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Von der Februarrevolte zur Julierhebung 1934

Das Ottakringer Arbeiterheim nach Artilleriebeschießung. 13. 2.
1934.
[128b]      Das Ottakringer Arbeiterheim nach Artilleriebeschießung. 13. 2. 1934.
So näherten sich anfangs des Jahres hinter dem Rücken des noch nach Ausgleich ausspähenden Dollfuß zwei innenpolitische Heersäulen zur erbarmungslosen, offenen Austragung längst entscheidungsreifer Gegensätze. Die Christlichsozialen selbst hielten abgesehen von dem früheren Wiener Seipel-Flügel (Schmitz, Vaugoin) bis zuletzt an Kompromißmöglichkeiten fest. Da verkündete am Sonntag, dem 11. Februar, anläßlich einer Heimwehr-Gefechtsübung am Bisamberg Vizekanzler Fey in einem drohenden Prophetenton, daß schon am nächsten Tag die Entscheidung fallen würde. Tatsächlich entzündeten sich am 12. Februar, als die Marxisten eine Waffensuche im Linzer Parteiheim mit gewalttätiger Gegenwehr beantworteten, in überraschender Folge schwere, blutige Unruhen in mehreren Teilen Österreichs. Ausschlaggebend wurde der Kampf um die Wiener Proletarierhochburgen, nämlich die Arbeiterheime und weitläufige Gemeindebauten, auf die sich der im Ernstfall sofort wieder schlagkräftige Schutzbund stützte. Die Regierung mußte sogar Geschützbatterien zur Niederringung des Aufstandes eingreifen lassen und drei bis vier Tage durchhallte Schlachtenlärm die Straßen der Millionenstadt Wien; die ganze Polizei war wie einst an jenem schwarzen 15. Juli mit Karabinern ausgerüstet und die Staatsgebäude mit Maschinengewehr- [73] nestern und vorgelegten Drahtverhauen gesichert. Nur einem Zufall, der die Brigittenauer Schutzbündler vom Eingreifen abhielt, verdankte man die Abwendung
Artilleriefeuer auf dem Marx-Hof in Wien-Heiligenstadt.
[144a]      Artilleriefeuer auf dem Marx-Hof in Wien-Heiligenstadt (kilometerlange Wohnhausanlage der Gemeinde mit festungsartigen Türmen und Toren zur Beherrschung des Geländes der Franz-Josephs-Bahn und der Donau-Kanal-Ebene). 13. 2. 1934.

MG-Stellung in einer Wiener Vorstadtstraße.
[80b]      MG-Stellung in einer Wiener Vorstadtstraße. 13. 2. 1934.
einer sehr ernsten, militärischen Krise, die für die von Truppen und Heimwehr geführte Aktion durch Schließung des Ringes von roten Trutzburgen dies- und jenseits des Donaustromes entstanden wäre. Parteiverbot, Sieg von "Exekutive" und Schutzkorps waren schon am ersten Tag entschieden, als die Generalstreikparole gerade von der Arbeiterschaft der lebenswichtigen Betriebe zum größten Teil nicht befolgt wurde. Sehr vorteilhaft war für die Regierung das Fernbleiben der inneren Stadt von Kampfhandlungen und so besetzte sie schon am 13. Februar das Rathaus, erklärte den Bürgermeister Seitz für abgesetzt, den Gemeinderat für aufgelöst und ernannte den christlichsozialen Kommunalpolitiker Schmitz, der damals als heftigster Gegner der Roten gelten konnte, zum Bundeskommissär für Wien - die Heimwehr hatte wieder einmal in der Methode gesiegt, die Klerikalen in der Personenwahl. Aufständen in den Industriegebieten von Leoben und Steyr brachen unter dem MG.-Feuer der Heimwehr zusammen. Der von Starhemberg und Fey bei diesen Aktionen bewiesene, persönliche Mut soll nicht geleugnet werden; aber sie bewegten sich im Bürgerkrieg wie in ihrem angeborenen Element, als ob andere Lösungen zur Neuordnung des Staates nicht die weitaus wünschenswerteren wären und der blutige Einsatz zur Erringung der äußeren Freiheit der einer Nation einzig würdige sei. "Unsere Maschinengewehre sind gut eingeschossen!" sollte Starhemberg noch im Rausch des "100prozentigen Siegfriedens" am Ende dieses blutigen Jahres in offener Versammlung ausrufen!

