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[Bd. 1 S. 139]
4. Kapitel: Versailler Friedenskonferenz und Friedensdiktat,
Scapa Flow, Erhebung des rheinischen Separatismus.

An den Friedensverhandlungen hatte das deutsche Volk keinen Anteil gehabt. Es wurde vor eine vollendete Tatsache, ein fait accompli, ein Diktat gestellt. Und dennoch muß in einer deutschen Geschichte auch die historische Genesis der Friedenskonferenz und des Friedensvertrages behandelt werden.

Am 4. Dezember hatte der Präsident der Vereinigten Staaten, Wilson, Amerika verlassen, um sich zu den in Paris stattfindenden Friedensverhandlungen zu begeben. Am 13. Dezember traf er hier ein. Noch am 2. Januar war er unerschütterlich entschlossen, einen Frieden auf der Grundlage seiner vierzehn Punkte zu schaffen. "Den Frieden will ich verhandeln und schließen als einen Frieden des Rechts. Einen Frieden der Gewalt, der Vernichtung und der Versklavung lehne ich ab. Wir haben die vierzehn Punkte zur Grundlage des Friedens gemacht und werden an ihnen festhalten", erklärte er. Am 18. Januar wurde die Friedenskonferenz eröffnet. Ein buntes Völkergemisch hatte sich versammelt, und hochdramatisch ging es her. Da sah man neben den Franzosen, Engländern, Italienern, Polen, Tschechoslowaken, Serben, Belgiern und Griechen die Japaner und Chinesen, die Vertreter sämtlicher amerikanischer Staaten, Mulatten aus Cuba, Neger von Liberia und Nikaragua und Siamesen – nur die Deutschen und ihre ehemaligen Verbündeten fehlten.

Wilson,
Lloyd George,
  Friedensdiktator Clemenceau  

Doch in der Heerschar der Friedensbeflissenen gab es nur drei Männer, welche handelten und verhandelten: Wilson, Clemenceau, Lloyd George. Deshalb nannte Tardieu, der Verfasser des Friedensvertrages, die Verhandlungen einen dialogue a trois. Unter diesen dreien wieder herrschte mit diktatorischer Gewalt der rührige Clemenceau, er gab der Konferenz die Richtung, er machte aus dem Frieden der Alliierten ein Diktat [140] Frankreichs

Lloyd George, Orlando, Clemenceau, Wilson.
[Bd. 1 S. 176a]      Versailles: Lloyd George,
Orlando, Clemenceau, Wilson.
      Photo Scherl.
gegen Deutschland. Clemenceau wurde unterstützt durch das ganze französische Milieu, durch die machtvoll aufgezogene Agitation der französischen Presse. Es war in der Tat ein gewaltiger Kampf der Geister: mit dämonischer Kraft zwangen die Franzosen alle Andersdenkenden, selbst Wilson, vor ihnen die Waffen zu strecken.

Clemenceau, dieser fanatische Greis von 73 Jahren, hatte die ganze Entwicklung des französischen Revanchegedankens in all seinen Stadien miterlebt, jetzt stand er am Ziele seiner Wünsche, die er ein halbes Jahrhundert in die Tat umzusetzen bemüht war. Er war es, der kalten Blutes die furchtbaren Massenerschießungen im französischen Heere im Mai 1917 inspirierte, als das französische 16. Armeekorps und andere Truppenteile meuterten. Er war es, der, als er am 20. November 1917 das Präsidium und Kriegsministerium übernommen hatte, vor der Deputiertenkammer erklärte: "Alle Schuldigen vor das Kriegsgericht! Keinen Pazifistenfeldzug mehr, keine deutschen Umtriebe mehr! Weder Verrat noch Halbverrat!" Vor ihm als dem unsichtbaren Diktator zitterten die französischen Defaitisten und Pazifisten, denn er brandmarkte sie als Verräter. Er ließ am 14. Januar 1918 den Abgeordneten Caillaux wegen Flaumacherei und verdächtigen Beziehungen zu den Defaitisten verhaften. Er ließ am 7. August 1918 den früheren französischen Innenminister Malvy wegen Begünstigung geheimer Friedenspropaganda verbannen. Duval, der Leiter der friedensfreundlichen Zeitung Bonnet rouge, wurde erschossen, weil Clemenceau es wünschte. Dieser grausame Mann ging über Leichen und watete durch Blut, und sein eiserner Wille zwang im wahrsten Sinne des Wortes den Sieg an Frankreichs Fahnen.

Der ehemalige italienische Ministerpräsident Nitti schildert ihn folgendermaßen:

      "Clemenceau war sein ganzes Leben lang von einem furchtbaren Zerstörungsgeist beseelt. Jahrelang hat er nichts weiter getan, als mit hartnäckiger Verbissenheit Regierungen gestürzt und Menschenschicksale zertrümmert. In spätem Alter selbst zur Regierung gekommen, ließ er nun seinen wilden Kampfgeist sich austoben. Kein Staatsmann empfindet heftigere Abneigung gegen Kirche und Sozialismus: [141] diese beiden moralischen Mächte stoßen seinen individualistischen Geist in gleicher Weise ab. Ich kenne keinen Staatsmann, der eine so besondere, so persönlich gefärbte Gedankenwelt hat: er ist und bleibt der Mann der antiken Demokratie. Keiner war im Krieg geeigneter als er, an die Spitze eines Ministeriums der nationalen Verteidigung zu treten: Kampf nach innen, Kampf nach außen mit der gleichen Empfindung, der gleichen Leidenschaft. Ein einziges schien ihm nötig, um den Feind zu schlagen: nicht wanken im Hasse, Ausharren im Bewußtsein des Sieges, und es gab niemand, der sich hierfür besser geeignet hätte, der so die Glut zu schüren wußte. Aber als es nach dem Kriege galt, den Frieden dauerhaft zu festigen, da war wohl niemand so wenig an seinem Platze wie er. Er kannte nur seinen Haß gegen Deutschland, er kannte nur die Notwendigkeit, den Feind zu vernichten, ihn jeder Lebenskraft zu berauben, ihn zu unterjochen. Bei seinem hohen Alter konnte er seine Probleme nicht mehr auf die lange Bank schieben; schnell, kurz entschlossen mußte die Vernichtung des Feindes durchgeführt werden, mußte man ihm die Quelle seines Reichtums verstopfen, sie zerstören. Zum Unterschiede von seinen Mitarbeitern, war Clemenceau weder Nationalist noch Imperialist; aber tiefer als alle anderen trug er den Haß gegen Deutschland im Herzen. Raube ihm Fruchtbarkeit, Ordnung, Lebenskraft, das war sein kategorischer Imperativ."

Clemenceau hielt es für selbstverständlich, daß Frankreich Sühne für Waterloo und Sedan erhielte. Zerstückelt mußte das Reich werden, sein Volk mußte dezimiert werden, durch Hunger, durch Bürgerkrieg, das war alles gleich. In Deutschland sind zwanzig Millionen Deutsche zuviel! Die Furcht vor der überlegenen Bevölkerungszahl Deutschlands plagte ihn.

Frankreichs Streben
  nach der Rheingrenze  

Frankreichs nächstes und hauptsächlichstes Ziel auf der Friedenskonferenz war die Gewinnung der Rheingrenze. Bereits während des Weltkrieges, am 4. Februar 1917, schloß Doumergue im Auftrage Frankreichs mit dem Zaren von Rußland einen Vertrag, der für Frankreich folgende Forderungen enthielt:

1. Elsaß-Lothringen wird an Frankreich zurückgegeben.

2. Die Grenzen werden erweitert werden wenigstens [142] bis zum Umfange des früheren Herzogtums Lothringen und werden nach den Wünschen der französischen Regierung festgestellt werden, wobei die strategischen Notwendigkeiten berücksichtigt werden müssen, damit auch das ganze Eisenerzrevier Lothringens und das ganze Kohlenbecken des Saarreviers in das französische Territorium einverleibt würde.

3. Die übrigen linksrheinischen Gebiete, die nicht mit Frankreich vereinigt werden, werden von Deutschland ganz abgetrennt und politisch wie wirtschaftlich unabhängig. Sie werden ein selbständiges und neutrales Staatswesen bilden und solange von französischen Truppen besetzt gehalten, bis Deutschland endgültig alle Bedingungen und Garantien des Friedensvertrages vollständig erfüllt hat.

Dieser Doumergue-Vertrag wurde in England nicht ernst genommen und erweckte in Deutschland Hohngelächter. Nichtsdestoweniger legte Paul Cambon am 26. November 1918 der englischen Regierung die Forderungen Frankreichs vor, welche lediglich eine Wiederholung des Doumergue-Vertrages darstellten. Marschall Foch ging in seiner Note vom 27. November 1918 sogar noch weiter: er bespöttelte die Neutralisierung des Rheinlandes als eine Schimäre, forderte direkt die Rheingrenze für Frankreich und die Wehrhaftmachung der sieben Millionen Rheinländer im Dienste Frankreichs gegen Deutschland. Foch faßte den Rhein auf als "unentbehrliche Grenze der europäischen Kultur, et par là, de la civilisation". Politiker und Generäle waren sich darin einig, daß die Grenze Frankreichs bis an den Rhein vorgeschoben werden müsse. Die Franzosen legten in der Zeit vom 26. November 1918 bis 12. Mai 1919 nicht weniger als fünf Pläne vor, wonach sie das deutsche Rheinland vom Reiche lösen und in autonome Republiken unter Frankreichs Protektorat auflösen wollten, oder wenn das nicht erreicht wurde, zum mindesten die Rheingebiete mit einer dauernden französisch-belgischen Besatzung belegen wollten. Hierzu gaben aber weder Wilson noch Lloyd George ihre Zustimmung. Diese beiden Staatsmänner boten Frankreich am 14. März als Ersatz einen Garantievertrag gegen etwaige deutsche Angriffe an. Nun verzichtete die französische Regierung am 17. März auf die [143] dauernde Besetzung und wollte sie auf dreißig Jahre beschränken, während die Alliierten nur eine fünfjährige Besetzungsdauer für ausreichend hielten.

  Lloyd Georges Denkschrift  

Am 25. März 1919 hatte Lloyd George der Pariser Konferenz eine Denkschrift überreicht, wo er zur Mäßigung riet. Er sei ein entschiedener Gegner des Planes, vom Deutschen Reiche mehr Deutsche loszureißen, als unbedingt erforderlich sei. Die Alliierten sollten keine unannehmbaren Bedingungen stellen, dadurch würde die deutsche Regierung gestürzt und der Bolschewismus würde sich ausbreiten. "Die größte Gefahr, die ich in der jetzigen Lage erblicken kann, liegt darin, daß Deutschland imstande sein könnte, sein Schicksal in die Hand der Bolschewisten zu legen, seine Reichtümer, seinen Geist, seine großartige Organisationskraft diesen revolutionären Fanatikern zur Verfügung zu stellen, die von einer Eroberung der Welt durch den Bolschewismus träumen, und zwar durch Waffengewalt. Diese Gefahr ist kein leeres Phantom. Die jetzige deutsche Regierung ist schwach; sie genießt keine Achtung; ihre Autorität ist gering; dennoch hält sie sich; ihr Gehen hieße den Spartakismus rufen, für den Deutschland noch nicht reif ist." Und diese Angst vor dem deutschen Bolschewismus bewog den englischen Staatsmann, zu einem gerechten, umsichtigen Frieden mit Deutschland zu raten und es in den Völkerbund aufzunehmen.

Entwaffnung und
  Wiedergutmachung  

Die Entwaffnung Deutschlands führte ebenfalls zu Differenzen unter den Alliierten. Am 12. Februar war unter Vorsitz des Marschalls Foch ein Ausschuß gebildet worden, der sich mit der Frage der deutschen Entwaffnung zu beschäftigen hatte. Hier wurde ein Plan festgelegt, der folgendes bestimmte: die gemeinen Soldaten des deutschen Landheeres sollten nach dem Los oder nach irgendeinem anderen Prinzip ausgehoben und nicht länger

Lloyd George.
[Bd. 1 S. 112a]
David Lloyd George.
Photo Scherl.
als ein Jahr dienen, die Gesamtstärke des deutschen Heeres dürfe 180 000 Mann nicht überschreiten. Hiergegen wandte sich Lloyd George. Er könne nicht einsehen, warum man Deutschland das Geschenk einer so großen Wehrmacht mache. Sein Gesichtspunkt sei der: Deutschland dürfe nicht ermächtigt werden, eine Armee zu unterhalten, die stärker als diejenige Englands sei. Denn nach [144] dem vorgelegten Plane verfüge Deutschland schon nach fünf Jahren über fast eine Million ausgebildeter Soldaten. Er arbeitete einen Plan aus und legte ihm am 7. März vor. Danach durfte die deutsche Armee 200 000 Soldaten umfassen, aber für alle Grade müsse eine Mindestdienstzeit von zwölf Jahren festgesetzt sein. Hiermit waren nun wieder Foch und Clemenceau nicht einverstanden. Eine deutsche Armee von 200 000 Mann mit zwölfjähriger Dienstzeit sei eine Cadreformation, ein Grundstock, der mit Leichtigkeit ein Volksheer ausbilden könne und insofern furchtbar sei. Sie verlangten unter diesen Umständen eine Herabsetzung auf 100 000 Mann. Am 10. März schon wurde der Kompromiß geschlossen, den Foch folgendermaßen formulierte: "Wenn die Regierungen das Prinzip des langfristigen Dienstes annehmen wollen, ist es unerläßlich, um die Gefahr zu vermindern, welche in meinen Augen eine dauernde Armee mit langfristiger Dienstzeit bedeutet, deren Effektivbestand herabzusetzen auf 100 000 Mann." So hatte Lloyd George dem deutschen Volke statt des Volksheeres das Söldnerheer mit zwölfjähriger Dienstzeit verschafft und Foch die deutsche Heeresstärke auf 100 000 Mann herabgedrückt.

Doch Schritt für Schritt gelang es der Überredungskunst Clemenceaus, Wilson und Lloyd George für seine Forderungen zu gewinnen. Am 7. April stimmten die beiden Staatsmänner der vollständigen Wiedergutmachung der Schäden an Gut und Menschenleben zu; am 10. wurde die Abtretung der Kohlengruben im Saarbecken und die Errichtung eines internationalen Regimes in diesem Gebiete angenommen; am 17. die Kontrolle der deutschen Bewaffnung beschlossen; am 20. stimmte Wilson der Besetzung des Rheinlandes zu, Lloyd George schloß sich zwei Tage später dieser Forderung an. Clemenceau hatte es durchgesetzt, daß nicht die von England und Amerika vorgeschlagene fünfjährige Besetzungsdauer im Vertrage aufgenommen wurde, sondern eine fünfzehnjährige mit drei Räumungsfristen in drei Zonen nach fünf, zehn und fünfzehn Jahren. Am 24. wurde von Lloyd George und Wilson die belgische Priorität für die Wiedergutmachungen anerkannt; [145] am 27. April wurde der Sicherheitspakt gegen Deutschlands Angriff beschlossen. Es war, wie Tardieu sagt, eine Kompromißlösung zustande gekommen, "nicht die, welche wir im Februar vorschlugen, d. h. die Abtrennung, auch nicht die, welche die Alliierten am 14. März anboten, d. h. das ganz, allgemeine Versprechen militärischer Hilfe bei einem deutschen Angriff, sondern eine Lösung, welche aus einer Verbindung der ersten und zweiten besteht, alle wesentlichen Garantien der ersten sichert und den unschätzbaren Vorteil der unmittelbaren englischen und amerikanischen Hilfe hinzufügt".

Ähnlich verhielt es sich mit der Behandlung der Wiedergutmachungsfrage. Ursprünglich sollte Deutschland nach dem Sinne des mit Wilson geführten Notenwechsels (des "Vorfriedensvertrages") lediglich die der Zivilbevölkerung zugefügten Schäden wieder gutmachen. Doch die Alliierten beabsichtigten von Anfang an, von der Beschränkung der Schadensersatzforderung auf Zivilschäden abzugehen. Noch im Februar beauftragte Wilson seine Vertreter, öffentlich einem Vorgehen entgegenzutreten, "welches unvereinbar ist mit dem, was wir in voller Überlegung die Feinde erhoffen ließen und was wir heute ehrenhalber nicht abändern können, nur deswegen, weil wir die Macht dazu haben". Lloyd George vermittelte nun zwischen den weitgehenden französischen Forderungen und Wilsons Standpunkt und schlug vor, die Pensionen in die Wiedergutmachungsforderungen mit einzubeziehen. Hierdurch wuchs der angelsächsische Anteil an den Reparationen wesentlich, da England selbst und seine Kolonien nur geringe Zivilschäden erlitten hatten, und Wilson fand sich bereit, die Pensionen für die Kriegsverletzten und die Kriegshinterbliebenen mit einzubeziehen. Als die juristischen Berater Wilsons auf die Unlogik seines Verhaltens aufmerksam machten, fuhr er sie an: "Zum Teufel mit der Logik! Ich beziehe die Pensionen doch ein!" Auf diese Weise wurde die Deutschland auferlegte pekuniäre Last verdreifacht gegenüber den ursprünglichen Forderungen Wilsons auf Wiedergutmachung der Zivilschäden! –

Noch am Abend des 6. Mai glaubte die Mehrzahl der deutschen Delegierten in Versailles an einen Frieden, wie ihn [146] Wilson in Aussicht gestellt hatte. Leinert tat den Ausspruch: "Der 7. Mai wird meinen Glauben an das Weltgewissen rechtfertigen."

  Graf Brockdorff-Rantzau  
in Versailles

Am 7. Mai endlich wurde dem Grafen Brockdorff-Rantzau das Dokument überreicht, welches, wie Tardieu sagt, sich hielt "auf einer mühsam erreichten Mittellinie zwischen den hartnäckig auseinanderstrebenden Auffassungen". Die Übergabe fand im Trianon-Palace-Hotel statt, wo die Deutschen untergebracht waren.

Eine bedrückende Feierlichkeit breitete sich in dieser schicksalsschweren Stunde über die Versammlung. Gesandte aus allen Ländern der Welt waren versammelt. Schwarze Anzüge, bunte Uniformen, mit Orden übersät. Nichts rührt sich. Verschlossene Gesichter mit steinernen Mienen und starren Augen. Eisiges Schweigen, alles Ablehnung. Todesernst beherrscht diese Stunde des Unheils.

Graf Brockdorff-Rantzau.
[Bd. 1 S. 112a]
Graf Brockdorff-Rantzau.
Photo Scherl.
Vor dem Grafen Brockdorff-Rantzau liegt ein dickes, weißes Buch: "Conditions de Paix." Der Graf ist blaß vor innerer Erregung. Er wirft seine schwarzen Handschuhe auf das fluchwürdige Buch und beginnt, ohne sich von seinem Sitze zu erheben:

"Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, daß die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist. Wir kennen die Wucht des Hasses, der uns hier entgegentritt. Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die allein Schuldigen am Weltkriege bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, daß es zu diesem Weltkriege kam, von Deutschland abzuwälzen. Die Haltung der früheren deutschen Regierung auf den Haager Friedenskonferenzen, ihre Handlungen und Unterlassungen in den tragischen zwölf Julitagen mögen zu dem Unheil beigetragen haben, aber wir bestreiten nachdrücklich, daß Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist. Keiner von uns wird behaupten wollen, daß das Unheil seinen Lauf erst mit der Ermordung des Erzherzogs begann. In den letzten fünfzig Jahren hat der Imperialismus die internationale [147] Lage aller europäischen Staaten chronisch vergiftet. Die Politik der Vergeltung wie die Politik der Expansion und die Nichtachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker haben zu der Krisis beigetragen. Die russische Mobilisierung gab die Entscheidung in die Hand der militärischen Gewalten."

"Die öffentliche Meinung bei unseren Gegnern hallt wider von den Verbrechen, die Deutschland im Kriege begangen habe. Wir sind nicht hierhergekommen, um die Verantwortung der Männer, die den Krieg leiteten, oder etwaige Frevel wider das Völkerrecht zu leugnen. Wir wiederholen die Erklärung: Belgien ist Unrecht geschehen, und wir wollen es wieder gutmachen. Aber in der Art der Kriegführung hat nicht Deutschland allein gefehlt. Wenn man gerade von uns Buße verlangt, so darf man den Waffenstillstand nicht vergessen. Wir hatten sechs Monate zu warten, bis wir Ihre Friedensbedingungen erfuhren. Verbrechen im Kriege mögen nicht zu entschuldigen sein, aber sie geschehen im Ringen um den Sieg. Die Hunderttausende von Nichtkämpfern, die seit dem 11. November an der Blockade zugrunde gingen, wurden mit kalter Überlegung getötet, nachdem der Sieg errungen war. Daran denken Sie, wenn Sie von Schuld und Sühne sprechen. Das Maß der Schuld aller Beteiligten kann nur eine unparteiische Untersuchung feststellen, eine neutrale Kommission, vor der alle Hauptpersonen der Tragödie zu Worte kommen, der alle Archive geöffnet werden. Wir haben eine solche Untersuchung gefordert, und wir wiederholen die Forderung."

"Bei dieser Konferenz, wo wir allein stehen, sind wir nicht schutzlos. Sie selbst haben uns einen Bundesgenossen zugeführt: das Recht, das uns durch den Vertrag über die Friedensgrundsätze gewährleistet ist. Die Alliierten haben auf den Machtfrieden verzichtet und den Frieden der Gerechtigkeit auf ihr Panier geschrieben. Die Grundsätze des Präsidenten Wilson sind für beide Kriegsparteien, für Sie wie für uns, bindend geworden. Sie verlangen von uns schwere nationale und wirtschaftliche Opfer, aber die heiligen Grundrechte aller Völker sind geschützt. Das Gewissen der Welt steht hinter ihnen, und keine Nation wird sie ungestraft verletzen dürfen. Als nächstes Ziel betrachte ich den Wiederaufbau der [148] zerstörten Gebiete. Die Verpflichtung hierzu haben wir anerkannt und sind entschlossen, sie durchzuführen. Unsere beiderseitigen Sachverständigen werden zu prüfen haben, wie das deutsche Volk seiner finanziellen Entschädigungspflicht Genüge leisten kann, ohne zusammenzubrechen. Der erhabene Gedanke, aus dem furchtbarsten Unheil der Weltgeschichte den größten Fortschritt der Menschheitsentwicklung herzuleiten, ist ausgesprochen und wird sich durchsetzen. Nur wenn sich die Tore zum Völkerbund allen Nationen öffnen, die guten Willens sind, wird dieses Ziel erreicht werden, nur dann sind die Toten dieses Krieges nicht umsonst gestorben. Das deutsche Volk ist innerlich bereit, sich mit seinem schweren Los abzufinden, wenn an den vereinbarten Grundlagen des Friedens nicht gerüttelt wird. Ein Friede, der nicht im Namen des Rechts verteidigt werden kann, würde immer neue Widerstände gegen sich aufrühren. Niemand wäre in der Lage, ihn mit gutem Gewissen zu unterzeichnen, denn er wäre unerfüllbar."

Brockdorff-Rantzau wiederholte in dieser Ansprache im wesentlichen das, was er am 14. Februar in der Nationalversammlung ausgesprochen hatte. Der englische Historiker Gooch sagt, daß mancher der Zuhörer aus den deutschen Ausführungen so etwas wie demütigen Trotz herausgehört habe, aber die Rede sei geschickt darauf angelegt gewesen, den Ton roher Selbstgerechtigkeit wie auch unaufrichtiger Bußfertigkeit zu vermeiden. Aber die deutschen Angriffe auf Frankreich, soweit solche aus der Rede herauszulesen waren, prallten an der ehernen Stirn Clemenceaus ab. Nachdem Graf Brockdorff-Rantzau geendet, erhob sich der Franzose und fragte in kühlem, geschäftsmäßigem Tone: "Wünscht sonst noch jemand das "Wort?" Niemand meldete sich. "Dann schließe ich die Versammlung." Man war über die deutschen Ausführungen zur Tagesordnung übergegangen. Es war nur eine diplomatische Formalität gewesen, daß man den Deutschen angehört hatte.

  Der Friedensvertrag  

Dem Friedensvertrag war die Völkerbundsakte vorangestellt. Mitglieder dieses Völkerbundes sollten die Ententestaaten und die Neutralen sein, soweit sie ihren Beitritt erklärten. Andere Staaten konnten aufgenommen werden, [149] wenn die Bundesversammlung mit zwei Drittel Stimmenmehrheit die Zulassung genehmigte. Als Bundessitz wurde Genf bestimmt. Die Einladung zum Beitritt erging an alle anderen Staaten Europas, Amerikas und Asiens, jedoch waren die Mittelmächte und Sowjetrußland ausgeschlossen. Dieser Völkerbund war unter Frankreichs diktatorischem Einfluß zu einer Fortsetzung und Erweiterung der Entente geworden, zu einem Instrument der Macht und des Krieges, nicht des Friedens, wie Wilson wollte. Aus diesem Grunde blieben die Vereinigten Staaten diesem neuen Gebilde fern.

In 440 Artikeln wurden sodann die Verpflichtungen aufgeführt, welche Deutschland zu erfüllen hatte. Sämtliche überseeische Kolonien wurden dem Reiche genommen. Außerdem sollten vom Reichsgebiet sofort, ohne jede Abstimmung, abgetrennt werden: Elsaß-Lothringen an Frankreich, Moresnet, Eupen und Malmedy an Belgien, die Provinzen Westpreußen und Posen, sowie Oberschlesien und Teile der Provinz Pommern an Polen und das "Memelland" an die Alliierten. Diese Gebietsverluste betrugen etwa 67 000 qkm. Danzig wurde zur freien Stadt erklärt. Volksabstimmungen wurden nur zugelassen in drei Zonen Nordschleswigs, auf einem Gebiet von 5300 qkm. Das Saargebiet wurde auf die Dauer von 15 Jahren der Regierung des Völkerbundes unterstellt, nach Ablauf dieser Frist sollte dort eine Volksabstimmung stattfinden. Jedoch alle Kohlengruben des Saarbeckens und der Westpfalz sollten sofort an Frankreich abgetreten werden, Deutschland mußte sich verpflichten, sie zurückzukaufen, falls die Abstimmung zu seinen Gunsten ausfällt.

Mit interalliierten Truppen besetzt wurde das linke Rheingebiet mit den Brückenköpfen Köln, Koblenz und Mainz auf vorläufig 15 Jahre und das Saargebiet. Die Räumung des Rheingebietes wurde in drei Etappen nach fünf, zehn und fünfzehn Jahren vorgesehen, aber von der Erfüllung der anderen Verpflichtungen durch Deutschland abhängig gemacht. Die Räumung des Saargebietes wurde vom Ausfall der Volksabstimmung nach fünfzehn Jahren abhängig gemacht. Die Besatzungskosten mußte Deutschland übernehmen.

Französische Tanks vor dem Kölner Dom.
[Bd. 1 S. 240b]      Französische Tanks
vor dem Kölner Dom.
      Photo Scherl.
Englische Wache in Köln.
[Bd. 1 S. 240b]      Englische Wache auf der
Hohenzollernbrücke in Köln.
      Photo Scherl.

Schottländer auf der Hohenzollernbrücke in Köln.
[Bd. 1 S. 256a]      Schottländer auf der
Hohenzollernbrücke in Köln.
      Photo Scherl.
Franzosen auf dem Mainzer Hauptbahnhof.
[Bd. 1 S. 256a]      Franzosen auf dem
Mainzer Hauptbahnhof.
      Photo Scherl.

Im Artikel 80 mußte Deutschland die Unabhängigkeit [150] Deutsch-Österreichs anerkennen und auf jede Vereinigung mit diesem kerndeutschen Lande verzichten, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes seine Zustimmung erteilt.

Auf dem linken Rheinufer und in einer 50 km breiten neutralen Zone östlich des Rheins wurde Deutschland verboten, Befestigungen und Garnisonen anzulegen oder zu unterhalten. Die allgemeine Wehrpflicht mußte abgeschafft werden. Das Heer sollte auf 100 000 Mann (7 Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen) beschränkt werden und aus Berufssoldaten bestehen, von den sich Unteroffiziere und Gemeine zu zwölfjähriger, Offiziere zu 25jähriger Dienstzeit verpflichten sollten. Generalstab, Kriegsakademie und Militärschulen sollten aufgelöst werden. Es wurde verboten, daß sich Schulen, Universitäten, Krieger-, Schützen- und Sportvereine mit militärischen Dingen befaßten. Schwere Artillerie, Flugzeuge, Luftschiffe, Kampfwagen und Panzerzüge durften nicht im Heere verwendet werden. Waffen, Munition und anderes Kriegsgerät durfte nur unter Kontrolle der Alliierten hergestellt werden. Alles Kriegsmaterial, das nicht genehmigt wurde, mußte abgeliefert werden. Es waren alle Vorkehrungen verboten, die zur Durchführung einer Mobilmachung dienten.

Die Kriegsmarine wurde auf 6 Linienschiffe, 6 kleine Kreuzer, 12 Zerstörer und 12 Torpedoboote beschränkt, alle anderen Schiffe waren auszuliefern, der Bau von U-Booten wurde verboten. Es durften nicht mehr als 1500 Offiziere und 15 000 Mannschaften eingestellt werden. Der Nordostseekanal wurde für die Kriegs- und Handelsschiffe aller Nationen geöffnet, Kiel wurde zum offenen Hafen erklärt. Die Befestigungen und Häfen Helgolands mußten zerstört werden.

Eine interalliierte Überwachungskommission wurde eingesetzt, die sich in Deutschland aufhielt und die Durchführung der Abrüstungsbestimmungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft überwachte. Die Kosten dieser Kommission hatte Deutschland zu tragen.

Besonders schmachvoll und entehrend waren für Deutschland die sogenannten "Strafbestimmungen". Ein Gerichtshof sollte eingesetzt werden, vor welchem Kaiser Wilhelm II. und [151] die "Kriegsverbrecher" abgeurteilt werden sollten. Zu diesem Zwecke sollte die niederländische Regierung um Auslieferung des ehemaligen Kaisers ersucht werden.

Deutschland mußte anerkennen, daß es allein am Kriege schuld gewesen sei. Artikel 321 bekam folgende Fassung: "Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben."

Deutschland mußte sich verpflichten, alle Kriegsschäden in Belgien und Frankreich wieder gutzumachen, alle Pensionen für Kriegsbeschädigte und ‑hinterbliebene zu zahlen und Belgien 5 Milliarden Franken nebst 5 Prozent Zinsen zurückzuerstatten. Die Höhe der Schäden sollte ein Wiedergutmachungsausschuß bis zum 1. Mai 1921 festsetzen. Die Schuldsumme mußte innerhalb 30 Jahren getilgt werden. Es sollten sofort 20 Milliarden Goldmark, später noch 80 Milliarden gezahlt werden. Der Wiedergutmachungsausschuß sollte seinen Sitz in Paris haben und aus je einem Vertreter Frankreichs, Englands, Italiens und der Vereinigten Staaten und abwechselnd einem Vertreter Belgiens, Japans oder Serbiens bestehen. Er sollte die gesamte Schadenrechnung Deutschlands sowie das Schuldenzahlungsverfahren feststellen und deshalb mit ausgedehnten Vollmachten ausgerüstet werden. Er sollte z. B. das Recht haben, Steuererhöhungen zu fordern, neue Einnahmequellen zu erschließen, Abstriche im Haushalt des Reiches und der Länder zu erlangen usw. Das ganze Wirtschaftslebens Deutschlands sollte in erster Linie für die Kriegsentschädigungen arbeiten.

Durch die Gebietsverluste büßte Deutschland von seiner jährlichen Förderung ein an Zinkerz 75 Prozent, an Eisenerz 74,8 Prozent, an Steinkohle 28,3 Prozent, an Bleierz 7,7 Prozent, an Kali 4 Prozent; die Verluste der jährlichen Ernte betrugen an Kartoffeln 19,7 Prozent, an Roggen 18,2 Prozent, an Gerste 17,2 Prozent, an Weizen 12,6 Prozent, an Hafer [152] 9,6 Prozent. Durch die Wiedergutmachungen büßte die deutsche Wirtschaft weitere sehr erhebliche Teile ihrer Produktion ein. Darüber hinausgehend forderte der Versailler Vertrag ferner von Deutschland zehn Jahre hindurch jährliche Kohlenlieferungen von ungefähr 40 Millionen Tonnen an Frankreich, Belgien, Italien und Luxemburg, außerdem Lieferungen von Farbstoffen, Maschinen, Fabrikeinrichtungen, Werkzeugen und Materialien für den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete. Ferner sollten an Frankreich und Belgien geliefert werden 140 000 Milchkühe, 4000 Stiere, 40 000 Färsen, 700 Zuchthengste, 40 000 Stuten und Stutenfüllen, 1200 Schafböcke, 120 000 Schafe, 10 000 Ziegen und 15 000 Mutterschweine. Die deutschen Patente und das deutsche Eigentum im Auslande wurden als verfallen erklärt.

Die deutsche Handelsflotte sollte ausgeliefert werden: alle Schiffe von 1600 Tonnen und darüber, die Hälfte der Schiffe von 1000–1600 Tonnen, je ein Viertel der Fischdampfer und anderer Fischereifahrzeuge. Deutschland mußte sich verpflichten, fünf Jahre hindurch auf deutschen Werften bis zu 200 000 Tonnen Handelsschiffe für die Ententeregierungen zu bauen. Der deutsche Flußfahrzeugpark mußte bis zu 20 Prozent abgeliefert werden. Die deutschen Überseekabel mußten den Alliierten abgetreten werden. Die deutschen Ströme Rhein, Mosel, Donau, Elbe, Oder und Memel wurden internationalisiert und dem Einfluß der alliierten Regierungen unterworfen.

Deutschland mußte handelspolitisch allen Ententestaaten auf die Dauer von fünf Jahren das Meistbegünstigungsrecht ohne Gegenseitigkeit gewähren, und die deutsche Eisenbahn mußte Vorzugsgütertarife einräumen.

Schließlich wurde Deutschland aufgegeben, die 1870/71 erbeuteten französischen Fahnen auszuliefern. Für die verbrannten Handschriften und Bücher der Löwener Universität mußte Ersatz geleistet werden. Sechzehn altniederländische Gemälde aus den Museen in Berlin und München, darunter das Flügelgemälde des Genter Altars, der Original-Koran des Kalifen Osman und der Schädel des Sultans Makaua aus Deutsch-Ostafrika sollten herausgegeben werden. –

[153] Das Ziel dieses Vertrages war, Deutschland territorial, militärisch und wirtschaftlich zu vernichten, es dem politischen und wirtschaftlichen Chaos, dem Bürgerkrieg, auszuliefern. Gegen den Willen Englands und Amerikas hatte sich Frankreich durchgesetzt, welches auf seinen Bundesgenossen Polen hoffte, um die Durchführung des Vertrages von Deutschland zu erzwingen.

  Deutsche Gegenvorschläge  

Unter der Wucht des Eindruckes, den dieses Dokument hervorrief, war die deutsche Delegation im ersten Augenblicke zu einem glatten "Unannehmbar" entschlossen. Aber eine Ablehnung hätte den unverzüglichen Vormarsch der alliierten Truppen in das wehrlose, zu jedem Widerstand unfähige Deutschland zur Folge gehabt. Deswegen machten die Deutschen von dem ihnen eingeräumten Rechte Gebrauch, ihre Bedenken gegen den Vertrag schriftlich niederzulegen. Da die zugestandene Frist von zwei Wochen sich als zu kurz erwies, wurde sie bis zum 29. Mai verlängert. An diesem Tage wurden die deutschen Gegenvorschläge, ein Band von 443 Seiten, den alliierten Vertretern übergeben.

Graf Brockdorff-Rantzau erklärte zunächst, daß die Deutschen nach Versailles gekommen seien im Vertrauen, einen auf der mit Wilson vereinbarten Grundlage aufgebauten Friedensvorschlag zu erhalten. Sie seien aber entsetzt gewesen über die Forderungen der Sieger, die für das deutsche Volk undurchführbar seien. Die Zumutungen dieses Vertrages gingen über die Kraft des deutschen Volkes, damit würde ein ganzes Volk sein eigenes Todesurteil unterschreiben. Deutschland sei bereit, seine Armee auf 100 000 Mann herabzusetzen und seine Flotte auszuliefern, wünsche aber, sofort als gleichberechtigtes Mitglied in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Deutschland verzichte auch auf Elsaß-Lothringen, wünsche aber dort eine freie Volksabstimmung. Auch sei es zu Konzessionen gegenüber den Polen in Danzig, Königsberg und Memel, in Fragen der Weichselschiffahrt und des Eisenbahnverkehrs bereit. Es sei ferner bereit, 100 Milliarden Goldmark zu zahlen, davon 20 bis zum 1. Mai 1926, den Rest in unverzinslichen Jahresraten, jedoch nicht mehr als eine Milliarde in den ersten zehn Jahren. Es sei auch entschlossen, [154] seine ganzen Kolonien dem Völkerbund zu unterstellen, wenn es als dessen Mandatar anerkannt werde. Auch wolle es in den ersten fünf Jahren bis zu 20 Millionen Tonnen Kohle jährlich, in den nächsten fünf Jahren bis zu 8 Millionen Tonnen jährlich liefern für den Produktionsausfall der zerstörten Gruben Nordfrankreichs. Aber die deutsche Delegation fordere erneut eine neutrale Untersuchung über die Verantwortlichkeit am Kriege.

Im einzelnen wünschte die deutsche Antwort für Deutschland Eintritt in den Völkerbund und allgemeine Rüstungseinschränkung innerhalb zwei Jahren. Sie wandte sich gegen die Gebietsabtretungen im Osten, in Memel und Westpreußen, im "polnischen Korridor". Der Verlust Oberschlesiens würde Deutschlands Wirtschaft und damit auch die Erfüllung der Wiedergutmachungsverpflichtungen schwer gefährden. Es wurde ferner scharf gegen den Verlust der Kolonien protestiert, lediglich Kiautschou sollte geopfert werden. Zum Schlusse wurde angedeutet, daß, wenn Deutschland zur Verzweiflung getrieben würde, es sich dem Bolschewismus verschreiben würde.

Auf Wilson machten die deutschen Einwendungen keinen Eindruck, um so mehr auf Lloyd George, der mit seinen britischen Kabinettskollegen aufs eifrigste wünschte, mit Deutschland Kompromisse zu machen. Nichts fürchtete Lloyd George so sehr, als daß Deutschland durch den Friedensvertrag zum Bolschewismus getrieben würde. Die erste Hälfte des Juni brachte schwere Konflikte innerhalb des Rates der Alliierten, und Tardieu hat diese hochdramatischen Szenen beschrieben:

  Alliierte Meinungsverschiedenheiten  

      "Von Ende Mai an begann Lloyd George im Namen der britischen Delegation und seiner Regierung einen hartnäckigen Kampf gegen das im Geist Clemenceaus errichtete Vertragswerk. England, so erklärte er, wollte unter allen Umständen den Frieden und sei zu jeder Konzession bereit, um ihn endgültig abzuschließen. Man dürfe nicht durch zu harte Bedingungen einen Sturz der deutschen Regierung herbeiführen. 'Die Deutschen müssen unterzeichnen', rief er aus, 'wenn wir Zugeständnisse machen, werden sie den Vertrag annehmen. [155] Wollen Sie für zwei oder drei Jahre einen Zustand schaffen, der weder Krieg noch Friede ist? Wenn Frankreich dies beabsichtigt, so ist das seine Sache. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß England dazu nicht die Hand reichen wird.' – Lloyd George riet davon ab, Deutschland allzusehr zu entwaffnen. Er wollte ihm für die Zeit der inneren Unruhen ein Heer von 300 000 Mann zugestehen. Auch gegen die Wiedergutmachungsbestimmungen wandte er sich: 'Wir verlangen von Deutschland mehr, als es zahlen kann', erklärte er, 'überdies nennen wir keine Summe. Unsere Forderungen sind unbestimmt und unbegrenzt.'"

      "Die Bedingungen, unter denen Deutschland der Eintritt in den Völkerbund gestattet wurde, bezeichnet er als zu hart. Je eher Deutschland in den Völkerbund eintrete, desto besser sei es; schon im Jahre 1920 müsse Deutschland zugelassen werden. Der britische Premier verlangte sogar, die Alliierten sollten die Verpflichtung übernehmen, die deutschen Grenzen zu garantieren. Man dürfe Deutschland auch kein Gebiet wegnehmen, selbst wenn dessen Bevölkerung mehrheitlich nicht deutsch sei, ohne eine Volksabstimmung. Vor allem in Oberschlesien müßten die Alliierten eine Volksbefragung anordnen, ohne sich um die polnischen Einwände zu kümmern. 'Wir haben Polen nichts versprochen. Wir sind es, die mit unserm Blut seine Freiheit erkauft haben. Die Mitglieder der polnischen Kommission ergreifen in einer himmelschreienden Art und Weise für Polen Partei. Ich will nicht mit ihnen diskutieren. Die britische Armee würde sich weigern, den Krieg fortzusetzen, um Deutschland zur Unterzeichnung zu zwingen, wenn man trotz meinem Verlangen die Volksabstimmung verweigerte.'"

In ähnlicher Weise, berichtet Tardieu weiter, habe sich Lloyd George gegen eine Besetzung des Rheinlandes gewandt. Vom militärischen Standpunkt aus, habe er erklärt, sei die Besetzung unnütz, politisch betrachtet sei sie gefährlich, und zudem werde sie soviel kosten, daß zehn Jahre lang die Kriegsgeschädigten in Frankreich und Belgien nichts von Deutschland erhalten würden.

      "Clemenceau wurde von Lloyd George förmlich beschworen:
[156]   'Begnügen Sie sich mit einer dreijährigen Besetzung!... mit einer fünfjährigen! Geben Sie Ihre Einwilligung zu dem Versprechen, in drei Jahren die Frage von neuem zu prüfen!... in fünf Jahren?... oder noch später... an irgendeinem anderen Zeitpunkt? Aber um Gottes willen, versprechen Sie Deutschland etwas. Ändern wir diesen Vertrag ab. Meine Kollegen erklären, sie würden mich nicht zur Unterzeichnung ermächtigen, wenn diese Klauseln aufrechterhalten werden.'"

Unter der Beredsamkeit Lloyd Georges zeigte sich auch Wilson zu einem Entgegenkommen in einigen Punkten bereit. Er wollte nichts von einer Rheinlandbesetzung wissen und wünschte eine Volksabstimmung in Oberschlesien. Auch hätte er einige Änderungen in der Wiedergutmachungsfrage bewilligt, wenn er nicht über die Verteilung des deutschen Schiffsraums mit Lloyd George in Konflikt geraten wäre.

Allein Clemenceau, der wilde Hasser, blieb unerbittlich. Mit Hohn und Ironie beschämte er den Engländer und sagte, in einigen Tagen würden die Alliierten soweit sein, daß Deutschland ihnen die Friedensbedingungen diktiere. Nein, nein und nochmals nein! "Am Abend des 13. Juni ging Frankreich siegreich aus diesem titanenhaften Duell hervor."

So schließt der Bericht Tardieus.

Am 16. Juni wurde die Antwort der Alliierten, 60 Seiten stark, der deutschen Abordnung ausgehändigt. Einige wenige Änderungen nur waren unter Lloyd Georges Einfluß zustande gekommen. Das wichtigste Zugeständnis war die Zulassung einer Volksabstimmung in Oberschlesien. Sollte dieses Gebiet trotz Abstimmung polnisch werden, dann sollte Deutschland das Recht haben, fünfzehn Jahre unter den gleichen Bedingungen wie Polen Kohle zu fördern. Auch sollten die Interessen der Deutschen bei einer etwaigen Liquidierung ihres Eigentums geschützt werden. Außerdem wurde auf eine Volksabstimmung in der dritten, südlichen Zone Schleswigs verzichtet und der Rückkauf der Saarbergwerke erleichtert. Schließlich sagte man eine Revision der wirtschaftlichen Bedingungen zu, allerdings erst, wenn Deutschland in den Völkerbund aufgenommen worden sei. Alle anderen Forderungen wurden aufrechterhalten.

[157] Es war der französischen Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben, welche schweren politischen Kämpfe sich im Rate der Alliierten abspielten. Den Widerspruch Lloyd Georges führten die Franzosen auf die ablehnende Haltung der Deutschen zurück, und noch am 10. Juni hatte Graf Brockdorff-Rantzau einem Berichterstatter erklärt, die deutsche Delegation sei der festen Überzeugung, daß die deutsche Regierung den Vertrag auch in der jetzt vorliegenden Form ablehnen müsse. Das französische Volk schäumte. Er kam zu drohenden Zusammenrottungen vor dem Hotel der Deutschen, und die Polizei hatte Mühe, die Delegation vor der Gewalttat der erregten Masse zu schützen. Am Abend des 16. Juni reisten die Deutschen ab. Als sie den Kraftwagen bestiegen, der sie zum Bahnhof bringen sollte, brach ein wüstes Geschrei los. Die Delegierten wurden mit wilden Schimpfworten überschüttet. Wütende Fäuste reckten sich ihnen entgegen, und trotz der polizeilichen Schutzmaßnahmen wurden Steine gegen den Wagen geschleudert, wobei die Sekretärin des Delegierten Giesberts eine schwere Verletzung erhielt. –

Die deutschen Delegierten.
[Bd. 1 S. 80a]      Die deutschen "Friedensdelegierten" für Versailles.      Photo Scherl.

Erregung
  in Deutschland  

Auch in Deutschland brach eine gewaltige Erregung los, als Anfang Mai die erste Kunde von den Friedensbedingungen eintraf. Das Volk erlebte eine furchtbare Enttäuschung. Wo sind die vierzehn Punkte Wilsons geblieben? wurde gefragt. Statt einen Verständigungsfrieden zu erhalten, sah Deutschland jetzt den brutalen Vernichtungswillen seiner Kriegsgegner klar vor Augen. In ohnmächtiger Wut tobte das Volk, das seine Waffen dem Feinde ausgeliefert hatte und nun wehrlos der Willkür erbarmungsloser Sieger preisgegeben war. Aufs bitterste enttäuscht waren die Sozialdemokraten, sie, die bisher den törichten Glauben hatten, es hänge nur von ihnen ab, um in einer Welt des Hasses und der Gewalt den uralten Satz, daß Macht vor Recht gehe, in sein Gegenteil zu verkehren. Noch einmal, wie in den Augusttagen 1914, war das unglückliche, vom Parteihader und Bürgerkrieg zerfleischte Volk einig von den Deutschnationalen bis zu den Sozialdemokraten. In allen Städten, bis in die kleinsten Orte hinein, veranstalteten die Parteien Protestkundgebungen gegen den Gewaltfrieden, die von vielen Tausenden besucht wurden. Ganz [158] Deutschland von Ost nach West, von Nord nach Süd, hallte wider von der Erbitterung und Wut über den Betrug der Feinde. Das deutsche Volk war erwacht aus der Lethargie des Krieges, aus seinem Traum von der Völkerversöhnung, aber zu spät: "Unannehmbar und unerfüllbar", war die Losung.

  Scheidemanns Rede  

Am 12. Mai veranstalte die deutsche Nationalversammlung in der Aula der Universität Berlin eine große Kundgebung gegen den Schmachfrieden. Die Fahnen der studentischen Verbindungen trugen schwarzen Flor, und über der dichtgedrängten Versammlung schwebte der Geist stummer Trauer und verhaltenen Grimmes. Bittere Verzweiflung loderte in den Herzen. War das der Frieden, für den 2 Millionen deutscher Männer ihr Leben gelassen hatten? Der Ministerpräsident Scheidemann sprach. Mit flammenden Worten erhob er Einspruch gegen die Zerstückelung des Reiches. Wir gehören zusammen, wir müssen beieinander bleiben, wir sind ein Fleisch und ein Blut, und wer uns zu trennen versucht, der schneidet mit mörderischem Messer in den lebendigen Leib des deutschen Volkes. Der Friedensvertrag, dieser schauerlichste und mörderische Hexenhammer, mit dem einem großen Volke das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, die Zustimmung der erbarmungslosen Zerstückelung, das Einverständnis mit Versklavung und Helotentum abgepreßt und erpreßt werden soll, dies Buch darf nicht zum Gesetzbuch der Zukunft werden. Der Friedensbringer Wilson ist abgelöst durch den Kerkermeister Clemenceau. Scheidemann ging auf die einzelnen Forderungen des Vertrages ein. "Ich frage Sie, wer kann als ehrlicher Mann – ich will gar nicht sagen als deutscher –, nur als ehrlicher, vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?" So setze man uns den Fuß auf den Nacken und strebe offen nach erbärmlicher Versklavung für Kind und Kindeskind. Der Redner betonte, daß von deutscher Seite Gegenvorschläge gemacht worden seien und auch in Zukunft gemacht würden, und wieder gipfelten seine Ausführungen in dem Ausrufe: Weg mit diesem Mordplan! Und Scheidemann wies auf die [159] Stimmen der Vernunft hin, die sich in England und Italien und im sozialistischen Frankreich hätten hören lassen. "Ich danke allen, aus denen ein empörtes Herz und Gewissen spricht. Ich danke vor allem und erwidere in unvergänglicher Anhänglichkeit das Gelöbnis der Treue, das gerade jetzt aus Wien zu uns herüberschallt." Deutschland wolle den Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, es wolle nicht, daß der Haß verewigt werde, und die leidenschaftliche, eindrucksvolle Rede schloß mit dem Ausrufe: "Dreimal Wehe über die, welche heute einen wahrhaften Frieden verzögern auch nur um einen Tag!" Aus der Stille der Versammlung klang hier und da ein Seufzer, ein Schluchzen, vielleicht waren es Männer und Frauen, die an den toten Sohn oder Bruder dachten; aber schweigend und mit Würde bändigten die Zuhörer die tobenden Gefühle in ihrer Brust.

Scheidemann, Mai 1919.
[Bd. 1 S. 208a]      Scheidemann, Mai 1919 gegen das Versailler Diktat in der Aula
der alten Bibliothek zu Berlin: "Die Hand müßte verdorren..."
      Photo Scherl.

Es gab Kreise, die allen Ernstes an die Wiederaufnahme des Krieges dachten. Ja es gab sogar nationale Schichten, die sich unbedenklich mit den Bolschewisten zum Kampfe gegen Frankreich verbündet hätten. Aber diese nationalbolschewistische Bewegung war klein und schwach. Vor allem große Teile des Heeres zogen neue Waffenentscheidungen der Unterschrift vor. Inzwischen veranstalteten die Unabhängigen zum starken Leidwesen der Regierung Demonstrationen zur sofortigen Annahme. Dagegen erklärten die Mehrheitssozialisten in ihren Kundgebungen, kein Mitglied der Regierung sei so unehrenhaft, Dinge zu versprechen, von denen es wisse, daß sie undurchführbar seien. "Wir wünschen einen Frieden auf der Grundlage der vierzehn Punkte. Wir sind zu Verhandlungen bereit. Wir tun unser Äußerstes, Verhandlungen zustande kommen zu lassen, die das, was der Welt allein Frieden bringen kann, nicht außer acht lassen dürfen."

  Meinungsverschiedenheiten  
in Deutschland

In der Regierung selbst kam es bald zu Meinungsverschiedenheiten. Noske neigte anfangs zur Wiederaufnahme des Krieges, aber die Gefahr, daß dieser im Rheinland geführt werden würde, und die zahlenmäßige Schwäche der demobilisierten deutschen Armee gegenüber dem bis an die Zähne bewaffneten Feinde, die spartakistische Unsicherheit im Lande ließen ihn nach langen Beratungen mit seinem Generalstabe zu [160] dem Schlusse kommen: "Unser Volk ist so traurig verlumpt, daß wir unterzeichnen müssen." Die Mehrheit des Kabinetts, Demokraten und ein Teil der Sozialisten, darunter Scheidemann, stimmten für Ablehnung. Jedoch Erzberger stellte fest, welche Vorteile die Annahme bringen würde: Beendung des Krieges, Aufhebung der Blockade, Einfuhr von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, Beginn des Exportes, Rückkehr der Gefangenen, Sicherung der Reichseinheit, Besserung der Arbeitsverhältnisse und des Geldkurses und Verminderung reaktionärer und spartakistischer Putschgefahren. Dann entwickelte er die Folgen der Ablehnung: Vormarsch der Alliierten, Besetzung des Ruhrgebietes, Trennung von Nord- und Süddeutschland durch Besetzung der Mainlinie, Verschärfung der Blockade, Internierung der wehrpflichtigen Männer, Repressalien, Poleneinfall, Währungsverfall, Hungersnot, Bolschewismus, Auflösung des Reiches. Diese Beredsamkeit bestärkte auch Noske und David, einer Annahme zuzustimmen.

Am 16. Juni traf das Ultimatum der Alliierten ein, welches Annahme der Friedensbedingungen innerhalb fünf Tagen forderte. Unerschütterlich in ihrem Widerstand blieben die drei Demokraten, Brockdorff-Rantzau, Scheidemann und zwei andere Sozialdemokraten. Am 17. Juni wurde die Annahmefrist um zwei Tage verlängert. Das Kabinett arbeitete Tag und Nacht. In der Nacht vom 18. zum 19. Juni drängten die vier Sozialdemokraten und drei Zentrumsanhänger auf Annahme. Am 19. Juni stimmten in einer Fraktionssitzung der Sozialdemokraten 75 Abgeordnete für, 39 gegen die Annahme. Besonders eifrig für die Annahme sprachen Siegheimer, Hoch, Davidsohn und Hermann Müller. Sie setzten es durch, daß Fraktionszwang für die Abstimmung beschlossen wurde. Im Zentrum waren 60 Abgeordnete gegen die Annahme. Erzberger wies auf die Schrecken eines neuen Krieges hin, und die Fraktion fiel um. Auch hier wurde Fraktionszwang für die Abstimmung beschlossen. Man befragte die Minister der Einzelstaaten. Ihre Mehrheit war für Annahme. Da trat am 21. Juni die Regierung Scheidemann zurück: Scheidemann, Brockdorff-Rantzau, Preuß, Dernburg, Gothein und Landsberg schieden [161] aus. Erzberger, als stellvertretender Ministerpräsident, bildete ein neues Kabinett, in welchem er die Finanzen und der Sozialdemokrat Hermann Müller das Äußere übernahmen. Die neue Regierung bestand aus sechs Sozialdemokraten und vier Zentrumsanhängern.

Vorgänge in der
  Nationalversammlung  

Am 22. Juni teilte die Regierung der Nationalversammlung mit, sie sei zur Unterzeichnung des Vertrages bereit, es müßten aber die Artikel über die deutsche Kriegsschuld und die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger zur Aburteilung wegen Kriegsverbrechen fallen. An diesem Tage stimmte die Nationalversammlung der Annahme zu. 237 Stimmen des Zentrums, des größten Teiles der Sozialdemokraten und eines kleinen Teiles der Demokraten gaben ihr Ja ab, während die Deutschnationale Volkspartei und die Deutsche Volkspartei, sowie der größere Teil der Demokraten und der kleinere der Sozialdemokraten mit 138 Stimmen ablehnten. Fünf Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Die Rechte wollte lieber mit Ehren untergehen, als die Gewalt und die Demütigung der Feinde ertragen, die Demokraten und Sozialdemokraten wollten durch passiven Widerstand die Friedensfreunde in den alliierten Ländern veranlassen, Schritte zu milderen Friedensbedingungen in die Wege zu leiten.

Nach Versailles wurde telegraphiert: "Die Regierung der deutschen Republik ist bereit, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, ohne jedoch damit anzuerkennen, daß das deutsche Volk Urheber des Krieges sei, und ohne eine Verpflichtung zur Auslieferung nach Artikel 227–230 des Friedensvertrages zu übernehmen." Hart und unnachgiebig lautete die Antwort der Ententestaaten, sie forderte bedingungslose Unterzeichnung.

Noch einmal, am 23. Juni, wurde der Versuch gemacht, die Regierung zur Ablehnung zu bewegen. General Maercker, der mit dem Schutze der Nationalversammlung betraut war, erklärte, im Falle der Annahme würden die Offiziere des Heeres ihren Abschied nehmen, und der Schutz gegen die Anarchie sei nicht mehr da. Das war eine neue Komplikation, und es hatte den Anschein, als sollten die ganzen Erörterungen von vorn beginnen. Unter dem Eindruck der Mitteilung Maerckers bat die deutsche Regierung bei den [162] Alliierten um eine Fristverlängerung von 48 Stunden, die aber abgelehnt wurde. Es wurde geantwortet, bis sieben Uhr abends müsse die Entscheidung der Annahme oder Ablehnung getroffen sein. Die Parteiführer traten zu einer Besprechung zusammen. Bei dieser Sitzung traf ein Telegramm des Generals Groener ein, in welchem Unterzeichnung verlangt wurde. Das bewies, daß ein Teil des Offizierkorps auch nach der Annahme im Dienste verbleiben würde, und stärkte der Regierung den Rücken. Jetzt fragte Erzberger die Führer der Opposition, ob sie bereit seien, die Regierung zu übernehmen, den Vertrag abzulehnen und den Krieg fortzusetzen. Die Frage blieb unbeantwortet. Die Nationalversammlung bestätigte nun im Wege einfacher Abstimmung die am Vortage der Regierung erteilte Unterzeichnungsvollmacht.

Zwanzig Minuten vor fünf Uhr nachmittags, kaum zwei Stunden vor Ablauf der Frist, ging folgendes Telegramm nach Versailles:

Annahme und
  Unterzeichnung  

      "Die Regierung der deutschen Republik hat aus der letzten Mitteilung der alliierten und assoziierten Regierungen mit Erschütterung ersehen, daß sie entschlossen sind, von Deutschland auch die Annahme derjenigen Friedensbedingungen mit äußerster Gewalt zu erzwingen, die, ohne eine materielle Bedeutung zu besitzen, den Zweck verfolgen, dem deutschen Volke seine Ehre zu nehmen. Durch einen Gewaltakt wird die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt. Sie nach außen zu verteidigen, fehlt dem deutschen Volke nach den entsetzlichen Leiden der letzten vier Jahre jedes Mittel. Der übermächtigen Gewalt weichend, und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben, erklärt deshalb die Regierung der deutschen Republik, daß sie bereit ist, die von den alliierten und assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen."

Die Würfel waren gefallen, der Friedensvertrag war angenommen.

Unterzeichnung des Friedensdiktates in Versailles.
[Bd. 1 S. 80b]     28. Juni 1919: Unterzeichnung des Friedensdiktates in Versailles.     Photo Scherl.

Der letzte Akt der erschütternden Tragödie spielte sich am 28. Juni im Schlosse zu Versailles ab. In ebendemselben Spiegelsaal, in dem 1871 durch Bismarck das deutsche Kaiser- [163] reich proklamiert worden war, unterzeichneten die deutschen Bevollmächtigten, der Reichsminister des Auswärtigen, Hermann Müller, und der Reichskolonialminister Dr. Bell den Friedensvertrag. Wir geben die Schilderung eines Augenzeugen (Rolf Brandt) wieder:

      In der Mitte des Saales befindet sich die Tafel, an der die Vertreter der alliierten und assoziierten Mächte sitzen. Zu beiden Seiten, den Saal entlang, stehen die rotbezogenen, lehnenlosen Bänke für die Zuschauer. Die Entfernung ist für die weiteren Reihen doch immer noch über dreißig Meter. Clemenceau soll mit den Veteranen reden, der Vorgang ist nicht zu erkennen, man steigt also auf die Bänke. Photographen erklimmen die Pfeiler, die Herren helfen ihren Damen zu den luftigen Standpunkten und bewahren sie sorgfältig vor dem Fall von den Pfeilernischen. Ein holländischer Kollege, dem die kurzen Röcke über den Kopf flattern, macht die Bemerkung: "Ich dachte, dies sei wenigstens eine diplomatische Handlung, nun ist es eine Wäschehandlung." Wilson, etwas nervös lächelnd, schreibt ununterbrochen Autogramme auf das Erinnerungsblatt, das zu diesem Zweck gezeichnet worden ist.
      Die deutschen Beauftragten erscheinen. Sie begeben sich schweigend zu ihren Plätzen, und durch die Lücke, die durch das Leerbleiben der Stühle für die chinesische Delegation entstanden ist, kann man das in diesem Augenblick undurchdringliche Gesicht Hermann Müllers erblicken. Clemenceau erhebt sich, seine harte Stimme geht durch den Raum, aber das leise Sprechen auf den Bänken läßt das Gesprochene nicht zur Klarheit kommen: "Die Sitzung ist eröffnet. Zwischen den alliierten und assoziierten Mächten und dem Deutschen Reich ist über die Bedingungen des Friedensvertrages das Übereinkommen getroffen worden; der Text ist fertiggestellt. Der Präsident der Konferenz hat schriftlich bestätigt, daß der Text, der unterzeichnet werden würde, mit dem Text der beiden Exemplare, die den beiden deutschen Delegierten zugestellt worden sind, übereinstimmt. Die Unterschriften sollen gegeben werden. Sie werden als eine unwiderrufliche Verpflichtung zu gelten haben, die erfüllt und in der Gesamtheit ihrer Bedingungen loyal [164] ausgeführt werden wird. Unter diesen Voraussetzungen habe ich die Ehre, die deutschen Bevollmächtigten einzuladen, sich bereitzumachen, ihre Unterschrift zu geben."
      Reichsminister Hermann Müller unterschreibt. Der Minister Bell folgt ihm. Drei Uhr zwölf Minuten.
      Die Menge drängt gegen die Bänke, halblaute Worte dringen durch den Saal, aus der Mitte ertönen Rufe: "Stille!" Wilson, Lloyd George und Clemenceau ziehen vorüber, wie in einem seltsamen Reigen, ihre Gesichter sind merkwürdig starr, den Federhalter in der Rechten, treten sie an den Tisch und vollenden den schicksalsschweren Kreislauf, indem sie auf der anderen Seite zu ihren Plätzen zurückkehren.
      Kanonenschüsse dröhnen. Es ist gegen vier Uhr. Der Vertrag ist von den Vertretern aller anwesenden Staaten gezeichnet. Die Wasser von Versailles beginnen zu springen.

Die Unterschriften unter dem Friedensdiktat.
[Bd. 1 S. 112b]      Die Unterschriften unter dem Friedensdiktat.      Photo Scherl.

Die deutschen Unterschriften unter dem Friedensdiktat.
[Bd. 1 S. 112b]
Die deutschen Unterschriften
unter dem Friedensdiktat.

Photo Scherl.
So wollte es Clemenceau. Er feierte seinen Triumph, indem er die Deutschen an der historischen Stätte ihres ehemaligen Sieges demütigte. Sein Werk, aus Haß gegen Deutschland geboren, säte eine neue Saat des Hasses gegen Frankreich.

Am 9. Juli nahm die Nationalversammlung das Gesetz über den Friedensschluß mit 208 gegen 115 Stimmen an. Reichspräsident Ebert ratifizierte es.

Das Drama fand seinen Abschluß genau fünf Jahre später, nachdem es mit der Ermordung des österreichischen Erzherzog-Thronfolgers seinen Anfang genommen hatte. "In dem uns vorgelegten Friedensdokument feierte eine sterbende Weltanschauung imperialistischer und kapitalistischer Tendenzen ihren letzten, entsetzlichen Triumph", hatte Brockdorff-Rantzau gesagt. Und in der Tat bedeutete die Annahme des Vertrages eine Zeitwende. Eine fünfzigjährige Entwicklung in Frankreich hatte ihre Vollendung erreicht. Für Deutschland begann ein neues Zeitalter. Es mußte beweisen, daß es die herkulische Kraft besaß, trotz dem über das deutsche Volk ausgesprochenen Todesurteil zu neuem Leben sich emporzuringen. –

  Scapa Flow  

Während noch im deutschen Volke der erregte Meinungsaustausch über Annahme oder Ablehnung der "Friedensbedingungen" in vollem Gange war, drang plötzlich die [165] Kunde von einer heroischen Tat in diese düsteren Stimmungen: Am 21. Juni hatte der Admiral von Reuter die in Scapa Flow internierte deutsche Kriegsflotte versenkt! – Auf Grund der Waffenstillstandsbestimmungen waren an einem stillen, milden Spätherbsttage unter Admiral von Reuters Kommando zehn Linienschiffe, sechs große Kreuzer, acht kleine Kreuzer und 50 Zerstörer zu ihrer Schicksalsfahrt nach England von Wilhelmshaven ausgelaufen, um im Firth of Forth interniert zu werden. Die Engländer bereiteten der stolzen deutschen Flotte tiefe Demütigungen. Gegen jedes Ritterlichkeitsgefühl verstoßend, funkte der Admiral Beatty am 3. Dezember 1918: Die deutsche Flagge ist niederzuholen und darf ohne Erlaubnis nicht wieder gehißt werden; an seine Marinesoldaten wandte sich der Engländer mit folgender Mahnung: "Erinnert Euch stets, daß der Deutsche ein anzuspeiendes Vieh ist!" Die Schiffe wurden dann zur Untersuchung nach dem "geschützten" Hafen Scapa Flow gebracht. Dies war gegen alle Abmachungen, denn ursprünglich sollte die Flotte in neutrale Häfen überführt werden, und nur, wenn keine geeigneten zur Verfügung standen, in alliierten Häfen gebracht werden.

Die deutsche Kriegsflotte in Scapa Flow.
[Bd. 1 S. 128b]      Die deutsche Kriegsflotte in Scapa Flow.      Photo Scherl.

Linienschiff 'Bayern' wird in Scapa Flow versenkt.
[Bd. 1 S. 144a]
Linienschiff "Bayern"
wird von den deutschen Matrosen
in Scapa Flow versenkt.

Photo Scherl.
Aus der Überführung war eine Internierung geworden. Admiral von Reuter mußte unter diesen Umständen als Soldat mit dem Äußersten rechnen, mit der Versenkung der Schiffe. Es war ein alter Befehl, daß im Kriegsfälle kein Seebefehlshaber ein Schiff in die Gewalt der Feinde fallen lassen durfte. Die Vorbereitungen für diese Tat waren sehr schwierig, da sie ganz geheim geschehen mußten. Man mußte anfangs mit einem Verrat von irgendeiner Seite der an Bord befindlichen Mannschaften rechnen, wenn die Versenkungsabsicht zu früh bekannt wurde. Der Admiral schaltete bei Reduzierungen der Mannschaft alle unzuverlässigen Leute aus und reinigte seinen Obersten Soldatenrat. Als der 21. Juni kam, wußte Reuter noch nichts von der Verlängerung des Waffenstillstandes um zwei Tage. Die Nachrichten, die er über englische Zeitungen von Deutschland erhielt, kamen spärlich und verspätet. So glaubte er, der Waffenstillstand laufe mittags um 1 Uhr ab und der Kriegszustand trete wieder in Kraft. Also entschloß [166] er sich zur Versenkung der Schiffe. Um 12 Uhr 16 Minuten kenterte das erste große Schiff und sank schnell. Zehn Linienschiffe, fünf große und fünf kleine Kreuzer und 36 Torpedoboote versanken in den Fluten, als letzter ging um 5 Uhr der große Kreuzer "Hindenburg" unter. Stolz und unbesiegt sank die kaiserliche Flotte, eingedenk ihrer Tradition vom Skagerrak.

Schlachtkreuzer 'Hindenburg' am 21. Juni 1919 von deutschen Matrosen versenkt.
[Bd. 1 S. 160a]
Schlachtkreuzer "Hindenburg"
am 21. Juni 1919
von deutschen Matrosen versenkt.

Photo Scherl.
Hebung des Kreuzers 'Hindenburg' durch die Engländer.
[Bd. 1 S. 160a]
Hebung des Kreuzers "Hindenburg"
durch die Engländer.
15. April 1926.

Photo Scherl.

'Lisboa' kehrt von Scapa Flow mit den deutschen Matrosen zurück.
[Bd. 1 S. 176a]    "Lisboa" kehrt von Scapa Flow
mit den deutschen Matrosen zurück.

Photo Scherl.
Die Wut der völlig überraschten Engländer kannte keine Grenzen. Die englischen Drifter sausten zwischen den Rettungsbooten umher und schossen mit Pistolen, Gewehren und Maschinengewehren auf die in den Booten befindlichen oder im Meere schwimmenden Deutschen, trotzdem diese weit sichtbar die weiße Parlamentärflagge führten. Verschiedene Offiziere und Mannschaften wurden getötet. Ja, man zwang die Deutschen mit vorgehaltener Pistole zur Rückkehr auf die Schiffe, um dem Sinken Einhalt zu tun, während die Engländer selbst die sinkenden Fahrzeuge plünderten. In höchst unritterlicher Weise hielt der englische Admiral Fremantle am folgenden Tage dem Admiral von Reuter eine Rede, worin er sagte, die Tat laufe jedem Empfinden für Anstand und Ehre zuwider, sie sei eine verräterische Handlung, ein Treubruch, eine Schande für die, die sie begangen hätten. Niemand in der Welt, am allerwenigsten die Deutschen, würden für diese Tat ein Verständnis haben! Admiral von Reuter jedoch erklärte beim Verhör, es handle sich nicht um eine Sabotage des Friedensvertrages, sondern er sei überzeugt gewesen, daß die deutsche Regierung den Vertrag nicht angenommen habe und daß infolgedessen nach Ablauf der fünftägigen Frist der Kriegszustand wieder eingetreten sei. Er habe gehandelt wie im Kriege befindlich, und deshalb sei seine Tat nach Kriegsrecht zulässig und unstrafbar.

Die kühne Tat von Scapa Flow wurde in Deutschland mit begeisterter Bewunderung aufgenommen und reizte zu einer ähnlichen Tat. Als am Morgen des 23. Juni der Telegraph dem deutschen Volke die Annahme des Friedensvertrages durch die Nationalversammlung verkündete, stürmte ein Trupp begeisterter Studenten, Offiziere und Gardereiter, von einer großen Menschenmenge gefolgt, in das Berliner [167] Zeughaus, riß die 1813 bis 1815 und 1870/71 eroberten Fahnen und Standarten von den Wänden und verbrannte sie feierlich vor dem Standbild Friedrichs des Großen. Diese Trophäen sollten auf Grund des Friedensvertrages wieder ausgeliefert werden.

Was aber wollte dieser Ausbruch nationaler Leidenschaft besagen! Wohl erwog man in maßgebenden Kreisen den Gedanken einer neuen Waffenerhebung, aber man ließ ihn fallen, denn ein solches Beginnen hätte für Deutschland die Katastrophe bedeutet. Zu einem neuen Kriege gegen die erdrückende Übermacht Englands und Frankreichs hätte sich im Innern ein blutiger Bürgerkrieg der Spartakisten gesellt, und das deutsche Volk wäre rettungslos im Vernichtungstaumel untergegangen. Eine Erhebung war hoffnungslos, es war klüger, sich, wenn auch zähneknirschend, in das unvermeidliche Schicksal zu fügen, das nun einmal die große Mehrzahl des Volkes selbst über sich heraufbeschworen hatte. Am 25. Juni legte der Generalfeldmarschall von Hindenburg das Kommando nieder. –

  Sonderbündler  
im Rheinland

Im engsten Zusammenhang mit den Versailler Ereignissen stand die Erhebung der rheinischen Separatisten im Frühjahr 1919. Ende November 1918 rückten die alliierten Truppen zur Besetzung des Rheinlandes vor. Sie kamen, soweit französische und belgische Streitkräfte daran beteiligt waren, in der Absicht, nicht wieder hinauszugehen. Es war nichts anderes das Ziel Frankreichs, als das etwa 30 000 qkm große, linksrheinische Deutschland, Rheinland und Pfalz, vom Reiche zu trennen, und, wenn nicht zu annektieren, so doch in abhängige Vasallenstaaten zu verwandeln.

Diese französischen Gelüste fanden Bundesgenossen an deutschen separatistischen Bestrebungen. Bereits im Dezember 1918 brachte das Zentrumsblatt Kölnische Volkszeitung Pläne einer Unabhängigkeit des Rheinlandes und der Aufteilung Deutschlands in vier Republiken: eine Rheinrepublik, eine Donaurepublik, eine Nord-Ostsee-Republik und eine Zentralrepublik. Von Köln aus wurde der Schwerpunkt der separatistischen Bewegung in den ersten Monaten 1919 nach Wiesbaden verlegt, wo der ehemalige deutsche Staatsanwalt [168] Dr. Dorten mit seinem dem Zentrum angehörigen Anhang die Bewegung leitete. Am 10. März 1919 nahm eine Versammlung in der Kasinogesellschaft zu Köln eine Entschließung an, in der man die Erwartung aussprach, daß die zuständigen Stellen unverzüglich für die Gründung des westdeutschen Freistaates im Reichsverbande eine Volksabstimmung zulassen würden. Dorten, zum Generalbevollmächtigten in Köln ernannt, übergab diese Entschließung den Vertretern der Alliierten in Köln, Koblenz und Mainz.

Auf Grund dieser Ereignisse fand am 13. März in Weimar unter Scheidemanns Vorsitz eine Besprechung der Regierung mit den rheinischen Abgeordneten statt, welche die Zukunft des Rheinlandes und der Pfalz behandelte. Nach ihrem Abschluß gab Scheidemann in der Nationalversammlung das Ergebnis bekannt. Es wurde betont, daß die Regelung der Rheinlandfrage eine rein innerdeutsche Angelegenheit sei und keinerlei Einmischung von außen bedürfe. Die Reichsregierung sehe in jedem Versuch der Loslösung links- und rechtsrheinischer Länder einen durch keinen Vorwand zu beschönigenden Vorstoß gegen das allgemein anerkannte Nationalitätenprinzip. Die Regierung wisse sich völlig einig mit der heiligen Überzeugung der gesamten links- und rechtsrheinischen Bevölkerung, die nichts gemein haben wolle mit den eigennützigen Bestrebungen einzelner Personen. Die Regelung des Verhältnisses der rheinischen Lande zum Reiche sei eine rein innerdeutsche Angelegenheit. Diese Frage könne nur im Rahmen der Reichseinheit gelöst werden. Eine endgültige Regelung könne erst nach Friedensschluß und nur auf verfassungsmäßigem Wege erfolgen. Unterstützt wurde die Reichsregierung in ihren Bestrebungen durch eine starke Bewegung gegen die Separatisten, die nun auch von seiten der rheinischen Sozialdemokratie einsetzte.

Doch nun nahmen sich die französischen Besatzungsbehörden der Sache an und erklärten den Separatistenführern, daß ihnen die rheinische Bewegung sympathisch sei. Die englischen Besatzungstruppen dagegen hatten sich von vornherein ablehnend gegen die Umtriebe verhalten. In der Pfalz hatte sich unterdessen unter der Führung des Chemikers Haas

  Die Pläne Dr. Dortens  

ebenfalls eine [169] sonderbündlerische Richtung entwickelt, die aber von Wiesbaden aus bekämpft wurde. Mit Wissen und Genehmigung der Franzosen fand am 16. Mai im Hause Dr. Dortens zu Wiesbaden eine Besprechung Dortens mit den rheinischen Separatisten aus Aachen und Köln statt. Hiebei wurde folgendes Programm festgelegt:

1. Verbleiben des Saargebietes und der Kreise Eupen und Malmedy bei Deutschland.

2. Verbleiben Danzigs bei Deutschland.

3. Regelung der Ostfragen in einer für Deutschlands Bedürfnisse günstigeren Form.

4. Belassung der Hälfte der geforderten Tonnage bei Deutschland.

5. Herabsetzung der Reparationsforderungen und Kriegsentschädigungen.

Dafür sollte erstens eine Rheinische Republik als Bundesstaat errichtet werden, die durch ihre wirtschaftliche Stärke und politisch-kulturelle Macht im Verein mit den anderen süd- und westdeutschen Staaten – gemeint ist auch Hannover – eventuelle deutsche Revanchepläne im Keime ersticken könne, und zweitens der Charakter der Bismarckschen Verfassung erhalten bleiben, d. h. das Gesandtschaftsrecht solle auch von der Rheinischen Republik ausgeübt werden. Man teilte diese Vereinbarungen dem französischen Hauptmann Rostand mit, der sie als "vernünftig" bezeichnete.

Es sollte nun eine vorläufige Regierung gebildet werden, welche in Weimar und Versailles anerkannt werden und eine Volksabstimmung einleiten sollte. Außerdem sollte sie an der Versailler Konferenz teilnehmen.

Hauptmann Rostand informierte den französischen General Mangin, der anfangs für die vorgeschlagene Lösung nicht zu haben war und einen vollkommen selbständigen Pufferstaat wünschte. Es kam zu einer persönlichen Unterredung zwischen Mangin einerseits und Dr. Dorten und Froberger andererseits, an deren Ende Mangin dem Plane Dortens zustimmte. Jedoch nach dieser Zusammenkunft mit dem Franzosen setzte plötzlich eine starke Gegenbewegung von Köln aus ein. Das Zentrum [170] des nördlichen Rheinlandes lehnte die Zusammenarbeit mit Frankreich ab, und eine starke, in aller Öffentlichkeit geführte Bekämpfung Dortens begann.

Die rheinischen Separatisten wurden durch die Sorge vor den Friedensbedingungen zu schnellem Handeln angespornt. Sie fürchteten einerseits im Falle der Annahme durch Deutschland die fünfzehnjährige Besetzung, andererseits im Falle der Ablehnung die Möglichkeit, daß das Rheinland Kriegsschauplatz werden könne. Trotz der Kölner Widerstände beschlossen sie, am Himmelfahrtstage im Kaisersaal zu Aachen die "rheinische Republik" auszurufen. Die Reichsregierung war über die Vorgänge unterrichtet und erließ am 28. Mai eine Warnung, in der sie darauf hinwies, daß Bestrebungen zur Losreißung der Rheinlande vom preußischen Staate als Hochverrat mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft werden können. Jedoch diese Warnung hatte auf die Sonderbündler keinen Einfluß, da sie meinten, sie ginge von dem ihnen feindlichen Erzberger und den Sozialdemokraten aus, die in der rheinischen Bewegung eine Gefahr ihrer Einheitsstaatsideen erblickten. Die Belgier indessen hatten inzwischen am 26. Mai Moresnet, Eupen, Malmedy, Herbesthal und Rören besetzt, weil sie fürchteten, durch die Proklamierung der Rheinischen Republik die ihnen in Versailles zugesprochenen Gebiete zu verlieren.

  Mißlungener Putsch  

Am 1. Juni teilte Dorten dem General Mangin die Ausrufung der Rheinischen Republik mit, der die Angelegenheit seinerseits mit der Proklamation absoluter Neutralität der Besatzungsbehörde beantwortete. In Wiesbaden wurde die Regierung errichtet, und Dr. Dorten versammelte sein Ministerium um sich. Es wurden Flugblätter verteilt, welche der Bevölkerung die Existenz der Rheinischen Republik anzeigten. Aber schon nach drei Tagen wurde die Regierung Dorten aus dem Wiesbadener Regierungsgebäude hinausgeworfen. Auch der Chemiker Haas in Landau war nicht untätig gewesen und rief gleichzeitig seine "Freie Republik Pfalz" aus. Jedoch schon Ende Juni fanden die beiden Schattenrepubliken im Rheinland und in der Pfalz ein klägliches Ende. Trotz eifrigster Agitation und Bemühungen war es der Dorten-Regierung nicht ge- [171] lungen, die Sympathien der Bevölkerung zu gewinnen. Zudem verfügte Dorten und sein Anhang über keinerlei Geldmittel, so daß sie nicht einmal ihre "Minister" bezahlen, geschweige denn eine systematische politische Propaganda finanzieren konnten. Nach der Annahme des Friedensvertrages durch Deutschland sank die Bewegung vorläufig ins Nichts zurück. Dorten hatte gehofft, daß die Regierung in Weimar ablehnen würde. In diesem Falle wollte Mangin den Rheinländern die Wahl geben, entweder die Regierung Dorten anzuerkennen oder unter Kriegsrecht gestellt zu werden. So aber ließ das französische Militär Dorten jetzt fallen, während Oberkommissar Tirard seine schützende Hand weiterhin über ihn hielt. Tirard setzte es durch, daß Dorten wieder freigelassen wurde, nachdem er von den deutschen Behörden wegen Hochverrats verhaftet worden war.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra