Seipel, Schober und die kleinösterreichische
Daseinsfrage
Zerstörten im Reich Reparationsverpflichtungen, Besatzungslast und
unproduktive Experimente Wirtschaft und Währung, so besorgte dies
zusammen mit derselben innenpolitischen Schwäche in der Republik
Österreich schon das Ausbleiben der [29] entscheidenden Auslandshilfe zur Erhaltung
einer erzwungenen Staatlichkeit.Wir sahen, die parlamentarischen, im
Listenwahlrecht verankerten Parteien und die fachlich tüchtige und
anschmiegsame Bürokratie blieben die den Staat repräsentierenden
Kräfte auch dann, als die Periode der Kollektivität und des
Provisoriums zu Ende ging, die es überflüssig macht, auf die
nominellen Träger der Regierungsgewalt in den ersten Nachkriegsjahren
näher zurückzukommen. In einer mit dem Sommer 1922
anhebenden, sich auf zehn Jahre erstreckenden Periode sind es nun über
dem fortdauernden "demokratischen" Getriebe zwei Männer, die wirklich
das Wort führen und in ihrem Wollen und in ihrer Leistung die dem
staatlichen Leben Klein-Österreichs anheimgegebenen
Möglichkeiten erschöpfen: der Abgeordnete Dr. Ignaz
Seipel, und Johann Schober, der typische hohe Berufsbeamte. Der
Salzburger Theologieprofessor und der Wiener Polizeipräsident als
Staatsmänner der autoritätfeindlichen Republik
vervollständigten den Staat wider Willen. Beide glaubten in ihrem Lande
den höchstmöglichen Einsatz unter den einmal gegebenen
Verhältnissen schuldig zu sein; beide wurzelten schon mit ihrem
Manneserlebnis im staatsbejahenden Deutschösterreichertum der
franzisco-josephinischen Spätzeit; beide hatten den Krieg in tätigem
"Patriotismus", wie er eben in Deutschösterreich zu Hause war, wenn auch
ohne den ihnen verwehrten Fronteinsatz mitgemacht; beide suchten seit dem
Umsturz in bewußter Mittlerstellung zwischen anarchischer Revolution und
aussichtsloser Reaktion eine realistische Rettungsaktion einzuleiten: So gelangten
sie, jeder auf seine Weise, zur Formulierung eines eigentlich nur in der Ostmark
verständlichen, bedingten neuen
Österreich-Bekenntnisses. Seipel, der geborene Wiener, und der
Oberösterreicher Schober, die einander von nun an bis zu ihrer fast
gleichzeitigen frühen Sterbestunde so oft in Gemeinschaft oder
Gegnerschaft begegnen sollten, glichen sich auch darin, daß
sie - aus kleinsten Verhältnissen gekommen - zu
persönlichem Ansehen weit über ihren eigentlichen Berufskreis
hinaus gelangten und erst dann, und immer im Grunde als Outsider auf die
Tummelplätze der damaligen Tagespolitik gerieten. Beide Männer
scheiterten denn auch an ihrer ersten politischen Mission, die ihnen unter [30] verzweifelten Umständen
aufgenötigt wurde, als die allzeit auf Vorsicht Bedachten lieber im
Hintergrund blieben. Es nimmt auch rückschauend wunder, Seipel zum
erstenmal als Minister in dem letzten kaiserlichen Kabinett des Professors
Lammasch zu treffen, das schon jeder tatsächlichen
Regierungsmöglichkeit bar gewesen ist, und fast ebenso trostlos verlief
Schobers erste Kanzlerschaft zwischen Kreditsuche, Inflationstaumel und
parlamentarischen Oppositionstreibereien, nachdem er auch noch in den letzten,
offenen Grenzfragen trübe Erfahrungen gesammelt hatte. Da
trat - an Schobers Sturz nicht unbeteiligt - nach Erschöpfung
aller Reserven an bürgerlichen Politikern auf einmal Seipel als
Bundeskanzler mit einem in der Republik noch nicht erlebten
Selbstbewußtsein als Chef einer Koalitionsregierung (Vizekanzler der
großdeutsche Abgeordnete und späterer Berliner Gesandte
Dr. Felix Frank) vor die Öffentlichkeit.
Professor Seipel hatte in seinem noch im Weltkrieg erschienenen Buch über
Nation und Staat die weitgehende Eigenständigkeit des politischen und des
kulturellen Bereiches vertreten, und so der Staatsbejahung und dem Kulturwillen
des bürgerlichen, traditionsgebundenen Deutschösterreichers eine
Art theoretischen und ethischen Fundaments geben wollen. Nun schöpfte er
in einem sehr kritischen Augenblick daraus ein Programm zur Rettung eines vom
Untergang bedrohten Gemeinwesens, das Österreich hieß und doch
nichts mehr mit der weiträumigen Problematik des alten gemein hatte, dem
sowohl der Anschluß wie eine Eigenexistenz unmöglich gemacht
wurde, und dessen einzige Würde aus dem Bewußtsein einer
unzerstörbaren, gesamtdeutschen Kulturgemeinschaft geschöpft
werden konnte. Den inneren Feind dieser Republik erblickte Seipel in ihren
lautesten Beschützern, den Marxisten und ihren Schrittmachern, und stellte
ihnen eine festumrissene bürgerliche Mehrheitsgruppe entgegen, deren
nächstes Ziel die "Sanierung" der versinkenden Währung und des
völlig verfahrenen Staatshaushaltes sein sollte. Von der eigenen
Bevölkerung forderte er dafür Verzicht auf Illusionen aller Art,
insbesondere auch sozialpolitischer, und den Entschluß zum Ertragen eines
schmerzlichen Schrumpfungsprozesses. An die für das Dasein
Klein- [31] Österreichs
verantwortlichen auswärtigen Mächte stellte er das Ansinnen einer
sofortigen, umfassenden Hilfeleistung, die erst den Erfolg der geplanten, inneren
Maßnahmen verbürgen würde. Das Verhältnis zum
Deutschen Reiche nahm schon in seiner ersten Erklärung einen Sonderrang
ein, indem dafür die Pflege der Gemeinsamkeit in geistigen und
persönlichen Beziehungen bestimmend sein sollte, und dies um so mehr in
einer Zeit, die politisch-wirtschaftliche Bindungen aussichtslos mache. Solchen
Erklärungen folgte denn auch der Kurs, den Seipel in den kommenden
Monaten einhielt, als die Gefahr einer Aufteilung des ohnmächtigen
Gebildes von St. Germain durch seine hochgerüsteten,
nichtdeutschen Nachbarn offenkundig wurde. Der Bundeskanzler reiste nach Prag,
Berlin und Verona, um die Auffassung der am Schicksal Österreichs
nächst Interessierten kennenzulernen, und wohl noch mehr, um das
Unvermögen
ihrer Regierungen - in Deutschland der Erfüllungskanzler Wirth,
in der Tschecho-Slowakei Benesch, in Italien die letzte Garnitur vor
Mussolini! - zu einer wirksamen Rettungsaktion festzustellen. Auf diesem
Umwege und durch die an die Adresse der Westmächte gerichtete Drohung,
die Regierung niederzulegen, auch wenn sich kein Nachfolger mehr finde,
bereitete sich der Umschwung vor und die Katastrophe trat nicht
ein - zu Beginn des nächsten Jahres bewies ja das Schicksal des
kleinen Memellandes, wie wenig haltbar die Versailler Statuten waren, wenn nur
um Deutsche gewürfelt wurde! Gelegentlich der Genfer Herbsttagung, die
damals immerhin die Bedeutung eines Diplomatenkongresses für einen
großen Teil Europas besaß, entstand das Genfer Protokoll vom 4.
Oktober, das zu einer Art zweiten Gründungsurkunde für den Staat
wider Willen wurde.
Jede Beurteilung von Seipels Politik und des ganzen von ihm mitentscheidend
beeinflußten Abschnittes österreichischer Nachkriegspolitik wird von
jenem Genfer Dokument ausgehen, seine Entstehungszeit ebenso wie seine
späteren Auswirkungen ins Auge fassen müssen. Gewiß hat
die wahrhaft nicht billige, internationale Dollaranleihe erst die Schaffung der
Schillingwährung und die Erstellung eines geordneten Haushalts
ermöglicht; die Kontrolle durch den nach Wien entsandten
hoch- [32] dotierten
Generalkommissär, einen holländischen Verwaltungsbeamten,
Dr. Zimmermann, und durch das Genfer Finanzkomitee verstärkten
auch die Autorität der Bundesregierung gegenüber der
mächtigen, über Wien verfügende und vor keiner Demagogie
zurückschreckenden marxistischen Opposition und auch bei den noch
immer weitgehend unabhängigen Länderregierungen. Der zum Teil
notwendige, wenn auch leider viel zu schablonenhaft durchgeführte Abbau
von schließlich 100 000 öffentlichen Angestellten und die
Neuordnung der verlotterten, mit Pensionsverpflichtungen aus den
Nachfolgestaaten überlasteten Bundesbahnen zu einem sogenannten
kaufmännischen Betrieb konnten nur durch solch diktatorischen Nachdruck
erzwungen werden. Ja sogar die nur formal über St. Germain
hinausgehende Verpflichtung zu politischer und wirtschaftlicher
"Unabhängigkeit" auf zwanzig Jahre (die Laufzeit der Anleihe),
schloß einen Schutz gegen unerwünschte nachbarliche
Ausdehnungsgelüste als unmittelbaren Gewinn in sich, wenn man in Paris
und Genf auch schon wieder die Anschlußgefahr in fernerer Zukunft bannen
wollte. Man darf sogar anführen, daß in Ungarn und Bulgarien das an
Österreich erprobte Verfahren als Modell für ähnliche
"Sanierungen" diente, wobei freilich in diesen Fällen die Voraussetzungen
für die staatliche Existenz trotz allem bessere waren. So verlor auch die
Radikalkur, zu der sich die Regierungen der einzelnen tiefgeschwächten
Staaten allein für unvermögend erklärten, dort ihre
hauptsächliche Gefahr für die Zukunft, die wieder Boden unter sich
hatte und die eigene Verantwortung voranstellte. Anders bewirkte der in
Deutschland selbst zwei Jahre später eingeschlagene verwandte Vorgang,
der
Dawes-Plan, eine Verkettung des deutschen Schicksals mit der sich hilfsbereit
zeigenden internationalen Hochfinanz, was zusammen mit der weiterlaufenden
Tributverpflichtung kein Ende mehr nehmen wollte. Für die Republik
Österreich genügte zu demselben bösen Erfolge schon die nun
mögliche Täuschung über die Grenzen ihrer
Lebensfähigkeit.
Hier setzt tatsächlich die tragische Schuld Seipels ein. Seine schwer
faßbare, mit unheilbarer Krankheit ringende, nach außen stets ironisch
überlegene, innerlich mit Gewissenskonflik- [33] ten belastete Persönlichkeit wurde wie
keine andere für den Zustand des von ihm gelenkten, höchst
problematischen Staatswesens vor der Geschichte repräsentativ, mochte er
darüber auch menschlich stets einsam bleiben und durch seine
Selbstbeherrschung Ungewißheit über seine letzten Einsichten und
Ziele bewahren - wie ja schon sein Profil sich von seiner ganzen
Umgebung als einmalige Erscheinung abhob. Er gehörte als
christlichsozialer Parteiobmann der Geschichte des politischen Katholizismus
deutscher Zunge an, und er gestattete auch Vergleiche mit staatsbewußten
geistlichen Staatsmännern bis zurück zu Richelieu und Melchior
Klesl. Er empfand aber mehr als diese entschlossenen historischen Charaktere den
unlösbaren Zwiespalt zwischen politischer und religiöser
Verantwortung und dennoch glich er in manchen Zügen ihnen weit mehr
als den klerikalen Berufspolitikern seiner Zeit, die sich ihm beugten, solange sie
ihren Vorteil wahrnahmen und hinter den verschlossenen Türen wider ihn
aufschäumten, wenn er seine eigenen Wege ging. Er leistete ihnen
Widerstand, als er bei den schwierigen "Sanierungs"-Wahlen von 1923 und dann
[64b]
Kommunistische Gedenkfeier auf dem Wiener Zentralfriedhof
für die Opfer des 15. 7. 1928.
|
wieder 1927 der bürgerlich-nationalen Gruppe einen festen Besitzstand
auch auf Kosten der eigenen Partei sicherte, und er wich ihnen, als nach
Überwindung der ärgsten Sanierungskrise die herkömmliche
Länderfronde 1924 auch ihn, dem Wiener, ihre Macht fühlen
ließ. Freilich holten sie ihn dann wieder als den "Retter" vor dem
"Austromarxismus" zurück, und wirklich trieb unter dieser seiner zweiten
Kanzlerschaft die schleichende Vergiftung des Volkskörpers zu der
blutigen Auseinandersetzung des 15. Juli 1927, als nach dem Freispruch einiger
Heimwehrer verhetzte Massen den Wiener Justizpalast in Flammen steckten und
im Abwehrkampf dagegen, mitten im scheinbaren Bürgerfrieden, ein
Blutbad weit ärger als je in der Umsturzzeit angerichtet wurde. Das geschah
drei Monate, nachdem Seipel durch Konzentrierung aller bürgerlichen
Kräfte in einer "Einheitsliste" (mit Einschluß der damaligen
Schultz-Gruppe der Nationalsozialisten) anläßlich der
April-Wahlen vergeblich Handlungsfreiheit im Parlament angestrebt hatte.
Damals blieben Seipel als Regierungschef und Schober als Polizeipräsident
Sieger auf der Walstatt, indessen der als [34] Rache ausgerufene Generalstreik zuerst an der
Selbsthilfe der Bevölkerung in den Alpenländern zusammenbrach.
Doch die Sozialdemokratie, die eine beispiellose Hetze gegen den "Kanzler ohne
Milde" und den "Arbeitermörder" in der Polizeidirektion entfachte,
verharrte nichtsdestoweniger in ihren bisherigen Machtstellungen und nahm von
da an zur Wahrung der "Einheit des Proletariats" (die ja ihrer reichsdeutschen
Schwesternpartei nicht gelungen war) erst recht den erfolgreichen Wettbewerb mit
dem rein moskowitischen Marxismus auf. Der Angelpunkt ihrer Tätigkeit
und ihrer Demagogie ist nach wie vor die Wohnbaupolitik gewesen, wo sie,
gestützt auf die Finanzmittel Wiens und einiger großer Gemeinden, in
jeder Hinsicht Außerordentliches leistete und schon deshalb mit dem
Stimmzettel nicht aus dem Sattel zu werfen war. Entgegen Seipels Programm einer
stufenweisen Mietenreform versteifte sie sich auf die Erhaltung des den
Kriegsverhältnissen angepaßten Mieterschutzgesetzes, obwohl
ähnliche Maßnahmen in anderen Ländern längst
beseitigt waren und als Folge solch' widersinniger Zustände der private
Haus- und Grundbesitz vollständig verfiel, ja zur Beute
ausländischer Spekulanten wurde; die Wiener Rathausmehrheit
erhöhte sogar noch die Wohnungsnot durch gewissenlose
Begünstigung des Zuzugs von Ostjuden, die mit dem Wucher in
sogenannten Wohnungsablösen einen willkommenen Erwerbszweig
fanden. All dies bildete den Hintergrund für einen freilich gigantischen Bau
von "Wohnhausanlagen", die geradezu das Gesicht ganzer Bezirke
veränderten und trotz aller bürgerlicher Proteste gegen den
Finanzreferenten Breitner aus laufenden Steuereinkünften bestritten
wurden. Die begünstigten Teile der Arbeiterschaft kamen so fast umsonst
in den Besitz von Volkswohnungen mit einer gewissen, ihnen bisher unbekannten
Kultur; aber ungeachtet der Weiträumigkeit Wiens trat die
zeitgemäße Siedlungsidee zugunsten festungsartiger, an gewissen
strategisch wichtigen Punkten verteilter Bauten ganz zurück. Vergebens
setzte nun Seipel gerade an diesem Punkte die Schlagkraft seines
Bürgerblocks zum Gegenangriff an. Die Fronten rechts und links blieben
erstarrt. Denn die sozialen Kampfpunkte konnten auch nicht durch
weltanschauliche Momente überhöht werden. Die [35] damals vielzitierte "bürgerliche
Weltanschauung", die etwa der Seipelschen Einheitsliste entsprechen sollte,
bestand außer in der Negation des Marxismus in der Anerkennung eines
wenig folgerichtigen Status quo auf dem Gebiet der
Schul- und Ehegesetzgebung: das Gesetz kannte nach wie vor nur
interkonfessionelle, öffentliche Schulen, neben denen freilich zahlreiche,
geistliche Internate bestanden; es verblieb aber auch bei der im
Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 ausgesprochenen Untrennbarkeit der
katholischen Ehe, wodurch in der Praxis das in Europa einzigartige Unwesen der
von jeder Instanz rechtlich anders beurteilten "Dispensehen" einriß. Der
Gipfel der Widersprüche aber wurde darin erreicht, daß gerade die
großdeutsche Abgeordnetengruppe mit Erfolg sich für die
Beibehaltung der verkehrt eingestellten alten, ungarischen Gesetzgebung im
Burgenlande auf diesen beiden Gebieten einsetzte, weil sie mehr der
reichsdeutschen entsprach!
Adolf Hitler, der Führer in die Zukunft, hatte schon August 1923 auf der
letzten Zwischenstaatlichen Tagung der Nationalsozialisten in Salzburg für
die damals bevorstehenden, ersten Seipel-Wahlen die Parole der Stimmenthaltung
ausgegeben, die allerdings von einigen Gruppen nicht befolgt wurde. 1926 gelang
dann Dr. Suchenwirth von Wien aus die Organisierung der eigentlichen
deutsch-österreichischen Hitler-Bewegung. Sie lehnte das ihr gleichzeitig
mit der Schultz-Riehl-Gruppe zugekommene Angebot der Teilnahme an der
Einheitsliste trotz günstiger Bedingungen grundsätzlich ab und
beschränkte sich auf die Aufstellung von Zählkandidaturen des
"Völkisch-sozialen Blockes", die einen Stamm von 26 000
Wählern ergaben. Die Zeit der echten Entscheidungen war innerhalb der
Nation damals noch fern und daher auch für Österreich, wo es kein
Parteiverbot gab, noch nicht gekommen. Trotzdem sind schon einem Anacker
oder Horst Wessel
ihre Wiener Studentenjahre zum großen Erlebnis
geworden.
[64b]
Erste Anschlußkundgebung des
Österreichisch-Deutschen Volksbundes vor dem Wiener Rathaus. 30. 8.
1925.
[64b]
Feier zum 80. Geburtstag
des Reichspräsidenten von Hindenburg
auf dem Wiener Heldenplatz. 2. 10. 1927.
|
Auch die "unpolitische" Anschlußbewegung jener Jahre war auf kein
zeitnahes Ziel mehr eingestellt, was der an sich großartige und sogar vom
Ausland beargwöhnte Verlauf des Wiener Sängerbundesfestes 1928
bestätigte. Nichtsdestoweniger leistete die unter der gelehrten
Führung von Franz Klein und Richard [36] Wettstein stehende
Österreichisch-Deutsche Arbeitsgemeinschaft wertvolle Vorbereitungen
für die erhoffte allmähliche Rechts- und Wirtschaftsangleichung und
der von Neubacher und Seyß-Inquart aufgezogene
Österreichisch-Deutsche Volksbund erinnert die Welt in einzelnen
drastischen Kundgebungen - so in einer Unterschriftensammlung zum
zehnten Jahrestag der Republik - an das uneingelöst gebliebene
Selbstbestimmungsrecht der Deutschösterreicher! Beide Vereinigungen, die
1925 als Antwort auf Donauföderationspläne entstanden, hatten
Mitarbeiter und Anhänger quer durch alle Parteien hindurch, und
übten einen bedeutenden gesellschaftlichen Einfluß aus. Doch trotz
mancher Sturmzeichen kam nach keiner Richtung eine befreiende Wendung, als
nach dem mit unheimlicher Flammenschrift in die Geschichte des Staates wider
Willen eingegangenen "15. Juli" die faschistisch beeinflußte
Heimwehrbewegung sich das Recht auf die Straße erkämpfte und
dabei auf die Autorität Seipels und Schobers berufen konnte. Ihr, die sich
dem Frontsoldatenbund Stahlhelm im Reiche verwandt erklärte,
hätte sich nun die Formung der Anschlußidee zu einer neuartigen,
über die zwischenparteiliche Lösung von 1918/19 hinausreichenden
Volksbewegung als vordringliche Aufgabe dargeboten.
Für den Kanzler war die Heimwehr willkommen als Sturmtruppe des
bürgerlichen Antimarxismus, wie er ihn verstand, und wohl auch als
Rückenstärkung gegen die eigene Partei, aber eine eindeutige,
gegenseitige Verpflichtung kam zum schweren Schaden beider nicht zustande: die
als Losung ausgegebene "Überparteilichkeit" vermehrte nur die Zahl der
österreichischen Fiktionen um eine neue. Überhaupt blieb Seipel eine
eigentliche Entwicklung seiner politischen Ideen und Maßnahmen von 1922
versagt. Die Unfruchtbarkeit von Parlament und Verfassung in den fortdauernden
Krisen des 1926 aus der persönlichen Kontrolle des
Völkerbundkommissärs entlassenen Staatswesens bestärkte
ihn nur in einem weitgehenden Verzicht auf klare Verantwortlichkeiten und
Entscheidungen. Seine schon bekannte These von den drei eigenständigen
Lebensbereichen gestattete ihm, dem persönlich asketischen Weltpriester,
eine von seinen kirchlichen Vorgesetzten beargwöhnte Unbefangenheit
auf vielen Gebieten, sie entsprach auch kaum [37] einem folgerichtigen politischen Katholizismus
und setzte ihn allenthalben Widersprüchen und Mißdeutungen aus,
denen er selten entgegentrat. Während die legitimistische und
kapitalistische Reaktion sich auf ihn als den Staatsmann berief, der den
"Revolutionsschutt" hinweggefegt und den "Glauben an Österreich"
wiederentdeckt habe, konnte es unter dem Regime Schuschnigg geschehen,
daß Riedls in Saarbrücken 1935 erschienenes Buch über
Seipel, den Volksdeutschen, beschlagnahmt wurde, obwohl es fast nur aus
wörtlichen Zitaten bestand und seine These von dem deutschen Volke in
zwei Staaten erhärtete. An Stelle der grundsätzlich unabdingbaren,
wenn auch damals tatsächlich undurchführbaren Anschlußidee
trat die politische Forderung, es gebe für Österreich keine
Kombination gegen Deutschland! Zusammenarbeit auf allen Gebieten ohne
Verrückung der politischen Grenze!
[80a]
Gemeinsame Kundgebung der Wiener Nationalsozialisten
und der Frontkämpfervereinigung gegen St. Germain. 14. 9.
1928.
|
Seipel verlangte von Europa für den Staat Österreich eigentlich
nichts als die Herstellung eines Zustandes, der keine künftige
Entwicklungsmöglichkeit verbaue. Damit hatte er die Republik zwar aus
einer akuten lebensbedrohenden Lage herausgehoben, aber er vermochte ihr nach
der "Sanierung" keine kräftesammelnden oder
gar -erhöhenden Ziele mehr zu geben und den innenpolitischen
Leerlauf zu unterbrechen. Seine Erwägungen setzten sich über die
Gefahren, die sich aus der Gewöhnung an die Genfer Prozeduren von selbst
ergaben, hinweg und wandten sich allgemeinen Zielen zu, die er mit Vorliebe auf
Vortragsreisen in Deutschland und im Auslande entwickelte. Dazu
gehörten an erster Stelle Vorschläge für eine
mitteleuropäische Neuordnung, die das Staatliche an sich überhaupt
bedeutungsloser machen und für weite Lebensgebiete an seine Stelle eine
völkische und, wie er in Übereinstimmung mit vielen
Bürgerlichen und Heimwehrern meinte, "berufsständisch"
ausgerichtete neue Rechtsordnung setzen würde. Entschieden lehnte er den
einmal aufgetretenen Plan einer Verlegung des Völkerbundssitzes nach
Wien ab und unterließ auch 1923/4 Maßnahmen gegen die
Anhänger Hitlers. Dagegen bedrohte er nicht allein im Zeitalter des
fruchtlosen Genfer Minoritätenschutzes die eigenständige
Entwicklung der Volksgruppen, förderte den
preußisch-österreichischen Beamtenaustausch und die [38] Zielrichtung der Deutschen Studentenschaft, die
damals um ihrer volksbürgerlichen Grundlage willen in Preußen
aufgelöst wurde und trotz aller jüdischer Gegenwirkungen in
Österreich die im Rahmen der Verfassung überhaupt mögliche
Begünstigung genoß. Nicht zufällig gelang in Graz der
Durchbruch der nationalsozialistischen Führung in der studentischen
Selbstverwaltung für Großdeutschland. Doch sogar dem
Wiederaufbruch der Nation unter Adolf Hitler, wie er 1930 sinnfällig
wurde, stand Seipel nach seinen bekanntgewordenen Äußerungen
etwa im Sinne der bürgerlichen Mittelparteien und nicht der Zentrumspartei
gegenüber. Dabei wird man aber nicht übersehen, wie teils zeitlich,
teils persönlich bedingt er nach manchen Richtungen zu uns
unverständlich gewordenen Kompromissen bereit war. So, wenn er sich nie
von jüdisch-kapitalistischen Finanzberatern wie Kunwald und
Kienböck trennen konnte, und doch mit der Übernahme der
päpstlichen Enzyklika von 1931 in seine Konstruktionen von den an Stelle
des Parlamentarismus zu setzenden politisch-sozialen Gewichten und
Gegengewichten endete. Jedermann empfand, daß wohl mit durch seine
Schuld die Männer, denen er die Nachfolge in seinen Befugnissen
überließ, die Abbilder seiner Fehler waren, und er schon vor dem
Ende seines Österreichs zu einer fast nur mehr historisch interessanten
Gestalt geworden ist. Soweit er die Stimme des Blutes sprechen
ließ - wenn es zu einer Abstimmung über den Anschluß
käme, dann würden 95 Prozent für ihn
sein - behielt er für die Zukunft recht. Aber am Ausgang seiner
"Sanierung" schrie das Volk, über das nach der Inflation die
Arbeitslosigkeit ihre Geißel schwang, um Brot und Freiheit! Wer wird sie
bringen?
Im Sommer 1929 schwoll die Heimwehrbewegung zu einem stürmischen
Gewitter an, dessen Ausgang und Folgen noch ganz ungewiß waren.
Einigend für alle Gruppen blieb merkwürdigerweise aber nur die
schroff antimarxistische, hier gleichsam vom Parlament auf die Straße und
künftig vielleicht auf die Barrikaden verpflanzte Bürgerblocksidee,
während die neuen, darüber hinausgehenden Ziele und
Entscheidungen ganz unübersichtlich gewesen sind. Vom Fascismus und
Nationalsozialismus wurden die "militanten", äußeren Formen
übernommen und durch die [39] grüne
"Hahnenschwanz"-Uniform stilgerecht dem Heimatlichen angeglichen.
Zweifelhaft dagegen stand es von allem Anfang an mit der Anerkennung des
Führerprinzips, da weder eine überragende politische
Führernatur die stark im Föderalistischen steckengebliebene
Bewegung geformt noch diese aus sich selbst eine solche hervorgebracht hatte. In
Seipel und Schober besaß sie innerhalb der regierenden Schichten
Protektoren und Autoritäten, was aber auch das Beziehen einer klaren
Oppositionsstellung zum System als Ganzen immer wieder hinausschob. Ebenso
ungelöst wie die Führerfrage und das damit
zusammenhängende Verhältnis zu den alten Parteien blieb das
Verlangen nach einem politisch-weltanschaulichen Programm; das ein solches
vorgebende "Korneuburger Gelöbnis" vom Mai 1930 entstand, ohne
Verbindlichkeit für die ganze Heimwehr, erst, als die Stunde zur Tat
versäumt war und stellt großenteils eine doktrinäre Arbeit aus
der romantischen Glauben und kapitalistische Interessen sonderbar vermengenden
Wiener Spann-Schule dar. Die da und dort besonders im Gebiet der Alpinen
Montan-Gesellschaft aufgezogenen grünen "unabhängigen"
Gewerkschaften boten schon durch ihre offensichtliche Finanzierung von
Unternehmerseite der marxistischen Kritik breite Angriffsflächen. Nur in
den deutschbewußten Jungen der vielberedeten "Doppelreihe" lohte oft
schon ein Feuer, das die überlebten, politischen und sozialen Formen
schließlich verzehren mußte. Die abwechselnden, an der bestehenden
Verfassung gemessen legalen oder illegalen Versuche und Ankündigungen
einer Machtergreifung, widerlegten sich selbst, da weder der Weg über die
Wahlurne noch auch die offene Erhebung ohne einheitliche Führung und
Programm durchzusetzen waren. An der Spitze der Bundesführung, die
selbst wie eine kollegiale Behörde abstimmte, standen der nationalgesinnte
Steirer Dr. Pfrimer und der mit den Klerikalen paktierende Tiroler
Dr. Steidle als gleichberechtigter Bundesführer. Der junge, damals
noch mehr nach seinen vorteilhaften Seiten bekannte, Starhemberg vertrat nur den
oberösterreichischen Heimatschutz; in Wien bestanden gar eine klerikale
Gruppe mit dem Major Fey und eine nationale mit dem Alpenvereinsobmann und
Schönerer-Biographen Ing. Ed. Pichl an der Spitze
neben- [40] einander. Im ganzen
wiederholte sich bei dieser Volksbewegung, gerade soweit sie echt und lebendig
war, die politisch fragwürdige Tatsache, daß die
ursprünglichen Kräfte in den Länderkantonen zum Ausdruck
drängten - oft im schlagwortartigen Gegensatz zum marxistisch
verseucht vorgestellten "Wasserkopf" Wien - und daß eine zentrale
Zusammenfassung unter dem Nenner "Österreich" sich an dem schier
unlösbaren Problem eines Patriotismus in einem Staat wider Willen
verbrauchte. So ließ sich auch das Ausland zu Trugschlüssen
über Charakter und Aussichten des
Hahnenschwanz-Vormarsches, der natürlich besonders das Interesse der
benachbarten, fascistischen Großmacht erweckte, täuschen. Dank den
blutig bezahlten Erfahrungen mit dem Austromarxismus schien ja das kleine
Österreich sogar der Entwicklung im Reiche, wo die
Hitler-Bewegung damals noch schwer gegen die Weimarer Demokratie und die
bürgerliche Reaktion um die Seele des deutschen Volkes rang,
voranzueilen.
Es war die Regierung des in der Anschlußbewegung nicht unbekannten,
mehr als Außenseiter in der Christlichsozialen Partei stehenden
Industriellen Ernst Streeruwitz, die - an praktischen Erfolgen der letzten
Seipels überlegen - im September 1929 als erste nicht
parlamentarischen oder föderalistischen Umtrieben, sondern dem die
weitesten mittelständischen und bäuerlichen Kreise erfassenden Ruf
der Heimwehr nach der "starken Hand" zum Opfer fiel. Nicht mehr der
problematische Professor Seipel, sondern Schober, der in der ganzen Welt
angesehene "überparteiliche" Polizeipräsident, galt als der Mann des
Tages, dem die Parteien ihre Sonderwünsche zum Opfer bringen
müßten. Wirklich übernahm er mit Energie die ihm
angetragene Aufgabe und packte sie gerade dort an, wo Seipels Mischung von
[80a]
Bundespräsident Dr. Hainisch und Bundeskanzler Dr. Seipel
bei der Zehnjahresfeier der Republik
vor dem Stephansdom. 12. 11. 1928.
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Selbstvertrauen und Skepsis alle Wünsche offengelassen hatte,
nämlich in der Auswahl repräsentativer, persönlich
unabhängiger Mitarbeiter. Er gewann so Dr. Hainisch, womit er zum
erstenmal nach republikanischen Vorbildern ein früheres Staatsoberhaupt in
den Ministerrat nahm, und er holte sogar von der Universität Wien zwei
Professoren: Heinrich von Srbik, der eben sein Programm einer gesamtdeutschen
Geschichtsauffassung der Öffentlichkeit
unter- [41] breitet hatte, und
Theodor Innitzer, der in seiner Haltung als Rektor noch nicht die Abwege des
späteren Erzbischofs von Wien voraussehen ließ. Nur aus dem oben
Gesagten aber ist die sofort politisches Mißtrauen erregende Tatsache zu
erklären, daß die Bundesführung der Heimwehr nicht in die
unmittelbare Verantwortung des von ihr geforderten Kabinetts einbezogen war.
Der neue Bundeskanzler ging denn alsbald, ohne auf Seipels Schicksal zu achten,
Wege einer persönlichen Autorität, die sich von den bisherigen
eigenen Anhängern löste und doch nicht den Bruch mit der
bestehenden, autoritätsfeindlichen Verfassung wagen konnte. In der
Außenpolitik gelang ihm sofort eine umfassende Verständigung mit
dem durch Seipels Aufrollung der Südtiroler Frage schwer verstimmten,
italienischen Nachbar, die schon auf der Haager
Jänner-Konferenz von 1930 in der Österreichs Kreditfähigkeit
erhöhenden, förmliche Entlassung aus den praktisch nie
eintreibbaren Reparationsverpflichtungen zutage trat. Gleichzeitig nahm er die
Ausgestaltung der deutsch-österreichischen Beziehungen auf einem neuen
Gebiete in Angriff und überwand bei seinem Berliner Staatsbesuch die
Schwierigkeiten für den Abschluß eines Handelsvertrages, die sich
aus der Gleichrichtung, aber ungleichen Kraft beider Wirtschaften ergaben. Auch
in der Innenpolitik erreichte Schober mit der Sicherung einer Verfassungsreform
noch im Dezember 1929 rasch den von ihm angestrebten Erfolg, wenn es sich
vergleichsweise auch hauptsächlich um den Einbau der präsidialen
Elemente der Weimarer Verfassung (Ministerernennung,
Parlamentsauflösung, Notverordnungsrecht, plebiszitäre Wahl) in die
rein parlamentarische von 1920 handelte; dazu kam noch die grundsätzlich
beschlossene Umwandlung des kontrollierenden Bundesrates in eine
gleichberechtigte Länder- und Berufsständevertretung. Doch
erreichte er nicht mehr die Erprobung dieser bis auf das Ministerernennungsrecht
bescheidenen Errungenschaften, weil sie den Parlamentariern zu gefährlich
und der Heimwehr unzulänglich schienen. Vor allem blieb durch
aufschiebende Parteibeschlüsse der klerikale Wilhelm Miklas (seit Ende
1928 Nachfolger von Hainisch) Bundespräsident von Gnaden einer ad
hoc zusammengestellten, parlamentarischen Mehrheit, statt einer vom Volk
erwählten, repräsentativen [42] Persönlichkeit - als die wohl am
ehesten Schober selbst in Betracht gekommen
wäre - Platz zu machen.
Niemand ahnte damals, welch verhängnisvolle Bedeutung die
Präsidialgewalt gerade auch in einer schwachen Hand gewinnen
könne, und was für eine Rolle dabei der als parlamentarischer
Berichterstatter über die Verfassungsnovelle erstmalig vor eine
größere Öffentlichkeit tretende, junge Tiroler Klerikale Kurt
von Schuschnigg spielen würde.
Wenn es die widerspruchsvolle Existenz der Republik Österreich einmal
mit sich brachte, daß ein Seipel ihre "Unabhängigkeit" gegen die
Marxisten mit den Stimmen der betont "großdeutschen" Parlamentarier
rettete, so brauchte ein andermal ein Schober die Tolerierung der
Sozialdemokraten, die das kleinere Übel wählten, um die von der
Heimwehr herausgeforderte Verfassungskrise
schiedlich-friedlich, wie er auch für die Zukunft hoffte, beizulegen. Wenn
die Erstarrung der politisch-sozialen Fronten mit auf Seipels unzureichenden
Angriff gegen den Austromarxismus zurückzuführen war, so fiel
Schober, dem anderen Helden des Bürgertums, unversehens die Aufgabe
der Selbstzerstörung der tief unbefriedigten Heimwehr zu. Es kam das
Frühjahr 1930 mit der Ausweisung des dem Stahlhelm nahestehenden
radikalen Majors Pabst, der Entwaffnungsforderungen des ausländischen
Kapitals und dem Streit um das Korneuburger Programm; es folgten schwere
Führerkrisen, die mit der Wahl des unberechenbaren, damals
übrigens noch als völkisch geltenden, jungen Starhemberg an Stelle
Pfrimers und Steidles zum alleinigen Bundesführer endeten. Unter dem
Eindruck der reichsdeutschen, in den Septemberwahlen sich ankündigenden
Umwälzung fiel der Bundeskanzler selbst - genau ein Jahr nach
seiner triumphalen Erhebung - einer Palastrevolution zum Opfer, die sein
eigener, nun nach dem Bundeskanzleramte greifender Heeresminister Vaugoin
angezettelt hatte. In einem merkwürdigen Stellungswechsel gewann dieser
für sein Kabinett sofort Starhemberg und begünstigte die Bildung
eines mit den Christlichsozialen in den nun doch unvermeidlich gewordenen
Wahlkampf ziehenden "Heimatblocks"; auch Seipel, der seine
Bürgerblockidee in größter Gefahr sah und dem bisherigen
Kanzler daran Schuld [43] gab, stellte sich für ein belangloses
Zwischenspiel als Außenminister zur Verfügung. Schober hingegen
ließ sich erstmalig für einen Kampf um das Parlament gewinnen und
wurde Führer des nach ihm benannten, aus
bürgerlich-nationalen und -liberalen, auch jüdischen
Elementen sonderbar gemischten Gegenblocks. Doch dazwischen begann schon
die straff unter unmittelbarer Münchener Führung erneuerte, bisher
auf unentwegte Kämpfer begrenzte NSDAP. ihre magnetische Anziehung
auch über die zerfallenden Heimwehrgruppen hinaus auszuüben.
In Wahrheit klopfte in diesen Herbstmonaten 1930 schon ein Schicksal
vernehmlich an die Tür, das ganz andere Entscheidungen verlangte als die
in einem kräfteverzehrenden Staat wider Willen gangbaren.
Novemberrevolte, Friedensdiktate und Entmachtung, innere soziale und rassische
Zersetzung statt höchster Anspannung, all das traf das Reich und
Rest-Österreich gemeinsam - nur die Anschlußforderung der
Deutsch-Österreicher erhob sich, wenn auch vergeblich, über die Not
des Tages hinaus! Nicht so sehr innendeutsch angesehen, wo für das kleine
Österreich das kulturelle und antimarxistische Moment einzusetzen war,
doch wohl unter europäischem Horizont konnte die
Seipel-Aktion von 1922 als eine Vorwegnahme der
Stresemann-Ära mit ihrer Gefahr der Illusionen angesehen werden; die
Heimwehrbewegung dagegen wies schon bei aller bürgerlichen Beengung
auf den im Reiche damals noch nicht in die Massen gedrungenen, nationalen
Aufbruch hin. Erst dann schlug der Sturmwind um, als der geborene Führer
der Deutschen, der damals trotz Frontdienst nicht einmal noch die
Reichsbürgerschaft besitzende Sohn der Ostmark Adolf Hitler,
riesengroß über aller Entzweiung sein Banner emporhob. Noch die
Novemberwahlen von 1930 zeigten erst den Umbruch der innenpolitischen
Entwicklung an, als die Nationalsozialisten inmitten der neuen "Block"bildung
überall auftauchten, das erste Hunderttausend Wähler vor allem aus
der Jugend gewannen, aber ohne Vertretung im neuen (überhaupt letzten)
Nationalrat blieben. Dagegen erhielt dank der geltenden sonderbaren
Wahlordnung die Heimwehr mit weniger Stimmen sieben Mandate, die gerade
für ihre künftige, verhängnis- [44] volle Rolle ausreichten, damals aber nur dem
neuen Anschlußbekenntnis Starhembergs zu danken waren. Die Partie
endete übrigens auch für die verschiedenen Sieger mit Remis;
Starhemberg gab die ihm wenig liegende Ministerrolle wieder ab, Vaugoin
begnügte sich mit seinem alten Heeresministerium und der Vorarlberger
Landeshauptmann Dr. Ender bildete mit Schober als Außenminister
ein Kabinett, das sich wieder auf die alte
Seipel-Schober-Mehrheit stützte und gewaltsamen Lösungen
auswich, damit auch den "legalen" Vormarsch der österreichischen
Nationalsozialisten ermöglichte.
Da führte ein sowohl national- als wirtschaftspolitisch bedeutsamer Schritt,
der durch den braunen Vorstoß angeregt, ihn zugleich wohl auch
abzuriegeln bestimmt war, einen Kurzschluß herbei, der beinahe
gleichzeitig beide deutsche Staaten in Brand gesteckt hätte: Der von
Schober und Curtius am 19. März 1931 veröffentlichte
deutsch-österreichische Zollunionsvertrag knüpfte noch mehr an die
Salzburger mitteleuropäischen Pläne am Weltkriegsausgang an, als
an die aus vergeblicher Rücksicht auf Briand zitierten regionalen
Organisationsvorschläge im Genfer
Paneuropa-Ausschuß; er wollte als Beitrag für eine friedliche
Neuordnung des Kontinent gelten, der auch anderen Staaten den Anschluß
eröffne. Die Unzulänglichkeit der Machtgrundlage des
Zwischenreiches auch noch unter Brüning und außerdem
unterlaufene taktische Fehler verwandelten die Hoffnung einiger
Frühlingstage unmittelbar in die Drohung eines schreckenvollen Endes der
Aktion, wo doch beiderseits der Reichsgrenzen die Absatzkrise und
Arbeitslosigkeit ohnedies die mageren Früchte der "Sanierungen" von 1922
bzw. 1924 in Frage stellten. Von der entfesselten Gewalt der Ententeproteste,
Völkerbundsentschließungen und einem allerdings
zwiespältigen Haager Schiedsspruch wichen Wien und Berlin
zurück, ihrer Entschlußfreiheit auch noch durch die
Hammerschläge einer künstlich gesteigerten Finanzkrise beraubt.
Vom Krach der mit dem Welthaus Rothschild gekoppelten Wiener
Credit-Anstalt, die als einzige Österreich verbliebene Großbank auch
die in eine Staatshaftung einwilligende Regierung
Ender-Schober unter ihrem Sturz begrub, nahm ein wirtschaftspolitisches
Unwetter seinen Ausgang, das Deutsch- [45] land wie ein leck gewordenes Schiff in der
Danat-Bank-Krise ganz hart an die Katastrophe heran trieb. Vergebens griff die
Londoner City in einem bestimmten Fall zugunsten der Wiener Nationalbank ein,
um den österreichischen Markt nicht vollend zum Tummelplatz
französischer Herrschaftsansprüche werden zu lassen. Fiel doch
damals sogar Briands Präsidentschaftskandidatur einer chauvinistischen
Reaktion zum Opfer.
Doch der ursprünglich nur als Gegenschlag gegen die
Anschlußgefahr und den Nationalismus der Deutschen geführte
Streich von Paris zog immer weitere Kreise, ergriff die an Absatzschwund und
politischen Schulden leidenden Donauländer und führte zu einer
Reihe von Rettungsversuchen mit Vorzugszollsystemen u. ä., die
durch die Namen "Tardieuplan" und "Stresakonferenz" von 1932 gekennzeichnet
sind. Die Rivalität der Mächte und die Unmöglichkeit, durch
Neubefestigung der Pariser Vorortediktate Rettung zu bringen, schoben mehr als
ein unmittelbarer Widerstand der Ender-Schober nachfolgenden
Systemregierungen Buresch und Dollfuß die Pläne einer
Zusammenkoppelung der Frankreich dienstbaren Nachfolgestaaten mit der fast
ausgebluteten Republik Österreich hinaus. Ein vom steirischen
Landeshauptmann Dr. Rintelen begünstigter Aufstand der Pfrimer
treu gebliebenen Heimwehren, der im September 1931 den Rettungsversuch einer
nationalen Diktatur wagte, scheiterte in den Anfängen an seiner Isolierung;
nichtsdestoweniger sprach die daraufhin des Hochverrats Angeklagten das
zuständige Grazer Schwurgericht einstimmig frei.
Die Bürgerblockidee, die bisher die Christlichsozialen vom Zentrum
distanzierte - dort Teilnahme am "demokratischen" Reichsbanner, hier an
der "faschistischen" Heimwehr! - aber auch die österreichischen
"Großdeutschen" etwa von der Hugenbergrichtung fernhielt,
erschöpfte sich unter den Vorzeichen einer neuen Zeit. Die Wiener
Politikergruppe (Schmitz, Vaugoin, Kienböck, Mataja), die Seipel stets als
Schatten begleitet und das Aufkommen der von ihm anerkannten
volksbewußten Gruppen um Rintelen, Hugelmann, Drexel, Streeruwitz,
Menghin, Eibl, Seyß, Böhm und Wolf verhindert hatte, bereitete sich
auf einen Zweifrontenkrieg vor, der in ihrem Sinne freilich auch für das
Reich Bedeutung haben [46] sollte. Dabei schob sie junge Männer in
die Führung, die dem Nationalismus ihrer eigenen Generation Widerpart
leisten würden: Dr. Engelbert Dollfuß, einen Günstling
des niederösterreichischen Landeshauptmanns Reither, und Dr. Kurt
von Schuschnigg, der die ins Schwarz-Gelbe hinüberschillernden
sogenannten Ostmärkischen Sturmscharen der Heimwehr zur Seite zu
stellen suchte. Der Bauern- und der Offizierssohn sollten die
"österreichische" Reaktion der Seipel-Schober-Periode (die
kompromißartig war und bei dem einen wenigstens grundsätzlich
deutsche Lösungen zuließ, und bei dem andern sie später sogar
begünstigte) auf eine neue, polemische Ebene verlegen.
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