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[Bd. 1 S. 118]
3. Kapitel: Innere Erschütterungen, äußere Bedrängnis.

  Stellung des Bürgertums  

Auch das Bürgertum begann sich politisch zu festigen und zu organisieren, lediglich zu dem Zwecke, den Ausschreitungen der Spartakisten, die von Gewalttaten und Plünderungen begleitet wurden, entgegenzutreten. In Wünsdorf und Döberitz bildeten sich Ende 1918 Freikorps aus Offizieren und Soldaten, welche die Absicht hatten, den neuen Staat gegen sämtliche spartakistische Angriffe zu verteidigen. Der Gedanke einer Gegenrevolution tauchte nirgends ernstlich auf, weil, wenn man wirklich an die Wiederherstellung der Monarchie gedacht hätte, kein geeigneter Prätendent aufzufinden war. Es wäre ja für diesen Zweck, der Tradition des Kaiserreichs zufolge, nur ein Hohenzoller in Frage gekommen. Aber die öffentliche Meinung war infolge des Krieges zu sehr gegen das Fürstengeschlecht eingenommen, als daß eine Bewegung für die Wiedererrichtung des hohenzollernschen Kaisertums Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Eine aussichtslose Bewegung einzuleiten, wäre von vornherein ein Wahnsinn gewesen und unterblieb daher.

Für den rechten Flügel des deutschen Volkes gab es nur eine Aufgabe: gemeinsam mit der Demokratie gegen die spartakistischen Umsturzversuche anzukämpfen, die Ruhe und Ordnung unter der bestehenden Regierung gegen die Diktaturgelüste des Proletariats zu schützen. Darüber hinaus sollten auch die hohen idealen Werte gepflegt werden, die besonders bei den Frontsoldaten in vierjähriger Kriegszeit in edler, selbstverleugnender Weise zur Ausbildung gelangten: Pflichterfüllung und Kameradschaftstreue. Ohne Ansehen der Person, des militärischen Dienstgrades, der politischen Parteistellung oder des bürgerlichen Berufes sollten alle diese jetzt zersplitterten Kräfte des Frontheeres wieder gesammelt werden zum Zwecke der politischen und kulturellen Wiederaufrichtung Deutschlands und des deutschen Volkes. Diese Gedanken bewegten den Magdeburger Franz Seldte, als er am 1.  Weihnachtsfeiertage 1918 mit einigen anderen Frontsoldaten den "Stahlhelm" [119] gründete, jene Organisation, die sich in den nächsten Jahren über ganz Deutschland verbreitete und zum mächtigsten und gefürchtetsten Gegner der Spartakisten wurde.

In allen größeren Städten Deutschlands machten sich ähnliche Bestrebungen bemerkbar, die sich zumeist unter dem Namen von "Bürgerwehren" oder "Einwohnerwehren" zusammenfanden. Sie beschränkten sich dann nicht bloß auf Frontsoldaten. Der Januar 1919 führte die Sozialdemokratie endgültig an die Seite dieser bürgerlichen Selbstschutzorganisationen zur gemeinsamen Bekämpfung des spartakistischen Gegners.

Ledebour spricht.
[Bd. 1 S. 48c]      Ledebour spricht nach den Kämpfen vom 24. Dezember 1918
gegen den Bruderkrieg.
      Photo Scherl.

Eichhorn, der Mitglied der Unabhängigen und Polizeipräsident von Berlin war, hatte seine Mithilfe bei der Unterdrückung des Matrosenaufstandes verweigert. Daraufhin enthob ihn der sozialdemokratische Stadtkommandant Wels seines Postens am 4. Januar. Jetzt wandte sich Eichhorn an Liebknecht und Ledebour, und alle drei forderten die Massen auf, die Regierung zu stürzen. Der Generalstreik wurde am folgenden Tage ausgerufen und eine Massendemonstration in der Siegesallee abgehalten. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren die Seele der Bewegung. Ihr Handeln war letzten Endes nur darauf gerichtet, die verhaßten Verräter der Revolution, Ebert, Scheidemann, Noske und all die andern, zu beseitigen. Der tiefere Sinn der ganzen Bewegung war überdies, die Wahlen zur Nationalversammlung zu verhindern

Beginn der
  "Spartakuswoche"  

und die Diktatur des Proletariats zu errichten. Karl Radek, ein fanatischer Sendbote der russischen Bolschewisten, goß unentwegt Öl ins Feuer. Am Abend wurde das Zeitungsviertel besetzt. Man proklamierte die Absetzung der Volksbeauftragten und setzte einen "Revolutionsausschuß" ein. Verhandlungen zwischen den Mehrheitssozialisten und Unabhängigen, die durch Vermittlung gemäßigter Unabhängiger geführt wurden, verliefen ergebnislos. Die Spartakisten waren nicht zu bewegen, die Vorwärts-Druckerei herauszugeben. Sie ergingen sich in wüsten Schmähungen gegen die Mehrheitssozialisten, und die vorläufige Reichsregierung war ihres Lebens nicht mehr sicher. Die Lage war ernst.

Die Regierung wußte, daß die Soldaten, die Matrosen und [120] die Berliner Polizei unzuverlässig waren. Wenn sie sich in dieser Lage behaupten wollte, mußte sie also wieder wohl oder übel ihre Zuflucht nehmen zu den Offizieren der alten Armee, welche die berufenen Träger der monarchischen Tradition waren. Sie tat es und, indem sie ihre Macht auf das alte Offizierkorps stützte, das nicht nach parteipolitischen Sonderinteressen fragte, sondern als etwas Selbstverständliches seine Pflicht zur Erhaltung des Vaterlandes tat, führte die Regierung den entscheidenden Wendepunkt in der deutschen Revolution herbei: dem zerschlagenen Deutschland ward die neue welthistorische Aufgabe zuteil, trotz seiner Revolution der Hort westeuropäischer Kultur gegen russischen Bolschewismus zu werden. Diese Aufgabe konnte nur dadurch erfüllt werden, daß sich die monarchische und sozialdemokratische Bewegung unter Verzicht auf ihre parteipolitischen Sonderinteressen zur Bekämpfung des Spartakismus vereinigten. Von republikanischem Staatsbewußtsein war in jenen Tagen kaum die Rede. General Maercker schreibt: "Die Rettung der Regierung kam von einer Seite, von der ihre Mitglieder es ebensowenig erwarteten wie erwünschten, nämlich von dem Offizierkorps."

Niederwerfung
  der Spartakisten  

Der Rat der Volksbeauftragten erteilte Noske die Aufgabe, den in Berlin ausgebrochenen spartakistischen Aufstand zu unterdrücken. Noske wurde zum Oberbefehlshaber der Regierungstruppen ernannt. Einen General wollte man nicht mit der Niederwerfung der Linksradikalen beauftragen, da hierdurch die Gegensätze wesentlich verschärft und der Bürgerkrieg erheblich erbitterter geworden wäre. Es war ein klug berechneter Schachzug der Regierung, daß sie einen Zivilisten und Sozialdemokraten an die Spitze stellte, und zwar den Mann, der sich in den kritischen Novembertagen als Mittelsperson das Vertrauen der Arbeiterschaft erworben hatte. Und ebenso klug und diplomatisch handelte Noske, indem er sich der Heeresorganisation der alten Armee bediente. Er wußte, daß seine neue Stellung staatsmännischen Scharfblick, zielbewußte Energie und politischen Takt erforderte, und er besaß diese drei Gaben in hohem Maße. "Irgend jemand muß der Bluthund sein, ich werde mich der Verantwortung nicht entziehen." Mit diesen "Worten übernahm er seinen Posten, von der [121] Regierung berufen, durch den Zentral-Arbeiter- und Soldatenrat bestätigt.

Berliner Polizeipräsidium nach Spartakusherrschaft.
[Bd. 1 S. 64a]
Berliner Polizeipräsidium
nach Spartakusherrschaft.

Photo Sennecke.
Mit Hilfe der Offiziere stellte Noske Freikorps auf, die sich aus angeworbenen Offizieren und Soldaten zusammensetzten und in dieser Gestalt eine politisch zuverlässige und militärisch geschulte Truppe gegen links bildeten. Außerdem befehligte Noske die regulären Truppen der Mark Brandenburg. Sein Hauptquartier verlegte er aus der Reichshauptstadt heraus und begann, durch einen Generalstab erfahrener Offiziere beraten, planmäßig mit der Niederwerfung der Aufrührer, die sich in heftigen, tagelangen Straßenkämpfen in Berlin abspielte. Die Räume des Vorwärts wurden am 11. Januar gestürmt, und von den dort anwesenden 300 bewaffneten Insurgenten wurden 7 erschossen. Am folgenden Tage wurde das Polizeipräsidium mit allen Künsten der Kriegführung, mit schweren Maschinengewehren, Minenwerfern und Haubitzen belagert und schließlich durch die Gardefüsiliere erstürmt. Ein Stadtteil nach dem andern mußte in blutigen Kämpfen den Spartakisten entrissen werden. Am 13. Januar war der Kampf, der eine Woche gedauert hatte, zu Ende, und die Spartakisten mußten sich wohl oder übel damit abfinden, daß sie die Besiegten waren und von den Regierungstruppen entwaffnet wurden. Zwei Tage später wurden die beiden Führer der Linksradikalen, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die geflohen waren, aufgegriffen. Liebknecht benutzte eine Panne des Autos, in dem er abtransportiert wurde, zur Flucht und stach dabei einen Soldaten nieder. Seine Wächter schossen auf ihn und trafen ihn tödlich. Am selben Abend wurde Rosa Luxemburg in das Untersuchungsgefängnis überführt. Auf der Straße wurde sie erkannt und von der über das von ihr angerichtete Unheil maßlos erbitterten Menschenmenge gelyncht. Die Spartakisten behaupteten, ihre Führer seien von Angehörigen der Gardekavallerieschützendivision vorsätzlich erschossen worden, worüber es später zu einem Prozeß kam. Karl Radek, der ebenfalls geflohen war, konnte nicht mehr gefaßt werden.

Die "Spartakuswoche" spielte sich nur in Berlin ab, aber es herrschte während dieser Zeit in den anderen Teilen des Reichs, besonders in den Industriebezirken, eine bis zum äußersten [122] gesteigerte Spannung. Spartakistische Putschversuche in Düsseldorf und Dortmund verliefen ergebnislos, auf dem Leipziger Hauptbahnhof kam es am 9. Januar zu einem Zusammenstoß, der vier Tote und neun Verwundete brachte. Ein Transport von Regierungstruppen, der für Berlin bestimmt war, wurde entwaffnet und nach seinem Demobilmachungsorte zurückgeleitet. Jedoch der erste Mißerfolg der Regierungstruppen in Berlin hätte große Gebiete Deutschlands schon damals in die Wirren eines blutigen Bürgerkrieges gestürzt. So aber konnte, ganz gegen die Absicht der Spartakisten, die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar stattfinden. Die Marschroute der neuen Republik wurde nun auch durch das Volk im demokratischen Sinne festgelegt. Es zeigte sich, daß die Mehrheitssozialdemokraten 11½ Millionen Stimmen, also 40 Prozent aller Stimmberechtigten überhaupt, erhielten, während die beiden Rechtsparteien, Deutschnationale und Deutsche Volkspartei, welche die Revolution im Prinzip verurteilten, nur zusammen 4½ Millionen Stimmen erzielten. Als Bundesgenossen der Sozialdemokratie waren ferner die 6 Millionen Zentrumswähler und die 5½ Millionen bürgerliche Demokraten aufgetreten, während die Unabhängigen nur mit 2,3 Millionen Stimmen, als zweitkleinste Partei, aus dem Wahlkampf hervorgingen. Insgesamt hatte sich das deutsche Volk mit 23 Millionen Stimmen für die neue gemäßigte bürgerlich-sozialistische Republik erklärt. Dieses überwältigende Ergebnis war das Resultat einer zehnwöchigen mehrheitssozialistischen Politik, die für sich beanspruchte, nicht nur den Krieg beendet, sondern auch die Spartakisten niedergeworfen zu haben.

Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in Weimar.
[Bd. 1 S. 96a]      6. Februar 1919: Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in Weimar.
Photo Scherl.

Briefmarken der Republik.
[Bd. 4 S. 32a]      Briefmarken der Republik: die sogenannten "Arbeitermarken" 1922.
[Photo Scherl?]

Beginn der
National-
  versammlung  

Am 6. Februar trat im Nationaltheater zu Weimar die Nationalversammlung zusammen. Man mied als Sitz des Parlamentes das unsichere Berlin, um sich nicht einer unverhofften Überrumpelung durch die Spartakisten auszusetzen. Man wählte das klassische Weimar, um der neuen Republik zugleich eine Art Kulturstempel aufzudrücken. Die Mehrheitssozialisten hatten 163 Sitze inne, die Demokraten 77 und das Zentrum 88, das waren 328 Stimmen für die Republik, während der linke Flügel 22, der rechte 63 [123] (Deutschnationale 42, Deutsche Volkspartei 21) zu beanspruchen hatte. Der Rat der Volksbeauftragten stellte der Versammlung seine Ämter zur Verfügung, und die republikanische Koalition beauftragte Scheidemann unverzüglich mit der Bildung der neuen Regierung. Am 10. Februar wurde das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt angenommen (Notverfassung), wodurch das staatsrechtliche Ende der Revolution herbeigeführt wurde. Am folgenden Tage wählte die Versammlung mit 277 Stimmen gegen 102 und bei 41 Enthaltungen Friedrich Ebert zum vorläufigen Reichspräsidenten.

Einführung Friedrich Eberts als Reichspräsident.
[Bd. 1 S. 176b]    Einführung Friedrich Eberts als Reichspräsident durch die Nationalversammlung
am 11. Februar 1919.
      Photo Scherl.

  Regierung Scheidemann  

Scheidemann bildete am 13. Februar seine Regierung. Sie bestand aus 7 Mehrheitssozialisten: Scheidemann (Ministerpräsident), Bauer (Arbeit), Wissell (Wirtschaft), Noske (Reichswehr), Landsberg (Justiz), Schmidt und David; drei Demokraten: Preuß (Inneres), Schiffer (Finanzen) und Gothein; drei Zentrumsanhängern: Giesberts, Bell und Erzberger und zwei Parteilosen: Brockdorff-Rantzau (Auswärtiges) und Koeth.

Philipp Scheidemann.
[192a]      Philipp Scheidemann, Präsident
des Reichsministeriums.
      Photo Scherl.
Matthias Erzberger.
[192a]      Matthias Erzberger.      Photo Scherl.

1919: Reichspräsident Ebert bei den heimgekehrten Truppen.
[Bd. 2 S. 160b]      1919: Reichspräsident Ebert
bei den heimgekehrten Truppen.
   Photo Scherl.
Das Programm war ein Kompromiß aus bürgerlicher und sozialistischer Demokratie mit unverkennbarem Übergewicht bürgerlicher Tendenzen. Es wurde gefordert: nach außen hin schleuniger Friedensschluß auf der Grundlage Wilsonscher Ideen, Ablehnung eines Gewaltfriedens, Wiederherstellung der Kolonien, sofortige Rückgabe der Kriegsgefangenen, Teilnahme am Völkerbund, Abrüstung, Abschaffung der Geheimdiplomatie und obligatorische Schiedsgerichte. Im Innern sollte durchgeführt werden: Demokratisierung der Verwaltung, des Heeres und der Schule, Hebung der Volksbildung, Staatsaufsicht über Berg- und Elektrizitätswerke, die Schaffung von Lohnkammern und Besteuerung der Kriegsgewinner. Es war ein umfassendes Programm, welches wenigstens versuchte, den Wünschen des Volkes gerecht zu werden. Nur die extreme Linke und die Rechte lehnten von vornherein ihre Mitarbeit ab.

  Aufstand in Kiel  

Bald aber zeigte sich, daß der Spartakismus noch nicht zerschmettert am Boden lag, sondern aufs neue sein Haupt erhob. Es nahten schwere Monate innerer Erschütterung und furchtbaren Blutvergießens. Da die von den Unabhängigen verlangte Bewaffnung der Arbeiterschaft in Kiel abgelehnt wurde, brach hier am 6. Februar ein Generalstreik aus, der aber schon am [124] nächsten Tage mit Waffengewalt unterdrückt wurde. Sechs Zivilisten und ein Matrose fanden dabei den Tod. Den Aufrührern wurden die Waffen abgenommen, in deren Besitz sie sich unrechtmäßigerweise gesetzt hatten. Im Ruhrgebiet war seit Mitte Januar die linksradikale Bewegung nicht zur Ruhe gekommen. Die Bergleute und Hüttenarbeiter riefen einen Generalstreik aus und setzten eine aus Mehrheitssozialisten und Kommunisten bestehende Neunerkommission ein, die energisch Sozialisierung der westfälischen Bergindustrie und Erhöhung der Löhne forderte.

  Aufstände im Ruhrgebiet  
und Mitteldeutschland

Am 12. Februar kam es zu Straßenkämpfen in Duisburg. Die Gegensätze verschärften sich immer mehr, da ein großer Teil der besonnenen Arbeiterschaft sich nicht unter die spartakistische Diktatur fügen wollte. Mitte Februar hatte der Generalstreik das ganze Ruhrgebiet und Westfalen erfaßt, und die Insurgenten schossen auf ihre arbeitswilligen Kollegen. In Mülheim wurde die Polizei entwaffnet, und in erfolgreichen Straßenkämpfen, in deren Verlauf die Waffenläden geplündert wurden, befestigte sich die Herrschaft des Terrors. In Düsseldorf besetzten die Aufrührer die Druckereien, während sie in Gelsenkirchen entwaffnet werden konnten. Am 17. Februar stürmten die Spartakisten den Bahnhof in Elberfeld, der am nächsten Tage von Regierungstruppen zurückerobert werden mußte. Der Kampf des Militärs war nicht so leicht und einfach, denn seine Gegner waren mit Kanonen, Mörsern und Minenwerfern wohl versehen. Das dem Landgrafen von Hessen gehörige Schloß Philippsruhe bei Hanau wurde geplündert (19. Februar). Auch Hamborn, das bisher noch ruhig war, schloß sich am 20. Februar dem spartakistischen Generalstreik an, der in wahnwitziger Erbitterung in einen Kampf gegen Menschen und Maschinen ausartete. Doch schon am 21. war es den Truppen gelungen, den Streik zu brechen. Die Arbeit wurde wieder aufgenommen, den Insurgenten wurden die Waffen abgenommen, der Neunerausschuß wurde aufgelöst. Hamborn kapitulierte am 27. Februar, am folgenden Tage besetzten die Regierungstruppen Düsseldorf.

Unterdessen drängte die Spannung in Mitteldeutschland zur Entladung. Die Reichsregierung hatte sich geweigert, [125] das kommunistische Betriebsrätegesetz anzuerkennen und die sofortige Sozialisierung der Betriebe durchzuführen. Es waren Versprechungen gemacht worden, die nun nicht eingelöst wurden. Infolgedessen brachen

  Aufstand in Halle  

Revolten aus, die durch den Streik der spartakistischen Eisenbahner begünstigt, besonders in den Städten gefahrdrohend anwuchsen. Halle war das Zentrum der Bewegung, und hier enthüllte der Bolschewismus sein wahres Gesicht. Hier bestand seit dem Dezember eine aus Arbeitern und Matrosen gebildete Sicherheitswehr, die sich als unzuverlässig erwies. Deswegen wurde aus der Mitte des Bürgertums heraus eine Bürgerwehr geschaffen. Als am 25. Februar der Generalstreik aus dem oben angegebenen Grunde einsetzte, begann die Sicherheitswehr mit der Bewaffnung des Lumpenproletariats, der Arbeitsscheuen, Arbeitslosen und Verbrecher, und der Halbwüchsigen. Sogar zweifelhafte Weiber hantierten mit Gewehren. Auf dem Markte fanden Zusammenrottungen vieler Tausender statt, und aufrührerische Ansprachen wurden gehalten. In den Straßen stauten sich die Menschen, in der Hauptsache lichtscheues Gesindel. Die bürgerlichen Zeitungen wurden am Erscheinen verhindert, ihre Druckereien besetzt und zum Teil zerstört, nur die nach der radikalen Linken tendierende sozialdemokratische Zeitung wurde ausgegeben. In allen Stadtteilen ratterten die Maschinengewehre, um das Bürgertum einzuschüchtern. An Straßenkreuzungen günstig gelegene Häuser wurden mit Bewaffneten besetzt und mit Maschinengewehren ausgerüstet. Als Antwort auf den spartakistischen Generalstreik traten die Behörden, vor allem Post und Telegraph, und die Ärzte und Kaufleute in einen Proteststreik ein. Sämtliche Geschäfte ruhten, die Fabriken lagen tot, die Läden waren geschlossen. Drei Tage verliefen in höchster Spannung. Die Stadt stand unter dem Terror der Straße. Erst am 1. März, als die Kunde von den anrückenden Truppen des Generals Maercker die Stadt durchflog, brach der Aufruhr offen aus. Allenthalben kam es zu Straßenkämpfen. Mit bestialischer Roheit wurde der Oberstleutnant von Klüber vom Pöbel gemordet. Man schleppte den Unglücklichen an die Saale, warf ihn in den Fluß und schoß solange auf ihn, bis er [126] getroffen unterging, einen roten Fleck auf dem grauen Flusse zurücklassend. Die am Nachmittag einrückenden Truppen wurden in den Gebäuden, die sie besetzt hatten, regelrecht belagert und beschossen. Nach Einbruch der Dunkelheit plünderte der zügellose Mob die Warenhäuser in den Geschäftsstraßen der inneren Stadt. Haus für Haus wurde verheert, und die Stadt bot am nächsten Morgen einen wüsten Anblick ausgeraubter und zertrümmerter Läden. Mehrere Tage, bis zum 6. März, tobten hartnäckige Straßenkämpfe, die beiden Parteien zahlreiche Opfer kosteten. Auf beiden Seiten tackten die Maschinengewehre, dröhnten die Handgranaten. Die Insurgenten waren gut bewaffnet, aber ihnen fehlte die Disziplin und der persönliche Mut. Sie hatten zahlreiche Zivilisten in ihren Reihen, die vom Gebrauch der Waffen und der Kriegsmittel keine Ahnung hatten, aber sie besaßen vorzügliche Ortskunde, über welche die Ordnungssoldaten nicht verfügten. Schließlich wurden die Regierungstruppen des Aufruhrs Herr und entwaffneten die Insurgenten. Diese aber saßen meilenweit im Lande herum, und daher wurde die Tätigkeit der Truppen sehr erschwert.

  Aufstand in Leipzig  

Auch in Leipzig wurde am 26. Februar der Generalstreik proklamiert, anläßlich der Ermordung Eisners in München. In der Nacht zum 27. besetzten Matrosen den Leipziger Hauptbahnhof und legten allen Verkehr still. Wie in Halle, antwortete auch hier das Bürgertum mit dem Proteststreik.

Verkehrsstreik in Berlin, Anfang 1919.
[Bd. 1 S. 64b]      Verkehrsstreik in Berlin, Anfang 1919.      Photo Scherl.

  Aufstand in Berlin  

In Berlin kam es zu wesentlich blutigeren Kämpfen als im Januar während der "Spartakuswoche". Aus wirtschaftlichen Gründen proklamierten die beiden sozialdemokratischen Parteien den Generalstreik, und die Spartakisten wollten diesen auf Nahrungsmittelzufuhr, Wasser, Elektrizität und Gas ausdehnen. Infolgedessen zogen sich die Mehrheitssozialisten vom Streik zurück. Aber lichtscheues Gesindel füllte die Straßen und plünderte ein Warenhaus am Alexanderplatz. Die Marinedivision wurde zu Hilfe gerufen, verwickelte sich aber in einen wüsten Kampf mit der Polizeitruppe von Wels. Auf beiden Seiten griffen Zivilisten ein, und im Osten der Stadt erstanden Barrikaden. Mit Kanonen, Handgranaten und Flugzeugen rückten die Freikorps der Regierung vor, und es wurde allenthalben mit rücksichtsloser Grausamkeit gekämpft. Die [127] Insurgenten, zersplittert und ohne Leitung, unterlagen. Mehr als 1000 Opfer hatte der Kampf gekostet. Am 11. März war der Generalstreik im Reiche beendet.

Von allen Seiten, auch von der bürgerlichen Demokratie, wurden schwere Vorwürfe gegen Noskes eiserne Faust erhoben. Man beschuldigte ihn, daß er gelassen die Grausamkeiten seiner reaktionären Offiziere geduldet habe, daß er die Revolution hinterrücks ermordet habe. Man nannte ihn einen Bluthund und Arbeitermörder, und in der Tat hatte die radikale Arbeiterschaft jetzt aufgehört, den Gang der Politik zu bestimmen. Diese Beschuldigungen waren jedoch unbegründet. Die Insurgenten, welche gegen das Militär aufgehetzt waren, benahmen sich im Kampfe mit beispielloser Roheit und Erbitterung, während ihnen jeder kriegerische Mut fehlte, und die erregten Truppen mußten ihrerseits scharf zupacken, um abzuschrecken und sich Autorität zu verschaffen. Die Spartakisten hatten den Kampf mit den Waffen herausgefordert und führten ihn in ihrer Weise, sie hatten daher kein Recht, sich über seine Schärfe zu beklagen.

  Räteregierung  
in München

Doch in Süddeutschland gärte es weiter. Der Unabhängige Eisner, der zwar ein Gegner der Mehrheitssozialisten war, sich aber anderseits auch nicht mit den Spartakisten identifizierte, war am 21. Februar ermordet worden. Aus Rache wurden dafür zwei bürgerliche Landtagsabgeordnete ermordet und der mehrheitssozialistische Führer Auer verwundet. Der Landtag, der eine bürgerliche Mehrheit hatte, wurde gesprengt, und der Mehrheitssozialist Hoffmann bildete mit den Unabhängigen eine reine sozialistische Regierung. Am 3. April forderte eine Versammlung der Mehrheitssozialisten in Augsburg die Ausrufung der Räterepublik, und am 7. April wurde in München durch Mehrheitssozialisten und Unabhängige die Sowjetrepublik verkündet, worauf Hoffmann mit seinem Ministerium nach Bamberg floh. Die Räteregierung ging tatkräftig

Erich Mühsam.
[Bd. 1 S. 64a]
Erich Mühsam, Spartakist.
Photo Scherl.
ins Zeug, sie erließ Sozialisierungsgesetze (8. April) und entwaffnete das Bürgertum (12. April). Zwar war ihr Machtbereich nur klein und reichte kaum über die Grenzen Münchens hinaus, denn fast das gesamte bayrische Land hielt zur Hoffmann-Regierung. Die Garnison [128] stürzte die neuen Machthaber am 13. April, aber schon am folgenden Tage gingen diese siegreich aus den Straßenkämpfen, begleitet von spartakistischen Plünderungen, hervor. Und nun ging die Regierung in die Hände radikalster Kommunisten über: Mühsam, Toller, Sontheimer, Egelhofer, unterstützt von den russischen Bolschewisten Leviné und Axelrod. Am 15. April wurde in München der Generalstreik proklamiert, und während preußische, bayrische und württembergische Truppen ihre Kreise immer enger zogen, entwickelte sich in der von aller Welt abgeschlossenen Stadt der furchtbarste Terror. Die bayrische Hauptstadt war vollkommen in der Hand der Roten Garde. Die bürgerliche Presse war stillgelegt. Bürgerliche Versammlungen waren verboten. Haussuchungen nach Lebensmitteln wurden vorgenommen, Geiseln verhaftet, Gelder erpreßt. Zehntausend bewaffnete Arbeiter standen bei Dachau. Der erste Zusammenstoß bei Freising am 17. war für die Regierungstruppen erfolglos und verlustreich.

Von Tag zu Tag stieg der Terror in München. Ankommende Lebensmittelzüge wurden für die Rote Arbeiterwehr beschlagnahmt, während das Bürgertum hungerte. "Was tut's, wenn auch auf einige Wochen weniger Milch nach München kommt! Die Milch erhalten ja doch nur zumeist die Kinder der Bourgeoisie, an ihrem Leben haben wir kein Interesse, es schadet nichts, wenn sie sterben, aus ihnen werden ja doch nur Feinde des Proletariats!" So argumentierte Leviné im Münchener Hofbräuhaus vor seinen Anhängern. Die Eroberung Rosenheims durch die Rote Armee am 18. verlief sehr blutig. Zehn Geiseln wurden verhaftet und erschossen. Unter Tollers Führung wurde den Regierungstruppen nach schwerem Kampfe mit Geschützen und Maschinengewehren Dachau entrissen. Auch Freising war fest in den Händen der gut organisierten Rätearmee. Bis zum 25. brachte diese Kaufbeuren, Schongau, Starnberg und Kochel in ihre Gewalt. Doch während an diesem Tage die Truppen der Regierung Landshut eroberten, kam es in Nürnberg zu Unruhen. In Augsburg fanden schon seit vier Tagen Straßenkämpfe statt. In dem nicht aufständischen Teile des Landes wurden Freikorps organisiert, und am 29. April gelang [129] es den regulären Truppen, Starnberg, Dachau, Freising, Wasserburg und Gars zu besetzen. Am folgenden Tage waren sämtliche Zugangsstraßen um München herum von Regierungstruppen besetzt. Da ließen die Kommunisten im Luitpoldgymnasium zwei gefangene Regierungssoldaten und acht Münchner Bürger, Mitglieder eines deutschvölkischen Bundes, die sie als Geiseln verhaftet hatten, erschießen. Und an diesem Tage brach infolge inneren Zwistes die Macht der Räteregierung zusammen. Am Abend wurde an die Regierung Hoffmann telegraphiert, man wünsche Frieden, aber die Truppen dürften München nicht betreten. Die Antwort lautete: "Bedingungen unannehmbar, legt Waffen nieder! Jeder Widerstand ist nutzlos." Am folgenden Tage zogen die Truppen, von bewaffneten Bürgern unterstützt, unter schweren Kämpfen in München ein. Nach hartnäckigen Gefechten wurden an den beiden folgenden Tagen auch Rosenheim und der Vorort Giesing genommen.

Am 4. Mai waren die Kämpfe abgeschlossen, die insgesamt etwa 800 Todesopfer gefordert hatten. Ein schweres Strafgericht wurde über die Aufrührer verhängt. Die Führer der Bewegung wurden standrechtlich erschossen. Die Erbitterung der Truppen über die heimtückische und hinterlistige, die grausame und blutige Kampfesweise der Kommunisten ging so weit, daß aus Irrtum und Verblendung auch 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins niedergemacht wurden. Am 7. Mai kehrte die Regierung Hoffmann nach München zurück. Es wurden Selbstschutzorganisationen aus Freiwilligen gebildet, und durch die Schrecken der Rätezeit bewogen, entwickelte sich München in der Folgezeit zum Hauptstützpunkt der monarchischen Bewegung.

Freiwilligen-Einzug in München nach Befreiung von der Räteherrschaft.
[Bd. 2 S. 16a]      12. Juni 1919:
Freiwilligen-Einzug in München nach Befreiung von der Räteherrschaft.
      Photo Scherl.
Fliegerabwehrgeschütze vor dem Sendlinger Tor.
[Bd. 2 S. 16a]      Juni 1919 in München:
Fliegerabwehrgeschütze vor dem
Sendlinger Tor.
      Photo Sennecke

Räteregierung
  in Braunschweig  

Das Beispiel Bayerns wirkte auf Braunschweig zurück. Am 9. April wurde hier der politische Generalstreik ausgerufen und die Räteverfassung eingeführt. Das Bürgertum und die Beamten antworteten mit dem Proteststreik. General Maercker erhielt den Auftrag, Ordnung zu schaffen. Am 15. eroberten seine Truppen Helmstedt. Die Braunschweiger Räteregierung fühlte sich ihrer Sache nicht sicher

Regierungstruppen befreien Braunschweig von Spartakistenherrschaft.
[Bd. 1 S. 96b]    Frühjahr 1919: Regierungstruppen befreien Braunschweig
von der Spartakistenherrschaft.

Photo Scherl.

Verhaftung eines Kommunisten bei den Unruhen in Hamburg 1919.
[Bd. 1 S. 96b]    Verhaftung eines Kommunisten
bei den Unruhen in Hamburg 1919.

Photo Scherl.
und wollte mit dem General in Magdeburg Verhandlungen anknüpfen. [130] Es wurde jedoch kein Ergebnis erzielt, und zwei Tage später besetzten die Truppen kampflos Braunschweig.