Welcher in Wien noch nicht erlebte schauerliche Siegeszug, als unter Voranritt Feys 49 Särge mit Februaropfern der Regierungsseite sich über die Ringstraße zwischen den verelendeten und zermürbten Massen hindurch bewegten! Und damit der Tragödie das Satirespiel nicht fehle, blieb der angekündigte fünfzigste Sarg aus, weil ein gefallener Offizier des Heimatschutzes als ehemaliger Bosniake islamischer Religion nicht des christlichen Leichenbegräbnisses teilwerden durfte! Für die Gegenseite aber arbeiteten die neueingeführten Stand- [74] gerichte zur Vermehrung der Opfer, und so wurde auf Grund einer kriegswirtschaftlichen Notverordnung u. a. der Schutzbündler Münichreiter als Schwerverwundeter an den Galgen gebracht. Den jüdischen Anführern Bauer und Deutsch gelang die Flucht nach Brünn, wo sie mit Hilfe der in der Tschecho-Slowakei tonangebenden Linken eine Art Büro zur Revolutionierung Österreichs errichteten und die endlich eingestellte Wiener Arbeiterzeitung als oft über die Grenze geschmuggeltes illegales Organ weiter herausgaben. Damit war aber das Ende der von ihnen seinerzeit propagierten "Internationale Zweieinhalb" nicht mehr aufzuhalten. Die meisten Marxistenführer, darunter Seitz und Renner, der neue Finanzgewaltige im Wiener Rathause Dr. Danneberg und die den offenen Kampf überhaupt ablehnenden roten Funktionäre in den Ländern mußten schon der Heimwehr wegen in Haft genommen werden; die ihnen angedrohten Schauprozesse wurden aber nie durchgeführt. Die eigentliche Ursache des raschen Mißlingens der Revolte lag freilich nicht allein in der technischen Überlegenheit von Militär und Schutzkorps über den Schutzbund (der, nebenbei gesagt, seine Ausrüstung noch während des Verbotes durch Schmuggel von Preßburg her ergänzen konnte), sondern mehr noch in der Müdigkeit der bisher rot organisierten und geführten Massen, die samt ihren Führern am Ende ihrer Weisheit angelangt waren. Sie nahmen die Auflösung der noch immer großen Sozialdemokratischen Partei, und die vorläufige Einstellung ihrer in Jahrzehnten durchgegliederten wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Organisationen mit dumpfem Grollen widerstandslos hin. Und doch täuschte sich niemand darüber, daß die Lage in Österreich nach dem blutigen Februar eine völlig andere war als die im Reiche nach der friedlichen Überwältigung des Marxismus im vorhergegangenen Frühjahr. Von der Regierung aus gesehen erhob sich von da an das Problem der Versöhnung von Reaktion und Sozialismus, Arbeiterschaft und autoritärem Staat, das zum Anlaß einer neuen Reihe von Scheinlösungen wurde.

Die Februarrevolte mit dem Zusammenbruch des durch seine Hitler-Furcht schon längst ausgelaugten Austro-Marxismus zog wie eines jener Gewitter über Österreich hin, die durch [75] schwerste Spannungen am Horizont ausgelöst werden, das ganze Land aufwühlen, ihre Opfer verlangen und doch die Wetterlage nicht zum Befreienden wenden. Die autoritären Anhänger des offenen Bürgerkrieges rühmten sich, einen Zwei-Fronten-Sieg errungen zu haben. War nicht mit der erstickten roten auch die unterirdische braune Gefahr plötzlich in weite Ferne gerückt? Die Nationalsozialisten waren am 12. Februar anscheinend vor die Versuchung gestellt gewesen, als dritte Partei in die blutige Auseinandersetzung zwischen ihren weltanschaulichen Feinden einzugreifen und zwar entweder durch Hinzutritt zur Opposition, deren Waagschale das Übergewicht zu geben, oder aber der Regierung durch ein Bündnisangebot das Gesetz des Handelns vorzuschreiben. Gegen beide Möglichkeiten sprachen jedoch sehr gewichtige Gründe. Denn die Bewegung durfte auch unter dem Druck einer sehr schwierigen Lage weder mit den an jüdisch-marxistischen Interessen und Führer verkauften Aufständischen noch mit den Systemleuten, ihren bisherigen Peinigern und Zuchtmeistern, eine auch nur kurze Wegstraße gemeinsame Sache machen. Sie mußte durch ihr Beiseitestehen eine sich im Augenblick bietende Chance preisgeben, um der Zukunft willen, in der sie nach ihrem eigenen Gesetz die mißhandelte Arbeiterschaft und den verratenen, autoritären Gedanken würde zusammenführen können. Zunächst schien diese Neutralität allerdings nicht nur den Februarsiegern eine Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Politik, sondern sie zog für die deutsche Sache sogar über die Grenzen Österreichs hinaus den schwerwiegenden Nachteil nach sich, daß die Behauptungen über die Entkräftung der braunen Opposition zunehmend Glauben fanden.

Vergeblich warnte des Führers Rede vom 30. Jänner. Nur kurze Zeit hindurch entstand für Dollfuß aus dem betonten Fascismus seiner Heimwehrverbündeten die Gefahr, von den europäischen Linksparteien her einer außenpolitischen Offensive ausgesetzt zu werden. Wir wissen schon, wie bereitwillig Prag seine Grenzen den roten Emigranten öffnete, und Benesch selbst gab damals eine für die österreichischen Machthaber außerordentlich unfreundliche Erklärung ab. Richtunggebend für die Überlegungen am Ballhausplatz aber war vielmehr der neue Kurs Doumergue in Paris, so kurzlebig für Frankreich der [76] autoritäre Versuch des alten Herrn währen sollte; der 9. Februar an der Seine hat wohl die Zögernden an der Donau erst zum 12. Februar ermutigt. Die von der Tradition des Quai d'Orsay bestimmten Gesichtspunkte der Sicherung eines "unabhängigen" Österreich um jeden Preis beherrschten Frankreichs öffentliche Meinung und stillten auch bei dem tschechischen Verbündeten die vorübergehend aufgetretenen Interventionsgelüste. Italien dagegen fand seine Auffassung der österreichischen Dingen durch die Tat bestätigt und seinen in der Hirtenberger Angelegenheit mit dem Landesverrat spielenden austromarxistischen Todfeind zu Boden geworfen. In raschem Zuge gewann es nun für seine Donaupolitik einen bestimmt umrissenen Rahmen. Es vereitelte durch persönliches Eingreifen des Staatssekretärs Suvich, der nach Berlin auch Wien und Budapest besucht hatte, die Absicht der Bundesregierung, beim Genfer Bund ein Verfahren gegen die angebliche Einmischung des Reiches einzuleiten, und setzte vielmehr unmittelbar nach der Entscheidung auf der Wiener Straße am 17. Februar eine Dreimächteerklärung gemeinsam mit Frankreich und England durch; darnach sollte die Sicherung der österreichischen Unabhängigkeit zu den Elementen ihrer gemeinsamen Politik gehören und im Bedarfsfalle auch den Gegenstand gemeinsamer Beratungen bilden. Mit dieser Rückendeckung gegen die Westmächte und die ihnen nahestehende Kleine Entente ausgestattet, konnten die Römischen Protokolle vom März eine weitgehende wirtschaftliche und politische (und wohl auch ideologische) Zusammenarbeit Italiens mit Österreich und Ungarn festlegen. Die zusätzliche Erklärung über eine allfällige Erweiterung des Kreises der drei Teilnehmerstaaten, unter denen selbstverständlich schon dem Range nach Italien die unbedingte Führung zukam, ist zwar nie in Kraft getreten, hat aber später als dynamische Tendenz große Bedeutung gewonnen, da sie für jeden der drei Partner Ansatzpunkte sowohl zu Deutschland und zu Jugoslawien wie anderseits zur Tschecho-Slowakei bieten konnte. Für Österreich selbst brachte der Vertrag dank der Opfer, welche die italienische Wirtschaftspolitik im Sinne der von der ersten Stresa-Konferenz empfohlenen Präferenzen auf sich nahm, den entscheidenden Versuch, seine Staatlichkeit abseits der Genfer [77] Internationale durch eine regionale Gemeinschaftsarbeit, die das Friedensdiktat noch nicht kannte, aufzubauen.

Der Abschluß der Römerprotokolle durch Dollfuß stärkte seine innenpolitische Stellung auch gegenüber der Heimwehr, die er damit auf ihrem eigensten Felde - der Annäherung an das fascistische Italien - mattgesetzt hatte. Er ging nun planmäßig an die Aufrichtung einer scheindemokratischen Fassade, die auch seinen Freunden in Westeuropa das demokratische Gewissen erleichtern mochte. Die erste Etappe auf diesem Wege war die Neuordnung der Wiener Verhältnisse, wo Schmitz auf Grund einer neuen verfassungändernden, kriegswirtschaftlichen Notverordnung förmlich zum Bürgermeister ernannt und mit einem entsprechend ausgesuchten, "ständischen" Rat der Stadt Wien umgeben wurde. Das gewagteste Experiment ist dabei die Berufung des Privatgelehrten Dr. Ernst Karl Winter zum Vizebürgermeister mit dem Auftrag einer Versöhnung der Arbeiterschaft gewesen. Er ging nicht auf Schmitz, sondern unmittelbar auf Dollfuß zurück und hatte bei erfolgreichem Fortgang der Aktion ganz Österreich im Auge. Winter schien in seiner widerspruchsvollen Mischung von konservativ-katholischem und marxistischem Gedankengut eine Art legitimistischer Volksfront-Theoretiker, der richtige Mann zur Ergänzung des Systems; für dessen Deutschbewußtsein war allerdings die Förderung eines Mannes von dem geradezu krankhaften Deutschenhaß Winters, der in seinen Studien bis auf Herzog Rudolf IV. zur Rechtfertigung jedes Separatismus zurückgriff, hinlänglich bezeichnend. Seine hemmungslose Verquickung von Katholizismus und Politik hatte ihn nicht daran gehindert, in der jüdisch-marxistischen Arbeiter-Zeitung in offenen Briefen an den Bundespräsidenten die Regierung Dollfuß des Verfassungsbruches zu überführen - nur ein Mann seines Schlages durfte die im damaligen Österreich verwehrte Wahrheit aussprechen! Nach dem 12. Februar aber steckte er plötzlich um und fing an, sich selbst als denjenigen anzusehen, der die ihrer Führung beraubte Arbeiterschaft in den Hafen des Dollfuß-Staates zu steuern berufen sei. Sein abgründiger Haß gegen die NSDAP. und seine Feindschaft gegen den Heimwehr-Fascismus, worin er sich auch jetzt nicht änderte, bildeten gleich- [78] sam die Angelpunkte dieser Drehung, die ihn für Dollfuß brauchbar machte. Seinem Einfluß wurde zunächst auch der rote Vorwärts-Verlag ausgeliefert, wo dieselben jüdischen Schreiberlinge wie bisher, wenn sie nur die Kritik am System einstellten, ihrer Sympathie für Volksfrontideen nachgehen und ihr Gift gegen das Dritte Reich verspritzen konnten. Ähnlich stand es mit der Neuordnung des Bildungswesens an den Volkshochschulen. Auf dieser Grundlage führte Winter in Wien und anderwärts seine Diskussionsabende durch, die freilich durch die geringe Zurückhaltung der kommunistischen Teilnehmer bald öffentliche Skandale und das Eingreifen der Polizei heraufbeschworen. Wichtiger für den Fortgang der Ereignisse als diese groteske "Aktion Winter", die eigentlich nur den Beweis für die unbegrenzten Möglichkeiten der Hitler-Opposition im neuen Österreich lieferte, wurde die Schwenkung des Judentums nach dem Sturz der ihm so nahestehenden marxistischen Führergarnitur; nun folgten den bürgerlich-liberalen Juden auch die ziffernmäßig starken Stützen der bisherigen Rathausherrscher, die kleineren jüdischen Existenzen vorwiegend galizianischer Herkunft, in der Bejahung des Systems nach und vertrauten ihm ihren Schutz, natürlich nicht ohne Gegenleistung, an. Aber auch in den kleinbürgerlichen und bäuerlichen Kreisen, die sich schwer vollzogenen Tatsachen widersetzten, erhielt das System mit dem 12. Februar eine gewisse Rechtfertigung, die in ihren Augen noch durch die Haltung der streitbaren Kirche unterstützt wurde.

Die erste öffentliche Bündniserklärung zwischen Staat und Kirche auf dem Katholikentag hatte zwar die nach der Verkündigung des Reichskonkordats für das System befürchtete Krise gebannt. Denn die damals noch vorsichtige Kurie machte die Ratifizierung des für sie inhaltlich idealen Schuschnigg-Konkordats von einer Stabilisierung der österreichischen Verhältnisse abhängig und lehnte die Verbindung mit dem notverordneten Staatsrecht ab. Einen Nachhall des Katholikentages bildeten die Papstworte, das österreichische Volk sei so glücklich, die Regierung zu besitzen, die es verdiene. Aber anfangs Dezember wurde sämtlichen Geistlichen die weitere Ausübung ihrer Mandate in öffentlichen Vertretungskörpern unter- [79] sagt, was der Reichspost den unüberlegten Schreckensruf entlockte, ob etwa nun auch am Vatikan die Grundsätze des Dritten Reiches bevorzugt würden. Eine zur selben Zeit abgehaltene katholische Arbeitstagung in Wien zeigte zum Unterschied vom September ein neues Aufsteigen volksgebundener Grundsätze bei der jungen Generation. Unmittelbar darauf aber erfolgte ein jäher Rückschlag, der auf die mit Dollfuß stark sympathisierenden Bischöfe von Linz und Granz zurückgegangen sein dürfte, und auch den schwachen Kardinal Innitzer von Wien vor den Wagen politisierender Kleriker spannte: Ein Weihnachtshirtenbrief des österreichischen Episkopats verkündete - im Österreich von St. Germain! - den Vorrang des Staates vor der Nation und brandmarkte Verfehlungen gegen die seit dreiviertel Jahren ganz willkürlich ausgeübte Regierungsgewalt wie Verkündungen gegen die göttliche Ordnung; dazu kam die Verwerfung der nationalsozialistischen Weltanschauung ganz ohne Rücksicht darauf, daß die reichsdeutschen Bischöfe nach der Machtergreifung ihre früheren ähnlichen Erklärungen wesentlich anders gedeutet wissen wollten. So geriet, als die vom Vatikan an das Reichskonkordat geknüpften Hoffnungen versandeten, die kuriale und die episkopale Politik immer mehr in einen vollständigen Gleichschritt mit den Bedürfnissen des Dollfuß-Staates, der unter seine vielen anderen und oft widerstreitenden Verpflichtungen an auswärtige Gönner auch die des päpstlichen Stützpunktes in Mitteleuropa aufnahm. Sobald der ungeheuerliche Anspruch, mit der Enzyklie Quadragesimo anno als Richtschnur das katholische Musterland für die ganze Erde zu werden, durch die Kurie selbst anerkannt war, gewann das System-Österreich eine weitere, nicht zu verkennende Resonanz in der Welt. Ein Wechsel wurde da ausgestellt, dessen Einlösung doch jedem unbefangenen Betrachter sehr zweifelhaft sein mußte. Aber nach der Heimholung der Römischen Protokolle, die allerdings als politische Aktion einer starken und beweglichen Großmacht einen wesentlich anderen Charakter hatten, erhielt Dollfuß aus dem geistlichen Rom die neuerliche Zusage der sofortigen Inkraftsetzung des österreichischen Konkordats (das in der Ehegesetzgebung sogar über das Jahr 1811 zurückgriff) für den [80] Zeitpunkt, an dem er seine Verfassung unter Dach gebracht hätte.

Dollfuß verantwortete als Sieger über die Februarrevolte, umgeben von seinen ungleichen Verbündeten Fey-Starhemberg auf der einen, E. K. Winter auf der anderen Seite, gleichzeitig eine fascistische, eine volksfrontartige und eine ständisch-kuriale Richtung der "autoritären" Politik - der letztgenannten gehörte freilich allein sein Herz, aber alle drei einigte der Wille zur Unterdrückung der NS.-Bewegung und zur Verwirrung des Volkes, ja auch zur Irreführung des Auslandes. Die Überlegenheit der christlichsozialen VF.-Männer über die beiden Flügelrichtungen, die sich an sie anklammerten, zeigte alsbald die Inkraftsetzung der sogenannten Maiverfassung von 1934, die allerdings jenen gemeinsamen Zwecken hervorragend zu dienen geeignet war. Die Linke träumte von Wiederherstellung der Demokratie, die Rechte verlangte nach Macht, nicht nach Paragraphen, der Kanzler aber hatte von dem "christlichen Demokraten" Dr. Ender schon längst einen Verfassungsentwurf ausarbeiten lassen, der im geeigneten Moment gleichsam statt des illegitimen Kindes Kriegswirtschaftliche Notverordnung unterschoben, der Kritik an der bisherigen Staatsstreichkunst den Boden entziehen sollte, ohne für den Eingeweihten etwas am Wesen der Sache zu ändern. Die Rechtskontinuität mit der bisherigen Bundesverfassung, auf die Miklas und Dollfuß scheinbar so großen Wert legten, hätte freilich nach deren klaren Wortlaut nur durch eine Volksabstimmung über ihre beabsichtigten Gesamtänderung hergestellt werden können. Da aber gerade die Behinderung des Volkswillens als treibende Absicht hinter jeder Handlung der Regierung stand, schied der Gedanke daran aus. Vielmehr kam gegen Ende April auf einmal die über ein Jahr lang zurückgehaltene Notverordnung des Bundespräsidenten heraus, die den Nationalrat wieder flottmachte und ihn für den 30. April einberief.

Diese Versammlung war nun nichts anderes als ein nach den Bedürfnissen der Regierung reduziertes Rumpfparlament, das vollständige Zerrbild einer Volksvertretung, da schon der Nationalrat selbst längst seine vorzeitige Auflösung als not- [81] wendig anerkannt hatte. Nur sei erwähnt, daß kriegswirtschaftliche Notverordnungen nicht allein die sozialdemokratischen Mandate für ungültig erklärt, und damit die Mehrheitsverhältnisse des Hauses grundlegend zugunsten der bisherigen Ein-Mann-Mehrheit der Regierung geändert hatten, sondern unter völlig willkürlichen Vorwänden auch widerspenstig gewordenen, bürgerlichen Abgeordneten ihr Recht entzogen; darunter befand sich, um die Ironie vollkommen zu machen, auch das Mandat des einzigen freigewählten Heimatblockabgeordneten, dem die übrigen erst die Anrechnung der Reststimmen verdankten. Dennoch erhob sich, wenn auch von dem notverordneten klerikalen Präsidenten Ramek mit einer Handbewegung abgetan, in der entscheidenden Sitzung eine würdige, im Einvernehmen mit der NSDAP. vorgehende Opposition von Großdeutschen gegen die programmgemäß abrollende, scheinparlamentarische Vergewaltigung durch Christlichsoziale und Heimatblock (soweit dieser noch beisammen geblieben war). Die feierliche Verwahrung des Linzer Angeordneten Professors Foppa mit ihren prophetischen Ausblicken sollte alsbald in maschinenschriftlichen Abzügen in ganz Österreich die Runde machen. Ohne Debatte wurden in einer einzigen Sitzung die innerhalb von 13 Monaten erlassenen 471 Notverordnungen gutgeheißen - wobei die letzte von ihnen zur Krönung dieser wohl in der Verfassungsgeschichte aller Länder einzige darstehenden Komödie die ganze neue "Verfassung" in sich enthielt. Ihr Vorspruch erkühnte sich allerdings, sie als eine Art Geschenk Gottes darzustellen, denn in seinem Namen "erhalte" sie "das österreichische Volk". Sie sah - verworren wie ihr Ursprung - allein vier "vorberatende" Kammern vor, von denen für den Staatsrat die Ernennung durch den Bundespräsidenten bestimmt war, indessen der Bundeskultur- und -wirtschaftsrat und der Länderrat wenigstens mittelbar aus ständischen Wahlen hervorgehen sollten. Diese vier Körperschaften besaßen ohne jede Initiative nur das Recht zur Begutachtung der ihnen von der Regierung vorgelegten Gesetzentwürfe; die Beschlußfassung darüber wurde einer fünften Körperschaft, dem Bundestag, vorbehalten, dessen Mitglieder nach einem bestimmten Schlüssel aus den vier anderen [82] gewählt waren und auch das Budget zu beraten und zu beschließen hatten. Berufsständische Wahlen wurden auch zur Bildung der Landtage und Gemeindetage, der Landesregierungen und der Bürgermeister vorgesehen. Zur Wahl des Bundespräsidenten auf sieben Jahre aber sollten die Bürgermeister aller Gemeinden Österreichs zusammentreten und ohne jeden Unterschied, ob Großstadt oder Zwerggemeinde, über eine Stimme verfügen - eine Bestimmung, die sofort Kopfschütteln auch bei den getreuesten Systemanhängern erregte und bald der Ansatzpunkt für gewisse noch näher zu kennzeichnende politische Umtriebe wurde.

Aber zur Verfassungsvollendung war ja überhaupt noch ein unabsehbarer Weg zurückzulegen. Wie in der Maienblüte des Liberalismus stand eine schön ausgeklügelte Verfassungsurkunde von nun an auch im Inventar des christlichen Ständestaates; wenn es um Abwehr oppositioneller Strömungen ging, wurde sie in Wort und Schrift als ein unverletzliches Idol jeder noch so berechtigten Forderung aus dem Volke entgegengehalten. Die Machthaber selbst dachten gar nicht daran, wie es doch eben zum Wesen jeder Verfassung gehört, sich von ihrem Homunculus irgendwie Schranken weisen zu lassen. Da die Berufsstände noch nicht gebildet seien, so hieß es, gebe es eben auch keine berufsständischen Wahlen, man werde sich bis auf weiteres mit ernannten Vertretern begnügen müssen. Nicht genug mit dieser die ganze ständische Freiheit in die Hand der Regierung überantwortenden Beschränkung, verlangte die Übergangszeit von Fall zu Fall ein von den Bedingungen der Verfassung unabhängiges Gesetzgebungsrecht der Bundesregierung. Ja diese könne endlich nach ihrem Ermessen schon durch einfachen Kabinettsbeschluß sogar die Verfassung selbst wieder Abänderungen unterziehen. Das war eben die Mischung der zwei im Grunde sich widersprechenden Prinzipien, des ständischen, die Staatsgewalt ungebührlich entkräftenden, das man vorgab, und des "autoritären", die Staatsgewalt willkürlich emportreibenden, das man tatsächlich ausübte. Aus bestimmter Berechnung wurde in der Zitierung der altösterreichisch-liberalen Grundrechte sogar noch eine Portion Individualismus dem Verfassungszwitter zugesezt; aber auch da gab es bei [83] der Festlegung des Freiheitsrechtes jedesmal eine autoritäre Einschränkung und Bedingung, die es jederzeit unwirksam machen konnte. Selbstverständlich sah es auch mit der Erneuerung der von Dollfuß lahmgelegten Verfassungsgerichtsbarkeit genau so aus. Um die Verwirrung vollständig zu machen, erschien ganz gesondert von der Verfassungsurkunde ein paar Tage später das Grundgesetz der VF. als Trägerin der politischen Willensbildung, wodurch die politische Entscheidung formell auf eine dort gar nicht vorgesehene Ebene verlagert wurde. Dagegen war wieder ein völkerrechtlicher Vertrag, das neue Konkordat, der Verfassung als integrierender Bestandteil angehängt und trat, wie sie selbst, am 1. Mai in Kraft.

Die nationalsozialistische "Illegale" ist sich über den wahren Charakter dieser zweideutigen Verfassungsgebung keinen Augenblick im unklaren gewesen und sie wußte, daß die Scheinlegalisierung des bisher notverordneten Verfassungsbruches ihr erst recht jede Aussicht auf eine friedliche Durchsetzung eines noch so begrenzten Machtanspruches nehmen würde. Von einer Amnestie, die sonst solche Staatsakte zu begleiten pflegt, war trotz der theatralischen Verkündigung der Verfassung als einer Art ständischen Maifestes keine Rede. Vielmehr nahm die Härte des Kampfes auf beiden Seiten sichtlich zu. Fey, der am 1. Mai den Vizekanzlerposten an Starhemberg hatte abgeben müssen, um den Heimwehrfürsten mit der formalen Preisgabe des grün-weißen Fascismus zu versöhnen, erhielt eine neuartige Bestellung als Generalkommissär zur Säuberung der Privatwirtschaft von staatsfeindlichen Elementen, als ob die Sicherheitsdirektoren es in dieser Hinsicht noch hätten fehlen lassen.

Regierungsgruppe vor dem Fronleichnamsaltar der Inneren Stadt.
[128a]      Regierungsgruppe vor dem Fronleichnamsaltar der Inneren Stadt (von links: Fey, Miklas, Dollfuß, Starhemberg, Stockinger, Schuschnigg, Karwinsky, Schnitz).

Die nun in den zweiten Sommer gehende Grenzsperre gegen Deutschland führte zu einem unnatürlichen Kleinkrieg zwischen Grenzbewohnern, Gendarmen und Schutzkorpsleuten, der immer wieder Todesopfer kostete und zur wirtschaftlichen Verelendung auch noch die moralische brachte. Die Spannung wurde unerträglich, als Dollfuß anfangs Juli eine Regierungsumbildung mit der Parole der Ausrottung des Nationalsozialismus vornahm - die unmittelbar vorangegangene Venediger Reise des Führers hatte keine Annäherung des deutschen und [84] italienischen Standpunktes hinsichtlich der österreichischen Frage gebracht, und die angestrebte Mittlerstellung des seit einem Jahre als Gesandter in Rom wirkenden Dr. Rintelen wurde unhaltbar. Eine Einleitung zum Endkampf im Sinne der Regierung stellte die neue Verordnung dar, welche schon auf den bloßen Besitz einer beliebigen Menge Sprengstoff die Todesstrafe setzte.

Da reifte zeitgerecht bei einer Anzahl entschlossener Männer der Plan, die nationale Erhebung aus dem zermürbenden Kleinkrieg gegen einen immer vollkommeneren Apparat für Niederhaltung der Volkskräfte zur Durchbruchsschlacht vorzuführen. Eine allgemeine Erhebung konnte aus verschiedenen Gründen gerade in Wien nicht ins Werk gesetzt werden. So wurde die zentrale Aufgabe der -Standarte 89 allein zugewiesen, deren Kern die von Vaugoin längst disziplinierten Führer des ehemaligen nationalsozialistischen Soldatenbundes bildeten. Sobald die Macht in Wien an die in Aussicht genommene Regierung Rintelen übergegangen sei, hätte die SA. in den Bundesländern sofort die Exekutive zu überwältigen. Nach eintägiger Verschiebung schien der Plan im ersten Anlauf zu gelingen, geriet aber in der Durchführung nach unglücklichen Zwischenfällen in eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Die 154 Männer, die am 25. Juli mittags auf Lastwagen von einer Turnhalle zum Bundeskanzleramt, dieser Zwingburg Deutsch-Österreichs, heranrollten, erzwangen sich ohne Blutvergießen den Eingang und hatten die Absicht - ihretwegen hatten sie sogar einen gefährlichen eintägigen Aufschub verantwortet - Dollfuß und seine Minister durch die Besetzung des Gebäudes während einer Kabinettsberatung zum Rücktritt zu zwingen. Der Verrat eines eingeweihten Polizeibeamten, der sich nachher selbst gerichtet hat - denn auch eine Anzahl nationaler Kriminalbeamten tat mit -, setzte die Regierung von dem geplanten unblutigen Unternehmen vorzeitig in Kenntnis. Dollfuß hob den Ministerrat, welcher der letzte vor den Sommerferien sein sollte, auf, ohne sich aber über den Ernst der Lage ganz im klaren zu sein und ohne wirklich zuverlässige Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. So sahen sich die Aufständischen wider alles Erwarten zunächst nur den [85] Ministern Fey und Baron Karwinsky gegenüber, die in Schutzhaft genommen wurden; dann trafen sie auf Dollfuß allein, der eben durch einen Seitengang gegen das Staatsarchiv zu entweichen wollte; es fielen in der Verwirrung Schüsse, die ihn tödlich verwundeten. Die Nachmittagsstunden waren mit Verhandlungen über den Abzug der Aufständischen ausgefüllt, wobei Fey selbst und im Auftrag des unter Schuschnigg tagenden Rumpf-Ministerrates Neustädter-Stürmer als Mittelsmänner dienten und ihr Ehrenwort für den sofortigen Abtransport verpfändeten. Als die Nationalsozialisten im Vertrauen darauf das längst umzingelte Bundeskanzleramt räumten, wurden sie jedoch unter Hinweis auf den inzwischen eingetretenen Tod des Kanzlers allesamt für verhaftet und der Strenge des Gesetzes ausgeliefert erklärt; dabei unterliegt es keinem Zweifel, daß die Unterhändler der Regierung bis dahin im Worte geblieben waren, obwohl Fey selbst eine Art Testament des Sterbenden entgegengenommen und später im Rundfunk verbreitet hat. - Zu einem offenen Gefecht ist es in Wien nur im Ravaggebäude (Rundfunk) gekommen, das ein Sonderkommando der besetzt hatte und erst nach entschlossenster Abwehr von einer erdrückenden Übermacht an Exekutive eingenommen werden konnte. Auch hier war das vorübergehende Gelingen der Erhebung von verhängnisvollen Folgen begleitet. Denn die während der Ravagbesetzung ausgegebenen Rundfunkmeldung, Rintelen sei nach dem Rücktritt von Dollfuß Bundeskanzler, wirkte draußen in den Ländern, soweit sie trotz jahrelanger Verfolgung noch schlagkräftige Stürme stellen konnten, als der lang erhoffte Alarmruf zur Freiheit! In weiten Teilen von Kärnten und Obersteiermark ging die öffentliche Gewalt für Tage auf die Nationalsozialisten über, deren Schicksal sich doch schon durch die Wiener Vorgänge entschieden hatte. Aber auch dort, wo keine bewaffnete Erhebung mehr möglich war, wußte die Regierung, was sie von einem Plebiszit selbst nach dem "Siege" zu erwarten hätte.

Der Staat wider Willen hatte mit dem zweiten blutigen Triumph dieses Jahres 1934 seinen Pyrrhussieg errungen, der keine Wiederholung mehr zuließ.


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz