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Deutschland und der Korridor

 
Wie die Ostgebiete des Reiches
verlorengingen (Teil 4)

Karl C. von Loesch

Sonstige zugunsten Polens
vom Reiche abgetrennte Gebiete

Die freie Stadt Danzig ist in erster Linie zu nennen. Bis zum heutigen Tage ist es nicht bekanntgeworden, ob es die Machthaber in Versailles jemals erwogen haben, der Danziger Bevölkerung ein Recht auf Selbstbestimmung durch Volksbefragung zuzugestehen. Tatsache ist jedenfalls, daß die Abtrennung vom Deutschen Reiche genau ebenso ohne Volksabstimmung erfolgte wie die Abtrennung von Teilen Ostpreußens, Westpreußens und Posens, die dem polnischen Staate einverleibt wurden. War das Schicksal der Bevölkerung Danzigs insofern weniger schwer, als diese Stadt und das ihr zugeschlagene Landgebiet immerhin Souveränität erhielt, so wurde diese doch mit Hypotheken zugunsten Polens belegt, und die Gründung dieses Staatswesens wider Willen beruht doch genau auf dem gleichen Unrechtsakte, der gleichfalls zugunsten Polens geschah. Die Danziger Protestkundgebungen im März 1919 verhallten ebenso wirkungslos wie die Vorschläge des Deutschen Reiches, Polen Freihäfen und gesicherte Zugänge zu diesen Freihäfen auf Eisenbahnen, Fluß und Kanal zu gewähren. 330.630 deutsche Menschen (die polnisch sprechende Minderheit war bei der Abtrennung verschwindend klein) und 2.000 Quadratkilometer deutscher Siedlungsboden wurden vom Reiche abgerissen.

Gemäß Artikel 100 des Versailler Diktates ergriff am 10. Januar 1920 ein englischer Diplomat, Sir Reginald Tower, im Namen der Mächte als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches Besitz von Danzig und übte die Verwaltung mit Unterstützung eines hierzu von Danziger Behörden gegründeten Staatsrates aus. Die Danziger Bevölkerung mußte sich dem Zwangsspruch von Versailles beugen. Sie griff aber mit der Beschickung des Staatsrates und [137-148=Fototeil] [149] der Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung in die Ordnung ihrer Geschicke tätig ein in der Absicht, wenigstens den deutschen Charakter des Landes trotz der Abtrennung vom Reiche voll zu wahren. In diesem Sinne schuf auch die verfassunggebende Versammlung nach dem Vorbild der neuen Reichsverfassung die Danziger Verfassung, soweit die engen Verhältnisse dies zu gestatten schienen. Am 1. August 1920 angenommen, fand der Verfassungstext allerdings erst im Mai 1922 nach einigen Änderungen und Einfügungen die Billigung des Völkerbundes, der sich auf Grund der ihm im Versailler Diktate übertragenen Verfassungsgarantie dazu für berechtigt hielt. Damit trat die Verfassung in Kraft. Gleichzeitig begannen aber auch die im Artikel 104 des Versailler Diktates vorgesehenen Verhandlungen mit Polen. Die Hauptpunkte des Vertrages sollten sein:

1. Gemeinsamkeit des Zollgebietes.
2. Freie Benutzung der Danziger Wasserstraßen und ähnlicher Verkehrsmittel durch Polen.
3. Übertragung der Verwaltung und Überwachung der Weichsel, der Vollspurwege und des Postverkehrs zwischen Polen und dem Danziger Hafen an Polen.
4. Übertragung des Ausbau- und Verbesserungsrechtes der Wasserstraßen, Hafenanlagen und Straßen an Polen.
5. Gleichstellung der Angehörigen des polnischen Staates mit den Danziger Bürgern.
6. Übertragung der Führung der auswärtigen Angelegenheiten der Freien Stadt Danzig und des Schutzes ihrer Staatsangehörigen an Polen.

Das Deutsche Reich war auch hier völlig ausgeschaltet. Die Verhandlungen gestalteten sich schwierig, da Polen Forderungen weit über den Wortlaut des Versailler Vertrages stellte, indem es die militärische und Marineoberhoheit, militärisches Besatzungsrecht, Polizei- und Aufsichtsrecht, polnische Zollverwaltung, Vereinheitlichung aller Abgaben und Steuern und ähnliches verlangte. Danzig setzte sich mit Erfolg zur Wehr. Immerhin bedeutete die Pariser Konvention von 1920 praktisch doch ein Kompromiß zuungunsten Danzigs. Denn sie enthielt zahlreiche Unklarheiten, ja Widersprüche, weil Polen mit Hilfe der Botschafterkonferenz einzelne Teilberechtigungen, die über die Versailler Bestimmungen hinausgingen, durchzusetzen vermochte. Sie sollten Polen
Der Oberkommandierende der alliierten Besatzungstruppen 
in Danzig 1920
Der Oberkommandierende der alliierten Besatzungstruppen in Danzig 1920.
später zu geeigneter Zeit Handhaben bieten, um umfassendere Ansprüche wieder geltend zu machen.

Mit Zustandekommen der Danziger Verfassung und des Danzig-polnischen Grundvertrages waren die Aufgaben der internationalen Verwaltung erfüllt, und so konnte Oberst Strutt als Vertreter der Mächte am 15. November 1920 die "Freie Stadt Danzig" als gegründet erklären. Sie trat als dritter deutscher Staat neben dem Reiche und Österreich in die europäische Staatengemeinschaft ein. Mit der Gründung des Danziger Staates war auch diese Epoche deutscher Gebietsabtrennung abgeschlossen.




 
Schlußbetrachtung

Die Durchführung der Bestimmungen des Versailler Diktates gaben der Welt Gelegenheit, an den Ergebnissen der Volksabstimmung nachzuprüfen, inwieweit wohl die Zuteilung der ohne Volksbefragung vom Reiche abgetrennten Gebiete (Danzig, Korridorgebiet, Süd- und Westposen, Teilstücke Niederschlesiens) an Polen dem Willen der dortigen Bevölkerung entsprach. Denn Polen hatte sie auf Grund des angeblichen Willens der Bevölkerung gefordert. Mittels geschickter aber fälschlicher Auslegung der seinerzeit vom preußischen Staate durch- [150] geführten Sprachenstatistik hatte die polnische Vertretung sie bei den Friedensvertragsverhandlungen und dem Obersten Rate begründet. Die polnische These: Polnischsprechen sei gleichbedeutend mit polnischer Gesinnung, hatte man nicht nur statistisch sondern auch mit zahlreichen Karten deutschen Ursprungs scheinbar beweiskräftig zu belegen vermocht, freilich nicht ohne Anwendung oder mindestens ohne Benutzung grober Fälschungen. Dies vermochte das Deutsche Reich nicht zu widerlegen, da es in Versailles überhaupt nicht gehört wurde.

Um so wichtiger ist es, daß die Ergebnisse der Volksabstimmungen in den benachbarten Gebieten nachträglich vor aller Welt diese polnischen Behauptungen Lügen strafen. Ja noch mehr, es ergibt sich aus ihnen, ferner aus der Abwanderung von 800.000 bis 900.000 Deutschen aus dem abstimmungslos abgetrennten Gebiete und aus den Ergebnissen der Parlamentswahlen in Polen, soweit sie unbehindert waren, daß eine Volksabstimmung 1920 auch in diesen Gebietsteilen eine starke Mehrheit für das Reich ergeben hätte. Oder mit anderen Worten: praktisch hat doch inzwischen eine freilich stillschweigende und nicht amtlich angeordnete Volksabstimmung im Korridorgebiet gegen Polen und zugunsten des Reiches stattgefunden; darum braucht und kann sie auch heute nicht mehr nachgeholt werden. Wo das Versailler Diktat der Bevölkerung abzustimmen gestattete, ob sie zu Polen oder zum Deutschen Reiche gehören wolle, stimmte nicht nur die in der Sprachenstatistik von 1910 als "deutschsprechend" gezählte Bevölkerung für das Reich, sondern auch die "doppelsprachigen" und ferner ein großer Teil der als "polnischsprechend" Gezählten (wegen genauerer Zahlen vergleiche Seite 128 und Seite 132 [Seitenzahlen aus dem Original; Anm. d. Scriptorium]). So erwies es sich als falsch, daß Polen alle in der amtlichen deutschen Statistik als "polnischsprechend" aufgeführten Personen als "Polen" bezeichnete. Durchschnittlich weit mehr als die Hälfte von ihnen erwies sich als im politischen und kulturellen Sinne deutsch. Rechneten wir aber, wie die Polen es wollen, die Masuren zur polnischsprechenden Bevölkerung, so verschöbe sich das Zahlenbild noch viel stärker zuungunsten Polens. Die polnischsprechenden Bewohner des Korridorgebietes wurden durch das Versailler Diktat, wie ihre deutschsprachigen Mitbürger, polnische Staatsbürger; sie sind aber gerade so wie die deutschsprachigen "Mußpolen". Etwa hunderttausend von ihnen mögen nach der Abtrennung ins Deutsche Reich abgewandert sein. Nähere Angaben mit ausführlichen Zahlentafeln über das Ergebnis, das eine Volksabstimmung zum Beispiel im Korridorgebiet 1920 gehabt hätte (80 bis 64 v.H. je nachdem, ob Danzig mitgestimmt hätte oder nicht), finden sich in Kampf um Preußenland, S. 189ff., Volk und Reich Verlag, 1931.

So kam es, daß die Durchführung des Versailler Diktates in Marienwerder, Allenstein und Oberschlesien zu einer beredten Anklage gegen das ganze System der Abtrennungen wurde und daß sie das deutsche Recht auf die Ostgebiete des Reiches weit über die Abstimmungsgebiete selbst hinaus der Welt klarzulegen vermochte. Noch sind freilich die Folgerungen aus diesen Ergebnissen nicht gezogen.

Nicht nur das Interesse des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes erfordert eine Wiedergutmachung sondern vor allem auch das Interesse der abgetrennten Gebiete selbst und ihrer Bevölkerung, die nicht befragt und, soweit sie sich in die neuen Verhältnisse nicht schicken konnte, vertrieben wurde, die aber einen Anspruch auf ihre Gebiete hat. Nicht zuletzt aber ist es der Friede Europas und die Wiederherstellung wirtschaftlich erträglicher Zustände in der Welt, ist es die Sicherheit der abendländischen Zivilisation, welche eine Neuordnung der Grenzen verlangen.




  [151]
Anhang

Nach dem Stande der Volkszählung von 1910 wurden vom Deutschen Reich abgetrennt:

Fläche in Hektar    Bevölkerung
an keinen bestimmten Staat (Memelgebiet) 265 666,9   141 238  
an Polen 4 614 240,0   3 854 961  
an Danzig 191 421,5   330 630  
an die Tschecho-Slowakei 31 588,6   48 446  

5 102 917,0   4 375 275  

Die Ostprovinzen des Deutschen Reiches (Ostpreußen) verloren allein:

an landwirtschaftlich genutzter Fläche 3 659 291 Hektar = 30,0 v.H.
an landwirtschaftl. Betrieben (Zahl) 395 848 = 32,2 v.H.
an Ernteerträgen: Brotgetreide 22 480 000 Doppelzentner = 30,0 v.H.
an Ernteerträgen: Hackfrüchte 131 822 000 Doppelzentner = 31,0 v.H.
an Viehbestand: Pferde 554 505 Stück = 32,0 v.H.
an Viehbestand: Rindvieh 1 584 128 Stück = 27,6 v.H.
an Viehbestand: Schweine 2 287 276 Stück = 33,0 v.H.
an gewerblichen Hauptbetrieben (Zahl) 138 445

Sie verloren an bergbaulichen industriellen Unternehmungen:

49,10 Milliarden Tonnen Steinkohlenvorräte bei 1000 Meter Teufe** (8,67*)
9,0   Milliarden [Tonnen] Zink- und Bleierze (11*)
53     Steinkohlenbergwerke (14*)
10     Zink- und Bleierzgruben (5 kleine Gruben*)
22     Hochöfen (15*)
13     Eisen- und Stahlgießereien (12*)
9     Stahlwerke (3*)
9     Walzwerke (3*)
*Die Zahlen in (   ) geben die beim Reiche verbliebenen Industriewerke an.
**Teufe = Ausdruck im Bergbau: Tiefe. [Anm. d. Scriptorium.]

Beruflich war (1907) die Bevölkerung der abgetrennten Ostgebiete bei 1.854.082 Erwerbstätigen folgendermaßen gegliedert:

Land- und Forstwirtschaft 932 333 = 32,0 v.H. der betreffenden
Zahlen des
deutschen
Ostgebietes.
Industrie und Bergbau 430 377 = 42,7 v.H.
Handel und Verkehr 140 219 = 26,5 v.H.
freie Berufe und öffentlicher Dienst   109 553 = 31,0 v.H.
Berufslose 212 193 = 26,6 v.H.

Der Größenklasse nach betrug die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in den abgetrennten Ostgebieten 1907:

unter 0,5 Hektar 124 827 = 43,9 v.H. der
betreffenden
Betriebe des
deutschen
Ostgebietes.
von 0,5 Hektar bis unter 2 Hektar 91 345 = 13,9 v.H.
von 2   Hektar bis unter 5 Hektar 60 252 = 29,9 v.H.
von 5   Hektar bis unter 20 Hektar 92 255 = 33,0 v.H.
von 20   Hektar bis unter 100 Hektar 23 199 = 27,4 v.H.
von 100   Hektar bis darüber 3 980 = 18,4 v.H.

395 858 = 27,7 v.H.

[152] Die schwersten Verluste erlitt die Landwirtschaft, von dieser wieder die bäuerliche, in erster Linie der mittelbäuerliche Betrieb; sie sind annähernd zur Hälfte auf die Abtrennung der Provinz Posen zurückzuführen. Außer dem Verlust an landwirtschaftlich benutzter Fläche von zusammen 3.659.291 Hektar, wovon über die Hälfte (16,4 v.H.) auf die Provinz Posen entfällt, gingen verloren an Forsten und Holzungen 1.030.754 Hektar = 24 v.H. der Forstfläche des deutschen Ostens, an Ackerländereien 3.041.005 Hektar = 31 v. H. der Ackerfläche des deutschen Ostgebietes, an Wiesen 380.546 Hektar = 24,5 v.H., Viehweiden und Hütungen 202.930 Hektar = 29 v.H. der betreffenden Flächen des deutschen Ostgebietes.

Die Ernteerträge der abgetrennten Gebiete des deutschen Ostens ergaben 1913 an

Roggen 19 135 181 Doppelzentner = 36,0 v.H. der
betreffenden
Betriebe des
deutschen
Ostgebietes.
Weizen 3 344 678 Doppelzentner = 27,8 v.H.
Gerste (Sommerfrucht) 4 834 384 Doppelzentner = 37,9 v.H.
Hafer 7 201 136 Doppelzentner = 23,0 v.H.
Kartoffeln 84 014 624 Doppelzentner = 35,0 v.H.
Zuckerrüben 31 824 575 Doppelzentner = 46,0 v.H.
Futterrüben 15 982 781 Doppelzentner = 24,0 v.H.
Klee 11 644 370 Doppelzentner = 25,0 v.H.
Wiesenheu 18 860 773 Doppelzentner = 26,0 v.H.

Rund drei Viertel des Ausfalles an Zuckerrüben, etwa zwei Drittel des Verlustes an Roggen und Kartoffeln, über die Hälfte des Ausfalles an Weizen und Gerste und fast die Hälfte des Verlustes an Hafer ist auf die Abtrennung der Provinz Posen zurückzuführen. Die Verluste an Ernteerträgen gehen bei Roggen und Kartoffeln, den Hauptnahrungsmitteln, anteilmäßig über die Einbußen an landwirtschaftlich benutzter Fläche und Bevölkerung mit über einem Drittel der betreffenden Erntemengen des deutschen Ostens hinaus. Daraus ergibt sich einmal die große Bedeutung des abgetrennten landwirtschaftlichen Gebietes, besonders Posens, für die Ernährung des deutschen Volkes, dann der hohe Stand der Landwirtschaft in diesen Gebieten. Die Einbußen der Ernteerträge zeigen die Verkleinerung der Ernährungsgrundlage des deutsch gebliebenen Ostens.

Durch die gewerbliche Betriebszählung von 1907 wurden ermittelt in den abgetrennten Gebieten des deutschen Ostens zusammen 138.445 Hauptbetriebe mit 545.578 beschäftigten Personen, in der Industrie, einschließlich Bergbau und Baugewerbe, 83.685 Hauptbetriebe mit 413.984 Personen = 25 und 24,8 v.H. der betreffenden Zahlen des ganzen deutschen Ostens; in Handel und Verkehr wurden gezählt 49.751 Hauptbetriebe = 26 v.H. und 119.963 Personen = 25,4 v.H. des deutschen Ostgebietes. Annähernd ein Drittel der Betriebe mit nicht ganz einem Viertel der beschäftigten Personen entfällt auf die abgetrennten Teile Westpreußens, etwa ein Fünftel der Betriebe mit annähernd einem Drittel der beschäftigten Personen auf Schlesien. Von den industriellen Gewerben
Holztraft auf dem weiten Strom
Holztraft auf der Weichsel.
gehen voran: das Baugewerbe mit 7.908 Hauptbetrieben und 82.691 beschäftigten Personen, Bergbau und Hüttenbetrieb mit 229 Hauptbetrieben und 62.659 Personen, Industrie der Nahrungs- und Genußmittel mit 15.298 Hauptbetrieben und 60.754 Personen, Bekleidungsgewerbe mit 29.727 Hauptbetrieben und 50.737 Beschäftigten, die Holzindustrie mit 7.451 Hauptbetrieben und 33.934 beschäftigten Personen, die Industrie der Steine und Erden mit 1.837 Hauptbetrieben und 32.516 Personen, Maschinenindustrie mit 4.284 Hauptbetrieben und 28.772 Personen, Metallverarbeitung mit 7.058 Hauptbetrieben und 27.513 beschäftigten Personen.


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