehrfascismus, der aus seiner Totenstarre erwachende Legitimismus und
sogar eine Abart jüdischen Literatentums wetteiferten im Aufbau einer
künstlichen Ideologie, wonach das Österreich von St. Germain
doch das Wesen der Austria aeterna, ja auch des alten, großen
Römisch-Deutschen Reiches in sich trage; die große geschichtliche
"Sendung" - ein Lieblingswort des
Systems - des kleinen (fast rein deutschen) Staates sei "übernational"
und "universal"; sie äußere sich in der Gegensetzung zum
preußischen, im Nationalsozialismus fortlebenden Machtstaatengedanken
und in der bewußten Hinwendung zum Süden, zur Romanitas als
Wurzel seiner Kultur, zum Vatikan und zum Palazzo Venezia als Schutz gegen
die Anschläge des drohenden Rassismus. Obwohl der Dr. Ernst Karl
Winter in Dollfuß seinen persönlichen Gönner verloren hatte
und seine Unfähigkeit zu einer politischen Organisation schließlich
mit seinem Rücktritt vom Vizebürgermeisterstuhl quittiert wurde,
brachte erst die Ausschrotung des 25. Juli seine krankhaften
Geschichtsklitterungen oft ohne Namensnennung in Verbindung mit dem
öffentlichen Leben. Bezeichnend genug für die Entwicklung dieser
Geistigkeit ist noch knapp vor Torschluß eine Kundgebung
vaterländischer Jugendführer anläßlich eines Besuches
von italienischen Militärschülern in Linz gewesen; danach beginne
die Geschichte Oberösterreichs mit der römischen Eroberung (also
weder mit der frühgermanischen noch bajuvarischen Siedlung), und das
[92] Blut der
römischen Legionäre habe ebenso wie das der christlichen
Märtyrer den Samen seiner Kultur ausgestreut, deren deutsches Wesen
überhaupt unerwähnt blieb. Überspitzte Geistreichelei
begegnete sich mit kindlicher Einfalt. Was hatte die Berufung auf den
Heldenkanzler nicht alles zu verantworten! Ein vom Bundeskanzler Schuschnigg
selbst mit einer Einleitung empfohlenes Goldenes Buch der
österreichischen Geschichte von Josef August Lux endete seine
dürftige Erzählung mit der Versicherung, daß Österreich
nur Gott und dem Hl. Vater gehorche; der Bürgermeister Schmitz
gab sein Vorwort, dem übrigens noch die Empfehlungen fast aller
amtierenden Minister zur Seite standen, einem Buche Austria erit in orbe
ultima, das aber dem erstaunten Leser eine Anzahl von schnurrigen Fabeleien
des verstorbenen Richard von Kralik darbot, z. B. die Ableitung des
Bergnamens Hermannskogel von Hermann dem Cherusker, des Bezirksnamens
Meidling von einer Amazonenschlacht u. ä.; dem Fürsten
Starhemberg widmete ein gewisser Jaschke ein an der Oberfläche sich mehr
wissenschaftlich gebendes Buch Österreichs deutsches Erbe voll
krauser geopolitischer Konstruktionen mit dem Nachweis, daß nicht Rasse
und Wille der Menschen, sondern das Vorhandensein geographischer
Raumgebilde (Donauraum, Donaumonarchie) die Geschichte bestimme. Endlich
verlangte der von Amts wegen gepflegte und erzwungene
Dollfuß-Kult, mit seinen bis in den unscheinbarsten Ort Österreichs
verbreiteten Dollfuß-Straßen und -plätzen,
-büsten und -bildern, -kapellen
und -kirchen auch entsprechende Dollfuß-Bücher; das
für die Illusionen des politischen Katholizismus aufschlußreichste ist
die Biographie des Professors Johannes Meßner. Ganz unvermittelt aber
spiegelt die freilich (ebenso wie das oben genannte
Austria-Buch) alsbald aus dem Handel gezogene Schrift des Professors von
Hildebrand die Zerfahrenheit des Systems; man glaubte eine Travestie vor sich zu
haben, wenn die ganze menschliche und politische Unzulänglichkeit des
plötzlich zum Heldenkanzler erklärten Dollfuß uns hier noch
in zahlreichen Anekdoten bestätigt wird, um dann um so dreister zu
versichern, dies zusammen bilde eben das Wunder, das an Österreich getan
wurde. So sucht man, ausgehend von den oft sehr [93] erbärmlichen
Bedürfnissen des Tages, vom Glanz und Fall des kleinen, angeblich
heiligmäßigen Dr. Dollfuß, den "österreichischen
Menschen" in der Geschichte und kehrt immer wieder zu Dollfuß
zurück. Die geradezu sinnbildliche Darstellung dieser "weltanschaulichen"
Lage des Über-Österreichertums wurde schließlich das
sogenannte "Lied der Jugend": Um ein Gegenstück der "Giovinezza" und
des "Horst-Wessel-Liedes"
in Einem zu bekommen, verfaßte der
Ravag-Direktor Dr. Henz einen gereimten Text um die amtliche
Dollfuß-Legende herum: "ein Toter führt uns an!" und
schmückte ihn mit der dichterischen Versicherung aus, daß die
Jugend Österreichs bereit sei, "mit Dollfuß in die neue Zeit" zu
gehen. Den Namen des Komponisten dieses Liedes verschwieg allerdings des
Sängers Höflichkeit, aber bald sprach es sich herum, daß es
niemand andere als der jüdische Bar-Pianist Hermann Leopoldi sei, von
dem ohne Diskretion bereits der Schlager "Österreich klein, aber mein" in
Umlauf war. Doch, wenn der Druck der Regierung schon das ältere
Kernstocksche Heimatlied zu einem Ersatz für das streng verbotene
Deutschlandlied umfälschte und so seine Ablehnung durch das Volk
heraufbeschwor, so traf die Zumutung, jene auf Bestellung verfaßte
Dollfuß-Hymne zu einem Lied der Jugend zu erklären, bei
niemandem anderen einen folgerichtigeren und im Ergebnis gerade durch die
aufgebotenen Disziplinarmitteln wirksameren Widerstand als eben bei denen,
für die es Schuschnigg bestimmt hatte.
Aber es ging ja auch nach den blutigen Wochen des Jahres 1934 mehr um die
Zermürbung als um die ohnedies vergebliche Gewinnung des
deutschbewußten Österreichers, wo sich Politik und Propaganda der
Dollfußerben trotz aller äußerer Erfolge eigentlich im Kreise
bewegten. Um so hemmungsloser arbeiteten sie auf die Einbeziehung der
verschiedensten, internationalen Cliquen in ihre Interessen los, wie im Staatlichen
so im Gesellschaftlichen. Tatsächlich gewann diese Internationalisierung
Österreichs von der weltanschaulichen Seite her als Gegengewicht gegen
die gesunde Mehrheit der eigenen Bevölkerung ihre Bedeutung. Die trotz
der z. B. an den Hochschulen etatsmäßig praktizierten
Verkümmerung - 1937 waren schon 50 Lehrkanzeln
eingespart! - für notwendig befundenen
Kultur- [94] abkommen mit Italien,
Frankreich, Ungarn und Polen verdienten zwar nicht nach der Absicht ihrer
Urheber, aber nach ihren tatsächlichen Erfolgen noch die beste Beurteilung.
Das System-Österreich besaß zu einer Vertretung des deutschen
Geistes weiß Gott keine Befugnis, und Brückenbau ins Ausland nach
Versperrung der deutschen Grenzen durch Verbote von Büchern,
Kongreßbesuchen u. ä. konnten nimmermehr einer wirklichen
Völkerverständigung dienen. Aber der durch die Abkommen in
bescheidenem Maße beförderte Austausch von Büchern,
Wissenschaftlern und Studierenden kam doch, wie die Dinge nun einmal lagen,
zum Teil wenigstens deutsch bestimmten Kultureinrichtungen und Menschen
zugute. Das Übel der Überfremdung trat auf ganz anderen Feldern
liebevoll gepflegt zutage. Auch hier konnte man sich auf Dollfuß berufen,
der schon im Mai 1933 dem jüdischen Emigranten Leopold Schwarzschild
für sein in Paris neu erscheinendes Tagebuch ein wohlgesetztes
Gespräch zur Verfügung stellte und dabei die bekannten Sympathien
Frankreichs für die "kleinen Nationen", zu denen von nun an auch
Österreich gehören sollte, anrief; als Gegenleistung für die
Aufnahme dieses Hilferufes blieb das Neue Tagebuch auf Lebensdauer
des Systems erlaubt und hatte seinerseits wieder das Entgegenkommen, seine
demokratische Kritik an Diktaturen und autoritären Staaten an der Grenze
Österreichs halten zu lassen. Der Fall Schwarzschild ist aber geradezu
typisch für das Verhalten der internationalen Pressemacht überhaupt,
die in ihrem Wiener Hauptquartier in den Ringstraßenhotels jeder, noch so
unwahrscheinlichen Information des Ballhausplatzes zugänglich war,
für die Notschreie des Volkes jedoch nur taube Ohren besaß. Der
Pressechef "Minister" Ludwig war ein Künstler im Wurf von
Fangbällen, indem er zuerst die ausländischen Korrespondenten mit
dem seinen Zwecken entsprechenden Material versah, das dann meist bereitwillig
von der Auslandspresse aufgenommen wurde und nun als maßgebliche
Weltmeinung zurückgekommen zur Verwirrung der Österreicher
selbst bestimmt war. Für diese Gefälligkeiten revanchierte er sich
gerne durch Übernahme von Greuelnachrichten über Deutschland,
die hier einen hervorragenden Umschlagplatz hatten. Zu der
Österreich-Propaganda der
Presse- [95] leute kamen in bunter
Folge noch andere Stafetten, die zwischen Wien und den europäischen
Zentren geschäftig hin und her liefen. So stellte sich Schuschnigg gleich in
den ersten Wochen seiner Kanzlerschaft im Wiener Großen
Konzerthaussaal einem gewählten Publikum von Diplomaten, Publizisten,
Pazifisten u. ä. vor und hielt ihnen einen schönrednerischen
Vortrag über Österreich und Völkerbund. Ausgerechnet im
selben für die Liga, wie die Folge lehrte, verhängnisvollen Momente,
als sie während Litwinows Amtszeit Rußland im Zuge der gegen
Deutschlands Existenz gerichteten Einkreisungspolitik Barthous ihre Tore weit
und herzlich öffnete, gab der Nachfolger von Dollfuß seine
Visitenkarte bei den Interessenten dieser damals für den
europäischen Frieden geradezu gefährlichen Genfer Einrichtung ab.
Nicht genug damit ist einer der führenden Freimaurer Österreichs
(Eugen Lenhoff) regelmäßig während der Genfer
Herbsttagungen mit der Rundfunk-Reportage darüber betraut gewesen.
Ebenso wie vorher Dollfuß übernahm Schuschnigg das
Ehrenpräsidium der österreichischen
Pan-Europa-Union und überließ dem Grafen
Coudenhove-Kalergi als Gründer dieses frankophilen Unternehmens
Räume der Wiener Hofburg zur Unterbringung der Zentrale; von Wien aus
nahm die Pan-Europa-Literatur ihren Ausgang, hier fanden die
pan-europäischen Wirtschafts- und Erziehungskonferenzen statt und Wien
hatte die Aussicht, noch Hauptstadt eines jüdisch bestimmten
Pan-Europas zu werden. "Von der Aufrechterhaltung der österreichischen
Unabhängigkeit hängt die Zukunft Europas ab", wurde jetzt das
Leitmotiv Coudenhoves, der eine neue europäische Front gegen das Dritte
Reich als Feind und um Wien als Mittelpunkt kristallisiert sah. "Ganz
Europa gegen Hitler-Deutschland!", "Ganz Europa für Österreich!"
hallte das Echo der Wiener jüdischen Kolportagepresse wider.
Mit Völkerbund-Liga und Paneuropa-Union sind die offen zugegebenen,
internationalen, gesellschaftlichen Beziehungen des Systems noch lange nicht
erschöpft, auch wenn wir hier von den kirchlichen ganz absehen. Da
nahmen Systemvertreter an den Interparlamentarischen Konferenzen teil, wo die
Wächter der internationalen Demokratie den österreichischen
Schein- [96] Parlamentarismus
tolerierten ebenso wie an den Sitzungen des Genfer Internationalen Arbeitsamtes
trotz marxistischer Proteste die Repräsentanten der
Zwangs-Einheitsgewerkschaft Eingang fanden. Ja, es gelang ihnen sogar die
internationale, von England aus beeinflußte
Konsumgenossenschaftsbewegung mit ihrer Existenz zu versöhnen.
Dazwischen liefen die besonders vom Wiener Bürgermeister Schmitz
gepflegten Verbindungen zur sogenannten katholischen Demokratie in Belgien,
Holland, Luxemburg und Frankreich und da gab es die internationale
Boy-Scouts-Pfadfinderei, die in Österreich einen starken katholischen
Zweig hatte. Eine Frau Irene Harand gründete in Wien sogar eine
philosemitische Internationale "Gerechtigkeit"! Ein mindestens so großes
Gewicht aber als all dies zusammen bekam der seit der deutschen Grenzsperre als
Politikum gepflegte Fremdenverkehr. Eine kostspielige Werbearbeit, der
z. B. der Gesandte Baron Frankenstein in London eine persönliche
Note zu geben verstand, zog Fäden des Einverständnisses zwischen
den "österreichischen Menschen" und der Gesellschaft und Presse
drüben. Das patzweiche Wienertum der "Heurigenschenken" und
Wäschermädel, der Deutschmeisterkapellen und Fiaker wurde
während des härtesten Abwehrkampfes der Ostmarkdeutschen in
jüdischen Operetten, Schlagermelodien, Filmen und Reportagen als
Werbemittel für das "bedrängte" kleine Österreich ins Ausland
gebracht und mit etwas Mode a la tyrolienne versetzt. Von Schuschnigg
aufs eifrigste befördert, arbeitete der
Alt-Wiener-Bund einen dem Ausland sympathischen österreichischen
Typus heraus, der schließlich beim Biedermeierfrack als Gesellschaftsanzug
landete. Der alljährliche Höhepunkt der internationalen Begeisterung
für das unabhängige Österreich aber wurde in den Salzburger
Festspielen dieser Jahre erreicht. Ein paar Autominuten von der Reichsgrenze
fand da ein europäisches Stelldichein ganz frei von allen Rassenvorurteilen
statt, bei der die Systemgrößen als die Beschützer vor Hitler
sich feiern ließen, und das Dreigestirn Max Reinhardt, Arturo Toscanini und
Bruno Walter mit den Stars der Opern- und Modekunst vor der Welt
glänzte, zu der sie und das damalige offizielle Österreich
gehörten. Der Name Toscanini aber, der am häufigsten [97] in der internationalen
Berichterstattung über Salzburg aufschien, erinnert daran, wie sehr das
System, zu einer Zeit, da es angeblich noch ganz und gar auf die Politik der
Römer Protokolle gestützt war, sich in all den hier
aufgezählten Bezügen geistig von der Welt des Fascismus
distanzierte und trotz seiner "autoritären" Prinzipien an ihre ideologischen
Gegenspieler wandte.
Die äußere Ruhe, die sich über die Gräber des Februar
und Juli 1934 breitete, begünstigte die Ausbildung von wurzellosen
Spekulationen, die in ihren Ausstrahlungen in die Geisteswelt der
untergegangenen Vielvölkermonarchie der Habsburger hinabreichten. Sie
ist gekennzeichnet vom Auftreten eines saftlosen Spättriebes des
politischen Katholizismus, den man als
Krypto-Legitimismus bezeichnen könnte und dessen bekanntester
Repräsentant der neue Kanzler Kurt von Schuschnigg selbst wurde. Die
legitimistische Reaktion hatte, solange ihr die Stützung durch die Diktatur
fehlte, keine Bedeutung. Im Gegenteil, von der offenkundigen Abneigung der
Österreicher gegen die Parmas gar nicht zu reden, konnte ein neutraler
Beobachter nur erstaunt sein über die Gleichgültigkeit, der etwa die
Erinnerung an den hundertsten Geburtstag des ganze Generationen bis in den
Weltkrieg hinein überlebenden Kaisers
Franz Joseph begegnete. Seit 1933
verschoben sich jedoch die Hoffnungen von Stenockerzeel, die, in Ungarn
grundsätzlich gestattet, dort der Reife nie näher kamen, mit einem
Male sozusagen donauaufwärts. Für den Fürsten von
Hohenberg und den (halbjüdischen) Gesandten von Wiesner als den
bevollmächtigten Vertrauensleuten Ottos und Zitas und Führern der
legitimistischen Politik kam eine Zeit ganz ungewöhnlicher
Geschäftigkeit. Die "Gesellschaft" (wie auch der Name einer
neugegründeten, schwarz-gelben Zeitschrift hieß), ehemalige, in der
Vereinigung katholischer Edelleute zusammengefaßte Aristokraten und
Exzellenzen, ältere verabschiedete und aktive Offiziere, Teile des Klerus,
besonders der Orden und unter den Bischöfen
Waitz/Salzburg und Pawlikowsky/Graz, das waren die nicht gerade sturmfesten
Säulen des Legitimismus. Die zum Aufbau des
schwarz-gelben Gebäudes immerhin unentbehrlichen, weiteren Kreise
suchte er auf zwei sehr verschiedenen [98] Wegen. Die der
Bauernschaft durch Jahrhunderte nahegebrachten Gefühle für das
Kaiserhaus belebte man zunächst jenseits der Politik durch fortgesetzte
Hinweise auf die ihm angetane, ganz "ungerechte" Verbannung und
Vermögensenteignung, die mit zum "Revolutionsschutt" gehörten
und nun beseitigt werden müßten, ohne deshalb die Frage der
Staatsform aufzuwerfen. So begann von gewissen, geistlichen Einflüssen
unterliegenden Zentren aus zuerst in Tirol, die Werbung für die
"Kaisergemeinden"; d. h. die Vertreter einer Gemeinde sollten einen
Beschluß in dem eben angedeuteten Sinne fassen und ihm die Form der
Ernennung des Kaisersohnes Otto zum Ehrenbürger geben, worauf sie bei
nächster Gelegenheit feierlich durch einen eigens dafür bestimmten
Vertreter des verbannten Hofes ein Dankschreiben "Sr. Majestät des
Kaisers" überreicht erhielten. Die ganze
Kaisergemeinden-Aktion erstreckte sich, solange es noch mit rechten Dingen
zuging, auf kleine Gemeinden, und selbst die christlichsoziale Parteileitung nahm
davon politisch keine Notiz, wenn sie auch gegen die offenkundige
Überschreitung der einer Gemeinde zugebilligten Befugnisse nichts
einzuwenden hatte. Auch Dollfuß hielt sich noch an die Richtschnur, einer
Verquickung seines ohnehin so schwankenden Systems mit dem unfruchtbaren
Legitimismus möglichst aus dem Wege zu gehen, obwohl dessen Vertretern
die neue "vaterländische" Parole gleich sehr brauchbar vorkam. Kurz vor
seinem Ende gab Dollfuß, wohl auf Rat Schuschniggs, schon in einem
wichtigen Punkte nach und gestattete die Rückkehr des betagten
Hoch- und Deutschmeisters und Heerführers von einst, des Erzherzogs
Eugen, der im Volke beliebter war als die engeren Angehörigen der
Zita-Familie und der angeblich im Frieden der Heimat seine letzten Tage
verbringen wollte. Schon im Herbst darauf aber blähten sich nach dem
Niederbruch der echten Volksbewegung und unter dem Schutze des neuen
Kanzlers die bisher so schlaffen Segel des Legitimistenschiffes auf. Die in
Österreich lebenden oder dorthin zurückgekehrten Erzherzoge, zu
denen, von Eugen eingeführt, bald auch die an der Wiener Universität Sozialwissenschaft studierende Adelhaid als älteste, an
die Rührung des Volkes appellierende Schwester und persönliche
Botschafterin [99] Ottos trat, wurden
immer häufiger in der Öffentlichkeit erblickt.
Den eigentlichen Angelpunkt der legitimistischen Umtriebe aber bildete die
sonderbare Bestimmung der Mai-Verfassung über die Wahl des
Bundespräsidenten durch die Bürgermeister sämtlicher
österreichischer Gemeinden. So gewann das harmlose Spiel mit der
Bildung sogenannter Kaisergemeinden eine unerwartete politische Wendung.
Denn das, was durch freie Wahlen in die Gemeindevertretungen nie und nimmer
in den Bereich der Möglichkeit gerückt wäre, das sah jetzt, da
es in ganz Österreich nur mehr ernannte Günstlinge des
"ständischen" Systems gab, bei entsprechend geduldiger und zugleich
skrupelloser Arbeit nicht mehr unerreichbar aus: die Schaffung einer
Majorität von "Kaisergemeinden", deren Bürgermeister dann im
Namen des Volkes den Thronerben zurückrufen würden, wenn
endlich nach Auffassung der Regierung die Stunde für die Wahl des
Staatsoberhauptes gekommen wäre. Die
Mai-Verfassung ist ja angefangen von der Übergehung der Erklärung
einer bestimmten Staatsform, der Ersetzung der Bezeichnung "Republik" durch
"Bundesstaat" und der Einführung eines
Doppeladler-Wappens statt des bisherigen republikanischen den
Schwarz-Gelben im Vergleich zur früher geltenden stets als ein noch
unfertiger Bau erschienen, der ihnen einladend alle seine Tore öffne und
den sie durch Aufsetzen der Kaiserkrone selbst zu vollenden hätten. Je
länger, je weniger hatte die Regierung gegen eine solche Kommentierung
des sonst als unantastbar geltenden Dollfuß-Werkes einzuwenden, ohne
daß jemals eine förmliche Zustimmung erfolgt wäre. Aber
gerade in dieser anscheinend unauflöslichen Zwitterstellung bestand eben
zum Unterschied von dem offiziellen
Wiesner-Legitimismus, der nur als Sauerteig zu wirken hatte, der von
Schuschnigg selbst als allmähliche Vorbereitung zur Restauration
betriebene Krypto-Legitimismus. Der Wunsch nach Überlistung des
Volkswillens und nach Täuschung der Weltöffentlichkeit
führten VF. und schwarz-gelbe Aktion ebensogut zusammen wie die
gemeinsamen, mit welken Kränzen umwundene
alt-österreichische Traditionspflege
und - nach außen das Wichtigste! - der Kampf für die
Erhaltung der sogenannten österreichischen
Un- [100] abhängigkeit
gegen die nazistische Gefahr. Mochte auch die Sorge um die
uneingeschränkte Erhaltung der christlichsozialen Pfründen auf der
einen und die Sucht nach monarchistischen
Prestige-Erfolgen auf der anderen Seite gelegentliche Reibungen mit sich bringen,
die Zugehörigkeit zu legitimistischen Vereinigungen galt alsbald als eine
Empfehlung für den öffentlichen Dienst, die besonders bei den
Heimatschutzmitgliedern die guten von den bösen Böcken zu
scheiden hatte. Die Legitimisten trieben in ihrem Österreichfanatismus und
ihrer Deutschfeindlichkeit schließlich nur die letzten Folgerungen hervor,
die in der Unnatur der von Amts wegen verkündeten
"Unabhängigkeit"-Idee begründet waren. Deshalb gewährte
ihnen auch Schuschnigg trotz des gerade von ihm so oft betonten und schrittweise
auch durchgesetzten Totalitätsanspruches der V.F. die
Sonderbegünstigung einer von der Front grundsätzlich
unberührten Organisation, dem Eisernen Ring mit dem Reichsbund der
Österreicher.
Denn trotz großer Worte waren die Legitimisten nur scheinbar und vor
allem gegenüber dem Ausland auf sich selbst gestellt; ihre Zahl und ihre
Durchschlagskraft hätte sich nicht auch nur einen Tag lang mit der bis in
den Tod verfolgten "Illegale" vergleichen lassen! Gewiß duldete
Schuschnigg eine Ablehnung des von Stenockerzeel gelenkten Legitimismus
selbst durch einzelne Landeshauptleute und zahm dosierte habsburggegnerische
Polemiken halfen sogar einigen der getarnten Blätter über die
schlimmste Zeit hinweg. Aber diese Scheingefechte sollten nur eine Distanzierung
markieren, die für den außenpolitischen Kurs nicht mit Unrecht noch
für notwendig erachtet wurde und so mittelbar auch den Interessen der
Restauration selbst diente. Höchst bezeichnend für diese
Zusammenhänge wurde das vom Eisernen Ring immer wieder auf Karten
des Bundesstaates dargestellte Ansteigen der Zahl der Kaisergemeinden; wo, wie
in Oberösterreich und Vorarlberg das Einverständnis der
Landeshauptleute fehlte, da blieb die ganze angeblich so volkstümliche
Aktion in kläglichen Anläufen stecken; wo der Druck vom
Landhause oder doch von der Wiener Zentrale nachhalf, da erschienen die
kaisertreuen Stellungen immer dichter besetzt und nur Kenner der
Verhältnisse wußten, wie grotesk oft der [101] einzelne Fall lag: vor
1933 als besonders habsburgfeindlich bekannte Orte wie z. B. das braune
Villach oder das rote Wiener Neustadt kamen früher als mehr neutrale zu
"kaiserlichen" Ehren, weil die ernannten Gemeindeväter eben nichts
anderes als eine kleine Minderheit repräsentierten, die ganz unter sich blieb
und mit der Bevölkerung überhaupt keine Fühlung gewann.
Stenockerzeel konnte aber auch mit dem vom Wiener Ballhausplatz unter
harmlosen "vaterländischen" Etiketten betriebenen
Krypto-Legitimismus im Ergebnis zufrieden sein. Die Schulen und Kasernen
hallten von obrigkeitlichen Erinnerungen an das ruhmreiche Haus Habsburg und
seine leider unvollendete geschichtliche Sendung wider. Der Geschichtsunterricht
sollte mindestens auf den Stand vor 20 Jahren zurückgeschraubt werden
und bei den Truppenkörpern wurden die
rot-weiß-roten Fahnen der Republik gegen die alten
schwarz-gelben zur Beförderung der "Tradition" feierlich ausgetauscht.
Anfangs Juli 1935 aber gab der Bundeskanzler den Forderungen Wiesners in der
ohnedies nur mehr grundsätzlichen Frage der Habsburgergesetze volle
Genugtuung. Nachdem Ausweisung und Vermögensbeschlagnahme
über das vormals regierende Haus seit Inkrafttreten der Maiverfassung nicht
mehr als Verfassungsgesetze gelten konnten, und die Bewegungsfreiheit der
Erzherzoge praktisch hergestellt war, hob nun der Bundestag "einstimmig" und
unter entrüsteten Reden auf die einstige Entthronung des Erzhauses die
Gesetze förmlich auf; die Durchführung der Rückgabe des
dem Kriegsinvalidenfonds überantworteten Vermögens wurde
freilich noch lange aufgeschoben und verlautbart, daß Otto und Zita nicht
die Absicht zur Rückkehr hätten, ehe ihren Thronansprüchen
voll genügt sei.
Wenn der herostratische Versuch der Aufrichtung eines "Gegenreiches"
Österreich unter Schuschnigg immer weiter der Gefahr eines
legitimistischen Abenteuers zutrieb, so konnten schon auf dem Felde der amtlich
kontrollierten Innenpolitik die Gegenkräfte nicht einfach übergangen
werden. Der einem kranken Hirn entsprungene Versuch des
Vizebürgermeisters Ernst Karl Winter, aus dem zusammengespannten
Deutschenhaß von legitimistischen und marxistischen Fanatikern ein
brauchbares, politisches Instrument zu schaffen, war längst [102] gescheitert, obwohl
man ihn noch immer seine Propaganda treiben ließ. Das Rezept zur
Gewinnung der Arbeiterschaft für den Staat, wie die Formel hieß, ist
schon damals ein anderes, weniger doktrinäres und mehr an den
augenblicklichen Vorteil der Massen sich wendendes gewesen. Während
die für eine verfehlte Idee auf die Barrikaden gehetzten
Februarkämpfer noch verbluteten und die Standgerichte in Tätigkeit
traten, führte die Regierung schon mit dem jüdischen Inhaber der
berüchtigten Wiener Telegraf-Zeitungsgruppe erfolgversprechende
Verhandlungen und nach dem Abklingen der ersten Erbitterung wurde das
Wiedererscheinen eines großen Teiles der früher offen marxistischen
Publizität und die Wiedereröffnung von Arbeiterheimen,
-vereinen und -büchereien zugestanden, und zwar, das ist das
Erstaunliche, mit fast demselben Personal an Schriftleitern,
Vortragenden usw. wie vorher. Es handelte sich eigentlich nur um die Form
und das Maß an Duldung, das dem zu äußerer Ohnmacht
verurteilten, in Wirklichkeit aber fortlebenden
Austro-Marxismus zu gewähren war, wobei die oben berührte
Wandlung des Judentums sehr zustatten kam.
So suchte man denn nach gewaltsamer Ausscheidung der eigentlichen
revolutionären Geister das auch in der österreichischen roten
Arbeiterbewegung reichlich vorhandene juste milieu sorgsam zu schonen
und zu pflegen. Die wichtigste Rolle kam dabei der Gründung des
Gewerkschaftsbundes zu, der nach Auflösung der sogenannten freien
Gewerkschaften im Februar 1934 der Wahrung der "Arbeiterrechte" und der
sozialen Errungenschaften dienen sollte - ein in Wahrheit
unmögliches Beginnen, solange dank der Deflationspolitik die
Dauer-Arbeitslosigkeit der Hunderttausende die hervorstechendste soziale
Tatsache bildete. Wohl stellte man einen unbedeutenden christlichen
Gewerkschafter als Präsidenten an die Spitze und gab ihm einen
Zentrumsemigranten jüdischer Abkunft zum Generalsekretär, aber
die Bewährungsprobe lag darin, ob es gelang, die unterstandslos
gewordenen, kleinen Gewerkschaftsfunktionäre herüberzuziehen und
dadurch für das System ungefährlich zu machen. So wurde, ohne auf
den darin liegenden, grundsätzlichen Widerspruch zur ständischen
Idee und auf die angeb- [103] lich fascistische, in
Wirklichkeit um die schwachen eigenen "gelben" Gründungen besorgten
Heimwehr-Opposition zu achten, ein System von Einheitsgewerkschaften
aufgerichtet. Trotz des "autoritären" Streikverbotes (dessen Einhaltung
übrigens nicht lückenlos war und hauptsächlich durch die
elende Lage des Arbeitsmarktes erzwungen wurde) sollten die Arbeiter
möglichst in ihren aus der Zeit des offenen Klassenkampfes gewohnten
Gleisen erhalten werden und ihnen darüber die neue, im heilbringenden
Sinne umstürzende Arbeitsverfassung des Dritten Reiches fremd, wenn
nicht durch Hetzerei verhaßt bleiben. Abschluß und Kündigung
von Kollektivverträtgen blieben weiterhin ein Mittel zur Ablenkung der
noch in Arbeit stehenden Massen von der eigentlichen Wurzel des Übels
und von der Möglichkeit seiner Heilung. Während auf der einen
Seite die berufsständischen Bünde für Handel, Gewerbe,
Bankwesen usw. mit entsprechender Versorgung zuverlässig
vaterländischer Personen entstanden, ohne der Wirtschaft neuen Auftrieb
geben zu können, machten sich auf der anderen die Gewerkschaften mit
Rettungsprogrammen wichtig, die nur Stoff zu neuen Akten und zu neuen
Diskussionen im Leerlauf der österreichischen Dinge abgaben. Von den
Anschlußversuchen der neu aufgezogenen Konsumgenossenschaften wie
der Einheitsgewerkschaften und -bünde an internationale
Organisationen westeuropäisch-demokratischen Gepräges war schon
in anderem Zusammenhang die Rede. Die Krönung des ganzen
Krypto-Marxismus aber erschien in der Einrichtung eigener, ortsgruppenweise
aufgebauter Sozialer Arbeitsgemeinschaften der V.F. erreicht.
Eine förmliche politische Sondergliederung also, die der Aktion Reinthaller
für die Nationalsozialisten vor und nach der
Juli-Katastrophe verweigert wurde, ist dem Legitimismus im Eisernen Ring ganz
und der "Arbeiterschaft" in jenen Arbeitsgemeinschaften großenteils
bereitwillig zugestanden worden, weil diese Gruppen eben mehr zur Verteidigung
der eingebildeten "Unabhängigkeit" geeignet waren. Die Häupter des
politischen Katholizismus verbreiterten auf diese Weise die (allerdings sehr
heterogene) Anti-Nazi-Front. Aber sie verwirrten damit zugleich die zuerst
anscheinend mit elementarer [104] Gewalt der vollen
Machtergreifung zustrebenden Pläne der Heimwehrführung immer
mehr, je näher die eigentlichen Träger der Brachialpolitik sich ihrem
Ziele wähnen mochten. Nur die verfolgte und verfemte "Illegale" blieb
außerhalb des "Rechtes", aber auch der Mitverantwortung für diese
problematische Staatskunst, und sie blieb doch allgegenwärtig.
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