Auch in Sachsen kam es zu blutigen Unruhen, wenn auch in beschränktem Umfange. Am 12. April entwickelten sich in Dresden Straßenkämpfe, die von den Kriegsbeschädigten angezettelt waren. Da der mehrheitssozialistische Kriegsminister Neuring diesen eine Erhöhung ihrer Bezüge verweigerte, holte man den Unglücklichen mittags aus seinen Amtsräumen, warf ihn in die Elbe und tötete ihn durch Gewehrsalven, als er sich durch Schwimmen retten wollte. In Hamburg wurden am 18. April die Lebensmittelspeicher des Hafenviertels geplündert.

Als der Sommer ins Land zog, waren allerorts die seit sechs Monaten das Volk beunruhigenden revolutionären Erhebungen niedergeschlagen. Die Sache der Spartakisten und Kommunisten scheiterte daran, daß sie sich verzettelte, keine gemeinsame Führung hatte. Es wurden Aufstände hervorgerufen, die lokal isoliert waren und zeitlich aufeinanderfolgten, anstatt daß ein gewaltiger Schlag überall gleichzeitig ausgeführt wurde. Diese Verzettelung ermöglichte es der an und für sich kleinen Wehrmacht, bald hier, bald dort energisch und mit ganzer Kraft zuzupacken, während sie sich andererseits verzettelt hätte, wenn die Insurgenten überall gleichzeitig losgeschlagen hätten. Immerhin trugen die Kämpfe dazu bei, das Selbstbewußtsein der kleinen

Freikorps,
Technische Nothilfe,
  vorläufiges Reichswehrgesetz  

Truppe erheblich zu stärken. Die Regierung war jedenfalls von nun an mehr auf ihren Schutz bedacht. Es wurden jetzt in großzügiger Weise Freikorps und Selbstschutzformationen organisiert, und die großen Streiks hatten gelehrt, daß man sich auch gegen sie sichern müsse. So wurde die "Technische Nothilfe" ins Leben gerufen, welche von den Insurgenten als Streikbrecherkolonne bezeichnet wurde. Noske aber wurde von den intransigenten Revolutionären mit tiefem Groll verfolgt. Man warf ihm vor, daß er den Tod von 15 000 Arbeitern auf dem Gewissen hätte, daß er der kapitalistischen Bourgeoisie zum Siege verholfen, ja daß er die monarchische Reaktion gegen die Republik gefördert und gekräftigt hätte.

In der Tat hatte sich Noske durch seine siegreichen Kämpfe [131] eine derartige Achtung und Macht errungen, daß er nur noch einen Schritt zu tun brauchte, um die Militärdiktatur einzuführen; seine Truppen standen hinter ihm. Aber er tat diesen Schritt nicht, den viele hofften und viele fürchteten. Deutschland war fürs erste beruhigt in dem Sinne, in welchem einst Cäsar Gallien "beruhigte".

Während sich das deutsche Volk mit Eifer und Energie in diesen kritischen Zeiten bemühte festzustellen, wer der stärkere der beiden feindlichen Brüder sei, Mehrheitssozialisten oder Spartakisten, stellten sich in Weimar die Parteien mit langatmigen Programmen vor und versäumten nicht die günstige Gelegenheit, sich einander die Schuld am Kriege, an dessen unglücklichem Ausgang und an den inneren Wirren vorzuwerfen. Beunruhigt durch die Aufstände in Mitteldeutschland, verabschiedete die Versammlung am 6. März das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr auf demokratischer Grundlage, 135 000 Mann stark, wobei die bestehenden Freiwilligenorganisationen weitgehend berücksichtigt werden sollten. Nach außen hin war allerdings die Tätigkeit der Nationalversammlung nicht so glücklich, wie im Innern die Tätigkeit der Regierungsparteien bei der Unterdrückung des Aufruhrs. Von den Programmpunkten ihrer Außenpolitik konnte die Regierung Scheidemann nicht einen verwirklichen.

  Der polnische Krieg  

Die erste Sorge der Nationalversammlung galt der Beendigung des polnischen Krieges. Die Polen hatten, wie schon erwähnt, sich im Dezember und Januar der ganzen Provinz Posen, Teile von Westpreußen und Schlesien bemächtigt. Mit den wenigen Truppen des Feldheeres, die Hindenburg noch zur Verfügung standen und die nicht durch die Spartakistenunruhen in Anspruch genommen waren, vermehrt durch Freiwilligenformationen, wehrte sich das Reich gegen die polnischen Angriffe. Hindenburg, der die Demobilmachung der deutschen Millionenarmee in zwei Monaten in Ruhe und Ordnung durchgeführt hatte, soweit davon die Rede sein konnte, entzog sich auch jetzt nicht seiner vaterländischen Pflicht und übernahm die Leitung des ostdeutschen Grenzschutzes. Am 21. Januar wurde das Hauptquartier nach Kolberg verlegt.

[132] Die Nationalversammlung schloß am 6. Februar einen vorläufigen Waffenstillstand mit den Polen, wonach diese fast im gesamten Besitz der Provinz Posen blieben, während Oberschlesien gegen polnische Banden gehalten wurde. Jedoch die Polen kehrten sich nicht an die Abmachungen und überfielen hinterrücks die deutschen Truppen. Hindenburg leitete eine Offensive ein, die auf der ganzen Front in Westpreußen und Posen siegreich verlief, am 11. Februar aber abgebrochen wurde, da innerhalb der deutschen Truppen Meinungsverschiedenheiten über den Soldatenrat ausgebrochen waren! Am 16. Februar dekretierte die Entente endgültig Waffenruhe zwischen Deutschland und Polen; es wurde eine Demarkationslinie festgesetzt, die den Polen die von ihnen fast ganz besetzte Provinz Posen überlieferte. Zwar versuchten die Polen immer wieder, den deutschen Grenzschutz anzugreifen, aber da, wo es zu Plänkeleien und Gefechten kam, wurden sie schnell zum Rückzuge gezwungen.

Verlängerung
  des Waffenstillstandes  

Am 16. Januar wurde auf einer Übereinkunft Erzbergers mit Foch der Waffenstillstand um einen Monat verlängert, und die Alliierten verschärften die Bedingungen. Deutschland mußte sich zur Lieferung von 53 000 landwirtschaftlichen Maschinen verpflichten. Erzberger bat um einen Präliminarfrieden und baldige Rücksendung der Gefangenen. Der Franzose gab eine gewundene Antwort, er werde die beschleunigte Heimbeförderung der Kriegsgefangenen "befürworten". Von deutscher Seite wurde ferner beantragt, die Einfuhr von Lebensmitteln freizugeben und die Blockade aufzuheben, um das Ernährungselend des deutschen Volkes, besonders die Unterernährung der Kinder, Frauen und Alten, zu beheben. Großmütig gewährte der Franzose diesen Wunsch – auf Kosten eines neuen großen Opfers von deutscher Seite: Deutschland mußte auch seine Handelsflotte ausliefern!

      "Um die Lebensmittelversorgung Deutschlands und des übrigen Europas sicherzustellen, wird die deutsche Regierung alle nötigen Maßnahmen treffen, um während der Dauer des Waffenstillstandes die ganze deutsche Handelsflotte der Kontrolle und der Flagge der alliierten Mächte und der Vereinigten Staaten, denen ein deutscher Delegierter beigegeben ist, [133] zu unterstellen, diese Vereinbarung greift in keiner Weise der endgültigen Verfügung über diese Schiffe vor. Die Alliierten und die Vereinigten Staaten können, falls sie dies für nötig erachten, die Bemannung teilweise oder ganz ablösen. Für die Verwendung dieser Schiffe wird eine angemessene Vergütung gewährt, die durch die alliierten Regierungen festgesetzt wird."

So lautete das Diktat des Generals Foch. War das nicht eine neue verschleierte Form der Blockade? Deutschland konnte sich nicht selbst ernähren, es war auf Einfuhr angewiesen. Man nahm ihm jetzt die Schiffe und damit die Möglichkeit, Lebensmittel einzuführen. Auf Gnade und Ungnade mußte das deutsche Volk seine Ernährung in die Hände der Sieger legen, die jederzeit die Zufuhr sperren, Millionen dem Hunger preisgeben konnten, wenn Deutschland Miene machte, die Waffenstillstandsverhandlungen oder die künftigen Friedensbedingungen abzulehnen.

Es kamen nun Verhandlungen über die Belieferung Deutschlands mit Lebensmitteln in Fluß, deren Abschluß die Unterzeichnung des Lebensmittelabkommens von Spa am 8. Februar bildete. Hiernach verpflichteten sich die Ententestaaten, Deutschland gegen Gold und fremde Devisen mit Lebensmitteln zu beliefern. Die Erfüllung des Abkommens aber machten sie abhängig von der Annahme und Ausführung der Bedingungen, die sie dem Deutschen Reiche wegen der Abgabe der Handelsflotte auferlegt hatten und noch weiterhin auferlegen wollten. Da jedoch noch keine Aussichten auf einen Präliminarfrieden bestanden, sah sich Deutschland gezwungen, am 16. Februar noch einmal um Verlängerung des Waffenstillstandes nachzusuchen. Frankreich nützte auch diese Gelegenheit aus, um die Erfüllung neuer Forderungen vom Deutschen Reiche zu erzwingen.

In dieser dritten und letzten Zusammenkunft Erzbergers mit Foch in Trier wurde zunächst vereinbart, den Waffenstillstand für eine kurze, unbefristete Dauer zu verlängern. Die Alliierten waren berechtigt, ihn mit einer Frist von drei Tagen kündigen zu dürfen. Den Deutschen wurde aufgegeben, sofort die Feindseligkeiten gegen Polen einzustellen. Es wurde eine Demarkationslinie zwischen Deutschland und Polen [134] festgelegt, wodurch den Polen die fast ganz besetzte Provinz Posen ausgeliefert wurde. Über die Annahme oder Ablehnung dieser Forderung kam es in der deutschen Regierung zu scharfen Auseinandersetzungen. Graf Brockdorff-Rantzau, der Minister des Auswärtigen forderte summarische Ablehnung der neuen Bedingungen, da sie weit hinausgingen über die ursprünglichen Waffenstillstandsabmachungen. Demgegenüber wurde auf die Zwangslage hingewiesen, in der sich das Reich befand, denn eine Ablehnung hätte den sofortigen Einmarsch der Alliierten in Deutschland und neue Blockade zur Folge gehabt.

In Trier erhob Erzberger abermals die Forderung nach Freigabe der deutschen Kriegsgefangenen in den Ententeländern. Er wies darauf hin, daß bereits bis zum 10. Dezember 1918 von Deutschland rund 350 000 Kriegsgefangene nach Frankreich und England ausgeliefert worden seien, während von der Seite der Alliierten noch nichts hierin getan sei. Doch Foch blieb unerbittlich, er erklärte sich nur bereit, den alliierten Regierungen Deutschlands Bitte vorzulegen und 2000 Schwerkranke und Verwundete der in französischer Gefangenschaft befindlichen deutschen Soldaten auszuliefern.

Während sich das deutsche Volk im blutigen Kampfe um parlamentarische oder rätediktatorische Regierungsweise zerfleischte, erkannte die deutsche Regierung mit Entsetzen den furchtbaren Haß, mit dem Frankreich von Monat zu Monat die Waffenstillstandsbedingungen verschärfte. Nicht mehr in der Lage, sich tatkräftig gegen den rachsüchtigen Feind zur Wehr setzen zu können, mußte sie, wenn auch unter Protest, so doch Schritt für Schritt den französischen Forderungen zustimmen, um dem Volke die schlimme Qual einer feindlichen Besetzung zu ersparen. Noch aber hoffte man auf Wilson, daß er Deutschland nicht ganz zu Boden treten lassen werde. Wie sich bald zeigte, war auch diese Hoffnung trügerisch. Die Sozialdemokratie und mit ihr die deutsche Regierung, litten vom November 1918 bis zum Juni 1919 an einer ganz unverständlichen Verkennung der Weltlage. Die doktrinären Anschauungen und Berechnungen der Sozialdemokratie hatten das gesamte Weltbild in einen gewisser- [135] maßen maschinellen Ablauf eingeordnet, der letzten Endes in der Herrschaft und Verbrüderung der Sozialisten aller Länder gipfelte. Diese Schlußfolgerungen materialistischer Zwangsläufigkeit ließen aber einen Faktor vollkommen außer acht: jene Summe nationaler Imponderabilien, jener ethischen Werte, die bei Deutschlands Gegnern stärker entwickelt waren als die sozialistischen Doktrinen; das war die Ursache jener ungezählten Leiden, die in den folgenden Jahren über das deutsche Volk hereinbrachen. Infolge dieser ungeheuren Falschrechnung wurde die aus der Revolution hervorgegangene demokratische Außenpolitik Deutschlands nicht eine Quelle des Friedens, sondern unsäglicher Qualen.

Am 14. Februar hielt Graf Brockdorff-Rantzau in der Nationalversammlung eine Rede, in der er sich bitter beklagte über die schonungslose Verschärfung der Waffenstillstandsbedingungen durch die Alliierten. Deutschland habe die Niederlage auf sich genommen in dem ehrlichen Willen, die ihm gestellten Bedingungen zu erfüllen. Es sei bereit, mitzuhelfen am Wiederaufbau Frankreichs und der Welt und sich den von Wilson formulierten Forderungen zu unterwerfen, aber vergewaltigen lasse es sich nicht! Deutschland wünsche aufrichtig den Frieden und unterstütze die Völkerbundsbewegung, aber es begehre seine Handelsflotte und seine Kolonien zurück. Es verzichte auf alle Gebietserweiterungen, wünsche aber, daß auch Frankreich und Polen ihm nicht Teile seines Landes entreißen. Elsaß-Lothringen sollte das Recht der Selbstbestimmung haben. "Für uns begehren wir nur Deutsch-Österreich; dazu wird die Konferenz ihre Sanktion ganz gewiß nicht versagen." Wir sind besiegt, aber nicht entehrt!

  Österreichischer  
Anschlußwille

Diese Rede, aus welcher der ganze Stolz eines durch Übermacht Bezwungenen herausklang, wurde mit gewaltigem Beifall von der Versammlung aufgenommen. So düster die Wolken im Westen standen, leuchtete doch schon ein neues, großes und schönes Ziel dem deutschen Volke, das zu erreichen es sich von jetzt an bemühen mußte: die Bahn war frei zu einer Vereinigung mit den deutschen Brüdern in Österreich. Das Haus Habsburg stand nicht mehr hindernd im Wege, und der großdeutsche Traum eines verflossenen [136] Jahrhunderts konnte nun Wirklichkeit werden! Mit begeisterter Einstimmigkeit, die in allen deutschen Herzen einen freudigen Widerhall auslöste, nahm daher die Nationalversammlung am 21. Februar folgenden Antrag über den Anschluß Deutsch-Österreichs an:

      "Die Nationalversammlung nimmt mit lebhafter Genugtuung von dem Beschlusse Kenntnis, mit dem die Vertreter der stammverwandten Deutsch-Österreicher ihre Zugehörigkeit zum deutschen Gesamtvolke bekundet haben. Sie bestätigen den deutsch-österreichischen Brüdern, daß über die bisherigen Grenzen hinweg die Deutschen des Reichs und die Deutschen in Österreich eine untrennbare Einheit bilden, und sprechen die zuversichtliche Hoffnung aus, daß die von den beiderseitigen Regierungen einzuleitenden Verhandlungen recht bald zu festen staatlichen Formen führen und die Zusammengehörigkeit in einer von allen Mächten der Welt anerkannten Weise ihren Ausdruck finden möge."

Einen neuen Lebensinhalt, ein neues Ziel hatte das deutsche Volk in seiner düsteren Gegenwart gefunden, es leuchtete ihm ein Stern in die Zukunft.

Aber in Frankreich und England war ein Dämon am Werke, der alles zu verhindern suchte, was dem niedergeschmetterten deutschen Volke seelischen Trost und körperliche Genesung bringen konnte. Und dieser grausame Geist der Rache holte zu einem neuen Schlage gegen das schwer getroffene Deutschland aus: am 7. März endlich antwortete die englische Regierung auf die am 29. November ergangene Note des Rates der Volksbeauftragten, worin diese Einsetzung einer neutralen Kommission zur Feststellung der Kriegsschuld vorschlugen. Hochmütig abweisend, unversöhnlich hart lautete die Antwort:

  Deutsche Kriegsschuld  

      "Ich habe die Ehre, Sie zu benachrichtigen, daß die Regierung Seiner Majestät der Meinung ist, daß es unnötig sei, auf den deutschen Vorschlag irgendeine Antwort zu geben, da nach Meinung der verbündeten Regierungen die Verantwortlichkeit Deutschlands für den Krieg längst unzweifelhaft festgestellt worden ist."

[137] Mit nüchternen Worten sagte es der Engländer: Deutschland ist schuldig am Weltkrieg, es bedarf keiner weiteren Erörterung, und die Folgerungen waren ebenso nüchtern und klar: das schuldige Deutschland hat wieder gutzumachen, was es zerstört hat, und muß bestraft werden, auf daß es sich bessere! Es war der erste Blitz aus schwarzen Wolken, der den Geist des kommenden Friedens ahnen ließ.

Bewegung gegen den
  drohenden Gewaltfrieden  

Die Ahnungsvollen in Deutschland erhoben ihre Stimme, und mit stiller Duldung der Regierung wurden in vielen deutschen Städten Versammlungen und Demonstrationen gegen den bevorstehenden "Gewaltfrieden" abgehalten, und ein Schwur von vielen Hunderttausenden gellte zum Himmel empor: "Lieber tot als Sklave!" Man erwog schon Möglichkeiten eines neuen Krieges, eine Erhebung, wie sie 1813 losbrach. Doch das Volk war zu zermürbt und zerrissen, als daß es durch den Ruf nach Einheit und Freiheit wieder in Waffen vereint werden konnte. Noch tobte der Bürgerkrieg, noch waren die spartakistischen Gewalten nicht niedergeschlagen. Und die Unabhängigen erklärten, Grenzen seien weniger wichtig als Brot. Den Verlust Elsaß-Lothringens und Nordschleswigs wollte Deutschland noch auf sich nehmen, aber an die Opfer im Osten hatte es noch nicht zu denken gewagt.

Zwar dem Ruf nach Brot gab die Entente Gehör. Am 14. März wurde in Brüssel ein neues Abkommen (ähnlich dem von Spa) getroffen über Finanz-, Lebensmittel- und Schiffahrtsfragen. Deutschland sollte monatlich 370 000 Tonnen Lebensmittel gegen Goldzahlung und Devisen erhalten, dafür aber sollte die Auslieferung der Handelsflotte durchgeführt werden.

Nachdem nun Mitte April Deutschland die polnische Armee des Generals Haller durch sein Gebiet hatte von Frankreich nach Polen transportieren müssen – dies geschah auf drei Wegen: von Stettin durch Pommern, durch Ostpreußen und auf dem Landwege von Koblenz – Kassel – Frankfurt – Halle über Leipzig – Kottbus – Kalisch –, lud Clemenceau am 18. April die deutsche Friedensdelegation auf den 25. April nach Versailles zur Friedenskonferenz ein. Es wurde gleich angekündigt, daß eine mündliche Diskussion der Friedens- [138] bedingungen nicht zugelassen sei. Darauf antwortete die deutsche Regierung, dann genüge es ja für diesen Fall, wenn zwei Sekretäre zur Entgegennahme der Urkunde geschickt würden. Aber die Alliierten verlangten Bevollmächtigte zur Unterschrift, und Deutschland mußte gehorchen, denn die französischen Regimenter warteten auf den Augenblick des Vormarsches. Also traf am 29. April die deutsche Friedensdelegation in Versailles ein. Sie bestand aus dem Reichsminister des Auswärtigen, Dr. Graf Brockdorff-Rantzau, dem Reichsjustizminister Dr. Landsberg, dem Reichspostminister Giesberts, Präsident der preußischen Landesversammlung Leinert, Dr. Karl Melchior und dem pazifistischen Rechtsgelehrten Professor Dr. Schücking.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra