Die "Dollfuß-Straße"
zwischen "Illegale" und V. F. (Vaterländische
Front)
Nur unter diesen Voraussetzungen ist die Gründung und der Aufbau der
für Österreich schließlich beinahe zum Verhängnis
gewordenen "Vaterländischen Front" zu begreifen. Die Christlichsoziale
Partei, die Partei des Kanzlers, war von Anfang an Nutznießerin des
sogenannten autoritären Kurses insofern, als er vor allem der Sicherung
ihrer Machtstellungen ohne Rücksicht auf Gesetz und Verfassung galt. Auf
einem Salzburger Parteitag versuchte der Kanzler frischen Wind in die
längst schlapp gewordenen Segeln zu blasen; hier gab er unter
verstärktem Polizeischutz die angesichts der wirklichen Lage nur
aufreizende Losung aus, das angebliche
Prinz-Eugen-Wort: Österreich über alles, wenn es nur will! Dabei
war er aber sichtlich bemüht, über den unzulänglichen
Rahmen der Partei hinaus Stimmung zu machen und die Interessen der Partei
selbst auf seine neue Gründung hinzuweisen. Ein Schriftleiter der
Reichspost, Dr. Kruckenhauser, der bald darauf ganz andere Wege
einschlug, legte Dollfuß nahe, ein Bundeskommissariat [63] für Heimatdienst
als eine Art Werbezentrale zu gründen und damit eine lockere Organisation
der "Vaterländischen" unter dem damaligen Modewort "Front" zu
verbinden; sie konnte der Verschleierung der innenpolitischen
Kräfteverhältnisse viel besser als die altgewordenen
Parteiorganisationen dienen, was auch gegenüber der egoistischen Kritik
der Heimwehr sein Gutes hatte. So rief denn der neuerdings in der
Kaiserschützen-Uniform sich gern zeigende Kanzler, der schon die
Hoffnung all derer wurde, welche die NSDAP. zu fürchten hatten, in Wort
und Bild zum Zusammenschluß einer "Vaterländischen Front"
(V. F.) auf; ihr sollten alle Österreicher beitreten, die sich unter
seiner Führung zum "freien", christliche, deutschen Vaterlande bekennen
und als Zeichen dieser Einstellung stets ein
rot-weiß-rotes Bändchen tragen würden! Den Stamm der
überraschenden Neugründung mußten der ganzen Aufmachung
nach wohl die Christlichsozialen selbst bilden, in der neuen Auffangstellung
gegenüber der braunen Hochflut aber fand sich alsbald auch der
bürgerliche, mit dem Wiener Judentum und der großen Presse
versippte Liberalismus ein. Jedoch das Wichtigste für die Zukunft wurde
das Hineinzwängen der in Österreich so weitverzweigten,
öffentlichen Beamten und Angestellten in die Neugründung, da eine
Verweigerung des Eintritts der Absage an das angestammte Vaterland und dem
daraus folgenden Verzicht auf alle erworbenen Rechte gleichgeachtet wurde.
Auch hier bewährte sich das neuösterreichische Gesetz der
vereinbarten Widersprüche. Gerade die Geringfügigkeit der von den
Frontmitgliedern verlangten Leistungen und die berechtigten Zweifel in die Dauer
des ganzen Unternehmens hatten zur Folge, daß der Zwangsbeitritt von fast
allen Betroffenen zunächst nur als belangloses, äußerliches
Zugeständnis aufgefaßt wurde.
So stand eine ziffernmäßig von Tag zu Tag ansehnlichere
Organisation da, die obenan die Nutznießer des Systems und an der breiten
Basis der Pyramide die sie Duldenden umfaßte. Noch fehlte aber bis auf
dürftige Schlagworte, die überwiegend dem Sprachschatz der
Christlichsozialen, zum geringeren Teil dem der Heimwehr entnommen waren,
das Programm, das schließlich zur Ausstattung einer politischen "Front"
gehörte. Auch in dieser Verlegenheit fand Dollfuß einen Ausweg,
indem [64] er sich gar nicht auf die
eigenen Füße stellte und bei der Autorität der politischen
Kirche eine ausgiebige Anleihe aufnahm. Zum Gedenken an die Befreiung Wiens
aus der Türkennot vor 250 Jahren hatte der neue Wiener Erzbischof
für den September einen Allgemeinen Deutschen Katholikentag einberufen,
auf dessen Vorbereitung Innitzer, wie sein Neujahrsaufruf noch zeigte,
ursprünglich betont volksdeutsche Kreise Einfluß nehmen ließ.
Mit den großen Umwälzungen des Jahres wandte sich auch hier das
Blatt und gerade das Fernbleiben der Reichsdeutschen benutzte man im
Widerspruch mit der Losung des Tages zur Schaustellung der
übervölkischen Kirchengemeinschaft auf dem Boden des vom
Nationalismus unbezwungenen Wien. Da erschienen Ungarn, Polen und Kroaten
in hellen Scharen und neben den Kardinälen von Venedig, Gran und Posen
sogar Verdier aus Paris, obwohl an die Rolle Frankreichs von 1683 lieber
hätte nicht erinnert werden sollen. Selbstverständlich wurden die
Heersäulen des österreichischen politischen Katholizismus mit
staatlicher Hilfe nach Wien in Marsch gesetzt, und Schuschnigg trug ihnen eine
akademische Rede über das katholische Gegenreich vor. Dollfuß aber
fand nun nach Ausschaltung von Parlament und Volksentscheid endlich seine
Tribüne und sein Publikum. Er entwickelte in einer Rede auf dem
Trabrennplatz im Wiener Prater die Auffassung, daß das neue
Österreich die Überwindung des Klassenkampfes auf dem Wege der
Verwirklichung der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno in
Angriff nahmen müsse. Die berufsständische Gliederung als
Allheilmittel, eine alterprobte Medizin aus dem Heimwehrlager, ließ sich
ganz gut mit den vatikanischen Richtlinien vereinigen und so war eine Ideologie
angenommen, die dem klerikalen wie dem fascistischen Flügel
genügte und je nach Bedarf gegen den Maxismus oder Nationalismus
ausgespielt wurde. Ihre werbende Kraft und ihr politischer Gehalt war freilich
noch geringer als der seinerzeitige Kompromißversuch eines Seipel oder
Schober. Eine gewisse Spannung ergab sich auch zur Denkweise der liberalen
Mitläufer der V. F., denen aber die Betonung des Wirtschaftlichen
als ausschlaggebenden Faktor und noch mehr das Fehlen der gefürchteten
rassisch-völkischen Momente eine [65] Eselsbrücke
eröffnete, deren sie sich gerne bedienten. Die bloße Erinnerung an die
Forderung der NSDAP. nach freien Wahlen genügte, um der
führenden Presse die Unzeitgemäßheit der parlamentarischen
Demokratie und die Vorzüge der werdenden berufsständischen ins
Bewußtsein zu rufen. Neben dem
rot-weiß-roten Bändchen, an dessen Tragen man bald den Beamten
erkannte, bestimmte Dollfuß bei jener Kundgebung das (schon in
Ordenszeichen der österreichischen Republik aufscheinende) Kruckenkreuz
in angeblicher Kreuzfahrerüberlieferung als Symbol der V. F. Das
von den Bajonetten der Exekutive geschützte Kruckenkreuz gegen das in
den Herzen brennende Hakenkreuz der deutschen Menschen an der Donau und in
den Alpen - dies Mißverhältnis wurde zum Sinnbild eines mit
sehr ungleichen Mitteln geführten jahrelangen, harten Kampfes!
Kaum waren die festlichen Septembertage der Türkenerinnerung vorbei,
für die noch anfangs des Jahres die Einladung Hindenburgs nach Wien
geplant gewesen, als der Kanzler einer wichtigen Entscheidung innerhalb seines
Systems nicht mehr ausweichen konnte. Von einem Totalitätsanspruch der
V. F. konnte trotz ihrer Scheinerfolge damals noch nicht die Rede sein. Die
Parteien bestanden noch fort, wenn auch die Christlichsozialen, ungeachtet des
Einspruches ihrer "demokratischen" alten Garde um Kunschak, sich
häuteten zu Nutznießern einer "überparteilichen" Front, die
alle Wahlen überflüssig machte - wahrhaft ein Opfer
fürs Vaterland, wie die Reichspost rühmte, das sich sehen
ließ! Aber schon die "Sturmscharen" des Ministers von Schuschnigg
dachten als militante Form des Kleriko-Legitimismus keineswegs an Preisgabe
ihres Sonderdaseins, und die Teilnahme Starhembergs an der
Septemberkundgebung bedeutete nur seine persönliche Verbundenheit mit
Dollfuß, dem "Führer" der V. F., während die
Heimwehr selbst die Neugründung als lästige Konkurrenz um Geld
und Gunst des Bürgertums ansehen mußte. Einen Sonderfall bildete
der Landbund des Vizekanzlers Winkler; mit Zustimmung des Kanzlers versuchte
der vielgewandte, steirische Politiker über seinen herkömmlichen
Wählerkreis hinaus unter der in Österreich von 1848 her
respektierten
schwarz-rot-goldenen Fahne eine zahme, nationale Opposition zu sammeln. Diese
[66] sogenannte
Nationalständische Front sah den österreichischen Separatismus und
das autoritäre Regime nicht als Dauerzustand an und hoffte, in sonderbarer
Verkennung der Lage, ein Sammelbecken für alle politischen
Strömungen darzustellen, die den Klerikalismus und den
Heimwehrfaschismus ablehnten und doch im Nationalsozialismus nur eine
vorübergehende, politische Modeerscheinung erblicken würden.
Starhemberg, der ohnedies einen persönlichen Erfolg brauchte, entfesselte
nun heftige Heimwehr-Angriffe gegen den "Antifaschisten" Winkler, der am
dritten Septembersonntag eine Heerschau seiner "nationalständischen"
Mannen in Graz veranstaltete. Doch da offenbarten die jüngeren
Teilnehmer so sinnfällig ihre hitlertreue Gesinnung, daß am
Ballhausplatz die ganze Gründung als staatsgefährliches Experiment
fallen gelassen und Dollfuß die ihm von Starhemberg angetraute Wahl
zwischen den beiden Gegnern leicht gemacht wurde. Der Landbundführer
trat vom Vizekanzleramt zugunsten des Wiener Heimwehrhäuptlings Fey
zurück; seine Sonderfront verschwand von der Bildfläche. Winkler,
der mit seinen Kollegen von der Dollfuß-Regierung hauptsächlich die
Angst vor Neuwahlen gemein hatte und häufig den Kurs zu bremsen
wünschte, wich wie schon vorher Rintelen einem Vertreter der reinen
Gewaltlehre. Sie richtete sich freilich mehr als es dem Regierungschef und selbst
Starhemberg lieb war, ohne Rücksicht auf deren wiederholte taktische
Wendungen, fast gleichmäßig gegen Rechts und gegen Links.
Wichtiger als programmatische Spielarten und als die Ausbreitung der papiernen
V. F. blieb der Besitz der Regierungsgewalt für die Männer
des März-Staatsstreichs. Berufsheer, Polizei und Gendarmerie, die
"Exekutive", erfreute sich, während Wirtschaft und Kultur verdorrten, der
größten Aufmerksamkeit des Systems. Es erregte zwar Sensation, als
Dollfuß die Ausbootung Winklers zur Gelegenheit nahm, auch den zum
Titulargeneral erhobenen Vaugoin als Präsidenten der Bundesbahnen, wo er
seine Personalkünste abermals erproben durfte, abzuschieben. Aber das
hatte nur den Zweck, die Stellung des jungen Kanzlers, der wie ein kleiner
Mussolini nun auch das Heeresressort mit Unterstützung des
legitimi- [67] stischen Generals
Zehner übernahm, im Kabinett unbedingt zu festigen. Die Vaugoin
längst geläufige und ihn mit der Heimwehr verbindende
Einschätzung der Bajonette als wichtigsten Elements des staatlichen
Aufbaus blieb die Staatsraison des "neuen Österreich" und sein juristischer
Berater, der Jude Dr. Hecht, eine Hauptperson dieses seltsam christlichen
Kurses. Noch unter Vaugoin waren auch an Stelle der ihm ihrer Ähnlichkeit
mit reichsdeutschen Modellen wegen stets unsympathischen
Tellerkappen-Uniformen die altösterreichischen Muster mit den hohen
Kappen eingeführt worden - eine patriotische Errungenschaft, die in
entsprechender Weise auch auf Postler, Amtsdiener u. ä. ausgedehnt
wurde. Bei der Auslese der Mannschaften gerieten fachliche und politische
Bedürfnisse freilich häufig in Widerspruch. Denn hier war die
politische Zuverlässigkeit auf höhere Beweismittel als das einfache
Tragen des V. F.-Bändchens gestellt. Eigene Sicherheitsdirektoren,
die entgegen der geltenden Bundesverfassung das Sicherheitswesen aus der Hand
der Landeshauptleute in die unmittelbare Beauftragung der Bundesregierung
übernahmen, sorgten für die ständige Verschärfung und
Vermehrung der öffentlichen Gewalt.
Im Sommer 1933 erreichte man schon die Zustimmung der Vertragsgegner von
St. Germain zur Vermehrung der Bestände und zur Aufstellung eines
freiwilligen Schutzkorps aus Mitgliedern der Selbstschutzformationen.
Starhemberg hatte vergeblich versucht, der Heimwehr unmittelbar die
Anerkennung als staatlicher Wehrkörper zu verschaffen; Vaugoin und
Dollfuß ließen sich von seiner, den schwarzen Sturmscharen noch
immer überlegenen grünen Privatarmee nicht das Heft aus der Hand
nehmen. Nicht minder wichtig als der Einsatz dieser Terroristen für
Haussuchungen, Strafexpeditionen u. ä. wurde im Kampf der
Regierung gegen das Volk die uferlose Ausdehnung der polizeilichen
Verwaltungsstrafen und die damit eng zusammenhängende Einrichtung der
sogenannten Anhaltelager, deren besuchtestes die elenden Wöllersdorfer
Kriegsbaracken wurden. Den Anhaltehäftlingen wurde für die Dauer
ihrer Freiheitsberaubung ein täglicher Unkostenbeitrag aufgerechnet, der
den Preisen eines guten Gasthofes entsprechen [68] mochte. Da sie aber
angesichts der wirtschaftlichen Lage vieler Opfer uneinbringlich geblieben
wären, übertrug man sie auf beliebige andere Personen ihres
Wohnortes, die als "Pg." bekannt waren. Denselben "Rechtsgrundsätzen"
verdanken die "Putzscharen" ihre Aufstellung, die in den zahllosen Fällen
geschah, wo auf Gebäuden und Bäumen, ja selbst an beinah
unzugänglichen Felswänden wie der Nordkette oberhalb Innsbruck
das Hakenkreuzzeichen und Losungen der Bewegung angebracht wurden.
Dennoch gelang immer wieder etwa das Losgehen von Papierböllern oder
die Ausschaltung des Lichtstromes bei vaterländischen Veranstaltungen,
was allerdings wieder einen Rattenschwanz von Verhaftungen, Disziplinierungen
und Bußen nach sich zog. Anderseits machte schon der Besitz des
Führerbuches oder -bildes, das Einzahlen oder Empfangen eines
Parteimitgliedbeitrages, das Singen auch nur des Deutschlandliedes oder das
Anhören des nach Möglichkeit gestörten Münchner
Senders straffällig.
Die ganz Europa erregende Frage blieb, für wen die Zeit arbeite? Trotz des
für den Status quo günstigen Viererpaktes und Italiens
damaliger Haltung schien es, daß auch ohne offene Aufruhr die Mittel des
Systems sich fast erschöpft hätten, oder wirkte die Nachricht von der
geglückten Entführung des Tiroler Gauleiters Hofer aus der
Innsbrucker Haft zum Nürnberger Parteitag anders auf Freund und Feind?
Flaggenhissung und Bergfeuer an nationalen Festtagen meldeten aller Welt,
daß die Bewegung "trotz Verbot nicht tot" sei und erreichten an Werbekraft
sicher ganze Versammlungswellen der Zeit vor dem Parteiverbot.
Nichtsdestoweniger vervollkommneten sich auf der anderen Seite auch wieder die
Maschinerie der Unterdrückung und im November kam es sogar zur
Verkündung von Standrecht und Todesstrafe. So zog das
System - eine bedenkliche Begleiterscheinung - auch vom
Dorfgendarmen bis zum Sektionschef hinauf tausende Personen
unabhängig von deren persönlicher Überzeugung als Organe
der Staatsgewalt heran und brachte sie von Berufs wegen in einen Gegensatz zur
Bewegung. Auch die wirtschaftliche Verelendung und die Unfähigkeit des
Systems zu ihrer Behebung wirkte sich politisch sehr uneinheitlich aus;
behauptete doch z. B. der [69] Sicherheitsdirektor von
Steiermark geradewegs, die Widerstandskraft der Staatsfeinde sinke mit
erlahmender wirtschaftlicher Existenz und erst die Erwerbslosigkeit stelle
für die Exekutive die Leute zur Verfügung, die man zu allem
verwenden könne! - Schließlich unterlag die Parteiorganisation
der "Illegale" naturgemäß einem ständigen, unfreiwilligen
Personenwechsel und diese Dezimierung traf in erster Linie die alteingearbeiteten
Kämpfer und die zu jedem Einsatz bereite Jungmannschaft. Die Zahl der
Männer und Burschen aller Berufe, die für die Bewegung mattgesetzt
waren, ehe sie den von manch einem noch in letzter Stunde mit dem Tod an der
Grenze gebüßten Entschluß zur Auswanderung ins Reich
faßten, stieg unaufhörlich. Eine ganze österreichische Legion
[80b]
Von der Polizei beschlagnahmtes Propagandaauto der "Illegale" (mit
Papierböllern). 7. 1. 1934.
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entstand, welche die Befreiung ihrer Heimat vorbereiten
wollte - indessen hier sich Emigranten breit machten, die dann mit dem
österreichischen Separatismus auf Gedeih und Verderb verbunden waren:
die großaufgemachte Wochenschrift Der christliche
Ständestaat des halbjüdischen Münchener
Philosophieprofessors Dietrich von Hildebrand als Tummelplatz solcher
"österreichischer Menschen" wird für immer ein Dokument dieser
traurigen Zeit bleiben.
Der Totalitätsanspruch der "Vaterländischen", der den Titel
für die zügellose Ausnützung der Herrschaftsstellung der
einen und für die zahllosen Verfolgungen der andern abgab, ist durch und
durch unaufrichtig gewesen und barg deshalb den Keim zu Katastrophen in sich.
Denn die Regierung blieb nur an der Oberfläche Zerstörerin der
Parteiengruppierung vor dem März 1933, die sich aus dem mit gesetzlichen
Mitteln unaufhaltsamen Aufstieg des Nationalsozialismus ergeben hatte. Dieser
behielt trotz allen Unterdrückungen noch immer die Kraft, auf die
keineswegs geklärten Verhältnisse im Kabinett und unter dessen
Stützen so oder so Einfluß zu nehmen. Die nach dem Ausscheiden
des Landbundes erst recht hervortretenden Gegensätze zwischen
Christlichsozialen und Heimwehr legten jedem Teil nahe, die Frucht einer
Verständigung mit der "Illegale", die angesichts der internationalen
Befestigung des Dritten Reiches auf die Dauer doch unvermeidlich sei, selbst
heimzuholen und sich dadurch über den anderen Partner die Vorhand zu
sichern. Die [70] nationalsozialistische
Führung hatte keinen Grund, den solcherart sich anspinnenden
Gesprächen auszuweichen oder ihnen allzuviel Zutrauen zu schenken. Sie
gewann dadurch Aussicht auf erhöhte Bewegungsfreiheit und vielleicht
sogar auf die Sprengung der feindlichen Koalition. Die Heimwehr hätte
wohl den besseren Absprung bieten können, da sie ja im Rahmen des
Systems, wie jeder Kenner der Lage wußte, die unentbehrliche und doch
benachteiligte Hilfstruppe war und innerhalb ihrer Anhängerschaft sich
viele nicht mehr mit dem Steigbügeldienst für den politischen
Katholizismus befreunden wollten. Obwohl deshalb auch Starhemberg trotz aller
wilden Reden zeitweise Unterhaltungen mit braunen Vertrauensleuten
begünstigte, liefen sich all diese Kombinationen an seiner
persönlichen Zügellosigkeit und Unberechenbarkeit tot. Etwas weiter
gedieh dem Anschein nach die Fühlungnahme mit Dollfuß, der
persönlich eine gewisse Einsicht in die Unhaltbarkeit seiner Politik
besaß und in seiner staatlichen Schlüsselstellung wie als politischer
Taktiker dem Gegenspieler mehr Chancen als der Heimwehrfürst
verhieß. Er entsandte im Oktober sogar seinen Minister
v. Schuschnigg ins Münchener Braune Haus, allerdings einen
Unterhändler, der schon durch sein starres, von sich eingenommenes
Wesen so gar nichts vom Brückenbauer hatte und auch unverrichteterdinge
zurückkehrte. Doch am Neujahrstag 1934 hielt der Kanzler eine
Rundfunkansprache, die bei Nicht-Eingeweihten durch den Hinweis auf den
Deutschland und Österreich gemeinsamen Wunsch nach
militärischer Gleichberechtigung auffielt und tatsächlich die
Öffentlichkeit auf eine entscheidende Wendung vorbereiten wollte. Denn
auf ein Ersuchen des Kanzlers, das in den letzten Tagen des alten Jahres
über das Auswärtige Amt geleitet wurde, hatte die NSDAP. einem
ernstgemeinten Friedensschritt zugestimmt und der einst ausgewiesene
Abgeordnete Habicht sollte mit Dollfuß in der Nähe des Flughafens
Aspern eine Zusammenkunft abhalten. Habichts Flugzeug näherte sich
schon Wien und die letzten Vorbereitungen zu Empfang und Aussprache waren
getroffen, als der Heimwehrminister Fey den Regierungschef unter Einsatz aller
Druckmittel umstimmte, ihm die Absendung einer entsprechenden Funkmeldung
an den anfliegenden Unterhändler und die
Heraus- [71] gabe eines
unversöhnlichen Aufrufs an die Bevölkerung abrang. So wuchs
anfangs 1934 die Krisenstimmung in ganz Österreich neuerlich zur
Zerreißprobe an.
Da fanden sich die Heimwehrführer wieder in ihrem eigentlichen Element.
Sie drängten den Kanzler Schritt für Schritt zum offenen
Zweifrontenkrieg. Dem widernatürlichen Dreieck
Heimwehr - Klerikale - Sozialdemokratie, das mit verteilten
Rollen den Nationalsozialismus niederzuhalten bestimmt war, dürfte
Dollfuß selbst keine längere Dauer mehr zuerkannt haben. Daher der
Weg bis zu Theo Habicht, und derselben Erwägung dürfte die
Überwältigung der roten Arbeiterkammern gleich nach Neujahr zu
danken sein. Die November-Wahl zum ersten rein nationalsozialistischen
Reichstag hatte bereits bewiesen, welche Mittel der
Hitler-Bewegung zur unblutigen Überwindung des Marxismus zu Gebote
ständen. Dabei wäre aber in Österreich der ganze
Schutzkorps-Terror überfällig geworden und gerade an ihm waren
Männer wie Starhemberg, Fey oder Schuschnigg lebenswichtig interessiert.
Für sie war auch ein Ereignis wie die widerstandslose Besetzung des
Arbeiterkammergebäudes in unmittelbarer Nähe vom Wiener
Rathaus ein Zeichen, daß auch die Hauptfestung des Austromarxismus
sturmreif geworden sei. Seine Vertreter starteten zwar im Bundesrat, der trotz der
Lahmlegung des Nationalrates ohne jede sachliche Arbeit noch immer tagte, und
im Wiener Gemeinderat kritische Reden sonder Zahl, die unvermeidlich auch viel
richtige Anklagepunkte enthielten, aber ihre Tatenlosigkeit ermüdete ihre
eigenen Wählermassen. Hatten sie nicht im Grunde das System selbst
untermauert? So sind die einzigen legislativen Gewaltakte gegen die NSDAP., die
wenigstens formell sich im Rahmen der Verfassung abspielten, jene
Majoritätsbeschlüsse der Landtage gewesen, wo Regierungsparteiler
und Sozialdemokraten zusammen den
Hitler-Abgeordneten die rechtmäßig erworbenen Mandate aberkannt
und dadurch die Zahlenverhältnisse künstlich zugunsten der
christlichsozialen Landesbeherrscher verschoben hatten. Deshalb begann der
aufgeschlossenere, jüngere "Genosse" selbst die unbezwingliche braune
Opposition mit anderen Augen anzusehen und wurde für ihre fortgehende,
unterirdische Werbearbeit empfänglich. Das
erschüt- [72] terte wieder den in Seitz
und Renner verkörperten Opportunismus und wiegelte die Juden Otto
Bauer und Julius Deutsch zu verdoppelter Tätigkeit innerhalb der radikalen
Schutzbundkreise auf. Vergebens machte der Landeshauptmann Reither den
Versuch, durch eine mit Einsatz von Staatsmitteln großaufgezogene
Bauernkundgebung am 2. Februar ein "demokratisches" Kompromiß mit
den Roten vorzubereiten. Der Untergang der reichsdeutschen Sozialdemokratie
wurde auf jeden Fall zum Schicksal des Austromarxismus, wenn in
Österreich auch zuletzt nur äußere Gewalt entschied, die sich
in putschartigen Heimwehrforderungen an die Landeshauptleute
ankündigte.
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