[Bd. 1 S. 118] 3. Kapitel: Innere Erschütterungen, äußere Bedrängnis.
Für den rechten Flügel des deutschen Volkes gab es nur eine Aufgabe: gemeinsam mit der Demokratie gegen die spartakistischen Umsturzversuche anzukämpfen, die Ruhe und Ordnung unter der bestehenden Regierung gegen die Diktaturgelüste des Proletariats zu schützen. Darüber hinaus sollten auch die hohen idealen Werte gepflegt werden, die besonders bei den Frontsoldaten in vierjähriger Kriegszeit in edler, selbstverleugnender Weise zur Ausbildung gelangten: Pflichterfüllung und Kameradschaftstreue. Ohne Ansehen der Person, des militärischen Dienstgrades, der politischen Parteistellung oder des bürgerlichen Berufes sollten alle diese jetzt zersplitterten Kräfte des Frontheeres wieder gesammelt werden zum Zwecke der politischen und kulturellen Wiederaufrichtung Deutschlands und des deutschen Volkes. Diese Gedanken bewegten den Magdeburger Franz Seldte, als er am 1. Weihnachtsfeiertage 1918 mit einigen anderen Frontsoldaten den "Stahlhelm" [119] gründete, jene Organisation, die sich in den nächsten Jahren über ganz Deutschland verbreitete und zum mächtigsten und gefürchtetsten Gegner der Spartakisten wurde. In allen größeren Städten Deutschlands machten sich ähnliche Bestrebungen bemerkbar, die sich zumeist unter dem Namen von "Bürgerwehren" oder "Einwohnerwehren" zusammenfanden. Sie beschränkten sich dann nicht bloß auf Frontsoldaten. Der Januar 1919 führte die Sozialdemokratie endgültig an die Seite dieser bürgerlichen Selbstschutzorganisationen zur gemeinsamen Bekämpfung des spartakistischen Gegners.
Eichhorn, der Mitglied der Unabhängigen und Polizeipräsident von Berlin war, hatte seine Mithilfe bei der Unterdrückung des Matrosenaufstandes verweigert. Daraufhin enthob ihn der sozialdemokratische Stadtkommandant Wels seines Postens am 4. Januar. Jetzt wandte sich Eichhorn an Liebknecht und Ledebour, und alle drei forderten die Massen auf, die Regierung zu stürzen. Der Generalstreik wurde am folgenden Tage ausgerufen und eine Massendemonstration in der Siegesallee abgehalten. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren die Seele der Bewegung. Ihr Handeln war letzten Endes nur darauf gerichtet, die verhaßten Verräter der Revolution, Ebert, Scheidemann, Noske und all die andern, zu beseitigen. Der tiefere Sinn der ganzen Bewegung war überdies, die Wahlen zur Nationalversammlung zu verhindern
Die Regierung wußte, daß die Soldaten, die Matrosen und [120] die Berliner Polizei unzuverlässig waren. Wenn sie sich in dieser Lage behaupten wollte, mußte sie also wieder wohl oder übel ihre Zuflucht nehmen zu den Offizieren der alten Armee, welche die berufenen Träger der monarchischen Tradition waren. Sie tat es und, indem sie ihre Macht auf das alte Offizierkorps stützte, das nicht nach parteipolitischen Sonderinteressen fragte, sondern als etwas Selbstverständliches seine Pflicht zur Erhaltung des Vaterlandes tat, führte die Regierung den entscheidenden Wendepunkt in der deutschen Revolution herbei: dem zerschlagenen Deutschland ward die neue welthistorische Aufgabe zuteil, trotz seiner Revolution der Hort westeuropäischer Kultur gegen russischen Bolschewismus zu werden. Diese Aufgabe konnte nur dadurch erfüllt werden, daß sich die monarchische und sozialdemokratische Bewegung unter Verzicht auf ihre parteipolitischen Sonderinteressen zur Bekämpfung des Spartakismus vereinigten. Von republikanischem Staatsbewußtsein war in jenen Tagen kaum die Rede. General Maercker schreibt: "Die Rettung der Regierung kam von einer Seite, von der ihre Mitglieder es ebensowenig erwarteten wie erwünschten, nämlich von dem Offizierkorps."
Die "Spartakuswoche" spielte sich nur in Berlin ab, aber es herrschte während dieser Zeit in den anderen Teilen des Reichs, besonders in den Industriebezirken, eine bis zum äußersten [122] gesteigerte Spannung. Spartakistische Putschversuche in Düsseldorf und Dortmund verliefen ergebnislos, auf dem Leipziger Hauptbahnhof kam es am 9. Januar zu einem Zusammenstoß, der vier Tote und neun Verwundete brachte. Ein Transport von Regierungstruppen, der für Berlin bestimmt war, wurde entwaffnet und nach seinem Demobilmachungsorte zurückgeleitet. Jedoch der erste Mißerfolg der Regierungstruppen in Berlin hätte große Gebiete Deutschlands schon damals in die Wirren eines blutigen Bürgerkrieges gestürzt. So aber konnte, ganz gegen die Absicht der Spartakisten, die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar stattfinden. Die Marschroute der neuen Republik wurde nun auch durch das Volk im demokratischen Sinne festgelegt. Es zeigte sich, daß die Mehrheitssozialdemokraten 11½ Millionen Stimmen, also 40 Prozent aller Stimmberechtigten überhaupt, erhielten, während die beiden Rechtsparteien, Deutschnationale und Deutsche Volkspartei, welche die Revolution im Prinzip verurteilten, nur zusammen 4½ Millionen Stimmen erzielten. Als Bundesgenossen der Sozialdemokratie waren ferner die 6 Millionen Zentrumswähler und die 5½ Millionen bürgerliche Demokraten aufgetreten, während die Unabhängigen nur mit 2,3 Millionen Stimmen, als zweitkleinste Partei, aus dem Wahlkampf hervorgingen. Insgesamt hatte sich das deutsche Volk mit 23 Millionen Stimmen für die neue gemäßigte bürgerlich-sozialistische Republik erklärt. Dieses überwältigende Ergebnis war das Resultat einer zehnwöchigen mehrheitssozialistischen Politik, die für sich beanspruchte, nicht nur den Krieg beendet, sondern auch die Spartakisten niedergeworfen zu haben.
Unterdessen drängte die Spannung in Mitteldeutschland zur Entladung. Die Reichsregierung hatte sich geweigert, [125] das kommunistische Betriebsrätegesetz anzuerkennen und die sofortige Sozialisierung der Betriebe durchzuführen. Es waren Versprechungen gemacht worden, die nun nicht eingelöst wurden. Infolgedessen brachen
Von allen Seiten, auch von der bürgerlichen Demokratie, wurden schwere Vorwürfe gegen Noskes eiserne Faust erhoben. Man beschuldigte ihn, daß er gelassen die Grausamkeiten seiner reaktionären Offiziere geduldet habe, daß er die Revolution hinterrücks ermordet habe. Man nannte ihn einen Bluthund und Arbeitermörder, und in der Tat hatte die radikale Arbeiterschaft jetzt aufgehört, den Gang der Politik zu bestimmen. Diese Beschuldigungen waren jedoch unbegründet. Die Insurgenten, welche gegen das Militär aufgehetzt waren, benahmen sich im Kampfe mit beispielloser Roheit und Erbitterung, während ihnen jeder kriegerische Mut fehlte, und die erregten Truppen mußten ihrerseits scharf zupacken, um abzuschrecken und sich Autorität zu verschaffen. Die Spartakisten hatten den Kampf mit den Waffen herausgefordert und führten ihn in ihrer Weise, sie hatten daher kein Recht, sich über seine Schärfe zu beklagen.
Von Tag zu Tag stieg der Terror in München. Ankommende Lebensmittelzüge wurden für die Rote Arbeiterwehr beschlagnahmt, während das Bürgertum hungerte. "Was tut's, wenn auch auf einige Wochen weniger Milch nach München kommt! Die Milch erhalten ja doch nur zumeist die Kinder der Bourgeoisie, an ihrem Leben haben wir kein Interesse, es schadet nichts, wenn sie sterben, aus ihnen werden ja doch nur Feinde des Proletariats!" So argumentierte Leviné im Münchener Hofbräuhaus vor seinen Anhängern. Die Eroberung Rosenheims durch die Rote Armee am 18. verlief sehr blutig. Zehn Geiseln wurden verhaftet und erschossen. Unter Tollers Führung wurde den Regierungstruppen nach schwerem Kampfe mit Geschützen und Maschinengewehren Dachau entrissen. Auch Freising war fest in den Händen der gut organisierten Rätearmee. Bis zum 25. brachte diese Kaufbeuren, Schongau, Starnberg und Kochel in ihre Gewalt. Doch während an diesem Tage die Truppen der Regierung Landshut eroberten, kam es in Nürnberg zu Unruhen. In Augsburg fanden schon seit vier Tagen Straßenkämpfe statt. In dem nicht aufständischen Teile des Landes wurden Freikorps organisiert, und am 29. April gelang [129] es den regulären Truppen, Starnberg, Dachau, Freising, Wasserburg und Gars zu besetzen. Am folgenden Tage waren sämtliche Zugangsstraßen um München herum von Regierungstruppen besetzt. Da ließen die Kommunisten im Luitpoldgymnasium zwei gefangene Regierungssoldaten und acht Münchner Bürger, Mitglieder eines deutschvölkischen Bundes, die sie als Geiseln verhaftet hatten, erschießen. Und an diesem Tage brach infolge inneren Zwistes die Macht der Räteregierung zusammen. Am Abend wurde an die Regierung Hoffmann telegraphiert, man wünsche Frieden, aber die Truppen dürften München nicht betreten. Die Antwort lautete: "Bedingungen unannehmbar, legt Waffen nieder! Jeder Widerstand ist nutzlos." Am folgenden Tage zogen die Truppen, von bewaffneten Bürgern unterstützt, unter schweren Kämpfen in München ein. Nach hartnäckigen Gefechten wurden an den beiden folgenden Tagen auch Rosenheim und der Vorort Giesing genommen. Am 4. Mai waren die Kämpfe abgeschlossen, die insgesamt etwa 800 Todesopfer gefordert hatten. Ein schweres Strafgericht wurde über die Aufrührer verhängt. Die Führer der Bewegung wurden standrechtlich erschossen. Die Erbitterung der Truppen über die heimtückische und hinterlistige, die grausame und blutige Kampfesweise der Kommunisten ging so weit, daß aus Irrtum und Verblendung auch 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins niedergemacht wurden. Am 7. Mai kehrte die Regierung Hoffmann nach München zurück. Es wurden Selbstschutzorganisationen aus Freiwilligen gebildet, und durch die Schrecken der Rätezeit bewogen, entwickelte sich München in der Folgezeit zum Hauptstützpunkt der monarchischen Bewegung.
Auch in Sachsen kam es zu blutigen Unruhen, wenn auch in beschränktem Umfange. Am 12. April entwickelten sich in Dresden Straßenkämpfe, die von den Kriegsbeschädigten angezettelt waren. Da der mehrheitssozialistische Kriegsminister Neuring diesen eine Erhöhung ihrer Bezüge verweigerte, holte man den Unglücklichen mittags aus seinen Amtsräumen, warf ihn in die Elbe und tötete ihn durch Gewehrsalven, als er sich durch Schwimmen retten wollte. In Hamburg wurden am 18. April die Lebensmittelspeicher des Hafenviertels geplündert. Als der Sommer ins Land zog, waren allerorts die seit sechs Monaten das Volk beunruhigenden revolutionären Erhebungen niedergeschlagen. Die Sache der Spartakisten und Kommunisten scheiterte daran, daß sie sich verzettelte, keine gemeinsame Führung hatte. Es wurden Aufstände hervorgerufen, die lokal isoliert waren und zeitlich aufeinanderfolgten, anstatt daß ein gewaltiger Schlag überall gleichzeitig ausgeführt wurde. Diese Verzettelung ermöglichte es der an und für sich kleinen Wehrmacht, bald hier, bald dort energisch und mit ganzer Kraft zuzupacken, während sie sich andererseits verzettelt hätte, wenn die Insurgenten überall gleichzeitig losgeschlagen hätten. Immerhin trugen die Kämpfe dazu bei, das Selbstbewußtsein der kleinen
In der Tat hatte sich Noske durch seine siegreichen Kämpfe [131] eine derartige Achtung und Macht errungen, daß er nur noch einen Schritt zu tun brauchte, um die Militärdiktatur einzuführen; seine Truppen standen hinter ihm. Aber er tat diesen Schritt nicht, den viele hofften und viele fürchteten. Deutschland war fürs erste beruhigt in dem Sinne, in welchem einst Cäsar Gallien "beruhigte". Während sich das deutsche Volk mit Eifer und Energie in diesen kritischen Zeiten bemühte festzustellen, wer der stärkere der beiden feindlichen Brüder sei, Mehrheitssozialisten oder Spartakisten, stellten sich in Weimar die Parteien mit langatmigen Programmen vor und versäumten nicht die günstige Gelegenheit, sich einander die Schuld am Kriege, an dessen unglücklichem Ausgang und an den inneren Wirren vorzuwerfen. Beunruhigt durch die Aufstände in Mitteldeutschland, verabschiedete die Versammlung am 6. März das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr auf demokratischer Grundlage, 135 000 Mann stark, wobei die bestehenden Freiwilligenorganisationen weitgehend berücksichtigt werden sollten. Nach außen hin war allerdings die Tätigkeit der Nationalversammlung nicht so glücklich, wie im Innern die Tätigkeit der Regierungsparteien bei der Unterdrückung des Aufruhrs. Von den Programmpunkten ihrer Außenpolitik konnte die Regierung Scheidemann nicht einen verwirklichen.
[132] Die Nationalversammlung schloß am 6. Februar einen vorläufigen Waffenstillstand mit den Polen, wonach diese fast im gesamten Besitz der Provinz Posen blieben, während Oberschlesien gegen polnische Banden gehalten wurde. Jedoch die Polen kehrten sich nicht an die Abmachungen und überfielen hinterrücks die deutschen Truppen. Hindenburg leitete eine Offensive ein, die auf der ganzen Front in Westpreußen und Posen siegreich verlief, am 11. Februar aber abgebrochen wurde, da innerhalb der deutschen Truppen Meinungsverschiedenheiten über den Soldatenrat ausgebrochen waren! Am 16. Februar dekretierte die Entente endgültig Waffenruhe zwischen Deutschland und Polen; es wurde eine Demarkationslinie festgesetzt, die den Polen die von ihnen fast ganz besetzte Provinz Posen überlieferte. Zwar versuchten die Polen immer wieder, den deutschen Grenzschutz anzugreifen, aber da, wo es zu Plänkeleien und Gefechten kam, wurden sie schnell zum Rückzuge gezwungen.
"Um die Lebensmittelversorgung Deutschlands und des übrigen Europas sicherzustellen, wird die deutsche Regierung alle nötigen Maßnahmen treffen, um während der Dauer des Waffenstillstandes die ganze deutsche Handelsflotte der Kontrolle und der Flagge der alliierten Mächte und der Vereinigten Staaten, denen ein deutscher Delegierter beigegeben ist, [133] zu unterstellen, diese Vereinbarung greift in keiner Weise der endgültigen Verfügung über diese Schiffe vor. Die Alliierten und die Vereinigten Staaten können, falls sie dies für nötig erachten, die Bemannung teilweise oder ganz ablösen. Für die Verwendung dieser Schiffe wird eine angemessene Vergütung gewährt, die durch die alliierten Regierungen festgesetzt wird." So lautete das Diktat des Generals Foch. War das nicht eine neue verschleierte Form der Blockade? Deutschland konnte sich nicht selbst ernähren, es war auf Einfuhr angewiesen. Man nahm ihm jetzt die Schiffe und damit die Möglichkeit, Lebensmittel einzuführen. Auf Gnade und Ungnade mußte das deutsche Volk seine Ernährung in die Hände der Sieger legen, die jederzeit die Zufuhr sperren, Millionen dem Hunger preisgeben konnten, wenn Deutschland Miene machte, die Waffenstillstandsverhandlungen oder die künftigen Friedensbedingungen abzulehnen. Es kamen nun Verhandlungen über die Belieferung Deutschlands mit Lebensmitteln in Fluß, deren Abschluß die Unterzeichnung des Lebensmittelabkommens von Spa am 8. Februar bildete. Hiernach verpflichteten sich die Ententestaaten, Deutschland gegen Gold und fremde Devisen mit Lebensmitteln zu beliefern. Die Erfüllung des Abkommens aber machten sie abhängig von der Annahme und Ausführung der Bedingungen, die sie dem Deutschen Reiche wegen der Abgabe der Handelsflotte auferlegt hatten und noch weiterhin auferlegen wollten. Da jedoch noch keine Aussichten auf einen Präliminarfrieden bestanden, sah sich Deutschland gezwungen, am 16. Februar noch einmal um Verlängerung des Waffenstillstandes nachzusuchen. Frankreich nützte auch diese Gelegenheit aus, um die Erfüllung neuer Forderungen vom Deutschen Reiche zu erzwingen. In dieser dritten und letzten Zusammenkunft Erzbergers mit Foch in Trier wurde zunächst vereinbart, den Waffenstillstand für eine kurze, unbefristete Dauer zu verlängern. Die Alliierten waren berechtigt, ihn mit einer Frist von drei Tagen kündigen zu dürfen. Den Deutschen wurde aufgegeben, sofort die Feindseligkeiten gegen Polen einzustellen. Es wurde eine Demarkationslinie zwischen Deutschland und Polen [134] festgelegt, wodurch den Polen die fast ganz besetzte Provinz Posen ausgeliefert wurde. Über die Annahme oder Ablehnung dieser Forderung kam es in der deutschen Regierung zu scharfen Auseinandersetzungen. Graf Brockdorff-Rantzau, der Minister des Auswärtigen forderte summarische Ablehnung der neuen Bedingungen, da sie weit hinausgingen über die ursprünglichen Waffenstillstandsabmachungen. Demgegenüber wurde auf die Zwangslage hingewiesen, in der sich das Reich befand, denn eine Ablehnung hätte den sofortigen Einmarsch der Alliierten in Deutschland und neue Blockade zur Folge gehabt. In Trier erhob Erzberger abermals die Forderung nach Freigabe der deutschen Kriegsgefangenen in den Ententeländern. Er wies darauf hin, daß bereits bis zum 10. Dezember 1918 von Deutschland rund 350 000 Kriegsgefangene nach Frankreich und England ausgeliefert worden seien, während von der Seite der Alliierten noch nichts hierin getan sei. Doch Foch blieb unerbittlich, er erklärte sich nur bereit, den alliierten Regierungen Deutschlands Bitte vorzulegen und 2000 Schwerkranke und Verwundete der in französischer Gefangenschaft befindlichen deutschen Soldaten auszuliefern. Während sich das deutsche Volk im blutigen Kampfe um parlamentarische oder rätediktatorische Regierungsweise zerfleischte, erkannte die deutsche Regierung mit Entsetzen den furchtbaren Haß, mit dem Frankreich von Monat zu Monat die Waffenstillstandsbedingungen verschärfte. Nicht mehr in der Lage, sich tatkräftig gegen den rachsüchtigen Feind zur Wehr setzen zu können, mußte sie, wenn auch unter Protest, so doch Schritt für Schritt den französischen Forderungen zustimmen, um dem Volke die schlimme Qual einer feindlichen Besetzung zu ersparen. Noch aber hoffte man auf Wilson, daß er Deutschland nicht ganz zu Boden treten lassen werde. Wie sich bald zeigte, war auch diese Hoffnung trügerisch. Die Sozialdemokratie und mit ihr die deutsche Regierung, litten vom November 1918 bis zum Juni 1919 an einer ganz unverständlichen Verkennung der Weltlage. Die doktrinären Anschauungen und Berechnungen der Sozialdemokratie hatten das gesamte Weltbild in einen gewisser- [135] maßen maschinellen Ablauf eingeordnet, der letzten Endes in der Herrschaft und Verbrüderung der Sozialisten aller Länder gipfelte. Diese Schlußfolgerungen materialistischer Zwangsläufigkeit ließen aber einen Faktor vollkommen außer acht: jene Summe nationaler Imponderabilien, jener ethischen Werte, die bei Deutschlands Gegnern stärker entwickelt waren als die sozialistischen Doktrinen; das war die Ursache jener ungezählten Leiden, die in den folgenden Jahren über das deutsche Volk hereinbrachen. Infolge dieser ungeheuren Falschrechnung wurde die aus der Revolution hervorgegangene demokratische Außenpolitik Deutschlands nicht eine Quelle des Friedens, sondern unsäglicher Qualen. Am 14. Februar hielt Graf Brockdorff-Rantzau in der Nationalversammlung eine Rede, in der er sich bitter beklagte über die schonungslose Verschärfung der Waffenstillstandsbedingungen durch die Alliierten. Deutschland habe die Niederlage auf sich genommen in dem ehrlichen Willen, die ihm gestellten Bedingungen zu erfüllen. Es sei bereit, mitzuhelfen am Wiederaufbau Frankreichs und der Welt und sich den von Wilson formulierten Forderungen zu unterwerfen, aber vergewaltigen lasse es sich nicht! Deutschland wünsche aufrichtig den Frieden und unterstütze die Völkerbundsbewegung, aber es begehre seine Handelsflotte und seine Kolonien zurück. Es verzichte auf alle Gebietserweiterungen, wünsche aber, daß auch Frankreich und Polen ihm nicht Teile seines Landes entreißen. Elsaß-Lothringen sollte das Recht der Selbstbestimmung haben. "Für uns begehren wir nur Deutsch-Österreich; dazu wird die Konferenz ihre Sanktion ganz gewiß nicht versagen." Wir sind besiegt, aber nicht entehrt!
"Die Nationalversammlung nimmt mit lebhafter Genugtuung von dem Beschlusse Kenntnis, mit dem die Vertreter der stammverwandten Deutsch-Österreicher ihre Zugehörigkeit zum deutschen Gesamtvolke bekundet haben. Sie bestätigen den deutsch-österreichischen Brüdern, daß über die bisherigen Grenzen hinweg die Deutschen des Reichs und die Deutschen in Österreich eine untrennbare Einheit bilden, und sprechen die zuversichtliche Hoffnung aus, daß die von den beiderseitigen Regierungen einzuleitenden Verhandlungen recht bald zu festen staatlichen Formen führen und die Zusammengehörigkeit in einer von allen Mächten der Welt anerkannten Weise ihren Ausdruck finden möge." Einen neuen Lebensinhalt, ein neues Ziel hatte das deutsche Volk in seiner düsteren Gegenwart gefunden, es leuchtete ihm ein Stern in die Zukunft. Aber in Frankreich und England war ein Dämon am Werke, der alles zu verhindern suchte, was dem niedergeschmetterten deutschen Volke seelischen Trost und körperliche Genesung bringen konnte. Und dieser grausame Geist der Rache holte zu einem neuen Schlage gegen das schwer getroffene Deutschland aus: am 7. März endlich antwortete die englische Regierung auf die am 29. November ergangene Note des Rates der Volksbeauftragten, worin diese Einsetzung einer neutralen Kommission zur Feststellung der Kriegsschuld vorschlugen. Hochmütig abweisend, unversöhnlich hart lautete die Antwort:
"Ich habe die Ehre, Sie zu benachrichtigen, daß die Regierung Seiner Majestät der Meinung ist, daß es unnötig sei, auf den deutschen Vorschlag irgendeine Antwort zu geben, da nach Meinung der verbündeten Regierungen die Verantwortlichkeit Deutschlands für den Krieg längst unzweifelhaft festgestellt worden ist." [137] Mit nüchternen Worten sagte es der Engländer: Deutschland ist schuldig am Weltkrieg, es bedarf keiner weiteren Erörterung, und die Folgerungen waren ebenso nüchtern und klar: das schuldige Deutschland hat wieder gutzumachen, was es zerstört hat, und muß bestraft werden, auf daß es sich bessere! Es war der erste Blitz aus schwarzen Wolken, der den Geist des kommenden Friedens ahnen ließ.
Zwar dem Ruf nach Brot gab die Entente Gehör. Am 14. März wurde in Brüssel ein neues Abkommen (ähnlich dem von Spa) getroffen über Finanz-, Lebensmittel- und Schiffahrtsfragen. Deutschland sollte monatlich 370 000 Tonnen Lebensmittel gegen Goldzahlung und Devisen erhalten, dafür aber sollte die Auslieferung der Handelsflotte durchgeführt werden.
Nachdem nun Mitte April Deutschland die polnische Armee des Generals Haller durch sein Gebiet hatte von Frankreich nach Polen transportieren
müssen – dies geschah auf drei Wegen: von Stettin durch Pommern, durch Ostpreußen und auf dem Landwege von
Koblenz – Kassel – Frankfurt – Halle über
Leipzig – Kottbus – Kalisch –, lud Clemenceau am 18. April die deutsche Friedensdelegation auf den 25. April nach Versailles zur Friedenskonferenz ein. Es wurde gleich angekündigt, daß eine mündliche Diskussion der
Friedens- [138] bedingungen nicht zugelassen sei. Darauf antwortete die deutsche Regierung, dann genüge es ja für diesen Fall, wenn zwei Sekretäre zur Entgegennahme der Urkunde geschickt würden. Aber die Alliierten verlangten Bevollmächtigte zur Unterschrift, und Deutschland mußte gehorchen, denn die französischen Regimenter warteten auf den Augenblick des Vormarsches. Also traf am 29. April die deutsche Friedensdelegation in Versailles ein. Sie bestand aus dem Reichsminister des Auswärtigen, Dr. Graf
Brockdorff-Rantzau, dem Reichsjustizminister Dr. Landsberg, dem Reichspostminister Giesberts, Präsident der preußischen Landesversammlung Leinert, Dr. Karl Melchior und dem pazifistischen Rechtsgelehrten Professor Dr. Schücking. |