[44-46=Trennbläter] [47]
Das Jahr 1935
Trotz der im Laufe des Jahres 1934 eingetretenen Wendung zu einer noch
betonter deutschfeindlichen Stimmung hatte sich in England aus
einflußreichen Persönlichkeiten ein kleiner Kreis, der die
Herbeiführung besserer deutsch-englischer Beziehungen anstrebte, gebildet.
Der bekannteste Vertreter dieser Gruppe, der inzwischen verstorbene, gewissen
Labour-Kreisen nahestehende Lord Allen of Hurtwood, weilte im Januar 1935 zu
Besuch in Deutschland und wurde am 25. Januar vom
Führer empfangen.
Außerdem wurden Frontkämpferbesuche ins Auge gefaßt. Am
11. Juni beglückwünschte der Prince of Wales die British Legion,
den englischen Frontkämpferverband, zu ihrem Entschluß, eine
Delegation nach Deutschland zu entsenden.
Aufzeichnung über die Unterredung zwischen
dem Führer und Lord Allen of Hurtwood am 25. Januar
1935
Lord Allen eröffnete das Gespräch, indem er sich für den ihm
gewährten Empfang wärmstens bedankte. Er wies darauf hin,
daß er keinen offiziellen Besuch in Berlin abstatte und auch nicht im
amtlichen Auftrag der englischen Regierung handele. Er habe aber den Auftrag
vom englischen Ministerpräsidenten MacDonald erhalten, eine Botschaft
des guten Willens zu überbringen. Zwar bestünden in der englischen
öffentlichen Meinung noch Zweifel über manche Ereignisse in
Deutschland. Es sei aber ein starker Wechsel der Meinungen zugunsten
Deutschlands festzustellen. Das Bedauern über die in den letzten zwanzig
Jahren begangenen politischen Fehler nehme zu und damit der Wunsch, sich
über die noch bestehenden Mißverständnisse zu einigen. Die
europäische politische Lage errege insofern große Besorgnis in
England, als man mit dem offensichtlichen Bestreben anderer Mächte, eine
neuerliche Einkreisung Deutschlands vorzunehmen, nicht einverstanden sei. Um
diese Entwicklung aufzuhalten, sei eine Verständigung zwischen England
und Deutschland, die später in einer allgemeinen
Rüstungsvereinbarung ihren Niederschlag fände, von besonderer
Wichtigkeit.
Der Führer und Reichskanzler dankte Lord Allen für seinen Besuch;
angesichts des Umstandes, daß aus der englischen Presse ein Bild
über die wahren Verhältnisse in Deutschland nicht zu gewinnen
[48] sei, bezeichnete er als besonders erfreulich,
wenn bedeutende Engländer sich selber von der ruhigen Lage in
Deutschland überzeugen. Diese innere Ruhe sei eine Voraussetzung
für Deutschlands Wiederaufbau. Deutschland brauche für vierzig bis
fünfzig Jahre ungetrübten Frieden; denn der Krieg reiße mehr
ein, als was zehn Jahre Frieden aufbauen. Die jetzige Generation habe nicht die
Aufgabe, einen neuen Krieg vorzubereiten, sondern die Folgen des Weltkrieges zu
liquidieren.
Das deutsche Regime sei auch, ohne sich um äußere politische
Erfolge bemühen zu müssen, von großer innerer Stärke.
Wenn Deutschland an der Erhaltung des Friedens ebenso interessiert sei wie die
anderen Mächte, so sei klar, daß zur Erreichung dieses Zieles
Deutschland Anspruch auf vollkommene Gleichberechtigung und Sicherheit
seiner Grenzen habe. Zur Förderung des Friedensgedankens in der Welt
habe er im Laufe des letzten Jahres zwei wichtige Erklärungen abgegeben:
Durch die Vereinbarung mit Polen sei eine allgemeine Beruhigung in Europa
eingetreten. Das gleiche müsse man erwarten, nachdem er der
französischen Regierung nach der Saarabstimmung wiederholt zu verstehen
gegeben habe, daß Deutschland keine territorialen Forderungen
irgendwelcher Art mehr an Frankreich zu richten habe. Damit seien alle
Voraussetzungen geschaffen, die die Gewähr für eine friedliche
Entwicklung in sich schlössen. Die eben erwähnten
Erklärungen seien in voller Öffentlichkeit abgegeben worden.
Deutschland habe damit selbst vor aller Welt die Gründe zerstört, die
in einem Teil der öffentlichen Meinung der Welt als Grundlage der
deutschen Revanchelust betrachtet worden seien. Dieser deutsche Beitrag zur
europäischen Befriedung sei im Verhältnis zu dem, was andere
Nationen nach anderen Kriegen geleistet hätten, größer und
bedeutungsvoller.
Deutschland hat niemals die im Vertrag von Versailles zum Ausdruck kommende
Auffassung einer eigentümlichen politischen Moral angenommen. Zwar hat
sich Deutschland mit dem durch den Vertrag geschaffenen tatsächlichen
Zustand abfinden müssen. Es lehnt aber nach wie vor die Bestimmungen
des Vertrages ab, die durch die Diskriminierung und ungleiche Behandlung
Deutschlands bis jetzt nur eine Quelle der Beunruhigung gewesen sind. Das
deutsche Volk habe Jahr für Jahr auf eine Einkehr zu einer besseren
Einsicht gewartet. Statt dessen seien bei fast allen unseren Nachbarn
größere Rüstungen festzustellen. Besonders zwei Ereignisse
erfüllten uns mit Sorge. Zunächst die Tatsache, daß unsere
Vorschläge auf dem Gebiet der Abrüstung abgelehnt worden seien,
und dann die Tatsache, daß die labilen politischen Verhältnisse in
Frankreich einen häufigen Wechsel von Regierungen zur Folge
hätten, die ihre innere Schwäche durch außenpolitische Erfolge
auszugleichen suchten. Der Völkerbund habe Deutschland das
Gefühl der Sicherheit nicht gegeben. Deutschland könne aber nicht
darauf warten. Dies solle nicht bedeuten, daß Deutschland jede
Zusammenarbeit mit anderen Nationen ablehne. Dagegen sehe Deutschland in
dem heutigen System, Kollektivpakte zu schließen, über deren
Tragweite sich einzelne Teilnehmer gar nicht im klaren sein könnten, eine
große Gefahr für den Frieden Europas.
[49] Der Führer und Reichskanzler
erläuterte diesen Gedanken an dem Beispiel des Ausbruchs der
Feindseligkeiten zwischen Rußland und Polen.
Deutschland sei jederzeit bereit, eine Rüstungsvereinbarung mit England
abzuschließen. Auf maritimem Gebiet habe Deutschland keinerlei Ehrgeiz,
mit England in Wettbewerb zu treten. Es sei daher bereit, sich in einer derartigen
Vereinbarung auf etwa 35
Prozent der englischen Flottenrüstung zu
beschränken. Selbstverständlich verlange Deutschland die
Gleichberechtigung in der Luft, sei aber jederzeit zu einem Abkommen mit
England über die Parität der Luftrüstung im Verhältnis
zur stärksten kontinentalen Luftmacht bereit. Die deutsche Rüstung
zu Lande würde für England niemals eine Bedrohung sein.
Das bisherige Verfahren, um zu einer Rüstungsvereinbarung zu gelangen,
sei völlig hoffnungs- und aussichtslos. Es handele sich jetzt darum, einen
Kristallisationspunkt zu finden, von dem eine neue Initiative ausgehen
könne. Diese sähe er in einer Rüstungsvereinbarung, die
zunächst zwischen England und Deutschland geschlossen würde.
Lord Allen bemerkte zu diesen Äußerungen, die der Führer
und Reichskanzler selbst nicht als Vorschläge, sondern als politische
Gedanken bezeichnete, daß England zweifellos nicht davon abgehen
könne, sich mit den anderen Nationen zu beraten, bevor es eine derartige
Rüstungsvereinbarung mit Deutschland abschließe.
Der Führer und Reichskanzler erwiderte, daß eine solche
Konsultation wenig Erfolg haben würde, da die anderen Nationen eben
nicht bereit seien, von ihrem Rüstungsstand abzugehen.
Auf die Frage Lord Allens, ob die deutsch-englische Rüstungsvereinbarung
etwa auch die Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung einschließen
könnte, erwiderte der Führer und Reichskanzler, daß dies
keinesfalls in Frage käme. Die Vereinbarung solle lediglich die Begrenzung
der Bewaffnung zum Ziele haben. Ihr Zweck sei, einen allgemeinen Wettlauf in
der europäischen Aufrüstung zu verhindern. Die Folge eines solchen
Abkommens würde voraussichtlich zunächst sein, daß Italien
sich der Vereinbarung anschließe. In dieser Lage würde auch
Frankreich schließlich nichts anderes übrigbleiben, als sich zu
fügen.
Lord Allen betonte noch einmal den Wunsch zur Verständigung mit
Deutschland. Gleichzeitig habe aber die englische Regierung ein großes
Interesse an regelmäßiger Zusammenarbeit mit anderen Nationen.
Der Reichskanzler habe in der letzten Zeit wiederholt den Anspruch auf
Gleichberechtigung öffentlich formuliert. Er, Lord Allen, glaube, daß
die englische öffentliche Meinung und damit gleichzeitig die englische
Regierung vorteilhaft darauf reagieren würden, wenn der Reichskanzler bei
einer sich bietenden Gelegenheit eine Erklärung abgebe, in der er sich
sowohl zur Zusammenarbeit mit Europa bereit erkläre als auch seine
Stellungnahme dazu präzisieren würde, wie Deutschland sich
verhalten werde, wenn ihm die Gleichberechtigung gewährt worden
sei.
Der Führer und Reichskanzler entgegnete hierauf, daß es für
ihn [50] nicht leicht sei, eine solche Erklärung
abzugeben, da Deutschland seit Dezember 1932 schlechte Erfahrungen gemacht
habe. Die französische Presse fange schon jetzt an, Bedingungen an die
Gewährung der Gleichberechtigung zu knüpfen. Auf derartige
Bedingungen werde sich Deutschland niemals einlassen. Teil V des Vertrages von
Versailles müsse ein für allemal gelöscht werden. Deutschland
würde aber niemals zustimmen, daß an die Stelle dieses Abschnitts
des Friedensvertrags ein neues Statut träte, durch das Deutschland neue
Bedingungen auferlegt würden. Was Deutschland freiwillig unterschreibe,
werde es auch stets halten. Sobald er darüber Gewißheit habe,
daß ein derartiges neues Statut nicht beabsichtigt sei, werde er auch zu der
von Lord Allen als erwünscht bezeichneten Erklärung bereit
sein.
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)
An der Jahreswende 1934/35 ließ sich Englands Politik Deutschland
gegenüber etwa dahin charakterisieren: England erstrebte Deutschlands
Einordnung in ein festes System, das Deutschland der Möglichkeit
unliebsamen selbständigen Vorgehens berauben sollte. Es sollte durch
Beitritt zu entsprechenden Pakten und Abmachungen einen Beweis seines
Friedenswillens geben. Der Ostpakt, die Rückkehr in den
Völkerbund und auch die Abrüstungsfrage wurden in diesem
Zusammenhang wieder erörtert. Die letztere hatte Baldwin durch eine Rede
im Unterhaus vom 28. November 1934 neuerdings angeregt. Er nannte zwar die
deutschen Rüstungen die wichtigste Quelle der Beunruhigung; sie seien
aber nun einmal eine Tatsache, und es sei notwendig, Klarheit über
Deutschlands Absichten und Pläne zu erhalten. Zu diesem Zwecke
müßten die Verhandlungen zwischen den Mächten wieder
aufgenommen werden.
Man konnte also auch in England nicht länger umhin, den deutschen
Standpunkt anzuerkennen: Abschnitt V des Versailler
Vertrags war tot, eine neue Regelung unter Wahrung der vollen
Gleichberechtigung Deutschlands mußte an seine Stelle treten.
Im Januar 1935 kamen englisch-französische Besprechungen wieder in
Gang und führten zu der Londoner Erklärung vom 3. Februar 1935.
Eine allgemeine Regelung der Rüstungsfrage wurde ins Auge gefaßt.
Aber gemäß der französischen These wurde auch der
"Organisation der Sicherheit" gedacht und dabei an den Ostpakt erinnert.
Deutschland sollte ferner in den Völkerbund zurückkehren. Endlich
wurde von der Möglichkeit eines Luftpaktes zwischen Deutschland,
England, Frankreich, Belgien und Italien, den fünf
Locarno-Partnern, gesprochen. Auch diesmal kam der Führer den
andern entgegen. Im Interesse des Friedens wollte Deutschland gemeinsam
mit den Mächten prüfen, wie sich die Gefahr eines
Wettrüstens vermeiden ließe. Es hieß in der deutschen Antwort
vom 14. Februar 1935, daß "nur der in der
britisch-französischen Verlautbarung zum Ausdruck kommende Geist freier
Vereinbarung zwischen souveränen Staaten zu dauerhaften internationalen
Regelungen auf dem Gebiete der Rüstungen führen kann".
Deutschland stimmte auch einem Luftpakt zu. Die Atmosphäre schien sich
zu reinigen. Am 13. Januar 1935 hatte die Saarabstimmung jenen eindeutigen
deutschen Sieg gebracht, vor dem sich [51] auch die französische Regierung loyal
beugte. Nunmehr waren nach dem Worte des Führers alle territorialen
Streitfragen zwischen Deutschland und Frankreich erledigt.
Dennoch nahmen die schon in Gang gekommenen
Abrüstungsverhandlungen eine ungünstige Wendung. Die englische
Regierung, die sie angeregt hatte, hat sie auch sabotiert. Die neue
Rüstungsvorlage, die sie am 11. März 1935 im Parlament einbrachte,
wurde mit einem Weißbuch
begründet, in dem Deutschland der
Bedrohung des Weltfriedens und des Bruchs des Versailler Vertrages bezichtigt
wurde. Unter Bezug auf eine in Deutschland vor sich gehende Aufrüstung
wurden eigene Rüstungsverstärkungen und ein Umbau aller
englischen Streitkräfte zu Wasser, Land und in der Luft angekündigt.
England hatte eine vollzogene Tatsache geschaffen, ehe es noch zu irgendwelchen
Verhandlungen hatte kommen können.
Aus dem britischen Rüstungs-Weißbuch
vom 1. März 1935
Teil III
8. Die Lage war Mitte vorigen Sommers wie folgt:
(1) Die Abrüstungskonferenz war dem Wesen nach zum Stillstand
gekommen. Es war offensichtlich, daß weitere Verhandlungen durch die
Tatsache gehemmt werden würden, daß Deutschland nicht nur
entgegen den Bestimmungen des Teils V des Versailler
Vertrages offen in großem Maßstab aufrüstete,
sondern auch seinen Austritt aus dem Völkerbund und der
Abrüstungskonferenz erklärt hatte. Auch Japan hatte seinen Austritt
aus dem Völkerbund erklärt. Alle größeren
Mächte, außer dem Vereinigten Königreich, vermehrten ihre
Rüstungen.
(2) Ins einzelne gehende, sorgfältige Untersuchungen wurden über
die ernsten Mängel unserer Verteidigungsstreitkräfte
und -mittel angestellt. Es wurde festgestellt, daß Land und Empire
sich nicht mehr in einem angemessenen Verteidigungszustande befänden,
wenn nicht ein Programm in Angriff genommen würde, das sie neu ordnete
und modernisierte. Sollte daher trotz aller unserer Bemühungen, Frieden zu
halten, ein gegen uns gerichteter Angriff stattfinden, so würden wir nicht in
der Lage sein, unsere Seeverkehrswege, die Ernährung unserer
Bevölkerung oder die Verteidigung unserer wichtigsten Städte und
ihrer Einwohner gegen Luftangriffe zu sichern. Überdies liegt der
große Wert des Vertrages von Locarno für unser Land in seiner
abschreckenden Wirkung auf etwaige Angreifer. Diese wird aber wesentlich
abgeschwächt durch die von allen Signataren geteilte Erkenntnis,
daß, falls unsere Verpflichtung klar ist, unsere Mitwirkung doch nur wenig
entscheidende Wirkung haben kann. Die gleiche Erwägung würde
natürlich auch auf jedes andere System gemeinsamer Sicherheit
anzuwenden sein, dem wir angehören würden.
9. Unter obigen Umständen war sich die Regierung Seiner Majestät
bewußt, daß sie ihrer Verantwortung nicht gerecht werden
würde, wenn sie, bei uneingeschränkter Fortführung ihrer
Bemühungen um [52] den Frieden durch Beschränkung der
Rüstungen, die Einleitung von Schritten verzögerte, die unsere
eigenen Rüstungen instand setzen, uns gegen mögliche Gefahren zu
schützen. Ein koordiniertes Programm für den Neuaufbau unserer
Verteidigungsstreitkräfte
und -mittel wurde aufgestellt. Für die Flotte (deren Stärke
vertraglich begrenzt ist) und das Heer umfaßte dieses Programm in der
Hauptsache die Behebung der technischen Mängel und die Beschaffung
moderner Ausrüstungen, geeigneter Mannschaften und Reserven an
Kriegsmaterial, ohne die unsere Streitkräfte unsere Lebensinteressen gegen
einen Angreifer nicht verteidigen und an keinem System gemeinschaftlicher
Sicherheit mitarbeiten könnten.
10. Bei den Königlichen Luftstreitkräften allein erschien eine
merkliche Verstärkung der Einheiten unmittelbar erforderlich. Aus diesem
Grunde wurde sie am 19. Juli 1934 im Parlament angekündigt, am 30. Juli
im Unterhause und am 14. November im Oberhause verhandelt.
Verstärkungen werden bei der von der Armee gestellten Flugzeugabwehr
ebenfalls notwendig sein.
11. Am 28. November 1934 lenkte die Regierung Seiner Majestät die
allgemeine Aufmerksamkeit auf die in Deutschland vor sich gehende
Aufrüstung und kündigte eine Beschleunigung der bereits
beschlossenen Verstärkung der Luftwaffe an. Das Vorgehen der Regierung
Seiner Majestät schloß natürlich keine Billigung eines Bruches
des Versailler Vertrages in sich. Er stellte nur in der Form eines ersten Schrittes
vor der Öffentlichkeit fest, was als Tatsache bekanntgeworden war.
12. Wenn diese Aufrüstung in ihrem gegenwärtigen Umfange
unvermindert und unkontrolliert fortgesetzt wird, so wird sie die bereits
bestehende Besorgnis der Nachbarn Deutschlands verstärken und kann in
der Folge eine den Frieden gefährdende Lage verursachen. Die Regierung
Seiner Majestät hat die Erklärungen der deutschen Führer,
daß sie den Frieden wünschen, zur Kenntnis genommen und
begrüßt. Sie kann aber auch nicht umhin zu erkennen, daß nicht
nur die Kräfte, sondern auch der Geist, in dem die Bevölkerung und
vor allem die Jugend des Landes organisiert werden, das allgemeine Gefühl
der Unsicherheit, das unbestreitbar bereits entstanden ist, beeinflußt und
bestärkt. Auch beschränkt sich die Erhöhung der
Rüstungen nicht auf Deutschland. Auf der ganzen Welt, in Rußland,
Japan, den Vereinigten Staaten von Amerika und überall wird
aufgerüstet. Wir konnten es uns nicht erlauben, über all diese
Verstärkungen hinwegzusehen und mußten deshalb beginnen, unsere
Mängel auszugleichen. Wir waren aber bemüht, die Vorkehrungen
für die notwendige Verteidigung nicht in ein Wettrennen um die
Rüstungsstärke ausarten zu lassen.
(E: Cmd. 4827. - D. Schwendemann: Abrüstung
und Sicherheit. Bd. II, S. 648ff.)
Bereits am 1. März 1935 hatte auch Frankreich neue
Rüstungsmaßnahmen getroffen. Die Regierung legte ein neues
Wehrgesetz vor. Am 15. März 1935 wurde in der Kammer die Debatte
über das Gesetz zur Verlängerung der Dienstzeit durch eine
Regierungserklärung eingeleitet. [53] Auch diese praktische Verdoppelung des
französischen Heeres war gegen Deutschland gerichtet. An England und
Frankreich sind daher die beabsichtigten Verhandlungen gescheitert. Deutschland
hat dieses Verhalten am 16. März 1935 mit der Wiederherstellung der
allgemeinen Wehrpflicht beantwortet. Gleichzeitig legte die Reichsregierung dem
deutschen Volke in einem Aufruf die deutsche Entwaffnung und den Kampf um
Gleichberechtigung dar.
Aufruf der Reichsregierung vom 16. März 1935
zur Wiederherstellung der deutschen Wehrfreiheit
An das deutsche Volk!
Als im November 1918 das deutsche Volk - vertrauend auf die in den
Vierzehn Punkten Wilsons gegebenen
Zusicherungen - nach viereinhalbjährigem ruhmvollem Widerstand
in
einem Kriege, dessen Ausbruch es nie gewollt hatte, die Waffen streckte,
glaubte es nicht nur der gequälten Menschheit, sondern auch einer
großen Idee an sich einen Dienst erwiesen zu haben. Selbst am schwersten
leidend unter den Folgen dieses wahnsinnigen Kampfes, griffen die Millionen
unseres Volkes gläubig nach dem Gedanken einer Neugestaltung der
Völkerbeziehungen, die durch die Abschaffung der Geheimnisse
diplomatischer Kabinettspolitik einerseits sowie der schrecklichen Mittel des
Krieges andererseits veredelt werden sollten. Die geschichtlich härtesten
Folgen einer Niederlage erschienen vielen Deutschen damit geradezu als
notwendige Opfer, um einmal für immer die Welt von ähnlichen
Schrecknissen zu erlösen.
Die Idee des Völkerbundes hat vielleicht in keiner Nation eine
heißere Zustimmung erweckt als in der von allem irdischen Glück
verlassenen deutschen. Nur so war es verständlich, daß die in
manchem geradezu sinnlosen Bedingungen der Zerstörung jeder
Wehrvoraussetzung und Wehrmöglichkeit im deutschen Volke nicht nur
angenommen, sondern von ihm auch erfüllt worden sind. Das deutsche
Volk und insonderheit seine damaligen Regierungen waren überzeugt,
daß durch die Erfüllung der im Versailler Vertrag vorgeschriebenen
Entwaffnungsbestimmungen entsprechend der Verheißung dieses Vertrages
der Beginn einer internationalen allgemeinen Abrüstung eingeleitet und
garantiert sein würde. Denn nur in einer solchen zweiseitigen
Erfüllung dieser gestellten Aufgabe des Vertrages konnte die moralische
und vernünftige Berechtigung für eine Forderung liegen, die,
einseitig auferlegt und durchgeführt, zu einer ewigen Diskriminierung und
damit Minderwertigkeitserklärung einer großen Nation werden
mußte. Damit aber konnte ein solcher Friedensvertrag niemals die
Voraussetzung für eine wahrhaft innere Aussöhnung der
Völker und eine dadurch herbeigeführte Befriedung der Welt,
sondern nur für die Aufrichtung eines ewig weiterzehrenden Hasses
sein.
Deutschland hat die ihm auferlegten Abrüstungsverpflichtungen nach den
Feststellungen der Interalliierten Kontrollkommission erfüllt.
[54] Folgendes waren die von dieser Kommission
bestätigten Arbeiten der Zerstörung der deutschen Wehrkraft und
ihrer Mittel:
A. Heer
|
59 897 |
Geschütze und Rohre, |
130 558 |
Maschinengewehre, |
31 470 |
Minenwerfer und Rohre, |
6 007 000 |
Gewehre und Karabiner, |
243 937 |
M.G.-Läufe, |
28 001 |
Lafetten, |
4 390 |
M.W.-Lafetten, |
38 750 000 |
Geschosse, |
16 550 000 |
Hand- und Gewehrgranaten, |
60 400 000 |
scharfe Zünder, |
491 000 000 |
Handwaffenmunition, |
335 000 |
Tonnen Geschoßhülsen, |
23 515 |
Tonnen Kartusch-Patronenhülsen, |
37 600 |
Tonnen Pulver, |
79 500 |
Munitionsleeren, |
212 000 |
Fernsprecher, |
1 072 |
Flammenwerfer, |
31 |
Panzerzüge, |
59 |
Tanks, |
1 762 |
Beobachtungswagen, |
8 982 |
drahtlose Stationen, |
1 240 |
Feldbäckereien, |
2 199 |
Pontons, |
981,7 |
Tonnen Ausrüstungsstücke für Soldaten, |
8 230 350 |
Satz Ausrüstungsstücke für Soldaten, |
7 300 |
Pistolen und Revolver, |
180 |
M.G.-Schlitten, |
21 |
fahrbare Werkstätten, |
12 |
Flak-Geschützwagen, |
11 |
Protzen, |
64 000 |
Stahlhelme, |
174 000 |
Gasmasken, |
2 500 |
Maschinen der ehemaligen Kriegsindustrie, |
8 000 |
Gewehrläufe. |
|
|
B. Luft
|
15 714 |
Jagd- und Bombenflugzeuge, |
27 757 |
Flugzeugmotoren. |
|
|
C. Marine
Zerstörtes, abgewracktes, versenktes
oder ausgeliefertes Kriegsmaterial der Marine:
|
26 |
Großkampfschiffe, |
4 |
Küstenpanzer, |
[55] 4 |
Panzerkreuzer, |
19 |
kleine Kreuzer, |
21 |
Schul- und Spezialschiffe, |
83 |
Torpedoboote, |
315 |
U-Boote. |
Bemerkungen zu A und B:
Ferner unterlagen der Zerstörungspflicht: Fahrzeuge aller Art,
Gaskampf- und zum Teil Gasschutzmittel,
Treib- und Sprengmittel, Scheinwerfer, Visiereinrichtungen,
Entfernungs- und Schallmeßgeräte, optische Geräte aller Art,
Pferdegeschirr, Schmalspurgerät, Felddruckereien, Feldküchen,
Werkstätten,
Hieb- und Stichwaffen, Stahlhelme, Munitionstransportmaterial,
Normal- und Spezialmaschinen der Kriegsindustrie sowie Einspannvorrichtungen,
Zeichnungen dazu,
Flugzeug- und Luftschiffhallen usw.
Nach dieser geschichtlich beispiellosen Erfüllung eines Vertrages hatte das
deutsche Volk ein Anrecht, die Einlösung der eingegangenen
Verpflichtungen auch von der anderen Seite zu erwarten.
Denn:
- Deutschland hatte abgerüstet.
- Im Friedensvertrag
war ausdrücklich gefordert worden, daß
Deutschland abgerüstet werden müsse, um damit die Voraussetzung
für eine allgemeine Abrüstung zu schaffen, d. h. es war damit
behauptet, daß nur in Deutschlands Rüstung allein die
Begründung für die Rüstung der anderen Länder
läge.
- Das deutsche Volk war sowohl in seinen Regierungen als auch in seinen
Parteien damals von einer Gesinnung erfüllt, die den
pazifistisch-demokratischen Idealendes Völkerbundes und seiner
Gründer restlos entsprach. Während aber Deutschland als die eine
Seite der Vertragschließenden seine Verpflichtungen erfüllt hatte,
unterblieb die Einlösung der Verpflichtung der zweiten Vertragsseite. Das
heißt: Die Hohen Vertragschließenden der ehemaligen Siegerstaaten
haben sich einseitig von den Verpflichtungen des Versailler Vertrages
gelöst!
Allein nicht genügend, daß jede Abrüstung in einem irgendwie
mit der deutschen Waffenzerstörung vergleichbaren Maße unterblieb,
nein: es trat nicht einmal ein Stillstand der Rüstungen ein, ja im Gegenteil,
es wurde endlich die Aufrüstung einer ganzen Reihe von Staaten
offensichtlich. Was im Kriege an neuen Zerstörungsmaschinen erfunden
wurde, erhielt nunmehr im Frieden in
methodisch-wissenschaftlicher Arbeit die letzte Vollendung. Auf dem Gebiet der
Schaffung mächtiger Landpanzer sowohl als neuer
Kampf- und Bombenmaschinen fanden ununterbrochene und schreckliche
Verbesserungen statt. Neue Riesengeschütze wurden konstruiert, neue
Spreng-, Brand- und Gasbomben entwickelt.
Die Welt aber hallte seitdem wider von Kriegsgeschrei, als ob niemals ein
Weltkrieg gewesen und
ein Versailler Vertrag
geschlossen worden wäre.
[56] Inmitten dieser hochgerüsteten und sich
immer mehr der modernsten motorisierten Kräfte bedienenden
Kriegsstaaten war Deutschland ein machtmäßig leerer Raum, jeder
Drohung und jeder Bedrohung jedes einzelnen wehrlos ausgeliefert. Das deutsche
Volk erinnert sich des Unglücks und Leides von fünfzehn Jahren
wirtschaftlicher Verelendung, politischer und moralischer Demütigung.
Es war daher verständlich, wenn Deutschland laut auf die Einlösung
des Versprechens auf Abrüstung der anderen Staaten zu drängen
begann. Denn dieses ist klar:
Einen hundertjährigen Frieden würde die Welt nicht nur ertragen,
sondern er müßte ihr von unermeßlichem Segen sein. Eine
hundertjährige Zerreißung in Sieger und Besiegte aber erträgt
sie nicht.
Die Empfindung über die moralische Berechtigung und Notwendigkeit
einer internationalen Abrüstung war aber nicht nur in Deutschland, sondern
auch innerhalb vieler anderer Völker lebendig. Aus dem Drängen
dieser Kräfte entstanden die Versuche, auf dem Wege von Konferenzen
eine Rüstungsverminderung und damit eine internationale allgemeine
Angleichung auf niederem Niveau in die Wege leiten zu wollen.
So entstanden die ersten Vorschläge internationaler
Rüstungsabkommen, von denen wir als bedeutungsvollen den Plan
MacDonalds in Erinnerung haben.
Deutschland war bereit, diesen Plan anzunehmen und zur Grundlage von
abzuschließenden Vereinbarungen zu machen.
Er scheiterte an der Ablehnung durch andere Staaten und wurde endlich
preisgegeben. Da unter solchen Umständen die dem deutschen Volke und
Reiche in der Dezember-Erklärung 1932 feierlich zugesicherte
Gleichberechtigung keine Verwirklichung fand, sah sich die neue Deutsche
Reichsregierung als Wahrerin der Ehre und der Lebensrechte des deutschen
Volkes außerstande, noch weiterhin an solchen Konferenzen teilzunehmen
oder dem Völkerbund anzugehören.
Allein auch nach dem Verlassen Genfs war die Deutsche Regierung dennoch
bereit, nicht nur Vorschläge anderer Staaten zu überprüfen,
sondern auch eigene
praktische Vorschläge zu machen. Sie
übernahm dabei die von den anderen Staaten selbst geprägte
Auffassung, daß die Schaffung kurzdienender Armeen für die
Zwecke des Angriffs ungeeignet und damit für die friedliche Verteidigung
anzuempfehlen sei.
Sie war daher bereit, die langdienende Reichswehr nach dem Wunsche der
anderen Staaten in eine kurzdienende Armee zu verwandeln. Ihre
Vorschläge vom Winter 1933/34 waren praktische und
durchführbare. Ihre Ablehnung sowohl als die endgültige Ablehnung
der ähnlich gedachten italienischen und englischen Entwürfe
ließen aber darauf schließen, daß die Geneigtheit zu einer
nachträglichen sinngemäßen Erfüllung der Versailler
Abrüstungsbestimmungen auf der anderen Seite der Vertragspartner nicht
mehr bestand.
Unter diesen Umständen sah sich die Deutsche Regierung veranlaßt,
von sich aus jene notwendigen Maßnahmen zu treffen, die eine Beendigung
des ebenso unwürdigen wie letzten Endes bedrohlichen [57] Zustandes der ohnmächtigen
Wehrlosigkeit eines großen Volkes und Reiches gewährleisten
konnten.
Sie ging dabei von denselben Erwägungen aus, denen Minister Baldwin in
seiner letzten Rede so wahren Ausdruck verlieh:
"Ein Land, das nicht gewillt ist, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu
seiner eigenen Verteidigung zu ergreifen, wird niemals Macht in dieser Welt
haben, weder moralische noch materielle Macht."
Die Regierung des heutigen Deutschen Reiches aber wünscht nur eine
einzige moralische und materielle Macht; es ist die Macht, für das Reich
und damit wohl auch für ganz Europa den Frieden wahren zu
können!
Sie hat daher auch weiterhin getan, was in ihren Kräften stand und zur
Förderung des
Friedens dienen konnte:
- Sie hat all ihren Nachbarstaaten schon vor langer Frist den Abschluß von
Nichtangriffspakten angetragen.
- Sie hat mit ihrem östlichen Nachbarstaat eine vertragliche Regelung
gesucht und gefunden, die dank des großen entgegenkommenden
Verständnisses, wie sie hofft, für immer die bedrohliche
Atmosphäre, die sie bei ihrer Machtübernahme vorfand, entgiftet hat
und zu einer dauernden Verständigung und Freundschaft der beiden
Völker führen wird.
- Sie hat endlich Frankreich die feierliche Versicherung gegeben, daß
Deutschland nach der erfolgten Regelung der Saarfrage nunmehr keine
territorialen Forderungen mehr an Frankreich stellen oder erheben wird. [Scriptorium
merkt an: = Verzicht auf Elsaß-Lothringen!] Sie glaubt
damit, in einer geschichtlich seltenen Form die Voraussetzung für die
Beendigung eines jahrhundertelangen Streites zwischen zwei großen
Nationen durch ein schweres politisches und sachliches Opfer geschaffen zu
haben.
Die Deutsche Regierung muß aber zu ihrem Bedauern ersehen, daß
seit Monaten eine sich fortgesetzt steigernde Aufrüstung der übrigen
Welt stattfindet. Sie sieht in der Schaffung einer sowjetrussischen Armee von 101
Divisionen, d. h. 960 000 Mann zugegebener
Friedenspräsenzstärke, ein Element, das bei der Abfassung des
Versailler Vertrages nicht
geahnt werden konnte.
Sie sieht in der Forcierung ähnlicher Maßnahmen in anderen Staaten
weitere Beweise der Ablehnung der seinerzeit proklamierten
Abrüstungsidee. Es liegt der Deutschen Regierung fern, gegen irgendeinen
Staat einen Vorwurf erheben zu wollen. Allein, sie muß heute feststellen,
daß durch die nunmehr beschlossene Einführung der
zweijährigen Dienstzeit in Frankreich die gedanklichen Grundlagen der
Schaffung kurzdienender Verteidigungsarmeen zugunsten einer langdienenden
Organisation aufgegeben worden sind.
Dies war aber mit ein Argument für die seinerzeit von Deutschland
geforderte Preisgabe seiner Reichswehr!
Die Deutsche Regierung empfindet es unter diesen Umständen als eine
Unmöglichkeit, die für die Sicherheit des Reiches notwendigen
Maßnahmen noch länger auszusetzen oder gar vor der Kenntnis der
Mitwelt zu verbergen.
[58] Wenn sie daher dem in der Rede des englischen
Ministers Baldwin am 28. November 1934 ausgesprochenen Wunsch nach einer
Aufhellung der deutschen Absichten nunmehr entspricht, dann geschieht es:
- um dem deutschen Volk die Überzeugung und den anderen Staaten die
Kenntnis zu geben, daß die Wahrung der Ehre und Sicherheit des Deutschen
Reiches von jetzt ab wieder der eigenen Kraft der Deutschen Nation anvertraut
wird;
- aber, um durch die Fixierung des Umfanges der deutschen Maßnahmen
jene Behauptungen zu entkräften, die dem deutschen Volke das Streben
nach einer militärischen Hegemoniestellung in Europa unterschieben
wollen.
Was die Deutsche Regierung als Wahrerin der Ehre und der Interessen der
Deutschen Nation wünscht, ist, das Ausmaß jener Machtmittel
sicherzustellen, die nicht nur für die Erhaltung der Integrität des
Deutschen Reiches, sondern auch für die internationale Respektierung und
Bewertung Deutschlands als eines Mitgaranten des allgemeinen Friedens
erforderlich sind.
Denn in dieser Stunde erneuert die Deutsche Regierung vor dem deutschen Volk
und vor der ganzen Welt die Versicherung ihrer Entschlossenheit, über die
Wahrung der deutschen Ehre und der Freiheit des Reiches nie hinausgehen und
insbesondere in der nationalen deutschen Aufrüstung kein Instrument
kriegerischen Angriffs, vielmehr ausschließlich der Verteidigung und damit
der Erhaltung des Friedens bilden zu wollen.
Die Deutsche Reichsregierung drückt dabei die zuversichtliche Hoffnung
aus, daß es dem damit wieder zu seiner Ehre zurückfindenden
deutschen Volke in unabhängiger gleicher Berechtigung vergönnt
sein möge, seinen Beitrag zu leisten zur Befriedung der Welt in einer freien
und offenen Zusammenarbeit mit den anderen Nationen und ihren
Regierungen.
(Reichsgesetzblatt, 1935, Teil I, Nr. 28.)
Mit ruhiger Entschlossenheit hat der Führer das deutsche Volk durch
die internationale Krise gesteuert, die der deutsche Schritt vom 16. März
1935 zur Folge hatte. Die Mächte erhoben Einspruch, jedoch kam es nicht
zu einem gemeinsamen Schritt. Auch hier ging England wieder
voran.
Protestnote der britischen Regierung vom 18.
März 1935
gegen die Einführung der
Wehrpflicht
1. Ich beehre mich, Ihnen im Auftrage des Königlichen
Staatssekretärs für Auswärtige Angelegenheiten mitzuteilen,
daß sich die Königliche Regierung in dem Vereinigten
Königreich genötigt sieht, der Deutschen Regierung ihren Protest
gegen die von ihr am 16. März verkündete Entscheidung zu
übermitteln, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen und den
Friedensrahmen des deutschen Heeres auf 36 Divisionen zu erhöhen. Nach
der Bekanntgabe über eine deutsche Luft- [59] macht ist eine solche Erklärung ein
weiteres Beispiel für eine einseitige Aktion, die, ganz abgesehen von der
grundsätzlichen Seite der Frage, geeignet ist, die Unruhe in Europa in
ernster Weise zu erhöhen. Der Vorschlag einer
englisch-deutschen Zusammenkunft, die in einer Woche stattfinden sollte, ergab
sich aus dem Inhalt der englisch-französischen Mitteilung vom 3. Februar
und der deutschen Antwort vom 14. Februar, die durch weitere Besprechungen
zwischen der Königlichen Regierung und der Deutschen Regierung
ergänzt worden sind. Die Königliche Regierung hält es
für notwendig, auf den Inhalt dieses Dokumentes besonders
hinzuweisen.
2. Die Londoner Mitteilung vom 3. Februar stellte einerseits fest, daß
vertraglich begrenzte Rüstungen nicht durch einseitige Aktion
abgeändert werden können, erklärte aber andererseits,
daß die Britische und die Französische Regierung zu einer
allgemeinen Regelung geneigt seien, über die zwischen Deutschland und
den anderen Mächten frei verhandelt werden solle. Diese allgemeine
Regelung sollte über die Organisation der Sicherheit in Europa nach den in
der Mitteilung angegebenen Richtlinien Bestimmungen treffen und gleichzeitig
Rüstungsvereinbarungen festlegen, die für Deutschland die
einschlägigen Bestimmungen des Teiles V des Versailler
Vertrages ersetzen sollten. Die Mitteilung führte weiter aus, es
sei als Teil der ins Auge gefaßten allgemeinen Regelung anzusehen,
daß Deutschland seine aktive Mitgliedschaft im Völkerbund wieder
aufnehme, und skizzierte schließlich den Inhalt eines Luftpaktes zwischen
den Locarnomächten, der als Abschreckungsmittel gegen Angriffe wirken
und Sicherheit vor plötzlichen Luftüberfällen
gewährleisten sollte.
3. Die Antwort der Deutschen Regierung zehn Tage später
begrüßte den Geist freundschaftlichen Vertrauens, den die
englisch-französische Mitteilung zum Ausdruck brachte, und stellte in
Aussicht, daß die Deutsche Regierung die in dem ersten Teil der Londoner
Mitteilung enthaltenen Fragen einer eingehenden Prüfung unterziehen
werde, ferner die Zustimmung, daß der in der Mitteilung zum Ausdruck
gebrachte Geist freier Verhandlungen zwischen souveränen Staaten allein
zu dauerhaften internationalen Regelungen auf dem Gebiet der Rüstungen
führen könne. Im besonderen begrüßte sie den
Vorschlag über einen Luftpakt. Die deutsche Antwort endete mit der
Erklärung, daß die Deutsche Regierung es vor Eingehen auf die
vorgeschlagenen Verhandlungen für erwünscht halte, in besonderen
Besprechungen mit den in Frage kommenden Regierungen eine Anzahl von
grundsätzlichen Vorfragen zu klären. Zu diesem Zweck lud sie die
Königliche Regierung ein, mit der Deutschen Regierung in einen
unmittelbaren Gedankenaustausch einzutreten.
4. Da die Königliche Regierung sich vergewissern wollte, daß
hinsichtlich des Umfanges und des Zweckes der vorgeschlagenen
englisch-deutschen Unterhaltung kein Mißverständnis bestehe,
richtete sie am 21. Februar an die Deutsche Regierung eine weitere Anfrage, auf
die diese am folgenden Tage antwortete. Das Ergebnis war eine endgültige
Übereinstimmung zwischen den beiden Regierungen, daß der
[60] Zweck der beabsichtigten Zusammenkunft sein
sollte, die Unterhaltung über alle in der
englisch-französischen Mitteilung behandelten Fragen ein Stück
weiter zu führen. Auf dieser Basis hat sich die Königliche Regierung
darauf vorbereitet, den von der Deutschen Regierung vorgeschlagenen Besuch in
Berlin auszuführen.
5. Was ins Auge gefaßt war, waren also "eine allgemeine, frei zwischen
Deutschland und den anderen Mächten zu treffende Regelung" und
"Vereinbarungen über Rüstungen, die für Deutschland die
Bestimmungen im Teil V des Versailler Vertrages ersetzen sollten". Dies
ist stets das Ziel der Politik der Königlichen Regierung gewesen, und auf
die Erreichung dieses Zieles hat sie alle Bemühungen in Genf und sonstwo
gerichtet. Aber das Zustandekommen einer umfassenden Einigung, die auf Grund
allgemeiner Übereinstimmung an die Stelle der Vertragsbestimmungen
treten soll, kann nicht erleichtert werden, wenn man jetzt als eine bereits
getroffene Entscheidung Heerespersonalstärken bekannt gibt, die alle
seither in Vorschlag gebrachten erheblich
überschreiten - überdies Stärken, die, falls sie
unverändert aufrechterhalten werden, die Einigung mit anderen ebenfalls
stark beteiligten Mächten schwieriger, wenn nicht unmöglich
machen müssen.
6. Die Königliche Regierung wünscht keineswegs, die durch den
vorbereiteten Besuch etwa geschaffene Gelegenheit, ein Einvernehmen zu
fördern, ungenutzt vorübergehen zu lassen. Aber unter den
neugeschaffenen Umständen hält sie es vor der Ausführung
dieses Besuches für nötig, die Deutsche Regierung auf die obigen
Gesichtspunkte aufmerksam zu machen. Sie wünscht, darüber
Gewißheit zu haben, daß der Deutschen Regierung das
Zustandekommen des Besuches mit dem Umfang und Ziel der Unterhaltung, wie
früher verabredet, so wie es oben im Abs. 4 ausgeführt ist, noch
erwünscht ist.
(E: Cmd. 4848. - D: Berber, Locarno. S.
99ff.)
Die britische Anfrage, ob die Reichsregierung zu weiteren Verhandlungen
bereit sei, wurde bejaht. Der Außenminister Sir John Simon hat sich auch in
der Unterhausdebatte vom 21. März 1935 mit einer Verwahrung
begnügt. Die kriegsgefährliche Verschärfung der Lage erfolgte
durch den Schritt der französischen Regierung, die am 20. März
1935 den Völkerbund anrief, um hier die Anklage gegen den "Vertragsbrüchigen"
zu erheben und ihn aburteilen zu lassen. Aber auf der
Pariser Besprechung der drei Westmächte vom 23. März 1935, auf
der für den 11. April 1935 die Konferenz in Stresa beschlossen wurde,
beharrte die englische Regierung auf ihrem Entschluß, erst die
Informationsreise der beiden englischen Minister nach Berlin, die schon vor dem
16. März 1935 verabredet war, durchzuführen, ehe ein weiterer
Schritt erfolgte.
Am 25. und 26. März 1935 waren der englische Außenminister Sir
John Simon und der Lordsiegelbewahrer Eden in Berlin, während der
Pressesturm noch mit unverminderter Stärke weitertobte. In Gegenwart des
Führers fanden die Besprechungen statt. Nach dem am 26. März
1935 ausgegebenen Kommuniqué fanden sie in "offenster und
freundschaftlichster Form" statt und führten zu einer "vollständigen
Klarstellung der [61] beiderseitigen
Auffassungen". Die Gesamtheit der europäischen Probleme:
Abrüstung, Luftpakt, allgemeiner Konsultativpakt, wurden besprochen. Die
Reichsregierung hatte bereits in ihrem Kommuniqué vom 10. September 1934 den
Beitritt zum Ostpakt aus naheliegenden Gründen abgelehnt. Dabei blieb es.
Sie war aber zu jeder Art internationaler Zusammenarbeit bereit, die den Frieden
Europas sichern und festigen könnte. Darum sprach sie sich auch positiv
für den ins Auge gefaßten Luftpakt aus. Sir John Simon konstatierte
in seiner Erklärung vor dem Unterhause vom 28. März 1935,
daß die Besprechungen "beträchtliche Meinungsverschiedenheiten
zwischen den beiden Regierungen" ergeben hätten. In seiner Unterhausrede
vom 9. April 1935 berichtete er über die Absichten der deutschen Politik
der Freiheit, Ehre und Gleichberechtigung, in der vom 10. April 1935 über
die Ansichten der europäischen Regierungen, die Eden inzwischen in
Moskau, Warschau und Prag festgestellt hatte.
Aus der Unterhausrede des britischen
Außenministers
Sir John Simon vom 9. April 1935 über das Ergebnis
seiner Berliner Besprechungen
Hinsichtlich des sogenannten Ostpaktes, der zuerst von dem verstorbenen
Außenminister Barthou im vergangenen Sommer angeregt wurde, hat
Reichskanzler Hitler klar zum Ausdruck gebracht, daß Deutschland nicht
gewillt ist, einen Ostpakt zu unterzeichnen, der Deutschland zu gegenseitiger
Unterstützung verpflichten würde. Insbesondere ist Deutschland
nicht bereit, einen Pakt zu gegenseitiger Unterstützung mit Rußland
einzugehen. Andererseits wurde erklärt, daß Deutschland einen
Nichtangriffspakt zwischen den in Osteuropa interessierten Mächten, der
eine Konsultation für den Fall eines drohenden Angriffs vorsieht,
begünstigen würde. Hitler ist unter den gegenwärtigen
Umständen nicht bereit, die Einbeziehung Litauens in irgendeinen
Nichtangriffspakt in Aussicht zu nehmen. Die Deutschen schlugen ferner vor,
daß, falls trotz dieses Nichtangriffs- und Konsultativpaktes Feindseligkeiten
zwischen zwei vertragschließenden Mächten ausbrechen
würden, die anderen vertragschließenden Mächte sich
verpflichten sollten, den Angreifer in keiner Weise zu unterstützen. In
einem anderen Zusammenhang verwies Hitler allerdings auf die Schwierigkeit,
den Angreifer zu bestimmen. Über seine Ansicht für den Fall befragt,
daß irgendwelche Unterzeichner eines solchen Nichtangriffspaktes
untereinander ein Abkommen über gegenseitige Unterstützung
abschließen, erklärte der Reichskanzler, daß er diesen
Gedanken für gefährlich und anfechtbar halte, da er nach seiner
Meinung darauf hinauslaufe, Sonderinteressen einer Gruppe im Rahmen des
weiteren Systems zu schaffen...
Was den Gedanken eines mitteleuropäischen Paktes angeht, der auf der
französisch-italienischen Zusammenkunft in Rom näher besprochen
worden ist, hörten wir in Berlin, daß die deutsche Regierung den
Gedanken eines solchen Abkommens nicht grundsätzlich ablehnt, [62] aber seine Notwendigkeit nicht einsieht und eine
große Schwierigkeit in der Bestimmung des Begriffs "Nichteinmischung" in
bezug auf Österreich erblickt. Hitler gab jedoch zu verstehen, daß
für den Fall, daß die anderen Regierungen einen
mitteleuropäischen Pakt abzuschließen wünschten und sich auf
einen Wortlaut einigen könnten, die deutsche Regierung diesen in
Erwägung ziehen würde...
Hinsichtlich der Landrüstungen stellte Reichskanzler Hitler fest, daß
Deutschland 36 Divisionen benötige, die eine Höchstzahl von
550 000 Soldaten aller Waffengattungen einschließlich einer
Division SS und militarisierter Polizeitruppen darstellten. Er versicherte,
daß es in Deutschland keine halbmilitärischen Verbände
gäbe. Deutschland, so erklärte er, beanspruche, über alle
Waffentypen zu verfügen, die andere Länder besitzen, und sei nicht
bereit, auf den Bau gewisser Typen zu verzichten, solange andere Länder
sie ebenfalls besitzen. Falls andere Länder gewisse Typen aufgeben, so
würde Deutschland das gleiche tun. Hinsichtlich der Seerüstungen
beanspruche Deutschland unter gewissen Vorbehalten 35% der britischen
Tonnage und in der Luft Gleichheit mit England und Frankreich, vorausgesetzt,
daß sich die sowjetrussischen Luftstreitkräfte nicht derart
entwickelten, daß eine Überprüfung dieses Verhältnisses
notwendig werde. Wenn irgendein allgemeines Abkommen über die
Begrenzung der Rüstungen erreicht werden könnte, wäre
Deutschland bereit, ein System dauernder und automatischer Überwachung
anzunehmen und ins Werk zu setzen unter der Voraussetzung, daß eine
solche Überwachung in gleicher Weise für alle Mächte
Anwendung findet. Hitler erklärte, daß die deutsche Regierung dem
in der Londoner Vereinbarung enthaltenen Vorschlag eines Luftpaktes zwischen
den Locarnomächten günstig gegenüberstehe.
In der Frage des Völkerbundes berief sich Hitler auf seine im Mai 1933
abgegebene Versicherung, daß Deutschland im Völkerbund nicht
weiter mitarbeiten würde, falls es weiter als das behandelt würde,
was er als Land minderen Rechts bezeichnete, und er machte beispielsweise
geltend, daß sich Deutschland in einer untergeordneten Stellung befinde,
wenn es keine Kolonien besitzt.
(E: Parliamentary
Debates. House of Commons. Bd. 300, Sp.
984ff. - D: Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik,
Mai 1935, S. 8f.)
Auf die Konferenz nach Stresa, die am 11. April 1935 begann, gingen die
Mächte keineswegs als eine geschlossene Front mit einheitlichem Willen.
Am 14. April kam ihre Schlußresolution
heraus. Wiederum wurden der
Ostpakt, die österreichische Frage, der Luftpakt für Westeuropa, die
Abrüstung, Locarno, aber auch so revisionistische Fragen wie der
Abrüstungsstand Ungarns, Österreichs und der Türkei
erörtert. Die Stresamächte bekundeten ihre völlige Einigkeit,
"sich mit allen geeigneten Mitteln jeder einseitigen Aufkündigung von
Verträgen zu widersetzen". Eingehend hat man sich daneben mit den
Fragen einer Friedenssicherung in Osteuropa beschäftigt. Hier war seit
Monaten die französische Außenpolitik sehr aktiv. Im September
1934 war die Sowjet- [63] union in den
Völkerbund geholt, am 5. Dezember 1934 das
französisch-russische Protokoll, der Vorläufer des Paktes vom 2. Mai
1935, unterzeichnet worden. Die
französisch-russische Entente sollte das Rückgrat des
künftigen Ostpaktes bilden, zugleich aber sollte sie auch die Achse der
europäischen Paktpolitik werden. In deren Netze suchte man Deutschland
zu verstricken. Simon teilte in Stresa die Auffassung des Führers zum
Ostpakt mit. Die deutsche Reichsregierung präzisierte ihren Standpunkt
noch einmal in einem Kommuniqué vom 15. April 1935. Sie nahm
grundsätzlich zum ganzen Paktsystem Stellung und sprach sich für
bilaterale Pakte, wie den mit Polen vom 26. Januar 1934, und gegen automatische
militärische Beistandsverpflichtungen aus. Die Unterstützungspakte
waren nach deutscher Ansicht mehr ein Element der Friedensstörung als ein
solches der Friedenssicherung, die Unteilbarkeit des Friedens mehr die
Unteilbarkeit eines ausbrechenden Krieges.
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