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Lausanner Politik in Österreich (Die erste Ära Dollfuß)

Als Seipel und Schober, diese mehr durch ihre geschichtliche Zwischenstellung zwischen der franzisco-josephinischen Spätepoche und einem volkstumhaft bestimmten neuen Zeitalter, als durch eine Harmonie ihrer Charaktere Verbundenen, im Hochsommer 1932 rasch nacheinander von einem vorzeitigen Tode hinweggerafft wurden, da ist die von ihnen mühsam gewonnene Substanz kleinösterreichischer Staatlichkeit schon in voller Auflösung gewesen. "Reaktion" in jedem Sinne bestimmte die spannungsreichen Monate in Österreich, als drüben im Reiche nach dem Sturz Brünings die Hitler-Bewegung den Weg zur letzten Entscheidung in einer gewaltigen Abfolge unerhörter Wahlkämpfe durchschritt. Der auf die Zollunionsaktion gefolgte Gegendruck der anschlußfeindlichen Mächte und des internationalen, an Österreichs Kleinstaaterei interessierten Finanzkapitals überschnitt sich mit der innenpolitischen Reaktion auf die "Schuldigen" an dem mißglückten Kapitel österreichisch-deutscher Freiheitspolitik. Und beides setzte sich wieder in der Niederhaltung der NSDAP. als der Garantin einer vom Ausland und von Systemparteien unabhängigen Zukunft fort. Darin erblickte auch die Regierung des jungen, aus der [47] christlichsozialen Bauernpolitik hervorgehenden, früher selbst in der Anschlußarbeit tätigen Emporkömmlings Dr. Engelbert Dollfuß ihre Hauptsorge. Wie es schon in jener Vaugoin-Starhemberg-Episode angedeutet war, verzichtete sie endgültig auf den älteren, nur mit Einschluß der Großdeutschen Volkspartei zu verwirklichenden Bürgerblock-Gedanken zugunsten einer mit Einstimmenmehrheit arbeitenden Verbindung von klerikalen Parlamentariern, "demokratischen" Landbündlern und sogenannten Heimatblock-Fascisten nur um der Bekämpfung der "Nazi" willen. So kam trotz Warnungen des Reichskanzlers von Papen und ungeachtet des leidenschaftlichen Protestes der täglich anschwellenden, für den neuen Nationalismus gewonnenen Volksmassen unter Scheingefechten der Regierung mit den Marxisten die Unterzeichnung des Lausanner Protokolls zustande - eine verschlechterte Auflage des längst für überwunden gewähnten Genfer Dokuments vor zehn Jahren und dies bei derselben Gelegenheit, wo das Reich seiner Tributfesseln fast ganz entledigt wurde. Während die mit neuer politischer und wirtschaftlicher Unfreiheit bezahlten Kredite schon aus Mißtrauen vor der nächsten Entwicklung im Lande tatsächlich noch lange nicht flüssig gemacht wurden und im wesentlichen nur eine Umwandlung bestehender Schulden bedeuteten, nahm die Einmischung ferner Großmächte in die innerösterreichischen Verhältnisse z. B. in der sogenannten Hirtenberger Waffentransportaffäre, die zwischen Italien, Österreich und Ungarn spielte, beschämende Formen wie vor 1922 an, wobei die Sozialdemokratie noch kurzsichtige Schützenhilfe leistete.

Die Ablösung dieses unmöglichen, zugleich vom politischen Katholizismus der Dollfuß, Schmitz und Schuschnigg, von der pseudofascistischen Rest-Heimwehr Starhembergs, Feys und Steidles, und von dem ins Liberal-Rötliche schillernden Rest-Landbund des Ing. Winkler getragenen Systems schien dicht hervorzustehen. Lokale Wahlkämpfe z. B. für Gemeinderäte und Berufskörperschaften zeitigten jetzt schon ähnliche Ergebnisse wie im deutschen Kernstaat. Die Zerfahrenheit der Verhältnisse steigerte sich noch durch die Unschlüssigkeit der Sozialdemokratie, die den "braunen Fascismus" anders als die Heim- [48] wehr wirklich fürchten lernte, und so zwischen dem Vorbild der tolerierenden reichsdeutschen Sozialdemokratie und den offenen Revolutionsdrohungen der kommunistischen Bruderpartei schwankte (Richtungskampf Enner-Seitz gegen Bauer-Deutsch). Der Nationalrat beschloß gelegentlich unter dem Eindruck des heftigen politischen Klimawechsels die vorzeitige Selbstauflösung, um sie dann doch wieder auf einen ungewissen Termin zu verschieben. Wie noch niemals seit dem Herbste 1918 blickte Freund und Feind gebannt auf Deutschland, auf die letzten Schwankungen im Endkampf des Nationalsozialismus gegen das Weimarer Zwischenreich. Aber auch in der Ostmark steigerte sich die Hitze des Kampfes fortwährend und blieben da und dort schon Blutzeugen der Bewegung auf der Strecke! Für die Getreuen Hitlers und ihre von Tag zu Tag sich mehrende Gefolgschaft in Deutschösterreich war freilich durch einheitliche Führung und Organisation das Problem des Volkes in zwei Staaten schon positiv gelöst, wogegen dem Ausland allein auch die Paragraphen von St. Germain, Genf und Lausanne wider den "Anschluß" nichts mehr nützten. Im Inland aber mußte der Doppelkampf gegen Regierung und Marxismus, sofern nur überhaupt der Rahmen der bestehenden Gesetze in keinem wesentlichen Punkte verlassen wurde, binnen kurzer Frist mindestens zur Anteilnahme an der Macht und damit zur ersten Stufe der Befreiung führen. Was bisher auch der Heimwehr nicht gelungen war, die Brechung des jüdischen Pressemonopols in Wien, wurde nun Tatsache dank der hingebungsvollen Arbeit der braunen Presseleute und ihrer fanatischen Kolporteure. Und Göring, Goebbels, Frick konnten 1932 bereits auch in Wien auf überfüllten Plätzen sprechen, an die vorher überhaupt keine politische Partei als Versammlungsort gedacht hatte.

Die für das Reich vollzogene Schicksalswende des 30. Jänner 1933 kündigte die Abkehr von allen bisher versuchten Zwischenlösungen zur gemeinsamen Auferstehung der Nation an und wurde am nächsten Abend in bisher nie erlebten Fackelzügen mit pochenden Herzen und gestrafften Muskeln gefeiert. Doch auch die leidenschaftliche Anteilnahme aller gegnerischen Lager an diesem Ereignis und seinen nächsten Folgen [49] in Deutschland bekundete selbst wider Willen die unlösbare und nun sich jugendlich erneuernde, natürlich-geschichtliche Gemeinschaft, die jetzt vor aller Welt ihre entscheidende Frage an Österreich richtete. Da trat überfallsartig an Stelle des Gesetzes die Herrschaft willkürlicher Gewalt!


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz