Vom Staatsstreich zum Parteiverbot
(März - Juni 1933)
Einen Monat und eine Woche nach der Machtergreifung im Reiche fielen
für fünf schwere Jahre die Würfel über die
innenpolitische Gestaltung Österreichs. Wiederum zeichnete ein
gemeinsames Schicksal dem Reiche und Österreich ihren geschichtlichen
Weg vor. Und diesmal hätte als sein letzter Abschnitt die Brücke zur
Vereinigung betreten werden können: das Großdeutsche Reich als
Land der Verheißung von Generationen lag vor uns. Da zogen Zufall und
Bosheit wie Irrlichter über den Weg und entfernten Österreich mit
jedem Tage, der die Gestalt des Dritten Reiches der Vollendung näher
rückte, von dem ihm zukommenden Anteil daran. Höchstens
Zerrbilder des neuen Lebens im reichsdeutschen Kernvolke boten ihm seine
Machthaber, um zuletzt doch wie mit Naturgewalt der verleugneten Gemeinschaft
von Geist und Blut zu erliegen.
Auf Grund eines vierzehnjährigen, von immer unwiderstehlicheren
Erfolgen gekrönten Ringens um die Macht hat Hindenburg endlich am
30. Jänner 1933 den Führer an die ihm von der Vorsehung zustehende
Stelle berufen und ein daraufhin sogleich herbeigeführter, neuerlicher und
endgültiger Wahlsieg verschaffte ihm das letzte, noch fehlende Siegel der
Legalität. Die seit Jahren über
Versailles-Deutschland nach scheinbarer Besserung doppelt gefährlich
drohende Gewitterwolke des schwelenden Bürgerkrieges war damit
verscheucht. In Österreich dagegen genügte dem christlichsozialen
Parteimann Miklas als Staatsoberhaupt der durch einen vertauschten Stimmzettel
ausgelöste Rücktritt des Parlamentspräsidiums, [50] um einem Staatsstreich auf trockenem Wege
zuzustimmen. Unter der doppelzüngigen Versicherung, eine Besserung der
öffentlichen Verhältnisse "im Geiste der Verfassung" vorzubereiten,
wurde dem Volke von da an eine legale, politische Willensbildung
überhaupt unmöglich gemacht; nicht, was die nationalsozialistische
Überwindung des Parlamentarismus vorsah, die Umbildung und
Läuterung des Volkswillens, sondern seine Vergewaltigung wurde das
eigentliche Staatsprinzip. Im Reiche trat die gewaltigste Volksbewegung unserer
Geschichte mit einem im Feuer von tausend Kämpfen geprägten
Programm, Führerstab und Mannschaftskörper, mit einem
leidenschaftlichen Glauben an die Zukunft der Nation die Herrschaft an. In
Österreich vereinigte lediglich die Furcht vor dem sonst unvermeidlichen
Sturz die Repräsentanten von ein paar überlebten Parteien zu einer
Geschäftsgemeinschaft auf Gedeih und Verderb. Ihr Programm hieß
also Selbsterhaltung um jeden Preis und unter der unausgesprochenen
Voraussetzung, daß die Neuordnung des Reiches unter dem Druck innerer
und äußerer Gegnerschaft alsbald zusammenbrechen
müßte. Der Schelm konnte es nicht lassen, die neuen Herren
drüben irgendwie als Spiegelbild seiner eigenen Nichtigkeit zu sehen.
Wie kam der Stein ins Rollen, der die bisher mühsam erhaltene
Rechtsordnung in Österreich zerschlug? Am 1. März gaben
die Eisenbahner aller drei politischen Richtungen in einem kurzen Proteststreik
ihrer Unzufriedenheit gegenüber der eben angeordneten Drittelung ihrer
kargen Bezüge Ausdruck. Am 4. März kam es in der Frage
ihrer Maßregelung zu einer verworrenen Debatte im Nationalrat; bei einer
darauf folgenden Abstimmung erklärten seine drei Präsidenten, ohne
daß ein wirklich triftiger Grund vorgelegen wäre, infolge formeller
Streitigkeiten zwischen den Parteien ihren
Rücktritt - wer würde nicht die Aufregung der Parlamentarier
verstehen, die angesichts der reichsdeutschen Wandlung den Boden unter ihren
Füßen wanken spürten? Aber damit war freilich unversehens
ein Ereignis eingetreten, das die Geschäftsordnung nicht vorgesehen hatte.
Es sei dahingestellt, ob die von der parlamentarischen Opposition aufgestellte
These unanfechtbar sei, daß trotz der Demission die Befugnisse des letzten
Prä- [51] sidenten (des
Großdeutschen Dr. Straffner) bis zur Neuwahl seines Nachfolgers
nicht als erloschen gelten könnten. Jedenfalls war sie weniger
gekünstelt, als die von der Regierung vertretene Auffassung, jene Sitzung
dauere, da sie nicht geschlossen worden sei, unbegrenzt fort; da aber kein
Präsidium mehr vorhanden sei, fehle gleichzeitig jede Möglichkeit
einer parlamentarischen Betätigung, es müßte denn der
Bundespräsident mit einer Notverordnung eingreifen. Zweifellos war nun,
und das hatte die eingetretene abnormale Lage nur bestätigt, die Stunde der
Ablösung für Regierung und Parlament reif geworden. Die
Nachrichten jedoch über den entscheidenden Wahlsieg der neuen deutschen
Regierung am 5. März und die unmittelbar darauf auch auf Bayern
übergreifende Neuordnung der bisherigen Gliedstaaten im Sinne einer
starken, einheitlichen Reichsgewalt und nicht zuletzt das Zurückwerfen des
Zentrums aus seiner herkömmlichen Schlüsselstellung in der
deutschen Innenpolitik rissen jedoch Dollfuß von dem so schmalen Pfad
seiner Legalität in ein Abenteuer hinein, an dessen Anfang nicht einmal ein
männliches Bekenntnis zum Staatsstreich um angeblich höherer
Zwecke willen stand, sondern nur die in der Person des Sektionschefs
Dr. Hecht verkörperte jüdische Rabulistik in der Auslegung
von Verfassungsparagraphen; ihre Skrupellosigkeit vermochte allerdings das dazu
willige Ausland zu blenden und konnte selbst einen entschlossenen Gegner
vorübergehend verwirren und lahmlegen. So wurde jener
Nervenzusammenbruch einiger Parlamentarier, wozu der Christlichsoziale ebenso
wie der Sozialdemokrat und Großdeutsche
gehörte -, 1. Präsident war seit den Wahlen von 1930
Dr. Renner -, als "Selbstausschaltung des Nationalrates" zu einem
konstituierenden Akt erhoben.
Am 7. März erschien ein Aufruf der Bundesregierung "an das
österreichische Volk", der im Grunde das Land aus der Reihe der
Rechtsstaaten ausschied; ohne ein anderes staatspolitisches Ziel als die Wahrung
der Ruhe und Ordnung zur Fernhaltung wirtschaftlicher Schädigungen
anzugeben, machte er das Kabinett Dollfuß, da der gefügige
Bundespräsident sich im Hintergrund hielt, zum alleinigen Träger
der Staatsgewalt. Denn ausgehend von der Behauptung einer [52] Selbstausschaltung des Parlaments wurden
weder Neuwahlen vorbereitet noch auch nur das verfassungsgemäße
Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten in Anspruch genommen.
Dagegen holte man zum größten Erstaunen der davon betroffenen
Bevölkerung das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom
Juli 1917 aus den Aktenschränken und verhängte, um sogleich einen
Beweis seiner umfassenden Brauchbarkeit zu geben, auf Grund dieses Rechtstitels
nebst Einschränkungen der Pressefreiheit ein allgemeines
Versammlungs- und Aufmarschverbot. Das solcherart plötzlich ins
Schlaglicht der Öffentlichkeit gerückte "Kaffeesurrogatgesetz", wie
es in Hinblick auf eine eigentliche Zeckbestimmung genannt wurde, stand zwar
aus formalen Gründen tatsächlich in einem Anhang zur geltenden
Bundesverfassung. Aber sein neuer Anwendungsbereich, der sich in die Tendenz
zu uferloser Ausweitung trug, widersprach sowohl dem Sinn als dem Wortlaut der
Verfassung, die doch demselben März-Aufruf zufolge keineswegs als
aufgehoben zu betrachten war. Es besteht Grund zur Annahme, daß der
Bundespräsident, dessen Ermächtigungsvollmacht damit von der
Regierung umgangen wurde, sich zunächst mit dem Hinweis auf
vorübergehende politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten abfinden
ließ. Die Regierung Dollfuß selbst mag ja wahrhaftig wenig von der
Größe des Geschehens empfunden haben, die in der Gründung
des Dritten Reiches der Deutschen lag, aber die Unhaltbarkeit ihrer
Rechtsauffassung erkannte sie genau. Deshalb folgte der sogenannten
Selbstausschaltung des Parlaments alsbald eine von der Regierung
planmäßig durch Zurückziehung ihrer Anhänger aus
dem zuständigen Senat des Bundesgerichtshofes herbeigeführte
Lahmlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Damit erhebt sich um so eindringlicher die Frage nach den politischen
Kräfteverhältnissen, die eine solch gewagte Rechtsbeugung den
Machthabern nahelegten und auf lange hinaus ihren Erfolg sicherstellten.
Für die an politischem Gewicht und weltanschaulicher Haltung recht
ungleichen bisher parlamentarisch-bürgerlichen Parteien der
Regierungsmehrheit - Christlichsoziale und
Landbündler - verlagerte sich der Kampf um die Behauptung ihrer
bisherigen Stellung im [53] Staat, die mit demokratischen Mitteln nicht mehr
zu halten war, auf die Ebene eines "autoritären", d. h. die politische
Willensbildung im Volke bewußt durch äußere Gewalt
ablösenden Regimes. Das bedeutete freilich einen Bruch dieser Koalition
mit ihrer parlamentarischen Herkunft und mußte bei einiger Fortdauer ihre
eigenen Daseinsformen gänzlich verändern. Die grundsätzlich
antiparlamentarische Heimwehrgruppe dagegen witterte Morgenluft; ihr Gewicht
würde, so schien es, von Monat zu Monat zwangsläufig steigern,
wenn auch damit die so lange hinausgeschobene Frage nach ihrem inneren Wert
gefährlich dringlich wurde. Der unmittelbare Anlaß für die
Bundesgenossenschaft der Heimwehr mit den fast abgewirtschafteten
bürgerlichen Parteien lag in der auch für sie abschreckenden
Aussicht auf die fälligen Neuwahlen, wobei sie mit mehr Recht als jene aus
der Not eine Tugend machen konnte. Aber trotz alledem hatte sie im bloßen
Wettlauf mit dem Selbsterhaltungstrieb der andern wenig Aussicht sich gegen die
Routiniers des politischen Katholizismus durchzusetzen und jeder ernstliche
Versuch zur Durchführung ihres eigenen Programms oder besser ihres
unbegrenzten Machtanspruchs hätte sofort die ganze Notgemeinschaft in
Frage gestellt. Die unnatürliche Lage des lecken Staatsschiffes erforderte
aber von den Lenkern, die den Kurs auch gegen die viel stärker gespeisten
oppositionellen Strömungen durchsetzen wollten, ebensoviel
Geschmeidigkeit in Täuschungsvermögen als wohldosierten Einsatz
der Brachialgewalt. Hierin waren nun Dollfuß und seine engeren Freunde,
deren etwas zarterer Konstitution im Bedarfsfalle durch die Heimwehrterroristen
der Rücken gesteift wurde, ganz in ihrem Element.
Die Politik des 7. März richtete sich nach dem ganzen Zusammenhang der
Ereignisse gegen die Nationalsozialisten. Diese konnten sich nach dem
endgültigen Wahlsieg der Partei im Reich auf den unvergleichlichen,
sturmerprobten Propagandaapparat der großen Partei stützen und
besaßen alle Aussicht, in Österreich auch gegen den
persönlichen Widerstand des Staatsoberhauptes "legal" an die Macht zu
kommen. Dabei kam aber eine integrale Lösung, wie sie im Reiche sofort
nach dem 5. März angestrebt wurde, noch nicht in Frage und die [54] Person des nur sehr locker dem Kabinett
angehörigen Dr. Rintelen stand als der Führer einer solchen
"antmarxistischen" Koalition noch lange im Vordergrund. Mit diesen Tatsachen
rechnete das gerissene Spiel der Dollfuß-Leute, um die erwartete
Gegenwirkung abzuschwächen. Wider Erwarten enthielten ihre ersten
Ankündigungen gar keine Kampfansage gegen die "Nazis", und man
erklärte die neuen Maßnahmen als Reaktion auf die
Auswüchse des Parlamentarismus, als Schritt zur Bändigung des
Austromarxismus. So brachte man durch Vertauschung der Rollen der geheimen
und der offenen Gegner fürs erste Verwirrung in die öffentliche
Meinung. Ja, nicht genug damit, so hieß es, die Nationalsozialisten
dürften einer Regierung nicht in den Rücken fallen, die dem
Parlamentarismus und Marxismus Fehde ansagte. Der anscheinend so übel
behandelten Linken aber gab man gleichzeitig zu verstehen, daß die Politik
des kleineren Übels für sie die zeitgemäße sei und die
Opposition der papiernen, marxistischen Proteste gegen den
"Austro-Fascismus" in beiderseitigem Interesse liege.
Die erste Feuerprobe des Regimes nahm denn einen auch das Ausland
überraschenden guten Ausgang. Der Deutschnationale Dr. Straffner,
als der zuletzt amtierende Präsident, berief für den 15. März
den Nationalrat zu dem alleinigen Zwecke zusammen, um die Fiktion der
Regierungsjuristen zu beseitigen, wonach die Sitzung vom 4. März immer
noch fortdauere. Die Regierung aber war um Rat gegen diesen
unerwünschten Zwischenfall nicht verlegen. Als unverbindliche Zusagen
einer späteren Flottmachung des Parlaments nichts nützten,
erklärte sie die geplante Sitzung für eine private Angelegenheit der
oppositionellen Abgeordneten, die daher unter das Versammlungsverbot falle, und
traf offen Vorbereitungen zu ihrer Verhinderung. Am kritischen Tage besetzte ein
großes Aufgebot von Polizeibeamten das klassische Gebäude am
Seipelring, indessen Züge von Militärautos über die
Ringstraße am Roten Rathaus vorbei fuhren. Die Sozialdemokratie aber
verzichtete mit einemmal auf die Anwendung ihrer früher so leichtfertig
gezückten Streikwaffe und die bürgerlichen Abgeordneten, die allein
ohnedies keine kampffähige Abwehr bildeten, begnügten sich
ebenfalls mit Protesten. Die National- [55] sozialisten
selbst - das war der Angelpunkt der gescheiterten
Aktion - mußten als Dritte beiseitestehen, da sie doch
unmöglich für das Recht eines Parlaments auf die Straße gehen
konnten, in dem sie nicht einmal einen Vertreter aufwiesen. So blieb es gegen
Recht und Vernunft, aber gestützt auf die Gewalt der Tatsachen bei der
"Selbstausschaltung" der Volksvertretung, die durch keine bessere ersetzt wurde.
Dadurch ermuntert, holte Dollfuß, lange ehe der erste Monat der Diktatur zu
Ende gegangen war, zu einem neuen Streich aus. Die Heimwehr, endlich einmal
zum Zug gekommen, verlangte stürmisch sowohl die Auflösung des
sozialdemokratischen Schutzbundes und der Kommunistischen Partei, wie die
Einsetzung eines Regierungskommissärs für Wien. Der Kanzler
bewilligte scheinbar gern die beiden ersten Forderungen, die das Ansehen der
Regierung bei allen nach der "starken Hand" rufenden bürgerlichen Kreise
zu heben bestimmt waren; er versagte sich aber dem geplanten Staatsstreich gegen
das Rote Rathaus als einer Kraftprobe, der er noch nicht gewachsen sei. In
Wahrheit veränderte der Auflösungsbeschluß über den
Schutzbund, worauf die Nationalsozialisten hinwiesen, nur die Außenseite;
die Tolerierung des Bürgermeisters Seitz aber ermöglichte den
Marxistenführern, die den Sturz ihrer Genossen im Reiche vor Augen
hatten, die ihnen hörigen Massen zu beruhigen und für die
Tolerierung des beginnenden Dollfuß-Systems auf Gegenseitigkeit
vorzubereiten. Nur der unaufhaltsame Untergang des Marxismus jenseits der
Reichsgrenzen spielte einem Kanzler von solchem Format und trotz der damals
noch recht lückenhaften staatlichen Machtmittel Möglichkeiten in
die Hand, die Seipel und Schober nie besaßen: Streikverbote und sonstige
Behinderungen der organisierten Arbeiterschaft, finanzielle Strangulierung des
Wiener Rathauses u. ä. Ein entscheidender Schlag aber und vor
allem die innere Überwindung der
jüdisch-proletarischen Ideologie wäre durch eine Verbreiterung der
Front zu den Nationalsozialisten hin möglich gewesen. Es fehlte nicht an
einigen Versuchen dazu. Die ostmärkische
Hitler-Bewegung und Landesinspekteur Theo Habicht hätten schon im
Hinblick auf die damalige schwierige außenpolitische Lage
Österreichs wie des Reiches einer geordneten Entwicklung gern [56] die Wege bereitet, und
da ihnen an der Belebung des alten Parlaments an sich nichts gelegen sein konnte,
wären sie einer wirklichen Reform der Zustände aufgeschlossen
gewesen. Dollfuß dagegen kam es, soweit er überhaupt eine eigene
Linie einzuhalten wußte, wohl nur auf die Verschleierung seiner Absichten
während der Anlaufzeit des Systems an. Dies um so mehr, als es damals
trotz Lausanne in seiner eigenen Partei und in der Heimwehr noch immer
nationalbetonte Minderheiten gab. Aber an der Frage der Neuwahlen scheiterte
alsbald der Brückenschlag zwischen denen, die sich einer deutschen
Zukunft verschworen wußten und denen, die an den bisherigen
Zuständen nur das ihnen unbequem Gewordene auszusetzen hatten.
Im Reich hatte Mitte Januar die Lippe-Wahl den Durchbruch zur Macht
angekündigt, in Österreich dagegen gab den Machthabern die
Teilwahl in den Innsbrucker Gemeinderat im April das Signal zu einer neuen,
wesentlichen Erweiterung der Staatsstreichpolitik. Trotz des offenkundigen
Drucks von Seite der Regierung und des persönlichen Eingreifens von
Dollfuß in den Wahlkampf gingen die Nationalsozialisten als stärkste
Partei in Tirol hervor, wo seit je das bevorzugte Versuchsfeld der Heimwehr war
und das jetzt als erstes die Segnungen einer Hilfspolizei mit dem Hahnenschwanz
genoß. Die Antwort der Wiener Machthaber war ein neuer
Verfassungsbruch. Mit dem höhnischen Hinweis auf die Schädigung
des Fremdenverkehrs durch politische Kundgebungen erschien eine
"kriegswirtschaftliche" Notverordnung, die alle Wahlen in öffentliche
Vertretungskörper zunächst für das Sommerhalbjahr
unterband. Damit glaubte man sich aller Hemmungen gegen die verhaßten
"Nazis" entledigt zu haben, während die Linke diese Entwicklung im
Grunde nur begrüßen konnte. - Unter denselben
zwiespältigen Zeichen erlebte Österreich einen 1. Mai, der den
zunehmenden, verhängnisvollen Abstand vom Reiche aller Welt vor Augen
führte. Dort das überwältigende, Herzen und Sinne ergreifende
Schauspiel der neugewonnenen Volksgemeinschaft an Stelle der
herkömmlichen Verherrlichung des Klassenkampfes; hier eine zur
Abschreckung bestimmte Parade staatlicher
Machtmittel - die sonst den roten Umzügen dienende [57] Wiener Ringstraße
von Maschinengewehrschützen und mit spanischen Reitern abgeriegelt; die
Tafeln mit der Aufschrift: "Wer weitergeht, wird erschossen!", blieben den
Wienern noch lange in Erinnerung. Der Heeresminister Vaugoin, der an diesem
Tage ebenso wie schon am 15. März für das System hinreichende
Beweise seiner Wichtigkeit gegeben hatte, trat von da an immer häufiger
durch den Radikalismus seiner Einstellung hervor und überzeugte
Dollfuß, daß nichts für die Zügelung der in der
Heimwehr vereinigten, militanten Kräfte geeigneter sei als die brutale
Handhabung der unter christlich-sozialer Kontrolle befindlichen staatlichen
Machtmittel. So wurde der Rücktritt Rintelens, der vergeblich auf seine
Stunde in der Regierung gewartet hatte, fällig; auch die ständig nach
Kompromissen haschenden Landbundminister verloren an Boden. Dafür
schwenkte Starhemberg, dem bisher nach dem offenen Abfall der Steirer unter
Kammerhofer die innere Opposition gerade der begabteren
Heimwehr-Landesführer (wie Dr. Hueber in Salzburg, Alberti in
Niederösterreich) viel zu schaffen machte, offen zu Dollfuß
über, mit dem zusammen er nun an die "Säuberung" der
Hahnenschwanzgruppen ging. Zynisch erklärte er, daß ihn das
Schicksal des Stahlhelms auf diesen Weg verweise, da er nicht umsonst sein Geld
in die Heimwehr gesteckt haben wollte, und bei einem vor der Wiener
Bevölkerung sehr abfällig begrüßten Aufmarsch der
grün-weißen Kolonnen im Schönbrunner Park feierte er ein
Fest der Verbrüderung mit dem klerikalen Kanzler.
Je eindeutiger die nationalsozialistische Durchdringung des Reiches wurde, desto
mehr wuchs das Interesse an diesem Regierungskurs auch bei Gruppen, die ihm
zuerst ablehnend, wenn nicht fassungslos gegenüberstanden. Die
veränderte Haltung der bürgerlich-jüdischen Presse, die sich
allmählich abzeichnete, ermöglichte der Regierung die Verdichtung
ihrer Fäden und ein stärkeres Echo in den kapitalkräftigen
Kreisen war nicht weniger wichtig für die ersten Tastversuche ins Ausland.
Auch dort, wo man an dem Zustand in Österreich dies oder jenes
auszusetzen hatte, überwog allmählich die Genugtuung über
die Zurückdrängung der braunen Flut, die fremden Einflüssen
überhaupt keinen Raum mehr gelassen hätte. Die erste Reise des
[58] Kanzlers galt der
gleichzeitigen Sondierung im fascistischen und vatikanischen Rom, wofür
von Anbeginn an genug Verbindungsmänner tätig waren. Die von
der französischen Presse groß aufgemachten Befürchtungen
waren damals ganz unangebracht und sogar im Vatikan, wo
Konkordatsverhandlungen einsetzten, scheint noch die Vorsicht überwogen
zu haben. Der erste laute Erfolg sollte dem autoritären Dollfuß erst
von der westlichen Demokratie, wie er sie schon in
Lausanne-Genf kennengelernt hatte, zuteil werden, und zwar auf der im ganzen
nichtsnutzigen Londoner Weltwirtschaftskonferenz vom Juni 1933. Bis dahin
verstand der Kanzler eben seine Hausfehde mit den Nationalsozialisten in einen
skandalreichen Bruderzwist mit dem Reiche auszudehnen. Seine Innenpolitik
mußte zwangsläufig auf einen Punkt gelangen, wo auch das bisher
von jeder österreichischen Regierung geachtete, besondere nachbarliche
Verhältnis zu Deutschland in die Brüche ging. Wenn der
neuösterreichische Kurs unter Duldung des Liberalismus und eigentlich
sogar des Marxismus sich einseitig gegen die nationalsozialistische "Gefahr"
wandte und die Möglichkeit eines modus vivendi für die
Bewegung in der Ostmark schwand, dann verquickte sich der schon vor Hitlers
Kanzlerschaft vorhandene tiefe Gegensatz des Reichs zum
Geschäftsführer des Lausanner Protokolls mit der zunehmenden,
selbstverständlich jeden Deutschen berührenden, inneren Spannung
aufs unheilvollste.
Die seit jeher bestehende kämpferische Einheit zwischen
österreichischem und reichsdeutschem Nationalsozialismus wurde in eine
"ausländische" Einmischung umgedeutet, an der auch die Reichspolitik
schuld sei, als ob München und Berlin mit dem Wiener Ballplatz dieselbe
Auffassung von Ruhe und Ordnung zu vertreten hätten. Erst als die
verfassungswidrige Notverordnungspraxis die im Rahmen der bestehenden
Gesetze sich abwickelnde braune Propaganda Schritt für Schritt lahmlegte,
und der bis dahin unpolitische Rundfunk für das System eingespannt
wurde, gab der Münchner Sender österreichische Lageberichte aus,
die Dollfuß zu diplomatischen Einsprüchen veranlaßten. Als
aber Mitte Mai der damals bayrische Justizminister Dr. Frank auf der Reise
zu Gesinnungsfreunden im [59] Wiener Flughafen
landete, empfing ihn im Auftrage der Regierung einer der höchsten
Polizeifunktionäre mit dem rasch zum geflügelten Worte
gewordenen Gruß, sein Besuch sei unerwünscht! Nachdem Frank in
Wien und Graz gesprochen, wurde er genötigt, wegen regierungsfeindlicher
Äußerungen das Bundesgebiet schleunigst zu verlassen.
Verfolgungen gegen die NSDAP. im Lande und Herausforderungen gegen das
Reich und die es nun tragende Partei liefen nebeneinander her und erreichten,
nachdem ein allgemeines Uniformverbot für die Braunhemden
vorangegangen war, in einem auch für "Ausländer" geltenden Verbot
des Hakenkreuzabzeichens ihren Höhepunkt. Damit hat das Wiener
Kabinett selbst die Verordnung einer Ausreisesperre der Reichsregierung (die
sogenannte 1000-Mark-Sperre), die mit 1. Juni in Kraft trat, herausgefordert.
Gewiß haben die Systemmänner vom ersten Bekanntwerden dieser
außerordentlichen und in ihren Auswirkungen für breiteste, am
Fremdenverkehr beteiligte Volkskreise schmerzliche Maßnahme an
großen Worten ihrer Entrüstung über den "Bruderkrieg" nicht
gespart und damit sogar auf gewisse mit den österreichischen
Verhältnissen nicht vertraute Reichsdeutsche gelegentlich Eindruck
gemacht. Die geschichtliche Betrachtung dagegen muß daran festhalten,
daß die verfassungswidrigen Verordnungen dem Reichsdeutschen Rechte
vorenthielten, die er als Gast beanspruchen konnte, und daß sie ihn
bewußt in die Diffamierung des österreichischen Nationalsozialisten
einbezogen, was offenkundig ein Schlag gegen die Würde des Reiches war.
Neben der darauf zielenden rechtlichen Begründung verfolgte die Sperre
selbstverständlich politische Absichten; sie sollte den Wiener Machthabern
die lebenswichtige, wirtschaftliche und auch moralische Bedeutung des deutschen
Fremden- (oder besser Freundes-) verkehrs drastisch vor Augen
führen und auf jeden Fall eine klare Entscheidung für oder wider die
gesamtdeutsche Volksgemeinschaft erreichen.
Erst als Dollfuß auch jetzt nicht zurückwich - vorübergehende
Rücktrittsabsichten ließ er sich von Vaugoin u. a.
ausreden - erweiterte sich der seit Lausanne immer tiefergreifende
Gegensatz zwischen Reich und Bundesregierung, [60] Partei und
Systemherrschaft zum Kampf auf Leben und Tod. Jetzt erst steigerte die
ostmärkische Bewegung, der nach allen möglichen gesetzwidrigen
Hemmungen die Auflösung drohte, ihren Widerstand auch über die
bisher entsagungsvoll eingehaltene Linie hinaus mit dem Ziel, etwa nach irischem
Vorbild eine Regierungsgewalt lahmzulegen, die ihre Stärke nur ihrer
skrupellosen Mißachtung der Gesetze und dem Besitz der Bajonette zu
danken hatte. Vergeblich drohte der Minister Vaugoin, die NSDAP. würde,
ehe die Sonne am längsten geschienen, in Österreich der
Vergangenheit angehören. Das Staatsgebilde von St. Germain
krachte in allen Fugen. In Hast wurde eine Beeidung aller Beamten auf die "vom
Bundespräsidenten eingesetzte" Regierung vorgenommen, die von der
Verfassung nichts mehr enthielt; Runderlässe jagten einander, die das (der
Regierung mißliebige) Politisieren in Amt und Schule unterbinden sollten;
in den Kasernen wurden die Mitglieder des Deutschen Soldatenbundes
diszipliniert. Es hagelte Verhaftungen und Hausdurchsuchungen und
Presseverbote. Da die Polizei längst nicht mehr ausreichte, nahm man dem
Tiroler Vorbild gemäß Leute aus den "vaterländischen"
Wehrverbänden und zu allem bereite Elendsexistenzen als Hilfspolizisten
auf. Da bot ein am 19. Juni aus Krems gemeldeter Anschlag auf solch eine
Schutzkorpsabteilung, ehe die Schuldfrage auch nur im Groben geklärt sein
konnte, den Anlaß, der Nationalsozialistischen Partei Österreichs,
allen ihren Gliederungen und dem ihr neuerdings angeschlossenen Steirischen
Heimatschutz jede Betätigung zu verbieten. Diese "kriegswirtschaftliche"
Notverordnung wurde von nun an das eigentliche Staatsgrundgesetz des
unglücklichen, von seinen eigenen Machthabern unterdrückten
Landes; die Unterscheidung zwischen dem herausgegebenen
Betätigungs- und dem unterbliebenen Parteiverbot erhielt höchstens
für die Kommentare des Verfassungsbruches von 1933 Bedeutung. Die
Verwegenheit dieses Schrittes, die in umgekehrtem Verhältnis zur wahren
Bedeutung des Mannes Dollfuß und seiner Regierung stand, schlug damals
bei Freund und Feind wie eine Bombe ein und verursacht noch heute Erstaunen.
Hier seien nur die beiden hauptsächlichen Begleiterscheinungen des
Ver- [61] botes hervorgehoben,
die auf Jahre hinaus das ganze öffentliche Leben vergifteten und die mit
zunehmendem Abstand von dieser Zeit vielleicht nicht mehr voll empfunden
werden können.
Vorerst wurde eine beispiellose Umkehrung aller politischen Begriffe eingeleitet;
gerade die Machthaber von 1933, die das Volk nicht mehr aufzurufen wagten,
setzten sich mit dem "Vaterlande" gleich; sie rechtfertigten alles mit der
Verteidigung der österreichischen "Unabhängigkeit" und stellten sich
doch jedem auswärtigen Gegner der Selbstbestimmung Österreichs
zur Verfügung; sie führten mit dem 19. Juni das Wort von der
nationalsozialistischen "Illegale" ein, obwohl sie selbst damals schon die
Verfassungsgerichtsbarkeit unterbunden hatten. Der damalige Justizminister
Schuschnigg hat in seinem Erinnerungsbuch durch Verschweigen des
Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes als Quelle der
"Legalität" der Dollfußregierung und auch ihres
Parteibetätigungsverbotes die Sachlage wider Willen zur Genüge
gekennzeichnet. Die Nationalsozialisten, die wahrhaftig vor der Geschichte den
Anspruch auf eine nationale Revolution erheben konnten, hatten (zum
Unterschied von der Heimwehr) die Formen ihres Kampfes stets den Formen
einer Verfassung angepaßt, deren Überwindung mit zu ihren offenen
Zielen gehörte. Die bürgerlichen Parteien aber, deren
Regierungsausschuß die Macht um keinen
Preis - die Zukunft des Landes eingeschlossen - aus der Hand geben
wollte, verdankten ihre Mandate allein eben der Verfassung, mit der sie jetzt
Fangball spielten. So sah der Ursprung der "Illegale" aus, die dann für das
"vaterländische" System zum stehenden Begriff wurde. Das zweite,
demoralisierende Unheil aber ergab sich aus der Unterdrückung und
Entrechtung einer gewaltigen, nationalen Volksbewegung durch nichts anderes als
eine am Ruder befindlichem, nichtsnutzige Minderheit. Die Bewegung nahm den
Versuch ihrer Auflösung - denn darauf kam es trotz der
unaufrichtigen Umschreibung heraus - ohne offene Auflehnung hin, weil
das Verbot an sich den schon vorher eingetretenen Zustand kaum
veränderte; ist doch auch der Landesinspekteur der NSDAP., Theo Habicht,
obwohl ihn die Deutsche Gesandtschaft zur Dienstleistung einberufen hatte,
anfangs Juni ausgewiesen worden. Anderseits war die Regierung auch [62] nach dem 19. Juni nicht
in der Lage, die weitere Ausbreitung der "getarnten" Partei auch nur zu
verzögern und selbst für die verbotene inländische und
reichsdeutsche Parteipresse gab es immer wieder Ersatz in geschickt "getarnten"
Zeitungen. Trotz alledem: Das scheinbare Gelingen des Parteiverbots, das bisher
auch nüchterner Erwägung als Unmöglichkeit erschien,
lieferte Österreich dem hemmungslosen Spiel der unnatürlichsten
Kräfteverlagerungen und einem schließlich zur Gewohnheit
gewordenen Widerspruch zwischen dem tatsächlich Bestehenden und dem
formal Gültigen aus. Mit zunehmender Schwäche stieg der
Machtanspruch einer Regierung, deren Thesen nicht einmal ihre Anhänger
ernst nahmen, und schließlich behauptete sie sich zum guten Teil infolge
ihrer geistigen Ohnmacht, die dem Gegner trotz alledem das Abwarten
nahelegte.
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