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Die "Dollfuß-Straße"
zwischen "Illegale" und V. F. (Vaterländische Front)

Nur unter diesen Voraussetzungen ist die Gründung und der Aufbau der für Österreich schließlich beinahe zum Verhängnis gewordenen "Vaterländischen Front" zu begreifen. Die Christlichsoziale Partei, die Partei des Kanzlers, war von Anfang an Nutznießerin des sogenannten autoritären Kurses insofern, als er vor allem der Sicherung ihrer Machtstellungen ohne Rücksicht auf Gesetz und Verfassung galt. Auf einem Salzburger Parteitag versuchte der Kanzler frischen Wind in die längst schlapp gewordenen Segeln zu blasen; hier gab er unter verstärktem Polizeischutz die angesichts der wirklichen Lage nur aufreizende Losung aus, das angebliche Prinz-Eugen-Wort: Österreich über alles, wenn es nur will! Dabei war er aber sichtlich bemüht, über den unzulänglichen Rahmen der Partei hinaus Stimmung zu machen und die Interessen der Partei selbst auf seine neue Gründung hinzuweisen. Ein Schriftleiter der Reichspost, Dr. Kruckenhauser, der bald darauf ganz andere Wege einschlug, legte Dollfuß nahe, ein Bundeskommissariat [63] für Heimatdienst als eine Art Werbezentrale zu gründen und damit eine lockere Organisation der "Vaterländischen" unter dem damaligen Modewort "Front" zu verbinden; sie konnte der Verschleierung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse viel besser als die altgewordenen Parteiorganisationen dienen, was auch gegenüber der egoistischen Kritik der Heimwehr sein Gutes hatte. So rief denn der neuerdings in der Kaiserschützen-Uniform sich gern zeigende Kanzler, der schon die Hoffnung all derer wurde, welche die NSDAP. zu fürchten hatten, in Wort und Bild zum Zusammenschluß einer "Vaterländischen Front" (V. F.) auf; ihr sollten alle Österreicher beitreten, die sich unter seiner Führung zum "freien", christliche, deutschen Vaterlande bekennen und als Zeichen dieser Einstellung stets ein rot-weiß-rotes Bändchen tragen würden! Den Stamm der überraschenden Neugründung mußten der ganzen Aufmachung nach wohl die Christlichsozialen selbst bilden, in der neuen Auffangstellung gegenüber der braunen Hochflut aber fand sich alsbald auch der bürgerliche, mit dem Wiener Judentum und der großen Presse versippte Liberalismus ein. Jedoch das Wichtigste für die Zukunft wurde das Hineinzwängen der in Österreich so weitverzweigten, öffentlichen Beamten und Angestellten in die Neugründung, da eine Verweigerung des Eintritts der Absage an das angestammte Vaterland und dem daraus folgenden Verzicht auf alle erworbenen Rechte gleichgeachtet wurde. Auch hier bewährte sich das neuösterreichische Gesetz der vereinbarten Widersprüche. Gerade die Geringfügigkeit der von den Frontmitgliedern verlangten Leistungen und die berechtigten Zweifel in die Dauer des ganzen Unternehmens hatten zur Folge, daß der Zwangsbeitritt von fast allen Betroffenen zunächst nur als belangloses, äußerliches Zugeständnis aufgefaßt wurde.

So stand eine ziffernmäßig von Tag zu Tag ansehnlichere Organisation da, die obenan die Nutznießer des Systems und an der breiten Basis der Pyramide die sie Duldenden umfaßte. Noch fehlte aber bis auf dürftige Schlagworte, die überwiegend dem Sprachschatz der Christlichsozialen, zum geringeren Teil dem der Heimwehr entnommen waren, das Programm, das schließlich zur Ausstattung einer politischen "Front" gehörte. Auch in dieser Verlegenheit fand Dollfuß einen Ausweg, indem [64] er sich gar nicht auf die eigenen Füße stellte und bei der Autorität der politischen Kirche eine ausgiebige Anleihe aufnahm. Zum Gedenken an die Befreiung Wiens aus der Türkennot vor 250 Jahren hatte der neue Wiener Erzbischof für den September einen Allgemeinen Deutschen Katholikentag einberufen, auf dessen Vorbereitung Innitzer, wie sein Neujahrsaufruf noch zeigte, ursprünglich betont volksdeutsche Kreise Einfluß nehmen ließ. Mit den großen Umwälzungen des Jahres wandte sich auch hier das Blatt und gerade das Fernbleiben der Reichsdeutschen benutzte man im Widerspruch mit der Losung des Tages zur Schaustellung der übervölkischen Kirchengemeinschaft auf dem Boden des vom Nationalismus unbezwungenen Wien. Da erschienen Ungarn, Polen und Kroaten in hellen Scharen und neben den Kardinälen von Venedig, Gran und Posen sogar Verdier aus Paris, obwohl an die Rolle Frankreichs von 1683 lieber hätte nicht erinnert werden sollen. Selbstverständlich wurden die Heersäulen des österreichischen politischen Katholizismus mit staatlicher Hilfe nach Wien in Marsch gesetzt, und Schuschnigg trug ihnen eine akademische Rede über das katholische Gegenreich vor. Dollfuß aber fand nun nach Ausschaltung von Parlament und Volksentscheid endlich seine Tribüne und sein Publikum. Er entwickelte in einer Rede auf dem Trabrennplatz im Wiener Prater die Auffassung, daß das neue Österreich die Überwindung des Klassenkampfes auf dem Wege der Verwirklichung der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno in Angriff nahmen müsse. Die berufsständische Gliederung als Allheilmittel, eine alterprobte Medizin aus dem Heimwehrlager, ließ sich ganz gut mit den vatikanischen Richtlinien vereinigen und so war eine Ideologie angenommen, die dem klerikalen wie dem fascistischen Flügel genügte und je nach Bedarf gegen den Maxismus oder Nationalismus ausgespielt wurde. Ihre werbende Kraft und ihr politischer Gehalt war freilich noch geringer als der seinerzeitige Kompromißversuch eines Seipel oder Schober. Eine gewisse Spannung ergab sich auch zur Denkweise der liberalen Mitläufer der V. F., denen aber die Betonung des Wirtschaftlichen als ausschlaggebenden Faktor und noch mehr das Fehlen der gefürchteten rassisch-völkischen Momente eine [65] Eselsbrücke eröffnete, deren sie sich gerne bedienten. Die bloße Erinnerung an die Forderung der NSDAP. nach freien Wahlen genügte, um der führenden Presse die Unzeitgemäßheit der parlamentarischen Demokratie und die Vorzüge der werdenden berufsständischen ins Bewußtsein zu rufen. Neben dem rot-weiß-roten Bändchen, an dessen Tragen man bald den Beamten erkannte, bestimmte Dollfuß bei jener Kundgebung das (schon in Ordenszeichen der österreichischen Republik aufscheinende) Kruckenkreuz in angeblicher Kreuzfahrerüberlieferung als Symbol der V. F. Das von den Bajonetten der Exekutive geschützte Kruckenkreuz gegen das in den Herzen brennende Hakenkreuz der deutschen Menschen an der Donau und in den Alpen - dies Mißverhältnis wurde zum Sinnbild eines mit sehr ungleichen Mitteln geführten jahrelangen, harten Kampfes!

Kaum waren die festlichen Septembertage der Türkenerinnerung vorbei, für die noch anfangs des Jahres die Einladung Hindenburgs nach Wien geplant gewesen, als der Kanzler einer wichtigen Entscheidung innerhalb seines Systems nicht mehr ausweichen konnte. Von einem Totalitätsanspruch der V. F. konnte trotz ihrer Scheinerfolge damals noch nicht die Rede sein. Die Parteien bestanden noch fort, wenn auch die Christlichsozialen, ungeachtet des Einspruches ihrer "demokratischen" alten Garde um Kunschak, sich häuteten zu Nutznießern einer "überparteilichen" Front, die alle Wahlen überflüssig machte - wahrhaft ein Opfer fürs Vaterland, wie die Reichspost rühmte, das sich sehen ließ! Aber schon die "Sturmscharen" des Ministers von Schuschnigg dachten als militante Form des Kleriko-Legitimismus keineswegs an Preisgabe ihres Sonderdaseins, und die Teilnahme Starhembergs an der Septemberkundgebung bedeutete nur seine persönliche Verbundenheit mit Dollfuß, dem "Führer" der V. F., während die Heimwehr selbst die Neugründung als lästige Konkurrenz um Geld und Gunst des Bürgertums ansehen mußte. Einen Sonderfall bildete der Landbund des Vizekanzlers Winkler; mit Zustimmung des Kanzlers versuchte der vielgewandte, steirische Politiker über seinen herkömmlichen Wählerkreis hinaus unter der in Österreich von 1848 her respektierten schwarz-rot-goldenen Fahne eine zahme, nationale Opposition zu sammeln. Diese [66] sogenannte Nationalständische Front sah den österreichischen Separatismus und das autoritäre Regime nicht als Dauerzustand an und hoffte, in sonderbarer Verkennung der Lage, ein Sammelbecken für alle politischen Strömungen darzustellen, die den Klerikalismus und den Heimwehrfaschismus ablehnten und doch im Nationalsozialismus nur eine vorübergehende, politische Modeerscheinung erblicken würden. Starhemberg, der ohnedies einen persönlichen Erfolg brauchte, entfesselte nun heftige Heimwehr-Angriffe gegen den "Antifaschisten" Winkler, der am dritten Septembersonntag eine Heerschau seiner "nationalständischen" Mannen in Graz veranstaltete. Doch da offenbarten die jüngeren Teilnehmer so sinnfällig ihre hitlertreue Gesinnung, daß am Ballhausplatz die ganze Gründung als staatsgefährliches Experiment fallen gelassen und Dollfuß die ihm von Starhemberg angetraute Wahl zwischen den beiden Gegnern leicht gemacht wurde. Der Landbundführer trat vom Vizekanzleramt zugunsten des Wiener Heimwehrhäuptlings Fey zurück; seine Sonderfront verschwand von der Bildfläche. Winkler, der mit seinen Kollegen von der Dollfuß-Regierung hauptsächlich die Angst vor Neuwahlen gemein hatte und häufig den Kurs zu bremsen wünschte, wich wie schon vorher Rintelen einem Vertreter der reinen Gewaltlehre. Sie richtete sich freilich mehr als es dem Regierungschef und selbst Starhemberg lieb war, ohne Rücksicht auf deren wiederholte taktische Wendungen, fast gleichmäßig gegen Rechts und gegen Links.

Wichtiger als programmatische Spielarten und als die Ausbreitung der papiernen V. F. blieb der Besitz der Regierungsgewalt für die Männer des März-Staatsstreichs. Berufsheer, Polizei und Gendarmerie, die "Exekutive", erfreute sich, während Wirtschaft und Kultur verdorrten, der größten Aufmerksamkeit des Systems. Es erregte zwar Sensation, als Dollfuß die Ausbootung Winklers zur Gelegenheit nahm, auch den zum Titulargeneral erhobenen Vaugoin als Präsidenten der Bundesbahnen, wo er seine Personalkünste abermals erproben durfte, abzuschieben. Aber das hatte nur den Zweck, die Stellung des jungen Kanzlers, der wie ein kleiner Mussolini nun auch das Heeresressort mit Unterstützung des legitimi- [67] stischen Generals Zehner übernahm, im Kabinett unbedingt zu festigen. Die Vaugoin längst geläufige und ihn mit der Heimwehr verbindende Einschätzung der Bajonette als wichtigsten Elements des staatlichen Aufbaus blieb die Staatsraison des "neuen Österreich" und sein juristischer Berater, der Jude Dr. Hecht, eine Hauptperson dieses seltsam christlichen Kurses. Noch unter Vaugoin waren auch an Stelle der ihm ihrer Ähnlichkeit mit reichsdeutschen Modellen wegen stets unsympathischen Tellerkappen-Uniformen die altösterreichischen Muster mit den hohen Kappen eingeführt worden - eine patriotische Errungenschaft, die in entsprechender Weise auch auf Postler, Amtsdiener u. ä. ausgedehnt wurde. Bei der Auslese der Mannschaften gerieten fachliche und politische Bedürfnisse freilich häufig in Widerspruch. Denn hier war die politische Zuverlässigkeit auf höhere Beweismittel als das einfache Tragen des V. F.-Bändchens gestellt. Eigene Sicherheitsdirektoren, die entgegen der geltenden Bundesverfassung das Sicherheitswesen aus der Hand der Landeshauptleute in die unmittelbare Beauftragung der Bundesregierung übernahmen, sorgten für die ständige Verschärfung und Vermehrung der öffentlichen Gewalt.

Im Sommer 1933 erreichte man schon die Zustimmung der Vertragsgegner von St. Germain zur Vermehrung der Bestände und zur Aufstellung eines freiwilligen Schutzkorps aus Mitgliedern der Selbstschutzformationen. Starhemberg hatte vergeblich versucht, der Heimwehr unmittelbar die Anerkennung als staatlicher Wehrkörper zu verschaffen; Vaugoin und Dollfuß ließen sich von seiner, den schwarzen Sturmscharen noch immer überlegenen grünen Privatarmee nicht das Heft aus der Hand nehmen. Nicht minder wichtig als der Einsatz dieser Terroristen für Haussuchungen, Strafexpeditionen u. ä. wurde im Kampf der Regierung gegen das Volk die uferlose Ausdehnung der polizeilichen Verwaltungsstrafen und die damit eng zusammenhängende Einrichtung der sogenannten Anhaltelager, deren besuchtestes die elenden Wöllersdorfer Kriegsbaracken wurden. Den Anhaltehäftlingen wurde für die Dauer ihrer Freiheitsberaubung ein täglicher Unkostenbeitrag aufgerechnet, der den Preisen eines guten Gasthofes entsprechen [68] mochte. Da sie aber angesichts der wirtschaftlichen Lage vieler Opfer uneinbringlich geblieben wären, übertrug man sie auf beliebige andere Personen ihres Wohnortes, die als "Pg." bekannt waren. Denselben "Rechtsgrundsätzen" verdanken die "Putzscharen" ihre Aufstellung, die in den zahllosen Fällen geschah, wo auf Gebäuden und Bäumen, ja selbst an beinah unzugänglichen Felswänden wie der Nordkette oberhalb Innsbruck das Hakenkreuzzeichen und Losungen der Bewegung angebracht wurden. Dennoch gelang immer wieder etwa das Losgehen von Papierböllern oder die Ausschaltung des Lichtstromes bei vaterländischen Veranstaltungen, was allerdings wieder einen Rattenschwanz von Verhaftungen, Disziplinierungen und Bußen nach sich zog. Anderseits machte schon der Besitz des Führerbuches oder -bildes, das Einzahlen oder Empfangen eines Parteimitgliedbeitrages, das Singen auch nur des Deutschlandliedes oder das Anhören des nach Möglichkeit gestörten Münchner Senders straffällig.

Die ganz Europa erregende Frage blieb, für wen die Zeit arbeite? Trotz des für den Status quo günstigen Viererpaktes und Italiens damaliger Haltung schien es, daß auch ohne offene Aufruhr die Mittel des Systems sich fast erschöpft hätten, oder wirkte die Nachricht von der geglückten Entführung des Tiroler Gauleiters Hofer aus der Innsbrucker Haft zum Nürnberger Parteitag anders auf Freund und Feind? Flaggenhissung und Bergfeuer an nationalen Festtagen meldeten aller Welt, daß die Bewegung "trotz Verbot nicht tot" sei und erreichten an Werbekraft sicher ganze Versammlungswellen der Zeit vor dem Parteiverbot. Nichtsdestoweniger vervollkommneten sich auf der anderen Seite auch wieder die Maschinerie der Unterdrückung und im November kam es sogar zur Verkündung von Standrecht und Todesstrafe. So zog das System - eine bedenkliche Begleiterscheinung - auch vom Dorfgendarmen bis zum Sektionschef hinauf tausende Personen unabhängig von deren persönlicher Überzeugung als Organe der Staatsgewalt heran und brachte sie von Berufs wegen in einen Gegensatz zur Bewegung. Auch die wirtschaftliche Verelendung und die Unfähigkeit des Systems zu ihrer Behebung wirkte sich politisch sehr uneinheitlich aus; behauptete doch z. B. der [69] Sicherheitsdirektor von Steiermark geradewegs, die Widerstandskraft der Staatsfeinde sinke mit erlahmender wirtschaftlicher Existenz und erst die Erwerbslosigkeit stelle für die Exekutive die Leute zur Verfügung, die man zu allem verwenden könne! - Schließlich unterlag die Parteiorganisation der "Illegale" naturgemäß einem ständigen, unfreiwilligen Personenwechsel und diese Dezimierung traf in erster Linie die alteingearbeiteten Kämpfer und die zu jedem Einsatz bereite Jungmannschaft. Die Zahl der Männer und Burschen aller Berufe, die für die Bewegung mattgesetzt waren, ehe sie den von manch einem noch in letzter Stunde mit dem Tod an der Grenze gebüßten Entschluß zur Auswanderung ins Reich faßten, stieg unaufhörlich. Eine ganze österreichische Legion
Von der Polizei beschlagnahmtes Propagandaauto der ''Illegale''.
[80b]      Von der Polizei beschlagnahmtes Propagandaauto der "Illegale" (mit Papierböllern). 7. 1. 1934.
entstand, welche die Befreiung ihrer Heimat vorbereiten wollte - indessen hier sich Emigranten breit machten, die dann mit dem österreichischen Separatismus auf Gedeih und Verderb verbunden waren: die großaufgemachte Wochenschrift Der christliche Ständestaat des halbjüdischen Münchener Philosophieprofessors Dietrich von Hildebrand als Tummelplatz solcher "österreichischer Menschen" wird für immer ein Dokument dieser traurigen Zeit bleiben.

Der Totalitätsanspruch der "Vaterländischen", der den Titel für die zügellose Ausnützung der Herrschaftsstellung der einen und für die zahllosen Verfolgungen der andern abgab, ist durch und durch unaufrichtig gewesen und barg deshalb den Keim zu Katastrophen in sich. Denn die Regierung blieb nur an der Oberfläche Zerstörerin der Parteiengruppierung vor dem März 1933, die sich aus dem mit gesetzlichen Mitteln unaufhaltsamen Aufstieg des Nationalsozialismus ergeben hatte. Dieser behielt trotz allen Unterdrückungen noch immer die Kraft, auf die keineswegs geklärten Verhältnisse im Kabinett und unter dessen Stützen so oder so Einfluß zu nehmen. Die nach dem Ausscheiden des Landbundes erst recht hervortretenden Gegensätze zwischen Christlichsozialen und Heimwehr legten jedem Teil nahe, die Frucht einer Verständigung mit der "Illegale", die angesichts der internationalen Befestigung des Dritten Reiches auf die Dauer doch unvermeidlich sei, selbst heimzuholen und sich dadurch über den anderen Partner die Vorhand zu sichern. Die [70] nationalsozialistische Führung hatte keinen Grund, den solcherart sich anspinnenden Gesprächen auszuweichen oder ihnen allzuviel Zutrauen zu schenken. Sie gewann dadurch Aussicht auf erhöhte Bewegungsfreiheit und vielleicht sogar auf die Sprengung der feindlichen Koalition. Die Heimwehr hätte wohl den besseren Absprung bieten können, da sie ja im Rahmen des Systems, wie jeder Kenner der Lage wußte, die unentbehrliche und doch benachteiligte Hilfstruppe war und innerhalb ihrer Anhängerschaft sich viele nicht mehr mit dem Steigbügeldienst für den politischen Katholizismus befreunden wollten. Obwohl deshalb auch Starhemberg trotz aller wilden Reden zeitweise Unterhaltungen mit braunen Vertrauensleuten begünstigte, liefen sich all diese Kombinationen an seiner persönlichen Zügellosigkeit und Unberechenbarkeit tot. Etwas weiter gedieh dem Anschein nach die Fühlungnahme mit Dollfuß, der persönlich eine gewisse Einsicht in die Unhaltbarkeit seiner Politik besaß und in seiner staatlichen Schlüsselstellung wie als politischer Taktiker dem Gegenspieler mehr Chancen als der Heimwehrfürst verhieß. Er entsandte im Oktober sogar seinen Minister v. Schuschnigg ins Münchener Braune Haus, allerdings einen Unterhändler, der schon durch sein starres, von sich eingenommenes Wesen so gar nichts vom Brückenbauer hatte und auch unverrichteterdinge zurückkehrte. Doch am Neujahrstag 1934 hielt der Kanzler eine Rundfunkansprache, die bei Nicht-Eingeweihten durch den Hinweis auf den Deutschland und Österreich gemeinsamen Wunsch nach militärischer Gleichberechtigung auffielt und tatsächlich die Öffentlichkeit auf eine entscheidende Wendung vorbereiten wollte. Denn auf ein Ersuchen des Kanzlers, das in den letzten Tagen des alten Jahres über das Auswärtige Amt geleitet wurde, hatte die NSDAP. einem ernstgemeinten Friedensschritt zugestimmt und der einst ausgewiesene Abgeordnete Habicht sollte mit Dollfuß in der Nähe des Flughafens Aspern eine Zusammenkunft abhalten. Habichts Flugzeug näherte sich schon Wien und die letzten Vorbereitungen zu Empfang und Aussprache waren getroffen, als der Heimwehrminister Fey den Regierungschef unter Einsatz aller Druckmittel umstimmte, ihm die Absendung einer entsprechenden Funkmeldung an den anfliegenden Unterhändler und die Heraus- [71] gabe eines unversöhnlichen Aufrufs an die Bevölkerung abrang. So wuchs anfangs 1934 die Krisenstimmung in ganz Österreich neuerlich zur Zerreißprobe an.

Da fanden sich die Heimwehrführer wieder in ihrem eigentlichen Element. Sie drängten den Kanzler Schritt für Schritt zum offenen Zweifrontenkrieg. Dem widernatürlichen Dreieck Heimwehr - Klerikale - Sozialdemokratie, das mit verteilten Rollen den Nationalsozialismus niederzuhalten bestimmt war, dürfte Dollfuß selbst keine längere Dauer mehr zuerkannt haben. Daher der Weg bis zu Theo Habicht, und derselben Erwägung dürfte die Überwältigung der roten Arbeiterkammern gleich nach Neujahr zu danken sein. Die November-Wahl zum ersten rein nationalsozialistischen Reichstag hatte bereits bewiesen, welche Mittel der Hitler-Bewegung zur unblutigen Überwindung des Marxismus zu Gebote ständen. Dabei wäre aber in Österreich der ganze Schutzkorps-Terror überfällig geworden und gerade an ihm waren Männer wie Starhemberg, Fey oder Schuschnigg lebenswichtig interessiert. Für sie war auch ein Ereignis wie die widerstandslose Besetzung des Arbeiterkammergebäudes in unmittelbarer Nähe vom Wiener Rathaus ein Zeichen, daß auch die Hauptfestung des Austromarxismus sturmreif geworden sei. Seine Vertreter starteten zwar im Bundesrat, der trotz der Lahmlegung des Nationalrates ohne jede sachliche Arbeit noch immer tagte, und im Wiener Gemeinderat kritische Reden sonder Zahl, die unvermeidlich auch viel richtige Anklagepunkte enthielten, aber ihre Tatenlosigkeit ermüdete ihre eigenen Wählermassen. Hatten sie nicht im Grunde das System selbst untermauert? So sind die einzigen legislativen Gewaltakte gegen die NSDAP., die wenigstens formell sich im Rahmen der Verfassung abspielten, jene Majoritätsbeschlüsse der Landtage gewesen, wo Regierungsparteiler und Sozialdemokraten zusammen den Hitler-Abgeordneten die rechtmäßig erworbenen Mandate aberkannt und dadurch die Zahlenverhältnisse künstlich zugunsten der christlichsozialen Landesbeherrscher verschoben hatten. Deshalb begann der aufgeschlossenere, jüngere "Genosse" selbst die unbezwingliche braune Opposition mit anderen Augen anzusehen und wurde für ihre fortgehende, unterirdische Werbearbeit empfänglich. Das erschüt- [72] terte wieder den in Seitz und Renner verkörperten Opportunismus und wiegelte die Juden Otto Bauer und Julius Deutsch zu verdoppelter Tätigkeit innerhalb der radikalen Schutzbundkreise auf. Vergebens machte der Landeshauptmann Reither den Versuch, durch eine mit Einsatz von Staatsmitteln großaufgezogene Bauernkundgebung am 2. Februar ein "demokratisches" Kompromiß mit den Roten vorzubereiten. Der Untergang der reichsdeutschen Sozialdemokratie wurde auf jeden Fall zum Schicksal des Austromarxismus, wenn in Österreich auch zuletzt nur äußere Gewalt entschied, die sich in putschartigen Heimwehrforderungen an die Landeshauptleute ankündigte.


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz