[Bd. 1 S. 105] 2. Kapitel: Der Übergang. Als Prinz Max von Baden sein Amt niedergelegt hatte, erließ Friedrich Ebert folgende Proklamation:
"Mitbürger! Der bisherige Kanzler hat mit der Zustimmung aller seiner Minister mir die Leitung der Geschäfte übertragen. Ich werde in Gemeinschaft mit den Parteien eine Regierung bilden. Die neue Regierung wird eine Volksregierung sein. Ihr Ziel muß sein, dem deutschen Volke so schnell wie möglich den Frieden zu bringen und die Freiheit, die es errungen hat, zu sichern. Mitbürger! Ich bitte euch dringend, Ruhe und Ordnung zu wahren." Die Berliner Ereignisse wirkten auf das ganze Reich, die Fürsten verließen ihre Hauptstädte, ohne Blutvergießen errang die Sozialdemokratie die Macht, Soldatenräte bildeten sich in allen Truppenteilen der Front und der Heimat, überall entstanden Arbeiterräte. Ebert forderte die Unabhängigen auf, sich gleichmäßig an der Regierungsbildung zu beteiligen. Allerdings verspürten diese keine große Lust, mit den Mehrheitssozialisten zusammen zu arbeiten, und besonders unversöhnlich zeigte sich bei den Verhandlungen der intransigente Ledebour. Liebknecht war inzwischen mit seinem Anhang zum kaiserlichen Schloß gezogen, hatte dort die rote Fahne gehißt und von einem Fenster aus eine Ansprache ans Volk gehalten. Jetzt betrat er das Verhandlungszimmer mit diktatorischer Geste und bestimmte: "Alle Exekutive, Legislative und Gerichtsbarkeit gehört den Arbeiter- und Soldatenräten." Daraufhin forderte Scheidemann eine Entscheidung der Unabhängigen, ob sie sich an der Regierungsbildung beteiligen wollten oder nicht. Im Laufe des Nachmittags ernannten diese unter der Voraussetzung, daß das Kabinett nur aus
Drei Tage hatte die deutsche Revolution gedauert: vom 7. – 9. November. Innerhalb zwölf Stunden war sie entschieden und hatte sie gesiegt. Nüchtern, ohne große Schwierigkeit und ohne viel Blutvergießen vollzog sich dies historische Ereignis. Mittags erklärte Prinz Max von Baden die Abdankung des Kaisers, und Scheidemann proklamierte die Republik, um Mitternacht hatten sich die beiden sozialdemokratischen Parteien zu gemeinsamer Regierung gefunden. Die Entwicklung dieser zwölf Stunden war durchaus friedlich, [107] ohne jede Machtprobe, fast geschäftsmäßig abgelaufen. Die Revolution war dem deutschen Volke wie eine überreife Frucht, die nicht erst gepflückt zu werden brauchte, in den Schoß gefallen. Soweit das Bürgertum nicht aktiv an dem Umsturz beteiligt war, sah es teilnahmslos der Entthronung des Kaisers zu, weil es fieberhaft auf das Ende des Krieges wartete. Soweit noch nationale, machtpolitische Energien lebendig waren, beschränkten sie sich auf den Adel und einen verschwindenden Teil des Bürgertums, zersplittert und in verschiedenen Richtungen laufend, jahrelang enttäuscht durch das Verhalten des Kaisers, durch seine Flucht geradezu entmutigt. Kaum ein Zwölftel des Volkes mag in jenen Tagen hetzender Wirrnisse daran gedacht haben, den Gang der Ereignisse aufzuhalten. Die linksradikale Seite verfügte zwar über eine hohe Aktivität – denn der Zusammenbruch der Marine und der Armee war vorwiegend ihr Werk – aber über eine immerhin verschwindende Anhängerschar ohne straffe Organisation und Disziplin. In drei Heeressäulen marschierte das deutsche Volk seiner Zukunft entgegen: eine starke Mitte, die Frieden nach innen und außen wollte, etwa 50 Millionen des Volkes umfassend, eine Rechte, die einen starken und sicheren Staat wünschte, kaum mehr als insgesamt 7 Millionen Anhänger zählend, und eine Linke, den Umsturz und die Diktatur des Proletariats vorbereitend, aber nur kaum 3 Millionen Anhänger stark.
Diese Waffenstillstandsbedingungen verlangten von Deutschland in der Hauptsache folgendes: Frankreich, Belgien und Elsaß-Lothringen müßten bis spätestens 26. November mittags elf Uhr geräumt sein. Truppen, die sich nach diesem Zeitpunkt noch in diesen Gebieten befinden, sollten als Gefangene interniert werden. 5000 Kanonen, zunächst schwere, 30 000 Maschinengewehre, 3000 Minenwerfer und 2000 Flugzeuge waren sofort abzuliefern. Bis zum 6. Dezember müßte das linke Rheinufer geräumt sein. Mainz, Koblenz und Köln würde in einem Umkreis von 30 km Durchmesser von den Verbündeten besetzt werden. Auf dem rechten Rheinufer war eine 30–40 km tiefe neutrale Zone zu schaffen. Deutschland hatte die Besatzungstruppen zu unterhalten. Die in Deutschland inhaftierten Kriegsgefangenen waren freizugeben, ohne [109] daß die Alliierten die gleiche Forderung erfüllten. Die Verträge von Brest-Litowsk und Bukarest wurden aufgehoben. 5000 Lokomotiven, 150 000 Wagen, 5000 Kraftwagen und die elsaß-lothringischen Eisenbahnen mußten ausgeliefert werden. Der Bestand der belgischen Bank, das russische und rumänische Gold war zurückzuerstatten. Ostafrika sollte bedingungslos aufgegeben werden. Sämtliche U-Boote werden ausgeliefert. 6 Panzerkreuzer, 10 Linienschiffe, 8 kleine Kreuzer und 50 neueste Zerstörer waren sofort abzurüsten und in neutrale oder, falls keine geeignete vorhanden waren, in interalliierte Häfen zu überführen. Die Durchfahrt durch das Kattegat sollte freigegeben werden. Die Blockade blieb weiter bestehen. Der Waffenstillstand dauerte sechsunddreißig Tage.
Das waren die Bedingungen, die Erzberger entgegennahm. Sie sahen erheblich anders aus als das, was man aus Wilsons Versprechungen erhofft hatte. Es handelte sich nicht mehr um allseitigen Verzicht auf Entschädigungen und Annexionen, sondern um regelrechte Kapitulation eines durch eine schwere Niederlage gedemütigten Deutschland vor unerbittlichen Feinden trotz des Sturzes der Monarchie. Verhandeln ließen diese nicht mit sich. Ablehnung bedeutete weiteres Vorrücken der Alliierten, Verlängerung des Krieges. Vor allem aber hätte eine Ablehnung den Sturz der neuen Regierung durch die Spartakisten zur Folge gehabt. Es blieb also nur Annahme übrig. Das Volk und die Regierung wollten Frieden haben, und wenn es sein mußte, um jeden Preis, das Volk, weil es des Krieges müde war, die Regierung, weil sie sich behaupten wollte und mußte. So blieb Erzberger nichts weiter übrig, als anzunehmen. Am 11. November morgens fünf Uhr zwanzig Minuten westeuropäischer Zeit unterzeichnete er im Salonwagen des Marschalls Foch die Waffenstillstandsbedingungen. Um elf Uhr westeuropäischer Zeit war der Weltkrieg zu Ende. Unter furchtbaren moralischen und materiellen Opfern für Gegenwart und Zukunft liquidierte die deutsche Republik die Politik des deutschen Kaiserreiches. Es war ein nebelfeuchter Novembertag, nicht sehr kühl. In den französischen und belgischen Städten wurden um die Mittagsstunde die [110] Glocken geläutet. Die Luft war still, wie schon seit Jahren nicht, denn die Kanonen schwiegen. Die Glockenklänge schwebten durchs Land, weithinein ins deutsche Heer. Den Feinden kündeten sie Sieg, den Deutschen Niederlage. Ein tiefer Zwiespalt der Empfindungen erschütterte die Herzen der deutschen Armee. Die einen atmeten auf, daß nun der Friede komme, während den anderen, die sich bis zuletzt den Sinn für nationale Größe und Freiheit bewahrt hatten, ein bitteres Weh die Seele durchschnitt. Das deutsche Heer, von den Belgiern gehöhnt, gelästert und hinterrücks beschossen, strebte dem Rheine zu.
"An das deutsche Volk! Dieses Regierungsprogramm brachte einerseits den Abbau aller Kriegsverordnungen, andererseits aber wurde klar, daß die Regierungsabsichten der Mehrheitssozialisten mehr auf eine Vereinigung mit dem demokratischen Bürgertum als mit den Linksradikalen hinstrebten. Die Spartakisten fühlten sehr wohl [112] diese Tendenz, und so wuchs auch im Rate der Volksbeauftragten die innere Spannung, da ein Teil der Unabhängigen den Linksradikalen nahestand. Es lag in der Luft, daß zwischen den Mehrheitssozialisten und Spartakisten bald scharfe Auseinandersetzungen um den endgültigen Besitz der Macht stattfinden mußten.
Am 25. November trat eine Reichskonferenz der Länderregierungen zusammen, in der Erzberger und Solf einen sehr düsteren Bericht über die auswärtige Lage entwarfen. Eine schreckliche Enttäuschung war dem Ergebnis des 11. November gefolgt. Eisner erhob schwere Anklagen gegen die Regierung und erklärte, diese außenpolitischen Bedrängnisse kämen lediglich daher, daß die Regierung mit Männern wie Erzberger und Solf zusammenarbeite, die schon unter der alten Regierung hervorgetreten seien. Er verlangte die Entlassung Solfs, welcher Staatssekretär des Auswärtigen Amtes war, und am 20. Dezember wurde dieser durch Graf Brockdorff-Rantzau ersetzt, der bis dahin Gesandter in Kopenhagen war. Eine linksradikale Forderung auf sofortige Sozialisierung wurde abgelehnt, dagegen beschloß man möglichst schnelle Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung. "Bis dahin sind die Arbeiter- und Soldatenräte die Vertreter des Volkswillens." Die Linksradikalen waren sehr unzufrieden mit dem Ergebnis; sie wünschten die Wahl zur Nationalversammlung so lange wie möglich hinauszuzögern, damit erst die alte Militär- und Beamtenhierarchie gebrochen wurde und der Sozialismus [113] nicht durch Reaktion und Gegenrevolution gefährdet werde. Eine starke Agitation der Linksradikalen setzte ein, die darauf hinauslief, die Mehrheitssozialisten aus der Regierung zu verdrängen und schließlich die Diktatur des Proletariats zu errichten und die Wahl des Parlamentes gänzlich zu vereiteln.
Seit Mitte November befanden sich die alliierten Truppen im Vormarsch auf den Rhein. Die Franzosen besetzten Mülhausen (14. November), Metz (17. November), Saarbrücken (18. November). Afrikanische und indische Truppen versuchten sogar am 24. November widerrechtlich einige Orte der Pfalz zu besetzen. Grausam und rigoros verfuhren die neuen Herren gegen das Deutschtum im Elsaß, Haus und Hof und alle Habe mußten die Deutschen zurücklassen, als Geächtete und Bettler unter schimpflicher Behandlung wurden sie über den Rhein geschickt oder interniert, in den Forts von Straßburg. Am 8. Dezember sperrten die Franzosen die deutsche Universität Straßburg und entließen sämtliche Professoren ohne Gehalt und Pension. Anfang Dezember erreichten die feindlichen Truppen das Rheinland. Am 6. zogen die Engländer in Köln, am 8. in Bonn ein. Die Belgier okkupierten am 10. Rheydt, und vier Tage später waren Mainz und Wiesbaden in französischer Gewalt. Unter eisiger Zurückhaltung, ja mit drohenden Mienen empfing die Bevölkerung die Sieger, und nur zu den englisch-amerikanischen Streitkräften bahnten sich mit der Zeit bessere Beziehungen an. Aus den Waffenstillstandsverhandlungen war den deutschen Vertretern deutlich klar geworden, daß die Alliierten die ganze Schuld am Weltkriege auch auf das republikanische Deutschland abwälzen wollten. So unsinnig an und für sich diese Ansicht war, so war sie doch im Laufe von vier Jahren durch zielbewußte Propaganda geradezu zu einem unumstößlichen [114] politischen Glaubensbekenntnis des Auslandes geworden. Zudem war ja im ersten revolutionären Übereifer von der Sozialdemokratie "An Alle" gefunkt worden, daß Deutschland um Verständigung bitte und sich als Alleinschuldiger am Weltkriege erkläre. Die Sozialdemokraten Molkenbuhr und Müller hatten den Funkspruch unterzeichnet, der in der Absicht gegeben war, die ehemalige kaiserliche Regierung zu kompromittieren, ohne daß man sich über die bedenklichen Folgen klar wurde, die ein solches Eingeständnis bei den Feinden hervorrufen mußte. Am 29. November richtete die deutsche Regierung an die Regierungen von England, Frankreich, Belgien, Italien und den Vereinigten Staaten eine Note, in der sie die Einsetzung einer neutralen Kommission zur Klärung der Kriegsschuldfrage vorschlug. Sämtliche kriegführenden Mächte hätten ihr vollständiges Urkundenmaterial zur Verfügung zu stellen. Der Schritt war sinnlos nach Molkenbuhrs Funkspruch und hatte keinen Erfolg. England antwortete erst am 7. März.
Die Spartakisten waren sehr rührig. Mit unerhörtem Fanatismus predigten sie Kommunismus und Klassenkampf und organisierten bewaffnete rote Garden. Sie waren fest entschlossen, die Macht der Regierung in die Hände zu bekommen, ehe die Nationalversammlung gewählt wurde. Sie wollten nach russischem Vorbild die proletarische Diktatur errichten; an ein Volksparlament war dann nicht mehr zu denken, wenigstens nicht im demokratischen Sinne.
Barth sympathisierte ganz offen mit den Matrosen und beschuldigte die Mehrheitssozialisten, sie hätten das Blutvergießen verschuldet, was diese natürlich energisch ablehnten. Auch Haase und Dittmann sahen in den Vorgängen des 24. Dezember eine Gefahr für die Revolution, und so erklärten diese am 29. Dezember ihren Austritt aus der Regierung. An ihre Stelle traten die beiden Mehrheitssozialisten Noske und Wissell. Das Tischtuch zwischen Mehrheitssozialisten und Linksradikalen war zerschnitten. Während sich die nun rein mehrheitssozialistische Regierung der bürgerlichen Demokratie zuwandte, rüsteten die Spartakisten offen zum Entscheidungskampfe gegen die Machthaber. Das Reichskabinett bestand aus Ebert (Inneres), Scheidemann (Äußeres), Noske (Heer und Marine), Landsberg (Finanzen) und Wissell (Sozialpolitik). Ebert und Scheidemann führten den Vorsitz. Bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung sollten die Geschäfte des Reichs von dieser Regierung geführt werden. Die außenpolitische Lage verschlechterte sich immer mehr. Am 13. Dezember trafen Erzberger und Foch in Trier zusammen. Der französische General erhob Vorwürfe, daß Deutschland mit den Ablieferungen im Rückstand sei, demgegenüber beklagte sich Erzberger, daß die Frist zu kurz sei und die Nahrungsmittelzufuhr noch nicht begonnen habe. Der Waffenstillstand wurde um einen Monat verlängert. Auch die Aktivität der Polen nahm wieder zu. Schon seit Mitte November wühlten in Posen und Oberschlesien polnische Elemente gegen Deutschland. Am 15. Dezember brach dieser neue, eigentlich noch gar nicht existierende Staat die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab. Die Weihnachtsfeiertage benutzten die Polen zur Vorbereitung der Über- [117] wältigung und Entwaffnung der noch in Posen stehenden deutschen Truppen. Dies geschah nach zweitägigen blutigen Straßenkämpfen am 27. und 28. Dezember, deren geistige Urheber die Polen Dmowski und Paderewski waren. Am folgenden Tage besetzten die Polen Gnesen. So bahnten sie sich den Weg zur militärischen Besetzung der infolge der Novemberverhandlungen Hellmuth von Gerlachs fast ganz von deutschen Truppen entblößten Provinz, die im Laufe des Januars erfolgte.
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