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Vom "Kriegsreich" der Mittelmächte
zum Notstaat von St. Germain

Am 12. November 1918 beschloß die im Wiener Parlamentsgebäude zusammengetretene deutschösterreichischen Nationalversammlung - einen Tag nach dem Verzicht des letzten habsburg-lothringischen Kaisers auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte - einstimmig ein Staatsgrundgesetz ganz besonderer Art. Es erklärte den eben neugegründeten Staat "Deutschösterreich" für einen "Bestandteil der Deutschen Republik". Auf Grund des demokratischen Selbstbestimmungsrechtes lösten die bisher der Monarchie angehörigen, nichtdeutschen Völker alle Gemeinschaft mit Wien. Aber hatte jene revolutionierende Losung, als deren Schildträger die Westmächte und vor allem der demokratische Heiland unter dem Sternenbanner erschien, nicht auch die Deutschen ohne Rücksicht auf die bisher geltenden Grenzen geistig überwältigt und war sie nicht auch von den Mittelmächten in rechtsverbindlicher Form als Friedensparole angenommen worden? So beriefen sich denn in der Stunde, da jeder ein neues Heim sich sicherte, die Deutschen Österreichs - es waren ja in dem griechischen Tempel am Franzensring zunächst noch alle Abgeordneten deutschen Bekenntnisse aus den früheren Parlament versammelt - mit Stolz und Freude auf das Selbstbestimmungsrecht, das sie auf die größere Gemeinschaft des Reiches verwies und mitten im Zusammenbruch der bisherigen Donaugroßmacht offenbar auch ihrem Schicksal einen tieferen Sinn verleihen sollte. Hatte doch ihr Blutzoll (29 Gefallene von 1000 Soldaten) sogar die anderen deutschen Stämme hinter sich gelassen.

Als in diesen Spätherbstwochen 1918 sich endlich die Weltkriegsfronten aus Erde, Stahl und Feuer auflösten, und an Stelle der bis zuletzt nicht eindeutig erreichten Waffenentschei- [10] dung die Umrisse der kommenden Friedensordnung treten sollten, da verwandelte sich allenthalben Grauen und Größe des Krieges in einen Rausch des Jubels, als ob die abgeschüttelte Last der vergangenen Jahre allein den hemmungslosen Genuß der "Freiheit" rechtfertigen würde. Wenn drüben im November-Deutschland der "Sieg des Volkes über den Obrigkeitsstaat" gefeiert werden konnte, so verlor sich auch Ungarn, dem nicht weniger Furchtbares bevorstand, in einen Taumel der Freude über die ihm zugefallene, volle staatliche Unabhängigkeit. Aber auch auf Seite der Gewinner dieses unter dem Namen Wilsons vor sich gehenden, grausamen Spiels von Kriegsnot und Friedenslist ließ man sich, mehr als gerechtfertigt, vom Glück der Stunde überwältigen. Da erstand, noch über die Grenzen vor seiner ersten Teilung hinausgreifend, das neue Polen; da bildete sich, weit über den Umfang seines eigenen Volkstums, ja selbst der historischen, böhmischen Länder hinaus die Tschechoslowakei; da erfüllte das Königreich Rumänien die kühnsten Träume seiner Irredenta und aus Serbien erstand wie mit einem Zauberschlage das dreieinige Königreich der Südslawen. Warschau, Prag, Bukarest, Belgrad wurden so über Nacht Brennpunkte von neuen Machtkreisen, die mit ihrer eigenen, völkischen Forderung da und dort in Widerspruch gerieten, wobei freilich die Tschechen die andern noch weit hinter sich ließen. Ihnen allen erschien damals die französische Vorherrschaft in Europa als Ursprung und Bürgschaft ihrer Freiheit, die aus dem Triumph der demokratischen Westkoalition über die Mittelmächte, über die Deutschen, über Österreich und Ungarn phönixgleich hervorgegangen sei.

Begann aber damit das neue, politische Leben der Ostvölker nicht mit einem verhängnisvollen Trugschluß? Gewiß gab damals für die Machtverteilung in dem breiten Vielvölkerraum zwischen Deutschland und Rußland die mit den westlichen Großmächten verbundene Rebellion gegen das dynastische Mitteleuropa vor 1914, die bis zu den ausgewanderten Volksgenossen im fernen Amerika ihre Wellen geworfen hatte, den Ausschlag. Doch das an der Oberfläche nur durch den gänzlichen Zusammenbruch der deutschen und der österreichischen Politik gekennzeichnete neue Mitteleuropa von 1918/19 ist im [11] Grunde die Schöpfung des nun sogar oft im eigenen Lande verleugneten, deutschen Frontsoldaten gewesen. Er hatte durch die Zurückdrängung Rußlands tief nach dem Osten und durch die Zerstörung des Panslawismus als geschichtlicher Macht erst die volklichen Einigungen ermöglicht, die jetzt ihre Machtspitze mit Frankreich gegen Deutschland vereinigten. Ohne seine weltbewegenden Taten und im Sinne der Pariser Allianzen wären Warschau, Prag, Bukarest, Belgrad nichts als die Hauptstädte moskowitischer Satrapien geworden. Hinter den gegen Rußland erreichten Ostlinien der Mittelmächte waren erstmalig die Südslawen und die Rumänen, die Tschechen und Slowaken, die Polen und die kleineren Ostseevölker unter ein und derselben politischen Ordnung vereinigt - ein Vorgang, der für die Zukunft des 20. Jahrhunderts viel wesentlicher geblieben ist als die blutleeren, der Wirklichkeit unkundigen, aber die Geister verwirrenden, vom Washingtoner Kapitol herunter verkündeten Lehren Wilsons. Allein welche wirtschaftliche Aussichten hat "der Deutsche Krieg" allen Ostvölkern durch die Befreiung der Donau und der Weichsel von allen politischen Barrieren und die dann leicht mögliche Verbindung von ost- und westmitteleuropäischen Strom- und Wirtschaftsgebieten eröffnet, an deren Stelle nun noch mehr Zollschranken als vorher und eine völlige Abhängigkeit von den raumfremden Westmächten traten! Dabei täuschte nur die gleichzeitige, weltpolitische Aktionsunfähigkeit des demokratisierten Deutschland und des bolschewisierten Rußland über die Unhaltbarkeit einer Stellungnahme der Ostvölker und ihrer westlichen Protektoren hinweg, die jede sinnvolle Neuordnung in dem nun einmal auch von 80 Millionen Deutschen bewohnten Mitteleuropa unmöglich machte und damit auf weite Sicht die asiatische Zersetzung der uns und dem Nahen Osten gemeinsamen Bluts- und Kulturwerte begünstigte.

Aber wir müssen diese Überlegungen auf Deutschland selbst zurückwenden. Die Tragödie der nach Bismarck führerlosen Mittelmächte hob schon mit dem ersten Schritt über die polnisch-russische Grenze an und sie steigerte sich mit jedem ihrer großen, auch von der feindlichen Welt bestaunten Ostsiege nur noch mehr. Denn die dadurch eingeleitete, unaufhalt- [12] same Selbstzerstörung des seit Friedrich dem Großen und Maria Theresia eingewöhnten (nur durch Napoleon vorübergehend aufgehobenen) Grundverhältnisses der drei dynastischen Ostmächte bedeutete eine Revolution, der die Träger der bisherigen, staatlichen Ordnung nicht gewachsen waren. Die dynastischen Lösungsversuche z. B. in der polnischen Frage blieben unzulängliche Improvisationen und die verräterischen Experimente des Hauses Parma-Bourbon waren im Grunde nur von der hilflosen Einsicht eingegeben, daß das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis zwischen 1879 bis 1914 so oder so seinem Ende entgegengehe. Die Bilder von Kabinettsintrigen eines sinkenden Herrschertums, um die nach dem Friedensschluß sonst unvermeidliche deutsche "Vorherrschaft" abzuwenden, erhielten noch im Kriege einen diese Perspektive immer wieder durchbrechenden Hintergrund von großzügigen Zusammenschlußarbeiten auf wirtschaftlichem und wehrpolitischem Felde. Die amtliche und verantwortliche Politik gelangte gerade im Zuge von unvermeidlichen Reaktionen auf die Sixtus-Diplomatie zum höchst bemerkenswerten deutsch-österreichisch-ungarischen Zollunionvertrag von Salzburg und zur Vorbereitung eines entsprechende Militärbündnisses, wie es ungeachtet aller Waffenbrüderschaft vor dem Kriege nicht denkbar gewesen wäre, und es ist kein Zufall, wenn die dabei geistig führenden Männer (Richard Riedl, Glaise-Horstenau und Bardolff) noch 20 Jahre später am tatsächlichen Vollzug des Anschlusses ihren Anteil hatten. Aber entbehrten diese großzügig dem Gebot der Stunde folgenden, mitteleuropäischen Arbeiten schon des unmittelbaren Einsatzes der höchsten Führung der beiden monarchischen Reiche, so daß alle anderen Absichten sich ihnen untergeordnet hätten, so war es um das Verhältnis zwischen Kriegszielformung, öffentlicher Meinung und parteimäßiger Mehrheitsbildung ebenso schlecht bestellt. Der ursprüngliche "Burgfriede", der das amtliche Verbot der Kriegszieldebatten einschloß, wich dem offenen Kampf der Reichstagsmehrheit um die Festlegung Deutschlands auf einen Frieden "ohne Annexionen und Kontributionen", als ob der Friedenswille oder vielmehr die Fähigkeit zur Durchsetzung des Friedens bloß durch Verzichte und nicht vielmehr durch [13] politische Neuschöpfungen unter Beweis zu stellen sei. Aber auch die dagegen aufgebotenen, aktivistischen Gegenkräfte versagten durch ihre Unfähigkeit zu einer überzeugenden Umgrenzung des alles entscheidenden, deutschen Kriegszieles in Mitteleuropa und im Nahen Osten, dem alle außerhalb gelegenen, an sich noch so wünschenswerten Pläne geopfert werden könnten. Der so im Ergebnis gerade nach dem Untergang des alten Rußland, in einer Stunde gewaltigster militärisch-politischer Möglichkeiten sichtbar eingetretene Verfall der nationalen Willensbildung verquickte die außenpolitische Zielsetzung völlig mit innenpolitischen Machtansprüchen, wie etwa die Reichstagsmehrheit der sogenannten Friedensresolution von 1917 geradezu die Weimarer Koalition von 1919 vorwegnahm.

Auf anderer Ebene bildete das erst mit Mai 1917 vom jungen Kaiser Karl einberufene Parlament des österreichischen Vielvölkerstaates unter Zurückstellung des Parteipolitischen bei all den Tschechen, Polen und Südslawen fest umrissene, national-politische Gruppen aus, die unmittelbar zu den staatsgründenden Nationalräten des Spätherbstes 1918 hinüberleiteten. Nur die Deutschösterreicher, die auch weiterhin in den bürgerlich-völkisch ausgerichteten Deutschen Nationalverband, in die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten zerfielen, sie beschränkten sich auf innenpolitische Reformwünsche, Unterstützung des deutschen Bundesverhältnisses und (abgesehen von den Marxisten) auf allgemeine Siegeshoffnungen. Der Kampf der volklichen Feinde der Deutschösterreicher gegen Staat und Dynastie schien ihnen, entgegen Schönerers Warnungen, den überlieferten "Patriotismus" nur noch zu rechtfertigen, der durch ihre namenlosen Opfer dafür immer neue Weihe bekam. Erst als die Unhaltbarkeit der Lage immer offenkundiger wurde und mit dem Oktober-Manifest Kaiser Karls sich die völlige Umgliederung der historisch-territorialen Verhältnisse Südosteuropas ankündigte, da trat endlich auch der Zusammenschluß der deutschösterreichischen Abgeordneten zu einer (provisorischen) Nationalversammlung in Erscheinung. Nach all dem Vorangegangenen und in Ermangelung einer wirklichen Führerbegabung fiel nun zum Unterschied von den andern Na- [14] tionalparlamenten in Wien den Sozialdemokraten die leitende Rolle zu, weil sie ja am leichtesten den notwendig gewordenen Bruch mit der altösterreichischen Vergangenheit vollzogen. Unter diesem Gesichtspunkt gewann ihre hemmungslose Opposition gegen die materiellen und gegen die moralischen Staatsnotwendigkeiten besonders während der letzten zwei Kriegsjahre scheinbar sogar noch eine Möglichkeit zu fruchtbarem Einsatz in der geschichtlichen Verantwortung. Die von ihren Urhebern als Angriffswaffe gegen die Mittelmächte gemeinte Losung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes der Demokratie war von der reichsdeutschen wie von der deutsch-österreichischen Linken als eine doktrinäre, gegen den gespenstischen Annexionismus sehr brauchbare Formel aufgegriffen worden. Nun, da mit durch ihre Schuld die Macht der deutschen Mitte Europas in Nichts zerronnen war, trat mit einem Male die parlamentarische Demokratie in ihre unerbittliche Bewährungsprobe ein. Es war eigentlich zuerst das Selbstbestimmungsrecht der andern, das aus den Trümmern jahrhundertealter, wenn auch oft schlecht genug bewährter Vielvölkergemeinschaft ein neuartiges, deutschösterreichisches Staatswesen hervorgehen ließ, dessen Geburtsurkunde schon seine Preisgabe zugunsten einer neuen, höhern politischen Gemeinschaft hervorhob. Denn erst hiermit war ein Brennpunkt des Gemeingefühls gegeben, der noch das anhebende Chaos aufhielt, und verzweifelte Pläne, wie einen "Anschluß" Vorarlbergs an die Schweiz, überfällig machte. Sinnbildlich für seine elementare Wucht ist die Durchschlagskraft der an der Stelle des monarchischen Schwarz-Gelb gehißten Ostmark-Farben Rot-Weiß-Rot gewesen. Sie waren damals für die Ostmark Bekenntnis zum Reich, als dieses selbst eines einigenden Fahnensymbols entbehrte. Und die später ebenso wie die Farben mißbrauchte, zum Ersatz für das Deutschlandlied dienende "Bundeshymne" - ein Versuch Renners, selbst ein Alpenländerbundeslied abzufassen, ist der Lächerlichkeit verfallen - war ursprünglich ein schlichtes Lied an die deutsche Heimat Österreich von dem steirischen Pfarrer Ottokar Kernstock, der als der ersten einer auch das Hakenkreuz im roten Felde besang.

Dieses Bekenntnis Deutschösterreichs zum Reiche in der [15] Stunde von dessen größter Erniederung ließ die Welt aufhorchen, mochte es auch denen nicht unerwartet kommen, die sich die Zerstörung des Bismarckschen Mitteleuropa zum Kriegsziel gesetzt hatten und deshalb den Ereignissen nicht so unvorbereitet als der Deutsche selbst begegneten. Sogar die Führer der tschechoslowakischen Irredenta hatten in früheren, vertraulichen Überlegungen zugegeben, daß das Ende der Habsburger-Monarchie auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes den Anschluß der deutschen Österreicher an das Reich nach sich ziehen würde. Italien begünstigte, schon um einer späteren Habsburger-Restauration vorzubeugen, eher eine solche Entwicklung und England hätte von sich aus nichts dagegen einwenden können. Nur Frankreich hat darin von allem Anfang an und ohne irgendwelche Bedenken sozusagen eine Todsünde wider den Geist des Sieges, die dauernde Zerstörung der deutschen Machtgrundlagen, gesehen und danach gehandelt. Wenn die Dritte Republik mit unter dem Einfluß Italiens und der "Tschechoslowaken" ihre Hand vom Hause Bourbon-Parma zurückzog, was auch Clemenceaus persönlicher Stellungnahme vollständig entsprach, so richtete nun "der Vater des Sieges" um so mehr seine brutalen Schläge gegen jeden Versuch zur Verwirklichung des "Anschlusses", wie das Vokabel damals in den politischen Sprachschatz der Franzosen einging. Wilson aber hätte an diesem Punkte in besonderm Maße den Widerspruch zwischen seiner Welterlösungslehre und seiner Feindseligkeit gegen alles Deutsche, zwischen maßloser Ausdehnung und Verantwortlichkeiten und der Unkenntnis der Tatsachen empfinden können. Seine Weigerung, mit der kaiserlichen Regierung in Wien weiter zu verhandeln, hat im Oktober 1918 die Sprengladung entzündet, die den Einsturz des mitteleuropäischen Gebäudes herbeiführte. Jetzt legte er in der Anschlußfrage nur eine große Gleichgültigkeit an den Tag, da er sein schiedsrichterliches Gewissen in diesem Falle frei von formalen Verpflichtungen wußte und ihm das Fingerspitzengefühl völlig dafür fehlte, welche Folgen ein so entscheidendes Versagen der Demokratie für sein ganzes europäisches Werk über kurz oder lang nach sich ziehen müßte. So begann die Arbeit der Gegenseite seit dem November 1918 mit der Setzung von Tatsachen, als ob das [16] Wiener Anschlußgesetz überhaupt nicht vorhanden sei, und nachdem man der nationalen Hochflut das Wasser genügend abgegraben hatte, ging man zur Schaffung einer förmlichen Sperre für die Zukunft über.

Der Deutschösterreicher von 1918/19 war nach dem Aderlaß des ihn vor allen andern erschöpfen Krieges, unter dem Druck eines furchtbaren Waffenstillstandes und, da auch jede Hilfe aus dem novemberlichen Deutschland ausblieb, auf Notlösungen in seinem staatlichen Wiederaufbau und sogar auf eine gewisse Zusammenarbeit mit den ihm feindlichen Nachfolgestaaten und Großmächten angewiesen, um nicht in Hunger, Not und Kälte vollends unterzugehen, ehe die von der Weltgerechtigkeit erhoffte Entscheidung noch gefallen war. In eigentümlicher Weise vermengte sich die parlamentarische Illusion der Zeit mit der Absicht zur Herstellung eines bloßen Übergangsverhältnisses bei der Feststellung der Grundeinrichtungen der jungen rot-weiß-roten Republik. Ihre politische Zentralgewalt bestand eigentlich nur aus verschieden gestuften, proportional gebildeten Ausschüssen der drei großen Parteien, ob sie nun die auf Grund des Listenwahlrechtes hervorgegangene Konstituierende Nationalversammlung, der Staatsrat oder die Staatsregierung hießen; fehlte ja selbst die Person eines Staatsoberhauptes, in deren Aufgabenbereich der 1. Präsident der Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Seitz, eintrat. Die bisherigen Kronländer, die, ungeachtet teilweiser feindlicher Einbrüche, jedes für sich über einen festeren, inneren Zusammenhang als der Reststaat allein verfügten, behielten sich ein weitgehendes Sonderleben vor; sie hingen mit Wien hauptsächlich auf dem Wege der gemeinsamen Parteistruktur und des notwendig gemeinsamen Verkehrs mit der Außenwelt zusammen. Aber weit jenseits der Alpengaue reichte der grundsätzliche Hoheitsanspruch dieses provisorischen Deutsch-Österreich hinaus: Die sudetendeutschen Abgeordneten des letzten altösterreichischen Parlaments mit Dr. Lodgman als führendem Kopf nahmen an der Konstituierung des neuen Staates und an seinem Anschlußgesetz in vollem Maße teil und das Gebietsgesetz der Republik bezog in Zusammenhang damit und gleichzeitig in äußerster Folgerung aus dem Selbstbestimmungsrechte [17] außer dem geschlossenen, sudetendeutschen Gebiete sogar die Sprachinseln des böhmisch-mährischen Raumes ein. Die von den Tschechen vertriebenen regionalen Regierungen der Sudetendeutschen ließen sich protestierend in Wien nieder und die feierlichen Kundgebungen der deutschböhmischen Städte am Tage des Zusammentritts der Wiener Verfassunggebenden Nationalversammlung, zu der sie keine gewählten Vertreter mehr hatten entsenden können, erstickte ein Blutbad; der 4. März 1919 blieb ein Fanal sudetendeutscher Vergewaltigung. Freilich wäre der "Anschluß" der Sudeten- an die Alpendeutschen wieder nur im Zusammenhang mit einem föderativen Zusammenschluß aller mitteleuropäischen Deutschen und in einer Ordnung der Gleichberechtigung mit den Nachbarvölkern durchführbar gewesen.

Als in gehörigem Abstand nach der reichsdeutschen Friedensdelegation auch eine deutschösterreichische Abordnung zur Entgegennahme eines Vertragsentwurfes nach Paris eingeladen wurde, da war es klar, daß diese wider alle Vernunft und Billigkeit ohne jede Fühlungnahme mit der deutschen ihre Sache würde durchfechten müssen. Obwohl Pichon als Herr des Quai d'Orsay durch seinen besten, damals verfügbaren Diplomaten, Mr. Allizé, in Wien seit März 1919 alle Künste gegen den Anschluß spielen ließ, klammerten sich die deutschösterreichischen Politiker an die Hoffnung, gerade in der ihnen aufgenötigten, selbständigen Rolle die Resonanz der deutschen Sache noch verstärken zu können. Der Gegensatz zwischen den Westmächten und Italien, der die Weiterführung der Konferenz im Frühjahr bedrohte, eröffnete tatsächlich zeitweilig Aussichten, die in der Zusammenarbeit zwischen Wien und Berlin, Rom und Budapest viel spätere, erfolgreiche Kombinationen hätten vorwegnehmen können. Doch die Hilflosigkeit des damaligen Reiches, die Bolschewisierung Ungarns und auch der Charakter des vorfaschistischen Italiens entzogen wieder jede Voraussetzung für eine solche Auflehnung gegen die drei demokratischen Diktatoren von Paris. Die unter der Leitung des gemäßigt sozialdemokratischen Staatskanzlers Dr. Renner stehende, aus den drei großen Parteien gebildete Delegation in St. Germain ging, zumal nach der Annahme des [18] Versailler Diktats durch die Weimarer Nationalversammlung, zur sogenannten westlichen Orientierung über, um wenigstens die westungarische und die kärntnerische Frage günstig zu lösen und eine leidliche, wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Nachfolgestaaten zu erreichen. Der endgültige, nach Protest der Wiener Nationalversammlung doch von Renner selbst am 10. September gezeichnete Staatsvertrag von St. Germain trägt neben den Namen der neuen "Alliierten" Kramarsch, Benesch, Pasic, Dmowski usw. lapidar die Unterschrift des "Tigers" Clemenceau, indessen Wilson und Lloyd George sich persönlich schon mit den Lorbeeren von Versailles zufrieden gaben.

Der Widersinn dieses Diktats ist aber gerade von den Franzosen früher als der ihm verwandter, anderer Erzeugnisse des verderblichen Siegerwahns erkannt worden. Man verwendet den dem großen Reiche zugedachten "Vertrag" ohne viel Umstände als Modell für das internationale Gesetz der kleinen, auch noch um jeden Anspruch auf die Sudetengebiete gebrachten (ja sogar um Grenzstreifen zugunsten der Tschechen beraubten) "Republik Österreich", wie darin der Staat wider Willen von seinen gewalttätigen Geburtshelfern benannt wurde. Entgegen allen noch so begründeten Vorstellungen und ohne einen Funken Staatsräson hielt man an der Fiktion fest, in dem Vertragsgegner von St. Germain die geschlagene Großmacht Österreich zu vergewaltigen und zu bestrafen, so wie eben mit Deutschland vorgegangen war. Da gab es sowohl Bestimmungen über Flotte, Kabel u. ä., die ohnedies jedem Anspruch Deutschösterreichs entzogen waren; da gab es problematische Friedensfundamente wie Kriegsschuldthese und Entwaffnungsverpflichtungen, Wiedergutmachungsverpflichtungen und Völkerbundssatzung (ohne eigene Mitgliedschaft) ganz à la Versailles! Hier wie dort traten die Nachfolgestaaten als kriegführende Verbündete auf Seite der alliierten Hauptmächte auf, um einen Ring von 27 "Siegerstaaten" aller Rassen und Erdteile um die Opfer der neuen Weltordnung zu schließen. Die Anschlußforderung des deutschen Volkes fand scheinbar damit ihre Erledigung, daß die in einem eigenen Artikel der beiden Diktate verankerte "Unabhängigkeit" Österreichs als unabänderlich fest- [19] gelegt wurde, es sei denn, der Rat der Genfer Liga würde einer Änderung zustimmen - was angesichts von dessen Einstimmigkeitsklausel nur als Utopie gemeint sein konnte. Da wenigstens vorläufig trotz aller, vielleicht sogar tödlicher Verluste und Verpflichtungen, die Einheit des Deutschen Reiches noch aufrecht geblieben war, mußten die sechseinhalb Millionen Südostdeutschen der Republik Österreich das lebendige Material eines europäischen Pufferstaates abgeben, dessen man längs der Kreuzungsstelle italienischer und französischer Hegemonieansprüche und nord- und südslawischen Ausdehnungsdranges dringend bedurfte. Nur unter diesem Gesichtswinkel ist auch die Rettung des Burgenlandes und Südkärntens nach tapferer Selbstverteidigung - sowie der spätere, praktische Verzicht auf die Geltungmachung mancher erpreßter Rechtsansprüche zu erklären. Hiermit war von nun an das eine, äußere Gesetz der österreichischen Existenz vorgezeichnet; ihr anderes, inneres aber blieb die gerade in der gemeinsam erlittenen Vergewaltigung neu bestätigte Schicksalsgemeinschaft Deutschland-Österreich. Allein ein einziger, ganz kurzer Artikel unter den hunderten beider Pariser Diktate sprach von ihr und dies nur, um ein anscheinend unübersteigliches Hindernis dagegen aufzurichten. Hier, in der Bestätigung oder Beseitigung des Anschlußverbotes lag von da an die weltpolitische Bewährungsprobe unserer Nation, nachdem mit ihrem Zweiten Reich zugleich auch ihr "Kriegsreich" untergegangen war, das innerhalb seiner so erweiterten Grenzen die großdeutsch-mitteleuropäische Frage erstmalig über Bismarck hinausgreifend gestellt, aber nicht mehr gelöst hatte.

Ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht lähmte die Schwingen, nachdem der Flug deutscher Utopie ins verheißene Zeitalter internationaler Gerechtigkeit sofort in die grausamste Enttäuschung übergegangen war. Es bleibt der politischen Phantasie das Ausmalen der Möglichkeiten unbenommen, die ein großzügiges Eingehen der bisherigen Feindmächte auf den Anschlußwunsch der deutschen Demokratie nach sich gezogen hätte. Jedenfalls hat seine Nichterfüllung die unmittelbar aus dem Zusammenbruch der Monarchien hervorgegangenen, politischen Formen von Grund aus vergiftet, wofür ja das Schicksal der [20] wiederaufgezogenen, großdeutschen und nun ihres eigentlichen Sinns beraubten 48er-Trikolore sinnbildlich wurde. Gewiß begrüßte auch das damalige "Weimar" nicht zuletzt in der Programmrede des Außenministers Brockdorff-Rantzau das von der Donau herüberschallende Anschlußbekenntnis; der deutsch-österreichische Gesandte nahm an den Verhandlungen des Weimarer Verfassungsausschusses teil, und in der Verfassungsurkunde vom 11. August 1919 selbst fand ein Satz über die künftige Mitgliedschaft Deutschösterreichs im Reichsrat als der Ländervertretung Platz. Doch vor der Schaffung vollzogener Tatsachen, denen die Friedensmacher an verschiedenen Stellen Europas nachgaben, schreckte dies hungernde und hadernde Deutschland schon aus Furcht vor der gänzlichen Lostrennung der besetzten Rheinlande zurück und beugte sich einer alliierten Note, welche den Widerruf jenes Verfassungsartikels verlangte, wenn er dann auch absichtlich in einer formal unzureichenden Weise geschah.

In Wien und noch mehr in den Alpenländern wurde freilich die Anschlußidee schon aus der eigenen Notlage heraus als wesentlich empfunden und kam noch lange nicht zur Ruhe, als der Kampf um die Grenzen mit der glücklichen Kärntner Volksabstimmung und der ungünstigen Regelung der Ödenburger Frage zum Abschluß gekommen war. Die neue Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 suchte zwar unter den Auswirkungen von St. Germain vom ausgesprochenen Provisorium durch Betonung der (hier aus einer vorhandenen strafferen staatlichen Zusammenfassung hervorgehenden) Länderföderation zu mehr stabilen Formen zu gelangen, wie denn erst sie im Bundespräsidenten ein Staatsoberhaupt geschaffen hat. Aber seine Befugnisse - acht Jahre lang bis 1928 bekleidete diese Würde der anschlußfreundliche Privatgelehrte Dr. Michael Hainisch - blieben doch weit unter denen des Reichspräsidenten; wurden doch sogar die Bundesminister vom Parlament, d. h. von den Parteiausschüssen "gewählt". Die neuösterreichische Staatswerdung war eben, indessen die Bundesländer mit Einschluß des dazukommenden Burgenlandes ein kräftiges Eigenleben als Gaue entwickelten, noch sehr unvollkommen und die wortreiche neue Verfassungsurkunde mit ihren Symbolen war [21] ein Notbehelf, die wie die erste noch dazu an der blutleeren "reinen" Rechtslehre des jüdischen Professors Kelsen litt. Die ungeschriebene, aber wirksame Verfassung der Zentralgewalt des Landes ergab sich wie seit je und eh nach dem Oktober 1918 aus einer Kombination des Kräfteverhältnisses der drei hauptsächlichen, politischen Parteien und der "unpolitischen", ebenfalls aus der Monarchie ererbten Bürokratie!

Auch die nach dem Zerfall des K. u. K. Heeres noch beibehaltene höchst bescheidene Wehrmacht nahm nicht eine der Reichswehr vergleichbare Stellung als Element einer echten Staatsgewalt ein, sondern blieb eine innenpolitisch bestimmte und aus Spargründen sogar wesentlich unter der bewilligten Zahl von 30 000 Mann gehaltenen Truppe. Chef der allen marxistischen Einflüssen ausgesetzten und noch dazu pazifistischen Volkswehr von 1918 bis 1920 war der jüdische Staatssekretär Dr. Julius Deutsch, der sich nach seinem Sturz auf die Organisierung des sogenannte Republikanischen Schutzbundes, einer proletarischen Zivilwehrformation, verlegte. Minister des reorganisierten und verbürgerlichten Bundesheeres aber blieb von 1920 bis 1933 der christlichsoziale Parteipolitiker Carl Vaugoin. Das war gleichzeitig für die Dauerhaftigkeit der Oktoberverfassung bezeichnend, da sogleich mit den ersten nach ihr vorgenommenen Wahlen die innenpolitischen Machtkreise in ein gewisses Gleichgewicht gebracht wurden, das den Bürgerlichen die Bundesregierung und den Sozialdemokraten die Verwaltung der Bundeshauptstadt überließ. Dabei handelte es sich nicht so sehr darum, daß Wien (aus dem historischen Lande Niederösterreich ausgeschieden) nun eins der neun Bundesländer darstellte, als vielmehr um die angesichts der kleinösterreichischen Verhältnisse überragende, hier zusammengeballte Wirtschafts- und Steuerkraft, über die das rote Rathaus fast souverän verfügte - galt es doch all die Jahre hindurch immer wieder einen förmlichen Ausgleich zwischen den einander widerstrebenden Finanzsystemen des jeweiligen bürgerlichen Ministers und des Wiener Finanzreferenten oder eigentlich -diktators Hugo Breitner, eines ehemaligen jüdischen Bankfachmannes, zu finden. Dabei nahm Breitner, der sich inmitten [22] des Kreuzfeuers zwischen bürgerlich-jüdischer und marxistisch-jüdischer Presse sehr wohl behauptete, energisch den Vorteil wahr, den er gegenüber seinen wechselnden Kollegen vom Ministerium durch seine unbedenklichen Rückgriffe auf die Wiener Kapitalreserven hatte, während der "unabhängige" Staat und seine Währung nicht aus den Kreditsorgen und der Kreditsuche im Ausland herauskamen.

Mochten die regierenden Faktoren mit mehr oder weniger Unvermögen die Einlösung der Kreditversprechungen der Großmächte betreiben, um das ohne viel Überlegung zur Selbständigkeit verurteilte Staatswesen vor dem sonst ganz sichern Untergang im Chaos zu retten, so bestärkte dies nur weiteste Schichten der Bevölkerung in ihrer Überzeugung vom Herannahen der bald unvermeidlichen, letzten Entscheidung und da schien trotz allem, was an Tributversklavung und Inflation, Besetzungsschrecken und rotem Aufruhr aus Deutschland gemeldet wurde, nur eine Stellungnahme an der Seite des Reiches möglich. Die in Berlin geltend gemachte, eigene, verzweifelte Lage traf dagegen in der Ostmark auf das ursprüngliche richtige Gefühl, daß der mit dem Anschluß von selbst sich einstellende nationale Aufschwung wohl eher den Weg ins Freie finden würde als das zermürbende Feilschen um die Ausführungsbestimmungen des Diktats, das damals deutsche Außenpolitik hieß. Als der für das ganze Staatsgebiet (anläßlich der Annahme der neuen Verfassung) in Aussicht genommene Volksentscheid undurchführbar erschien, begannen die kerndeutschen Bundesländer - Tirol und Salzburg voran! - von sich aus Abstimmungen mit einem wunderbaren, fast einstimmigen Anschlußbekenntnis! Dieses allein vermochte die Parteienzerklüftung der Zeit wenigstens in einigen großen Momenten zu überwinden. Es wäre durchaus abwegig, die sinkenden Wahlerfolge der Großdeutschen Volkspartei zum Maßstab der Anschlußbestimmung im damaligen Österreich zu machen, wenn auch diese aus dem früheren Deutschen Nationalverband hervorgegangene rechtsbürgerliche Gruppe die Anschlußforderung voranstellte, wie es auch der ihr einigermaßen verwandte Landbund tat. Entscheidend für die Beurteilung der Lage dagegen kann gelten, daß die Bejahung der Anschlußidee in allen [23] Parteiprogrammen, in allen politischen Kundgebungen von einigem Rang aufscheint - ein unbedingt überzeugende Ausdruck der Volksmeinung, wenn auch die Verallgemeinerung der Anschlußidee unvermerkt ihrer Zielstrebigkeit Abbruch tun mochte und noch mehr ihre Vermengung mit bürgerlichen oder gar marxistischen Sonderanschauungen Gefahren in sich barg. Am ehesten können die zwei großen Bünde, de damals den lebhaftesten Aufschwung erreichten und schon die Feindschaft der Marxisten und das Mißtrauen der Bürgerlichen erfuhren, der auf dem strengen Rassenstandpunkt begründete Deutsche Turnerbund und der Deutsche Schulverein (besonders in seinen in die Jugendbewegung hineinreichenden Schülergruppen), und dazu die sogar für das Reich richtungweisende Deutsche Studentenschaft der Hochschulen als Wegebereiter für einen kommenden Nationalsozialismus angesehen werden. Nur in Salzburg, wo die Nationalsozialisten schon im Volksabstimmungskampf hervortraten, und Hitler und Göring von München her zu Besuch kamen, war der Einfluß der damals wesentlich auf Bayern beschränkten Freiheitsbewegung unmittelbar spürbar und verband sich hier auch auf gemeinsamen Tagungen mit der längst im Sudetendeutschtum heimischen, gewerkschaftlich ausgerichteten älteren nationalsozialistischen Partei.

Gemäß der rein parlamentarischen Grundlegung des neuen Staates trat seit seiner Geburtsurkunde eine Vielzahl von politisch tätigen Personen in Erscheinung, die meisten nur deshalb, weil sie Funktionäre einer Partei waren; einige wenige hingegen, die mehr hätten bedeuten können, wurden wieder durch das Parteiensystem in den Niederungen ewiger "Packelei"
Präsident Seitz und Staatssekretär Dr. Deutsch.
[64a]    Präsident Seitz und Staatssekretär Dr. Deutsch gehen vom Parlament zur Volkswehrdefilierung und Arbeiter-Maifeier. 1. 5. 1919.
(wie man hierzulande den politischen Kuhhandel bezeichnete) festgehalten. Die drei Präsidenten der Nationalversammlung, von denen die ersten Kundgebungen des neuen Gemeinwesens an das deutsch-österreichische Volk gezeichnet waren, repräsentierten die Parteien in der damals zeitgemäßen, soziologischen Treue: der Sozialdemokrat Seitz, der spätere, bekannt gut gekleidete Wiener Bürgermeister, der als ehemals von Lueger gemaßregelter Lehrer das gegen die Schwarz-Gelben rebellierende Wiener Kleinbürgertum mit der eigentlich marxistischen Arbeiterbewegung zusammengeführt hatte; der Christlich- [24] soziale Hauser, der langjährige Linzer Landeshauptmann, obwohl Prälat und in der Monarchie sogar Geheimer Rat, der jungen Anschlußidee ergeben, und sich wie nur einer in der neuen Demokratie gut zurechtfindend; der "Großdeutsche" Dinghofer, vorher mit den Stimmen des freisinnig-nationalen Bürgertums Bürgermeister von Linz, von Beruf Richter und mehr "objektiv" als begeisternd in seiner Anschlußarbeit. Die rot-schwarze Koalitionsregierung, die St. Germain unmittelbar zu verantworten hatte, besaß in der Zeit der häufigen Abwesenheit Renners von Wien den christlichsozialen Agrarier Jodok Fink aus Vorarlberg zum Vorsitzenden, einen Mann, der selbst den Pflug zu führen verstand und trotz vorgerückten Alters als Parlamentarier eine erstaunliche Gewandtheit bestätigte; als er sehenden Auges das Scheitern seiner Idee von neuer Bauerndemokratie erlebte, zog er sich wieder mehr und mehr ins Ländle zurück.

Der einmalige Repräsentant des "demokratischen" Versuchs einer "Regierung der Arbeiter, Bauern und Bürger" aber war der Staatskanzler Dr. Karl Renner, der als Haupt der Friedensdelegation von allen Deutschösterreichern damals der Welt am bekanntesten war. Dieser viel mehr professoral als sozialistisch auftretende, schon sehr "gemäßigte" Sozialdemokrat hatte seine Karriere vom wissenschaftlichen Beamten der Parlamentsbibliothek und politischen Schriftsteller durchlaufen. Seine ihm bis zuletzt treu gebliebene Eigenschaft, aus jeder Lage irgend etwas Positives herauszufinden oder wenigstens herauszusuchen, machte ihn 1918/20 so unbestritten zum Mann der Stunde, daß ihm sogar die Unterzeichnung des Diktats (die er zum Unterschied zu Brockdorff-Rantzau vornahm) von niemandem andern abgenommen werden brauchte. Wohl fand er gegenüber dem Haß und Vernichtungswahn der Feinde manch Wort von Würde und Bedeutung, doch sein politischer Charakter verlor sich vielzusehr in den Übergängen seiner Generation, um sich in einem Wettersturm ohnegleichen durchzusetzen. Clemenceau wußte, daß der Mann, der von ihm jetzt den "Anschluß" forderte, seine bisherige Gelehrtenarbeit an die politisch-juristische Konzeption eines großösterreichischen Völkerbundesstaates gewandt hatte. Renner selbst empfand [25] wohl gar nicht die Gefahr der von ihm schon in St. Germain eingeschlagenen, taktisch gemeinten "westlichen Orientierung" (die damals auch Antibolschewismus bedeuten sollte) und die Aussichtslosigkeit des nachher auf Grund altösterreichischer Gewohnheiten versuchten Kurses der Annäherung an die Tschecho-Slowakei (die freilich die unentbehrlichen Kohlen als Druckmittel benützte und sich auch gegen die von Horthy-Ungarn her drohende "Reaktion" anbot). Renners ganzes System, das die drei Parteigruppen für einige Notlösungen unter einen Hut brachte, ist im Grunde nichts als Taktik gewesen, die ausreichte, solange die Grenzen des Landes nicht einmal im Umriß feststanden und das der Wiener Regierung noch unterstehende Gebiet zeitweilig sogar in der Schnittlinie der Räterepubliken Budapest und München lag. Viel mehr als der nie in den Massen herrschende Renner drohte sein dem Heeresverderber Jul. Deutsch und dem berüchtigten Chefredakteur der Wiener Arbeiterzeitung Austerlitz rassen- und seelenverwandter, damalige Staatssekretär Dr. Otto Bauer zum Schicksal des jungen Gemeinwesens zu werden. Er trat das Erbe des am Tage vor der Ausrufung der Republik verschiedenen, ersten nominellen Chefs der Auswärtigen Angelegenheiten Deutschösterreichs, des Dr. Viktor Adler, an - beide typische, durch den Marxismus sich politisch emporarbeitende, aus der jüdischen Bourgeoisie stammende Gehirnmenschen, nur daß der Jüngere auf die von Adler noch zur Schau getragene, altrevolutionäre Biedermannspose (samt Schlapphut) verzichtete. Im Gegensatz zu Renner hatte Otto Bauer sich schon in seiner Jugendschrift eine dialektische Theorie des "proletarischen" Nationalismus zurechtgelegt - er war ja schließlich ein Fabrikantensohn aus dem deutsch-böhmischen Industriegebiet - und jetzt trat er mit messerscharfen Argumenten für den Anschluß an die deutsche "Republik" ein, ohne vom Glauben des Deutschen an das "Reich" auch nur einen Hauch zu verspüren, aber auch ohne bei der angerufenen Solidarität der Internationale Eindruck zu machen.

Im Gegenteil, der um Otto Bauers "Austromarxismus" entbrennende Streit bot den von gewissen kapitalistischen und klerikalen Kreisen angezettelten und vom Ausland geförderten [26] Umtrieben gegen den Anschluß einen brauchbaren Ansatzpunkt: der soziale Stellungskrieg gefährdete in seinen Auswirkungen auch die wesensverschiedene, um die Volkseinheit geführte Volksbewegung, und begünstigte die wirtschaftlichen Gesichtspunkte der anhebenden Bürgerblockpolitik. Das Pendel war zuerst ungemein nach links ausgeschlagen. Die sozialdemokratische Führung hielt die ihr hörigen Massen vor "Unbesonnenheiten" zurück, wie sie etwa beim sinnlosen Sturm der sogenannten Roten Garde der Volkswehr auf das Parlamentsgebäude schon am 12. November 1918 zutage traten und die auf das Schuldkonto von jüdischen Literaten nach Art des "rasenden Reporters" Egon Erwin Kisch oder des nachmals hochkonservativen Franz Werfel, der damals noch zum "Sturm auf die Paläste" aufrief, zu setzen waren. Auch die vom Ausland her genährten kommunistischen Anschläge vom 17. April und vom 15. Juni 1919 scheiterten und Revolten wie Berlin hat Wien zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen. Dafür setzte der Staatssekretär Hanusch eine in Europa bisher unbekannt großzügige Sozialgesetzgebung ohne Rücksicht auf die Tragfähigkeit von Staat und Wirtschaft durch; die Sozialisierung von einzelnen Großbetrieben veranlaßte kostspieligste Versuche, Adelstitel und Orden wurden restlos beseitigt, alle Erzherzöge landesverwiesen, das habsburgische Vermögen zugunsten der Kriegsinvaliden beschlagnahmt, aber auch die Kriegsanleihen wurden nach dem bösen Worte "Krone ist Krone" restlos entwertet usf. - das alles "verfassungändernd" mit den Stimmen der eingeschüchterten Bürgerlichen! Die karlistischen Staatsstreichversuche von 1921 in Ungarn gewannen nur für die Hinauszögerung der Landnahme des Burgenlandes Bedeutung. Im Fortgang der Zeit kristallisierte sich aber im Rahmen der demokratischen Freiheiten und Einrichtungen eine Abwehr, die, durch ihre Geldgeber ermutigt, gegen die bürgerliche Flaumacherei auf der ganzen Linie Stellung nahm. Ergab sich hiermit außer der Gefahr einer sozialen Reaktion statt der Aufrichtung einer echten Volksgemeinschaft nicht auch eine Verdunkelung des nationalen Hochziels? So konstruierte etwa der junge Wiener Professor Othmar Spann in seinen überfüllten Vorlesungen unter dem Titel "Der wahre Staat" ein berufs- [27] ständisches, romantisches Idealgebäude ohne Bezogenheit auf Volkstum, Raum und Rasse, speiste den antimarxistischen Affekt ohne die Würde des Politischen in der Geschichte wiederherzustellen. Um so mehr blickte der für den Tagesgebrauch bestimmte "Antimarxismus" der Wiener Klerikalen Schmitz, Vaugoin und Kienböck zurück auf die gute, alte Zeit und ersparte sich über der Sorge um den bedrohten Lebensstand des Bürgers - die Arbeiterlöhne liefen während der nun wild einsetzenden Inflation noch am leichtesten mit - eine grundsätzliche Neuorientierung in der Welt ringender junger Völker.

Man hielt nach Persönlichkeiten Ausschau, welche die Schrift der neuen Zeit zu lesen verständen, dem Gegner geistig überlegen wären und doch wenigstens mit einem Teil ihres Wesens im alten Österreich verhaftet sein sollten. Renner hatte, wie wir gesehen, auch in diese Richtung weisende Qualitäten, kam aber als Erwählter der Roten, sobald er einmal über die leidige Reorganisierung der Volkswehr gestürzt war, nicht mehr in Frage. Sein unmittelbarer Nachfolger, der klerikale Professor Michael Mayr aus Innsbruck, zuerst Vorsitzender eines von allen Parteien beschickten "Proporzkabinetts", nach Annahme der Oktober-Verfassung und den Wahlen von 1920 der erste "Bundeskanzler", stützte sich schon auf eine rein bürgerliche Mehrheit; er verfügte aber nicht einmal bei den ihm nahestehenden Christlichsozialen der Bundesländer über die nötige Autorität, die noch im Kampfe um inflationshemmende Ententekredite und die Durchführung der von der Entente bekämpften Länderabstimmungen für den Anschluß vollends aufgerieben wurde. Die in den beiden nationalen Gruppen im Parlament, Großdeutsche Volkpartei und Landbund, tonangebenden Männer gelangten schon wegen der Mehrheitsverhältnisse niemals wirklich an die Führung im Staate, wenn sie auch u. a. den Vizekanzlerposten und die Berliner Gesandtschaft in der Regel besetzten. Von ihnen hat der Beamtenvertreter Dr. Waber immerhin den einzigen, ernstgemeinten Versuch gemacht, der nach Friedensschluß noch immer andauernden ostjüdischen Zuwanderung nach Wien den Riegel vorzuschieben; in der Friedensdelegation haben die der bürgerlich- oder bäuerlich-nationalen Richtung zuzuzählenden Wiener Professoren Franz [28] Klein und Schönbauer fachlich ausgezeichnete, wenn auch im Erfolg vergebliche Arbeit geleistet und der hervorragende Handelspolitiker Richard Riedl konnte den als ersten deutsch-österreichischen Gesandten in Weimar und Berlin wirkenden jüdischen Professor Ludo Moritz Hartmann auf diesem wichtigsten "Auslands"posten ablösen. Für die Übernahme des Bundeskanzleramtes aber ließ sich nach Mayrs ruhmlosem Abgang der in der ganzen Umsturzzeit als "parteiloser", hoher Beamter bewährte Präsident Joh. Schober überreden. Doch auch er vermochte damals nicht das rettende Ufer zu gewinnen. Als er nach seiner Enttäuschung in der Ödenburger Frage sich durch einen gemeinsam mit Hainisch unternommenen Besuch in Lana Masaryk-Benesch als den Gegenspielern Italiens im Donauraum näherte, da verlor er durch den Abfall der Großdeutschen von seiner bürgerlichen Mehrheit den Boden unter seinen Füßen, woran auch seine Teilnahme an der Genueser Weltwirtschaftskonferenz vom April 1922 nichts mehr änderte. Ihm stand aber die Rückkehr in die Wiener Polizeidirektion offen, die ihn für die Zukunft des österreichischen "Antimarxismus" in eine überlegene Reservestellung rückte.

Doch nun verlangte die Stunde, deren Zeiger beängstigend vorrückte, das verzweifelte Wagnis der Selbstbehauptung auf einem neuen, noch unbekannten Wege. Es war nur in einem Staat wider Willen möglich, daß die rote Opposition selbst ihren undurchsichtigsten Gegenspieler zur Übernahme der "Macht" oder dessen, was man dafür noch ausgab, aufforderte und die überdemokratische Republik Österreich nach dem im Grunde das Parlament verachtenden, ehemals kaiserlichen Polizeichef einen asketischen Prälaten zum Bundeskanzler erhielt.


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Der Staat wider Willen
Österreich 1918-1938
Dr. Reinhold Lorenz