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Vom "Kriegsreich" der Mittelmächte
zum Notstaat von St. Germain
Am 12. November 1918 beschloß die im Wiener Parlamentsgebäude
zusammengetretene deutschösterreichischen
Nationalversammlung - einen Tag nach dem Verzicht des letzten
habsburg-lothringischen Kaisers auf die Ausübung der
Regierungsgeschäfte - einstimmig ein Staatsgrundgesetz ganz
besonderer Art. Es erklärte den eben neugegründeten Staat
"Deutschösterreich" für einen "Bestandteil der Deutschen Republik".
Auf Grund des demokratischen Selbstbestimmungsrechtes lösten die bisher
der Monarchie angehörigen, nichtdeutschen Völker alle
Gemeinschaft mit Wien. Aber hatte jene revolutionierende Losung, als deren
Schildträger die Westmächte und vor allem der demokratische
Heiland unter dem Sternenbanner erschien, nicht auch die Deutschen ohne
Rücksicht auf die bisher geltenden Grenzen geistig überwältigt
und war sie nicht auch von den Mittelmächten in rechtsverbindlicher Form
als Friedensparole angenommen worden? So beriefen sich denn in der Stunde, da
jeder ein neues Heim sich sicherte, die Deutschen
Österreichs - es waren ja in dem griechischen Tempel am
Franzensring zunächst noch alle Abgeordneten deutschen Bekenntnisse aus
den früheren Parlament versammelt - mit Stolz und Freude auf das
Selbstbestimmungsrecht, das sie auf die größere Gemeinschaft des
Reiches verwies und mitten im Zusammenbruch der bisherigen
Donaugroßmacht offenbar auch ihrem Schicksal einen tieferen Sinn
verleihen sollte. Hatte doch ihr Blutzoll (29 Gefallene von 1000 Soldaten)
sogar die anderen deutschen Stämme hinter sich gelassen.
Als in diesen Spätherbstwochen 1918 sich endlich die Weltkriegsfronten
aus Erde, Stahl und Feuer auflösten, und an Stelle der bis zuletzt nicht
eindeutig erreichten Waffenentschei- [10] dung die Umrisse der kommenden
Friedensordnung treten sollten, da verwandelte sich allenthalben Grauen und
Größe des Krieges in einen Rausch des Jubels, als ob die
abgeschüttelte Last der vergangenen Jahre allein den hemmungslosen
Genuß der "Freiheit" rechtfertigen würde. Wenn drüben im
November-Deutschland der "Sieg des Volkes über den Obrigkeitsstaat"
gefeiert werden konnte, so verlor sich auch Ungarn, dem nicht weniger
Furchtbares bevorstand, in einen Taumel der Freude über die ihm
zugefallene, volle staatliche Unabhängigkeit. Aber auch auf Seite der
Gewinner dieses unter dem Namen Wilsons vor sich gehenden, grausamen Spiels
von Kriegsnot und Friedenslist ließ man sich, mehr als gerechtfertigt, vom
Glück der Stunde überwältigen. Da erstand, noch über
die Grenzen vor seiner ersten Teilung hinausgreifend, das neue Polen; da bildete
sich, weit über den Umfang seines eigenen Volkstums, ja selbst der
historischen, böhmischen Länder hinaus die Tschechoslowakei; da
erfüllte das Königreich Rumänien die kühnsten
Träume seiner Irredenta und aus Serbien erstand wie mit einem
Zauberschlage das dreieinige Königreich der Südslawen. Warschau,
Prag, Bukarest, Belgrad wurden so über Nacht Brennpunkte von neuen
Machtkreisen, die mit ihrer eigenen, völkischen Forderung da und dort in
Widerspruch gerieten, wobei freilich die Tschechen die andern noch weit hinter
sich ließen. Ihnen allen erschien damals die französische
Vorherrschaft in Europa als Ursprung und Bürgschaft ihrer Freiheit, die aus
dem Triumph der demokratischen Westkoalition über die
Mittelmächte, über die Deutschen, über Österreich und
Ungarn phönixgleich hervorgegangen sei.
Begann aber damit das neue, politische Leben der Ostvölker nicht mit
einem verhängnisvollen Trugschluß? Gewiß gab damals
für die Machtverteilung in dem breiten Vielvölkerraum zwischen
Deutschland und Rußland die mit den westlichen Großmächten
verbundene Rebellion gegen das dynastische Mitteleuropa vor 1914, die bis zu
den ausgewanderten Volksgenossen im fernen
Amerika ihre Wellen geworfen hatte, den Ausschlag. Doch das an der
Oberfläche nur durch den gänzlichen Zusammenbruch der deutschen
und der österreichischen Politik gekennzeichnete neue Mitteleuropa von
1918/19 ist im [11] Grunde die Schöpfung des nun sogar oft
im eigenen Lande verleugneten, deutschen Frontsoldaten gewesen. Er hatte durch
die Zurückdrängung Rußlands tief nach dem Osten und durch
die Zerstörung des Panslawismus als geschichtlicher Macht erst die
volklichen Einigungen ermöglicht, die jetzt ihre Machtspitze mit
Frankreich gegen Deutschland vereinigten. Ohne seine weltbewegenden Taten
und im Sinne der Pariser Allianzen wären Warschau, Prag, Bukarest,
Belgrad nichts als die Hauptstädte moskowitischer Satrapien geworden.
Hinter den gegen Rußland erreichten Ostlinien der Mittelmächte
waren erstmalig die Südslawen und die Rumänen, die Tschechen und
Slowaken, die Polen und die kleineren Ostseevölker unter ein und
derselben politischen Ordnung vereinigt - ein Vorgang, der für die
Zukunft des 20. Jahrhunderts viel wesentlicher geblieben ist als die blutleeren, der
Wirklichkeit unkundigen, aber die Geister verwirrenden, vom Washingtoner
Kapitol herunter verkündeten Lehren Wilsons. Allein welche
wirtschaftliche Aussichten hat "der Deutsche Krieg" allen Ostvölkern durch
die Befreiung der Donau und der Weichsel von allen politischen Barrieren und die
dann leicht mögliche Verbindung von ost- und
westmitteleuropäischen Strom- und Wirtschaftsgebieten eröffnet, an
deren Stelle nun noch mehr Zollschranken als vorher und eine völlige
Abhängigkeit von den raumfremden Westmächten traten! Dabei
täuschte nur die gleichzeitige, weltpolitische Aktionsunfähigkeit des
demokratisierten Deutschland und des bolschewisierten Rußland über
die Unhaltbarkeit einer Stellungnahme der Ostvölker und ihrer westlichen
Protektoren hinweg, die jede sinnvolle Neuordnung in dem nun einmal auch von
80 Millionen Deutschen bewohnten Mitteleuropa unmöglich machte und
damit auf weite Sicht die asiatische Zersetzung der uns und dem Nahen Osten
gemeinsamen Bluts- und Kulturwerte begünstigte.
Aber wir müssen diese Überlegungen auf Deutschland selbst
zurückwenden. Die Tragödie der nach Bismarck führerlosen
Mittelmächte hob schon mit dem ersten Schritt über die
polnisch-russische Grenze an und sie steigerte sich mit jedem ihrer großen,
auch von der feindlichen Welt bestaunten Ostsiege nur noch mehr. Denn die
dadurch eingeleitete, unaufhalt- [12] same Selbstzerstörung des seit Friedrich
dem Großen und Maria Theresia
eingewöhnten (nur durch Napoleon
vorübergehend aufgehobenen) Grundverhältnisses der drei
dynastischen Ostmächte bedeutete eine Revolution, der die Träger
der bisherigen, staatlichen Ordnung nicht gewachsen waren. Die dynastischen
Lösungsversuche z. B. in der polnischen Frage blieben
unzulängliche Improvisationen und die verräterischen Experimente
des Hauses Parma-Bourbon waren im Grunde nur von der hilflosen Einsicht
eingegeben, daß das deutsch-österreichisch-ungarische
Bündnis zwischen 1879 bis 1914 so oder so seinem Ende entgegengehe.
Die Bilder von Kabinettsintrigen eines sinkenden Herrschertums, um die nach
dem Friedensschluß sonst unvermeidliche deutsche "Vorherrschaft"
abzuwenden, erhielten noch im Kriege einen diese Perspektive immer wieder
durchbrechenden Hintergrund von großzügigen
Zusammenschlußarbeiten auf wirtschaftlichem und wehrpolitischem Felde.
Die amtliche und verantwortliche Politik gelangte gerade im Zuge von
unvermeidlichen Reaktionen auf die Sixtus-Diplomatie zum höchst
bemerkenswerten deutsch-österreichisch-ungarischen Zollunionvertrag von
Salzburg und zur Vorbereitung eines entsprechende
Militärbündnisses, wie es ungeachtet aller Waffenbrüderschaft
vor dem Kriege nicht denkbar gewesen wäre, und es ist kein Zufall, wenn
die dabei geistig führenden Männer (Richard Riedl,
Glaise-Horstenau und Bardolff) noch 20 Jahre später am
tatsächlichen Vollzug des Anschlusses ihren Anteil hatten. Aber entbehrten
diese großzügig dem Gebot der Stunde folgenden,
mitteleuropäischen Arbeiten schon des unmittelbaren Einsatzes der
höchsten Führung der beiden monarchischen Reiche, so daß
alle anderen Absichten sich ihnen untergeordnet hätten, so war es um das
Verhältnis zwischen Kriegszielformung, öffentlicher Meinung und
parteimäßiger Mehrheitsbildung ebenso schlecht bestellt. Der
ursprüngliche "Burgfriede", der das amtliche Verbot der Kriegszieldebatten
einschloß, wich dem offenen Kampf der Reichstagsmehrheit um die
Festlegung Deutschlands auf einen Frieden "ohne Annexionen und
Kontributionen", als ob der Friedenswille oder vielmehr die Fähigkeit zur
Durchsetzung des Friedens bloß durch Verzichte und nicht vielmehr durch
[13] politische Neuschöpfungen unter Beweis
zu stellen sei. Aber auch die dagegen aufgebotenen, aktivistischen
Gegenkräfte versagten durch ihre Unfähigkeit zu einer
überzeugenden Umgrenzung des alles entscheidenden, deutschen
Kriegszieles in Mitteleuropa und im Nahen Osten, dem alle außerhalb
gelegenen, an sich noch so wünschenswerten Pläne geopfert werden
könnten. Der so im Ergebnis gerade nach dem Untergang des alten
Rußland, in einer Stunde gewaltigster
militärisch-politischer Möglichkeiten sichtbar eingetretene Verfall
der nationalen Willensbildung verquickte die außenpolitische Zielsetzung
völlig mit innenpolitischen Machtansprüchen, wie etwa die
Reichstagsmehrheit der sogenannten Friedensresolution von 1917 geradezu die
Weimarer Koalition von 1919 vorwegnahm.
Auf anderer Ebene bildete das erst mit Mai 1917 vom jungen Kaiser Karl
einberufene Parlament des österreichischen Vielvölkerstaates unter
Zurückstellung des Parteipolitischen bei all den Tschechen, Polen und
Südslawen fest umrissene, national-politische Gruppen aus, die unmittelbar
zu den staatsgründenden Nationalräten des Spätherbstes 1918
hinüberleiteten. Nur die Deutschösterreicher, die auch weiterhin in
den bürgerlich-völkisch ausgerichteten Deutschen Nationalverband,
in die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten zerfielen, sie
beschränkten sich auf innenpolitische Reformwünsche,
Unterstützung des deutschen Bundesverhältnisses und (abgesehen
von den Marxisten) auf allgemeine Siegeshoffnungen. Der Kampf der volklichen
Feinde der Deutschösterreicher gegen Staat und Dynastie schien ihnen,
entgegen Schönerers Warnungen, den überlieferten "Patriotismus"
nur noch zu rechtfertigen, der durch ihre namenlosen Opfer dafür immer
neue Weihe bekam. Erst als die Unhaltbarkeit der Lage immer offenkundiger
wurde und mit dem Oktober-Manifest Kaiser Karls sich die völlige
Umgliederung der historisch-territorialen Verhältnisse Südosteuropas
ankündigte, da trat endlich auch der Zusammenschluß der
deutschösterreichischen Abgeordneten zu einer (provisorischen)
Nationalversammlung in Erscheinung. Nach all dem Vorangegangenen und in
Ermangelung einer wirklichen Führerbegabung fiel nun zum Unterschied
von den andern Na- [14] tionalparlamenten in
Wien den Sozialdemokraten die leitende Rolle zu, weil sie ja am leichtesten den
notwendig gewordenen Bruch mit der altösterreichischen Vergangenheit
vollzogen. Unter diesem Gesichtspunkt gewann ihre hemmungslose Opposition
gegen die materiellen und gegen die moralischen Staatsnotwendigkeiten
besonders während der letzten zwei Kriegsjahre scheinbar sogar noch eine
Möglichkeit zu fruchtbarem Einsatz in der geschichtlichen Verantwortung.
Die von ihren Urhebern als Angriffswaffe gegen die Mittelmächte gemeinte
Losung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes der Demokratie war von der
reichsdeutschen wie von der deutsch-österreichischen Linken als eine
doktrinäre, gegen den gespenstischen Annexionismus sehr brauchbare
Formel aufgegriffen worden. Nun, da mit durch ihre Schuld die Macht der
deutschen Mitte Europas in Nichts zerronnen war, trat mit einem Male die
parlamentarische Demokratie in ihre unerbittliche Bewährungsprobe ein. Es
war eigentlich zuerst das Selbstbestimmungsrecht der andern, das aus den
Trümmern jahrhundertealter, wenn auch oft schlecht genug
bewährter Vielvölkergemeinschaft ein neuartiges,
deutschösterreichisches Staatswesen hervorgehen ließ, dessen
Geburtsurkunde schon seine Preisgabe zugunsten einer neuen, höhern
politischen Gemeinschaft hervorhob. Denn erst hiermit war ein Brennpunkt des
Gemeingefühls gegeben, der noch das anhebende Chaos aufhielt, und
verzweifelte Pläne, wie einen "Anschluß" Vorarlbergs an die
Schweiz, überfällig machte. Sinnbildlich für seine elementare
Wucht ist die Durchschlagskraft der an der Stelle des monarchischen
Schwarz-Gelb gehißten Ostmark-Farben Rot-Weiß-Rot gewesen. Sie
waren damals für die Ostmark Bekenntnis zum Reich, als dieses selbst
eines einigenden Fahnensymbols entbehrte. Und die später ebenso wie die
Farben mißbrauchte, zum Ersatz für das Deutschlandlied dienende
"Bundeshymne" - ein Versuch Renners, selbst ein
Alpenländerbundeslied abzufassen, ist der Lächerlichkeit
verfallen - war ursprünglich ein schlichtes Lied an die deutsche
Heimat Österreich von dem steirischen Pfarrer Ottokar Kernstock, der als
der ersten einer auch das Hakenkreuz im roten Felde besang.
Dieses Bekenntnis Deutschösterreichs zum Reiche in der [15] Stunde von dessen größter
Erniederung ließ die Welt aufhorchen, mochte es auch denen nicht
unerwartet kommen, die sich die Zerstörung des Bismarckschen
Mitteleuropa zum Kriegsziel gesetzt hatten und deshalb den Ereignissen nicht so
unvorbereitet als der Deutsche selbst begegneten. Sogar die Führer der
tschechoslowakischen Irredenta hatten in früheren, vertraulichen
Überlegungen zugegeben, daß das Ende der
Habsburger-Monarchie auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes den
Anschluß der deutschen Österreicher an das Reich nach sich ziehen
würde. Italien begünstigte, schon um einer späteren
Habsburger-Restauration vorzubeugen, eher eine solche Entwicklung und
England hätte von sich aus nichts dagegen einwenden können. Nur
Frankreich hat darin von allem Anfang an und ohne irgendwelche Bedenken
sozusagen eine Todsünde wider den Geist des Sieges, die dauernde
Zerstörung der deutschen Machtgrundlagen, gesehen und danach gehandelt.
Wenn die Dritte Republik mit unter dem Einfluß Italiens und der
"Tschechoslowaken" ihre Hand vom Hause
Bourbon-Parma zurückzog, was auch Clemenceaus persönlicher
Stellungnahme vollständig entsprach, so richtete nun "der Vater des
Sieges" um so mehr seine brutalen Schläge gegen jeden Versuch zur
Verwirklichung des "Anschlusses", wie das Vokabel damals in den politischen
Sprachschatz der Franzosen einging. Wilson aber hätte an diesem Punkte in
besonderm Maße den Widerspruch zwischen seiner
Welterlösungslehre und seiner Feindseligkeit gegen alles Deutsche,
zwischen maßloser Ausdehnung und Verantwortlichkeiten und der
Unkenntnis der Tatsachen empfinden können. Seine Weigerung, mit der
kaiserlichen Regierung in Wien weiter zu verhandeln, hat im Oktober 1918 die
Sprengladung entzündet, die den Einsturz des mitteleuropäischen
Gebäudes herbeiführte. Jetzt legte er in der Anschlußfrage nur
eine große Gleichgültigkeit an den Tag, da er sein
schiedsrichterliches Gewissen in diesem Falle frei von formalen Verpflichtungen
wußte und ihm das Fingerspitzengefühl völlig dafür
fehlte, welche Folgen ein so entscheidendes Versagen der Demokratie für
sein ganzes europäisches Werk über kurz oder lang nach sich ziehen
müßte. So begann die Arbeit der Gegenseite seit dem November
1918 mit der Setzung von Tatsachen, als ob das [16] Wiener Anschlußgesetz überhaupt
nicht vorhanden sei, und nachdem man der nationalen Hochflut das Wasser
genügend abgegraben hatte, ging man zur Schaffung einer
förmlichen Sperre für die Zukunft über.
Der Deutschösterreicher von 1918/19 war nach dem Aderlaß des ihn
vor allen andern erschöpfen Krieges, unter dem Druck eines furchtbaren
Waffenstillstandes und, da auch jede Hilfe aus dem novemberlichen Deutschland
ausblieb, auf Notlösungen in seinem staatlichen Wiederaufbau und sogar
auf eine gewisse Zusammenarbeit mit den ihm feindlichen Nachfolgestaaten und
Großmächten angewiesen, um nicht in Hunger, Not und Kälte
vollends unterzugehen, ehe die von der Weltgerechtigkeit erhoffte Entscheidung
noch gefallen war. In eigentümlicher Weise vermengte sich die
parlamentarische Illusion der Zeit mit der Absicht zur Herstellung eines
bloßen Übergangsverhältnisses bei der Feststellung der
Grundeinrichtungen der jungen rot-weiß-roten Republik. Ihre politische
Zentralgewalt bestand eigentlich nur aus verschieden gestuften, proportional
gebildeten Ausschüssen der drei großen Parteien, ob sie nun die auf
Grund des Listenwahlrechtes hervorgegangene Konstituierende
Nationalversammlung, der Staatsrat oder die Staatsregierung hießen; fehlte
ja selbst die Person eines Staatsoberhauptes, in deren Aufgabenbereich der
1. Präsident der Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Seitz,
eintrat. Die bisherigen Kronländer, die, ungeachtet teilweiser feindlicher
Einbrüche, jedes für sich über einen festeren, inneren
Zusammenhang als der Reststaat allein verfügten, behielten sich ein
weitgehendes Sonderleben vor; sie hingen mit Wien hauptsächlich auf dem
Wege der gemeinsamen Parteistruktur und des notwendig gemeinsamen Verkehrs
mit der Außenwelt zusammen. Aber weit jenseits der Alpengaue reichte der
grundsätzliche Hoheitsanspruch dieses provisorischen
Deutsch-Österreich hinaus: Die sudetendeutschen Abgeordneten des letzten
altösterreichischen Parlaments mit Dr. Lodgman als
führendem Kopf nahmen an der Konstituierung des neuen Staates und an
seinem Anschlußgesetz in vollem Maße teil und das Gebietsgesetz
der Republik bezog in Zusammenhang damit und gleichzeitig in
äußerster Folgerung aus dem Selbstbestimmungsrechte [17] außer dem geschlossenen,
sudetendeutschen Gebiete sogar die Sprachinseln des
böhmisch-mährischen Raumes ein. Die von den Tschechen
vertriebenen regionalen Regierungen der Sudetendeutschen ließen sich
protestierend in Wien nieder und die feierlichen Kundgebungen der
deutschböhmischen Städte am Tage des Zusammentritts der Wiener
Verfassunggebenden Nationalversammlung, zu der sie keine gewählten
Vertreter mehr hatten entsenden können, erstickte ein Blutbad; der 4. März 1919 blieb ein Fanal
sudetendeutscher Vergewaltigung. Freilich wäre der
"Anschluß" der Sudeten- an die Alpendeutschen wieder nur im
Zusammenhang mit einem föderativen Zusammenschluß aller
mitteleuropäischen Deutschen und in einer Ordnung der
Gleichberechtigung mit den Nachbarvölkern durchführbar
gewesen.
Als in gehörigem Abstand nach der reichsdeutschen Friedensdelegation
auch eine deutschösterreichische Abordnung zur Entgegennahme eines
Vertragsentwurfes nach Paris eingeladen wurde, da war es klar, daß diese
wider alle Vernunft und Billigkeit ohne jede Fühlungnahme mit der
deutschen ihre Sache würde durchfechten müssen. Obwohl Pichon
als Herr des Quai d'Orsay durch seinen besten, damals verfügbaren
Diplomaten, Mr. Allizé, in Wien seit März 1919 alle Künste
gegen den Anschluß spielen ließ, klammerten sich die
deutschösterreichischen Politiker an die Hoffnung, gerade in der ihnen
aufgenötigten, selbständigen Rolle die Resonanz der deutschen
Sache noch verstärken zu können. Der Gegensatz zwischen den
Westmächten und Italien, der die Weiterführung der Konferenz im
Frühjahr bedrohte, eröffnete tatsächlich zeitweilig Aussichten,
die in der Zusammenarbeit zwischen Wien und Berlin, Rom und Budapest viel
spätere, erfolgreiche Kombinationen hätten vorwegnehmen
können. Doch die Hilflosigkeit des damaligen Reiches, die
Bolschewisierung Ungarns und auch der Charakter des vorfaschistischen Italiens
entzogen wieder jede Voraussetzung für eine solche Auflehnung gegen die
drei demokratischen Diktatoren von Paris. Die unter der Leitung des
gemäßigt sozialdemokratischen Staatskanzlers Dr. Renner stehende,
aus den drei großen Parteien gebildete Delegation in St. Germain ging,
zumal nach der Annahme des [18] Versailler Diktats durch die Weimarer
Nationalversammlung, zur sogenannten westlichen Orientierung über, um
wenigstens die westungarische und die kärntnerische Frage günstig
zu lösen und eine leidliche, wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den
Nachfolgestaaten zu erreichen. Der endgültige, nach Protest der Wiener
Nationalversammlung doch von Renner selbst am 10. September gezeichnete
Staatsvertrag von St. Germain trägt neben den Namen der neuen
"Alliierten" Kramarsch, Benesch, Pasic, Dmowski usw. lapidar die
Unterschrift des "Tigers" Clemenceau, indessen Wilson und Lloyd George sich
persönlich schon mit den Lorbeeren von Versailles zufrieden gaben.
Der Widersinn dieses Diktats ist aber gerade von den Franzosen früher als
der ihm verwandter, anderer Erzeugnisse des verderblichen Siegerwahns erkannt
worden. Man verwendet den dem großen Reiche zugedachten "Vertrag"
ohne viel Umstände als Modell für das internationale Gesetz der
kleinen, auch noch um jeden Anspruch auf die Sudetengebiete gebrachten (ja
sogar um Grenzstreifen zugunsten der Tschechen beraubten) "Republik
Österreich", wie darin der Staat wider Willen von seinen
gewalttätigen Geburtshelfern benannt wurde. Entgegen allen noch so
begründeten Vorstellungen und ohne einen Funken Staatsräson hielt
man an der Fiktion fest, in dem Vertragsgegner von St. Germain die
geschlagene Großmacht Österreich zu vergewaltigen und zu
bestrafen, so wie eben mit Deutschland vorgegangen war. Da gab es sowohl
Bestimmungen über Flotte, Kabel u. ä., die ohnedies jedem
Anspruch Deutschösterreichs entzogen waren; da gab es problematische
Friedensfundamente wie Kriegsschuldthese und Entwaffnungsverpflichtungen,
Wiedergutmachungsverpflichtungen und Völkerbundssatzung (ohne eigene
Mitgliedschaft) ganz à la Versailles! Hier wie dort traten die
Nachfolgestaaten als kriegführende Verbündete auf Seite der
alliierten Hauptmächte auf, um einen Ring von 27 "Siegerstaaten" aller
Rassen und Erdteile um die Opfer der neuen Weltordnung zu schließen. Die
Anschlußforderung des deutschen Volkes fand scheinbar damit ihre
Erledigung, daß die in einem eigenen Artikel der beiden Diktate verankerte
"Unabhängigkeit" Österreichs als unabänderlich
fest- [19] gelegt wurde, es sei
denn, der Rat der Genfer Liga würde einer Änderung
zustimmen - was angesichts von dessen Einstimmigkeitsklausel nur als
Utopie gemeint sein konnte. Da wenigstens vorläufig trotz aller, vielleicht
sogar tödlicher Verluste und Verpflichtungen, die Einheit des Deutschen
Reiches noch aufrecht geblieben war, mußten die sechseinhalb Millionen
Südostdeutschen der Republik Österreich das lebendige Material
eines europäischen Pufferstaates abgeben, dessen man längs der
Kreuzungsstelle italienischer und französischer Hegemonieansprüche
und nord- und südslawischen Ausdehnungsdranges dringend bedurfte. Nur
unter diesem Gesichtswinkel ist auch die Rettung des Burgenlandes und
Südkärntens nach tapferer
Selbstverteidigung - sowie der spätere, praktische Verzicht auf die
Geltungmachung mancher erpreßter Rechtsansprüche zu
erklären. Hiermit war von nun an das eine, äußere Gesetz der
österreichischen Existenz vorgezeichnet; ihr anderes, inneres aber blieb die
gerade in der gemeinsam erlittenen Vergewaltigung neu bestätigte
Schicksalsgemeinschaft Deutschland-Österreich. Allein ein einziger, ganz
kurzer Artikel unter den hunderten beider Pariser Diktate sprach von ihr und dies
nur, um ein anscheinend unübersteigliches Hindernis dagegen aufzurichten.
Hier, in der Bestätigung oder Beseitigung des Anschlußverbotes lag
von da an die weltpolitische Bewährungsprobe unserer Nation, nachdem
mit ihrem Zweiten Reich zugleich auch ihr "Kriegsreich" untergegangen war, das
innerhalb seiner so erweiterten Grenzen die
großdeutsch-mitteleuropäische Frage erstmalig über Bismarck
hinausgreifend gestellt, aber nicht mehr gelöst hatte.
Ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht lähmte die Schwingen, nachdem
der Flug deutscher Utopie ins verheißene Zeitalter internationaler
Gerechtigkeit sofort in die grausamste Enttäuschung übergegangen
war. Es bleibt der politischen Phantasie das Ausmalen der Möglichkeiten
unbenommen, die ein großzügiges Eingehen der bisherigen
Feindmächte auf den Anschlußwunsch der deutschen Demokratie
nach sich gezogen hätte. Jedenfalls hat seine Nichterfüllung die
unmittelbar aus dem Zusammenbruch der Monarchien hervorgegangenen,
politischen Formen von Grund aus vergiftet, wofür ja das Schicksal
der [20] wiederaufgezogenen,
großdeutschen und nun ihres eigentlichen Sinns beraubten
48er-Trikolore sinnbildlich wurde. Gewiß begrüßte auch das
damalige "Weimar" nicht zuletzt in der Programmrede des Außenministers
Brockdorff-Rantzau das von der Donau herüberschallende
Anschlußbekenntnis; der deutsch-österreichische Gesandte nahm an
den Verhandlungen des Weimarer Verfassungsausschusses teil, und in der
Verfassungsurkunde vom 11. August 1919 selbst fand ein Satz über die
künftige Mitgliedschaft Deutschösterreichs im Reichsrat als der
Ländervertretung Platz. Doch vor der Schaffung vollzogener Tatsachen,
denen die Friedensmacher an verschiedenen Stellen Europas nachgaben, schreckte
dies hungernde und hadernde Deutschland schon aus Furcht vor der
gänzlichen Lostrennung der besetzten Rheinlande zurück und beugte
sich einer alliierten Note, welche den Widerruf jenes Verfassungsartikels
verlangte, wenn er dann auch absichtlich in einer formal unzureichenden Weise
geschah.
In Wien und noch mehr in den Alpenländern wurde freilich die
Anschlußidee schon aus der eigenen Notlage heraus als wesentlich
empfunden und kam noch lange nicht zur Ruhe, als der Kampf um die Grenzen
mit der glücklichen Kärntner Volksabstimmung und der
ungünstigen Regelung der Ödenburger Frage zum Abschluß
gekommen war. Die neue Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 suchte zwar
unter den Auswirkungen von St. Germain vom ausgesprochenen
Provisorium durch Betonung der (hier aus einer vorhandenen strafferen
staatlichen Zusammenfassung hervorgehenden) Länderföderation zu
mehr stabilen Formen zu gelangen, wie denn erst sie im Bundespräsidenten
ein Staatsoberhaupt geschaffen hat. Aber seine
Befugnisse - acht Jahre lang bis 1928 bekleidete diese Würde der
anschlußfreundliche Privatgelehrte Dr. Michael
Hainisch - blieben doch weit unter denen des Reichspräsidenten;
wurden doch sogar die Bundesminister vom Parlament, d. h. von den
Parteiausschüssen "gewählt". Die neuösterreichische
Staatswerdung war eben, indessen die Bundesländer mit Einschluß
des dazukommenden Burgenlandes ein kräftiges Eigenleben als Gaue
entwickelten, noch sehr unvollkommen und die wortreiche neue
Verfassungsurkunde mit ihren Symbolen war [21] ein Notbehelf, die wie die erste noch dazu an der
blutleeren "reinen" Rechtslehre des jüdischen Professors Kelsen litt. Die
ungeschriebene, aber wirksame Verfassung der Zentralgewalt des Landes ergab
sich wie seit je und eh nach dem Oktober 1918 aus einer Kombination des
Kräfteverhältnisses der drei hauptsächlichen, politischen
Parteien und der "unpolitischen", ebenfalls aus der Monarchie ererbten
Bürokratie!
Auch die nach dem Zerfall des K. u. K. Heeres noch beibehaltene
höchst bescheidene Wehrmacht nahm nicht eine der Reichswehr
vergleichbare Stellung als Element einer echten Staatsgewalt ein, sondern blieb
eine innenpolitisch bestimmte und aus Spargründen sogar wesentlich unter
der bewilligten Zahl von 30 000 Mann gehaltenen Truppe. Chef der allen
marxistischen Einflüssen ausgesetzten und noch dazu pazifistischen
Volkswehr von 1918 bis 1920 war der jüdische Staatssekretär
Dr. Julius Deutsch, der sich nach seinem Sturz auf die Organisierung des
sogenannte Republikanischen Schutzbundes, einer proletarischen
Zivilwehrformation, verlegte. Minister des reorganisierten und
verbürgerlichten Bundesheeres aber blieb von 1920 bis 1933 der
christlichsoziale Parteipolitiker Carl Vaugoin. Das war gleichzeitig für die
Dauerhaftigkeit der Oktoberverfassung bezeichnend, da sogleich mit den ersten
nach ihr vorgenommenen Wahlen die innenpolitischen Machtkreise in ein
gewisses Gleichgewicht gebracht wurden, das den Bürgerlichen die
Bundesregierung und den Sozialdemokraten die Verwaltung der Bundeshauptstadt
überließ. Dabei handelte es sich nicht so sehr darum, daß Wien
(aus dem historischen Lande Niederösterreich ausgeschieden) nun eins der
neun Bundesländer darstellte, als vielmehr um die angesichts der
kleinösterreichischen Verhältnisse überragende, hier
zusammengeballte Wirtschafts- und Steuerkraft, über die das rote Rathaus
fast souverän verfügte - galt es doch all die Jahre hindurch
immer wieder einen förmlichen Ausgleich zwischen den einander
widerstrebenden Finanzsystemen des jeweiligen bürgerlichen Ministers und
des Wiener Finanzreferenten oder
eigentlich -diktators Hugo Breitner, eines ehemaligen jüdischen
Bankfachmannes, zu finden. Dabei nahm Breitner,
der sich inmitten [22] des Kreuzfeuers
zwischen bürgerlich-jüdischer und marxistisch-jüdischer
Presse sehr wohl behauptete, energisch den Vorteil wahr, den er gegenüber
seinen wechselnden Kollegen vom Ministerium durch seine unbedenklichen
Rückgriffe auf die Wiener Kapitalreserven hatte, während der
"unabhängige" Staat und seine Währung nicht aus den Kreditsorgen
und der Kreditsuche im Ausland herauskamen.
Mochten die regierenden Faktoren mit mehr oder weniger Unvermögen die Einlösung der Kreditversprechungen der Großmächte
betreiben, um das ohne viel Überlegung zur Selbständigkeit
verurteilte Staatswesen vor dem sonst ganz sichern Untergang im Chaos zu retten,
so bestärkte dies nur weiteste Schichten der Bevölkerung in ihrer
Überzeugung vom Herannahen der bald unvermeidlichen, letzten
Entscheidung und da schien trotz allem, was an Tributversklavung und Inflation,
Besetzungsschrecken und rotem Aufruhr aus Deutschland gemeldet wurde, nur
eine Stellungnahme an der Seite des Reiches möglich. Die in Berlin geltend
gemachte, eigene, verzweifelte Lage traf dagegen in der Ostmark auf das
ursprüngliche richtige Gefühl, daß der mit dem Anschluß
von selbst sich einstellende nationale Aufschwung wohl eher den Weg ins Freie
finden würde als das zermürbende Feilschen um die
Ausführungsbestimmungen des Diktats, das damals deutsche
Außenpolitik hieß. Als der für das ganze Staatsgebiet
(anläßlich der Annahme der neuen Verfassung) in Aussicht
genommene Volksentscheid undurchführbar erschien, begannen die
kerndeutschen Bundesländer - Tirol und Salzburg
voran! - von sich aus Abstimmungen mit einem wunderbaren, fast
einstimmigen Anschlußbekenntnis! Dieses allein vermochte die
Parteienzerklüftung der Zeit wenigstens in einigen großen Momenten
zu überwinden. Es wäre durchaus abwegig, die sinkenden
Wahlerfolge der Großdeutschen Volkspartei zum Maßstab der
Anschlußbestimmung im damaligen Österreich zu machen, wenn
auch diese aus dem früheren Deutschen Nationalverband hervorgegangene
rechtsbürgerliche Gruppe die Anschlußforderung voranstellte, wie es
auch der ihr einigermaßen verwandte Landbund tat. Entscheidend für
die Beurteilung der Lage dagegen kann gelten, daß die Bejahung der
Anschlußidee in allen [23] Parteiprogrammen, in allen politischen
Kundgebungen von einigem Rang aufscheint - ein unbedingt
überzeugende Ausdruck der Volksmeinung, wenn auch die
Verallgemeinerung der Anschlußidee unvermerkt ihrer Zielstrebigkeit
Abbruch tun mochte und noch mehr ihre Vermengung mit bürgerlichen
oder gar marxistischen Sonderanschauungen Gefahren in sich barg. Am ehesten
können die zwei großen Bünde, de damals den lebhaftesten
Aufschwung erreichten und schon die Feindschaft der Marxisten und das
Mißtrauen der Bürgerlichen erfuhren, der auf dem strengen
Rassenstandpunkt begründete Deutsche Turnerbund und der Deutsche
Schulverein (besonders in seinen in die Jugendbewegung hineinreichenden
Schülergruppen), und dazu die sogar für das Reich richtungweisende
Deutsche Studentenschaft der Hochschulen als Wegebereiter für einen
kommenden Nationalsozialismus angesehen werden. Nur in Salzburg, wo die
Nationalsozialisten schon im Volksabstimmungskampf hervortraten, und Hitler
und Göring von München her zu Besuch kamen, war der
Einfluß der damals wesentlich auf Bayern beschränkten
Freiheitsbewegung unmittelbar spürbar und verband sich hier auch auf
gemeinsamen Tagungen mit der längst im Sudetendeutschtum heimischen,
gewerkschaftlich ausgerichteten älteren nationalsozialistischen Partei.
Gemäß der rein parlamentarischen Grundlegung des neuen Staates
trat seit seiner Geburtsurkunde eine Vielzahl von politisch tätigen Personen
in Erscheinung, die meisten nur deshalb, weil sie Funktionäre einer Partei
waren; einige wenige hingegen, die mehr hätten bedeuten können,
wurden wieder durch das Parteiensystem in den Niederungen ewiger "Packelei"
[64a]
Präsident Seitz und Staatssekretär Dr. Deutsch gehen vom
Parlament zur Volkswehrdefilierung und
Arbeiter-Maifeier. 1. 5. 1919.
|
(wie man hierzulande den politischen Kuhhandel bezeichnete) festgehalten. Die
drei Präsidenten der Nationalversammlung, von denen die ersten
Kundgebungen des neuen Gemeinwesens an das
deutsch-österreichische Volk gezeichnet waren, repräsentierten die
Parteien in der damals zeitgemäßen, soziologischen Treue: der
Sozialdemokrat Seitz, der spätere, bekannt gut gekleidete Wiener
Bürgermeister, der als ehemals von Lueger gemaßregelter Lehrer das
gegen die Schwarz-Gelben rebellierende Wiener Kleinbürgertum mit der
eigentlich marxistischen Arbeiterbewegung zusammengeführt hatte; der
Christlich- [24] soziale Hauser,
der langjährige Linzer Landeshauptmann, obwohl Prälat und in der
Monarchie sogar Geheimer Rat, der jungen Anschlußidee ergeben, und sich
wie nur einer in der neuen Demokratie gut zurechtfindend; der
"Großdeutsche" Dinghofer, vorher mit den Stimmen des
freisinnig-nationalen Bürgertums Bürgermeister von Linz, von Beruf
Richter und mehr "objektiv" als begeisternd in seiner Anschlußarbeit. Die
rot-schwarze Koalitionsregierung, die St. Germain unmittelbar zu
verantworten hatte, besaß in der Zeit der häufigen Abwesenheit
Renners von Wien den christlichsozialen Agrarier Jodok Fink aus
Vorarlberg zum Vorsitzenden, einen Mann, der selbst den Pflug zu führen
verstand und trotz vorgerückten Alters als Parlamentarier eine erstaunliche
Gewandtheit bestätigte; als er sehenden Auges das Scheitern seiner Idee
von neuer Bauerndemokratie erlebte, zog er sich wieder mehr und mehr ins
Ländle zurück.
Der einmalige Repräsentant des "demokratischen" Versuchs einer
"Regierung der Arbeiter, Bauern und Bürger" aber war der Staatskanzler
Dr. Karl Renner, der als Haupt der Friedensdelegation von allen
Deutschösterreichern damals der Welt am bekanntesten war. Dieser viel
mehr professoral als sozialistisch auftretende, schon sehr
"gemäßigte" Sozialdemokrat hatte seine Karriere vom
wissenschaftlichen Beamten der Parlamentsbibliothek und politischen
Schriftsteller durchlaufen. Seine ihm bis zuletzt treu gebliebene Eigenschaft, aus
jeder Lage irgend etwas Positives herauszufinden oder wenigstens
herauszusuchen, machte ihn 1918/20 so unbestritten zum Mann der Stunde,
daß ihm sogar die Unterzeichnung des Diktats (die er zum Unterschied
zu Brockdorff-Rantzau vornahm) von niemandem andern abgenommen werden
brauchte. Wohl fand er gegenüber dem Haß und Vernichtungswahn
der Feinde manch Wort von Würde und Bedeutung, doch sein politischer
Charakter verlor sich vielzusehr in den Übergängen seiner
Generation, um sich in einem Wettersturm ohnegleichen durchzusetzen.
Clemenceau wußte, daß der Mann, der von ihm jetzt den
"Anschluß" forderte, seine bisherige Gelehrtenarbeit an die
politisch-juristische Konzeption eines großösterreichischen
Völkerbundesstaates gewandt hatte. Renner selbst empfand [25] wohl gar nicht die Gefahr der von ihm schon in
St. Germain eingeschlagenen, taktisch gemeinten "westlichen
Orientierung" (die damals auch Antibolschewismus bedeuten sollte) und die
Aussichtslosigkeit des nachher auf Grund altösterreichischer Gewohnheiten
versuchten Kurses der Annäherung an die
Tschecho-Slowakei (die freilich die unentbehrlichen Kohlen als Druckmittel
benützte und sich auch gegen die von
Horthy-Ungarn her drohende "Reaktion" anbot). Renners ganzes System, das die
drei Parteigruppen für einige Notlösungen unter einen Hut brachte,
ist im Grunde nichts als Taktik gewesen, die ausreichte, solange die Grenzen des
Landes nicht einmal im Umriß feststanden und das der Wiener Regierung
noch unterstehende Gebiet zeitweilig sogar in der Schnittlinie der
Räterepubliken Budapest und München lag. Viel mehr als der nie in
den Massen herrschende Renner drohte sein dem Heeresverderber Jul.
Deutsch und dem berüchtigten Chefredakteur der Wiener
Arbeiterzeitung Austerlitz rassen- und seelenverwandter,
damalige Staatssekretär Dr. Otto Bauer zum Schicksal des
jungen Gemeinwesens zu werden. Er trat das Erbe des am Tage vor der Ausrufung
der Republik verschiedenen, ersten nominellen Chefs der Auswärtigen
Angelegenheiten Deutschösterreichs, des Dr. Viktor Adler,
an - beide typische, durch den Marxismus sich politisch emporarbeitende,
aus der jüdischen Bourgeoisie stammende Gehirnmenschen, nur daß
der Jüngere auf die von Adler noch zur Schau getragene,
altrevolutionäre Biedermannspose (samt Schlapphut) verzichtete. Im
Gegensatz zu Renner hatte Otto Bauer sich schon in seiner Jugendschrift eine
dialektische Theorie des "proletarischen" Nationalismus
zurechtgelegt - er war ja schließlich ein Fabrikantensohn aus dem
deutsch-böhmischen Industriegebiet - und jetzt trat er mit
messerscharfen Argumenten für den Anschluß an die deutsche
"Republik" ein, ohne vom Glauben des Deutschen an das "Reich" auch nur einen
Hauch zu verspüren, aber auch ohne bei der angerufenen Solidarität
der Internationale Eindruck zu machen.
Im Gegenteil, der um Otto Bauers "Austromarxismus" entbrennende Streit bot
den von gewissen kapitalistischen und klerikalen Kreisen angezettelten und vom
Ausland geförderten [26] Umtrieben gegen den Anschluß einen
brauchbaren Ansatzpunkt: der soziale Stellungskrieg gefährdete in seinen
Auswirkungen auch die wesensverschiedene, um die Volkseinheit geführte
Volksbewegung, und begünstigte die wirtschaftlichen Gesichtspunkte der
anhebenden Bürgerblockpolitik. Das Pendel war zuerst ungemein nach
links ausgeschlagen. Die sozialdemokratische Führung hielt die ihr
hörigen Massen vor "Unbesonnenheiten" zurück, wie sie etwa beim
sinnlosen Sturm der sogenannten Roten Garde der Volkswehr auf das
Parlamentsgebäude schon am 12. November 1918 zutage traten und die auf
das Schuldkonto von jüdischen Literaten nach Art des "rasenden Reporters"
Egon Erwin Kisch oder des nachmals hochkonservativen Franz Werfel, der
damals noch zum "Sturm auf die Paläste" aufrief, zu setzen waren. Auch
die vom Ausland her genährten kommunistischen Anschläge vom
17. April und vom 15. Juni 1919 scheiterten und Revolten wie Berlin hat Wien zu
diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen. Dafür setzte der Staatssekretär
Hanusch eine in Europa bisher unbekannt großzügige
Sozialgesetzgebung ohne Rücksicht auf die Tragfähigkeit von Staat
und Wirtschaft durch; die Sozialisierung von einzelnen Großbetrieben
veranlaßte kostspieligste Versuche, Adelstitel und Orden wurden restlos
beseitigt, alle Erzherzöge landesverwiesen, das habsburgische
Vermögen zugunsten der Kriegsinvaliden beschlagnahmt, aber auch die
Kriegsanleihen wurden nach dem bösen Worte "Krone ist Krone" restlos
entwertet usf. - das alles "verfassungändernd" mit den Stimmen der
eingeschüchterten Bürgerlichen! Die karlistischen
Staatsstreichversuche von 1921 in Ungarn gewannen nur für die
Hinauszögerung der Landnahme des Burgenlandes Bedeutung. Im Fortgang
der Zeit kristallisierte sich aber im Rahmen der demokratischen Freiheiten und
Einrichtungen eine Abwehr, die, durch ihre Geldgeber ermutigt, gegen die
bürgerliche Flaumacherei auf der ganzen Linie Stellung nahm. Ergab sich
hiermit außer der Gefahr einer sozialen Reaktion statt der Aufrichtung einer
echten Volksgemeinschaft nicht auch eine Verdunkelung des nationalen
Hochziels? So konstruierte etwa der junge Wiener Professor Othmar
Spann in seinen überfüllten Vorlesungen unter dem Titel
"Der wahre Staat" ein berufs- [27] ständisches, romantisches
Idealgebäude ohne Bezogenheit auf Volkstum, Raum und Rasse, speiste
den antimarxistischen Affekt ohne die Würde des Politischen in der
Geschichte wiederherzustellen. Um so mehr blickte der für den
Tagesgebrauch bestimmte "Antimarxismus" der Wiener Klerikalen Schmitz,
Vaugoin und Kienböck zurück auf die gute, alte Zeit
und ersparte sich über der Sorge um den bedrohten Lebensstand des
Bürgers - die Arbeiterlöhne liefen während der nun wild
einsetzenden Inflation noch am leichtesten
mit - eine grundsätzliche Neuorientierung in der Welt ringender
junger Völker.
Man hielt nach Persönlichkeiten Ausschau, welche die Schrift der neuen
Zeit zu lesen verständen, dem Gegner geistig überlegen wären
und doch wenigstens mit einem Teil ihres Wesens im alten Österreich
verhaftet sein sollten. Renner hatte, wie wir gesehen, auch in diese Richtung
weisende Qualitäten, kam aber als Erwählter der Roten, sobald er
einmal über die leidige Reorganisierung der Volkswehr gestürzt war,
nicht mehr in Frage. Sein unmittelbarer Nachfolger, der klerikale Professor
Michael Mayr aus Innsbruck, zuerst Vorsitzender eines von allen
Parteien beschickten "Proporzkabinetts", nach Annahme der
Oktober-Verfassung und den Wahlen von 1920 der erste "Bundeskanzler",
stützte sich schon auf eine rein bürgerliche Mehrheit; er
verfügte aber nicht einmal bei den ihm nahestehenden Christlichsozialen
der Bundesländer über die nötige Autorität, die noch im
Kampfe um inflationshemmende Ententekredite und die Durchführung der
von der Entente bekämpften Länderabstimmungen für den
Anschluß vollends aufgerieben wurde. Die in den beiden nationalen
Gruppen im Parlament, Großdeutsche Volkpartei und Landbund,
tonangebenden Männer gelangten schon wegen der
Mehrheitsverhältnisse niemals wirklich an die Führung im Staate,
wenn sie auch u. a. den Vizekanzlerposten und die Berliner Gesandtschaft
in der Regel besetzten. Von ihnen hat der Beamtenvertreter
Dr. Waber immerhin den einzigen, ernstgemeinten Versuch
gemacht, der nach Friedensschluß noch immer andauernden
ostjüdischen Zuwanderung nach Wien den Riegel vorzuschieben; in der
Friedensdelegation haben die der
bürgerlich- oder bäuerlich-nationalen Richtung zuzuzählenden
Wiener Professoren Franz [28] Klein und Schönbauer
fachlich ausgezeichnete, wenn auch im Erfolg vergebliche Arbeit geleistet und der
hervorragende Handelspolitiker Richard Riedl konnte den als ersten
deutsch-österreichischen Gesandten in Weimar und Berlin wirkenden
jüdischen Professor Ludo Moritz Hartmann auf diesem wichtigsten
"Auslands"posten ablösen. Für die Übernahme des
Bundeskanzleramtes aber ließ sich nach Mayrs ruhmlosem Abgang der in
der ganzen Umsturzzeit als "parteiloser", hoher Beamter bewährte
Präsident Joh. Schober überreden. Doch auch er
vermochte damals nicht das rettende Ufer zu gewinnen. Als er nach seiner
Enttäuschung in der Ödenburger Frage sich durch einen gemeinsam
mit Hainisch unternommenen Besuch in Lana
Masaryk-Benesch als den Gegenspielern Italiens im Donauraum näherte, da
verlor er durch den Abfall der Großdeutschen von seiner bürgerlichen
Mehrheit den Boden unter seinen Füßen, woran auch seine
Teilnahme an der Genueser Weltwirtschaftskonferenz vom April 1922 nichts
mehr änderte. Ihm stand aber die Rückkehr in die Wiener
Polizeidirektion offen, die ihn für die Zukunft des österreichischen
"Antimarxismus" in eine überlegene Reservestellung rückte.
Doch nun verlangte die Stunde, deren Zeiger beängstigend vorrückte,
das verzweifelte Wagnis der Selbstbehauptung auf einem neuen, noch
unbekannten Wege. Es war nur in einem Staat wider Willen möglich,
daß die rote Opposition selbst ihren undurchsichtigsten Gegenspieler zur
Übernahme der "Macht" oder dessen, was man dafür noch ausgab,
aufforderte und die überdemokratische Republik Österreich nach
dem im Grunde das Parlament verachtenden, ehemals kaiserlichen Polizeichef
einen asketischen Prälaten zum Bundeskanzler erhielt.
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