I. 4. Kulturelle und wirtschaftliche Organisationen (Teil 3) e) Das Genossenschaftswesen Wie jede Volksgruppe oder Minderheit in einem fremden Staat war auch das Deutschtum in Polen bestrebt, sich durch den Ausbau eines eigenen Genossenschaftswesens ein wirtschaftliches Rückgrat zu verschaffen. Aber nur in einigen Siedlungsgebieten war ein gut ausgebautes Genossenschaftsnetz vorhanden, so vor allem in Posen-Westpreußen. Dort bestanden städtische Kreditgenossenschaften, ländliche Spar- und Darlehnskassen, landwirtschaftliche Ein- und Verkaufsgenossenschaften, Molkerei-, Viehverwertungs- und Warenzentralen. Diese Genossenschaften hatten ursprünglich zwei verschiedenen Genossenschaftsverbänden (Offenbach und Raiffeisen) angehört, die jedoch seit 1926 unter Führung des Raiffeisenverbandes "Verband deutscher Genossenschaften in Polen" eine Verwaltungsgemeinschaft bildeten. Die Zusammenlegung der wirtschaftlichen Kräfte zeitigte erfreuliche Ergebnisse, besonders die Wirtschaftszentralen in Posen konnten sich sehr gut entwickeln. Die deutschen Genossenschaften in Ostoberschlesien und im Teschener Schlesien hatten sich bald der Posener Genossenschaftsleitung angeschlossen, so daß diese Ende des Jahres 1933 bereits 555 Genossenschaften betreute. Verbandsdirektor war seit 1925 Dr. Friedrich Swart, unter dessen zielbewusster Leitung die deutschen Genossenschaften im Gegensatz zu den polnischen auch die 1929 einsetzenden Krisenjahre meisterten und seit 1936 wieder eine stetige wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung aufwiesen. In Westpreußen hatten sich nur die städtischen deutschen Kreditgenossenschaften dem Posener Raiffeisenverband angeschlossen. Die ländlichen Genossenschaften gründeten hier [72] einen eigenen Revisionsverband, der seinen Sitz zuerst in Dirschau, dann in Graudenz nahm. Verbandsdirektor war von 1922 bis 1937 der Superintendent Ernst Barczewski-Soldau. Dieser Verband umfasste hauptsächlich Darlehnskassen und Molkereien. Die Graudenzer Molkereizentrale spielte - ebenso wie die Posener - bei der polnischen Butterausfuhr, die in der Berichtszeit vor allem nach England ging, eine sehr große Rolle. In Galizien bestand seit 1908 der "Verband deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften in Polen" mit dem Sitz in Lemberg, dem 1935 insgesamt 66 galizische, 4 mittelpolnische (Lubliner Wojewodschaft) und 12 wolhynische (dort waren erst seit 1925 Genossenschaften gegründet worden) Kredit-, Handels- und Molkereigenossenschaften angehörten. Verbandsanwalt, d. h. Leiter war Rudolf Bolek. In Mittelpolen waren seit 1927 deutsche Genossenschaften entstanden, die sich 1918 zu einem "Verband der deutschen Genossenschaften in Polen" mit Sitz in Lodz zusammenschlossen. Nach vorübergehenden Erschütterungen festigte sich auch in Mittelpolen das deutsche Genossenschaftswesen, so daß dem dortigen Verband Ende 1933 immerhin 109 Genossenschaften, hauptsächlich Spar- und Darlehnskassen sowie Warengenossenschaften und einige Molkereien angehörten. Das Jahr 1934 brachte in Polen eine staatliche Neuregelung des Genossenschaftswesens, da zu dem schon 1920 verkündeten Genossenschaftsgesetz am 13. 3. 1934 eine bedeutsame Novelle erlassen wurde. Die Gründung von Genossenschaften wurde überwacht, alle Revisionsverbände mussten erneut um ihre Bestätigung nachsuchen. Von den bisherigen fünf deutschen Revisionsverbänden wurden lediglich zwei bestätigt: der "Verband deutscher Genossenschaften in Polen", Posen, und der "Verband ländlicher Genossenschaften der Woj. Pommerellen" in Graudenz. Der [73] Posener Verband erhielt aber die Zulassung nur für die Wojewodschaften: Posen, Westpreußen, Lodz, Warschau und Schlesien, der Graudenzer nur für ländliche Genossenschaften seiner Wojewodschaft. Die Folge dieser Neuordnung war, daß der Lodzer Verband in dem Posener aufging, daß aber den deutschen Genossenschaften in den Wojewodschaften Kielce und Bialystok sowie allen Molkereien Mittelpolens der Anschluss an einen deutschen Verband versagt wurde. Ähnlich erging es den Genossenschaften des Lemberger Verbandes, jedoch setzte Verbandsanwalt Bolek es durch, daß sein Verband wenigstens als besonderer Unterverband einem polnischen Genossenschaftsverband beitreten konnte und so bei Verlust der gesetzlichen Revision wenigstens sein Eigenleben beibehielt. Die Lubliner Genossenschaften, die bisher dem Lodzer Verband angehört hatten, schlossen sich jetzt Lemberg an. Nach dieser Neuordnung zählte der Posener Verband Ende 1934 608 Genossenschaften, deren Aufschlüsselung aus nachstehender Tabelle zu ersehen ist:
[74] Die beiden deutschen Genossenschaftsverbände wiesen zwei Jahre später (31. 12. 1936) zusammen mit dem Lemberger Unterverband 869 Genossenschaften und 10 Wirtschaftszentralen auf, die sich wie folgt verteilten:
Die Mitgliedschaft aller Genossenschaften des Posener und des Pommereller Verbandes betrug Ende 1936 rund 57000, davon waren 42000 Landwirte, 1000 Arbeiter, 4000 Kaufleute und Gewerbetreibende, 3000 Angestellte und Angehörige freier Berufe sowie 3000 sonstige Berufsangehörige61 Als weitere Folge der genossenschaftlichen Neuordnung in Polen war den beiden deutschen Genossenschaftsverbänden zur Auflage gemacht worden, nur Genossenschaften mit mindestens 66% deutscher Mitglieder aufzunehmen bzw. zu behalten. Diese dem Wesen der deutschen Genossenschaften in Polen durchaus nicht widersprechende Bestimmung hatte aber als Gesetzesvorschrift den Nachteil, daß eine Genossenschaft bei Unterschreitung dieser Grenze trotz deutscher [75] Mehrheit (50-66%) einem polnischen Verband beitreten musste und so ihren deutschen Charakter verlor. Daher durften die deutschen Genossenschaften bei evtl. Aufnahmegesuchen von Polen nicht großzügig verfahren, was ohnehin ihr Recht war, wodurch sie aber der polnischen Öffentlichkeit gegenüber eine Angriffsfläche boten. Überhaupt muss zum Abschluss dieser Schilderung der deutschen Lebensform in Polen darauf hingewiesen werden, daß dieses mannigfaltige Organisationsleben erstens, rechtlich gesehen, jeder Volksgruppe in Polen zustand, ja daß die in der polnischen Verfassung den Minderheiten zugesicherten Möglichkeiten noch gar nicht erschöpft waren (s. Art. 109), und daß zweitens der Ausbau dieser Verbände usw. gar nicht so unbehelligt vor sich ging, wie etwa aus der Lektüre dieses Kapitels allein gefolgert werden könnte, da der Behauptungskampf, den diese Organisationen zu führen hatte, den folgenden Teilen dieser Darstellung vorbehalten bleibt. 5. Die Deutschen in Polen und die Polen im Deutschen Reich Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten muss darauf verwiesen werden, daß nicht nur die Minderheiten in dem demokratisch firmierten Polen, sondern u. a. auch die polnische Volksgruppe im Deutschen Reich (auch nach 1933) eine z. T. sogar weitergehende Organisationstätigkeit entfalten konnte. Deren Volkstumsorganisation, der "Polenbund in Deutschland", der 1938 200 Ortsgruppen zählte, der "Verband der polnischen Schulvereine", die zu einem Verband im Reich zusammengeschlossenen Jungvereine, der polnischen Pfadfinderbund, der "Verband der polnischen Akademiker in Deutschland", der seit 1935 mit eigenem Revisionsrecht ausgestattete polnische Genossenschaftsverband konnten sich im ganzen Reichsgebiet [76] betätigen, was den entsprechenden deutschen Organisationen in Polen - mit Ausnahme der vor 1933 gegründeten politischen Parteien - verwehrt blieb. Ferner hielten die Polen im Dritten Reich gleichfalls "imponierende Versammlungen" ab, und ihr Organisationsleben entfaltete sich immer mehr. Wenn dem entgegengehalten würde, daß die Polen im Reich trotzdem viel weniger Schulen - 1938 waren es insgesamt 64 Schulen mit durchschnittlich je 23 Kindern - und weniger Genossenschaften besessen hätten als die Deutschen in Polen, so ist dieser Umstand nicht der deutschen Seite zur Last zu legen, ebensowenig etwa die geringe Bezieherzahl der polnischen Zeitungen im Reich. Die insgesamt sieben polnischen Tageszeitungen in Deutschland hatten nämlich 1935 insgesamt nur eine Auflage von 7500 bis 8000 Stück, 1938 kaum 7000, die sieben größten deutschen Tageszeitungen in Polen mehr als das Zehnfache. Dieser so bedeutend niedrigere volkstumsmäßige Besitzstand der Polen war zu einem Teil auf das weniger ausgeprägte Volksbewusstsein, auf mangelnden Organisationssinn, auf geringere kulturelle Ansprüche sowie auf eine niedrigere Lebenshaltung der damals im Reichsgebiet wohnenden Polen zurückzuführen, zum anderen Teil aber auf das Zahlenverhältnis beider Volksgruppen. Bei der Volkszählung des Jahres 1933 hatten sich im Reichsgebiet nur 440168 zur polnischen bzw. zur deutschen und polnischen Muttersprache bekannt. Wenn demgegenüber geltend gemacht wird, daß man sich auch deutscherseits mit den Ergebnissen der polnischen Volkszählung nicht zufrieden gibt, so ist einzuwenden, daß sich die deutschen Zahlenangaben für Polen (1 Million Deutsche statt 741000) auf genaue statistische Berechnungen stützten, die durch Ergebnisse von parlamentarischen, kommunalen und kirchlichen Wahlen in den dreißiger Jahren, durch Mitgliederzahlen der deutschen Organisationen usw. ihre Erhärtung finden. [77] Die polnischerseits oft angegebene Zahl von 1,5 Millionen Polen im Reichsgebiet dagegen, die auf die Zahl der bei der Volkszählung im Jahre 1910 ermittelten Polnischsprachigen zurückgeht, kann nicht einmal als Arbeitshypothese anerkannt werden. Denn sie enthält nicht nur noch die nach 1918 in beträchtlicher Anzahl nach Polen abgewanderten oder zurückgegangenen Polen, deren Abgang nur z. T. durch den natürlichen Bevölkerungszuwachs wieder ausgeglichen sein könnte, sondern vor allem auch alle diejenigen, die sich zur masurischen, kaschubischen und zur "wasserpolnischen" (oberschlesischen) Mundart bekannt hatten. Letztere war übrigens 1910 gar nicht besonders ausgezählt worden. Bei den Abstimmungen in Ostpreußen 1920 und in Oberschlesien 1921, also in Deutschlands damals "tiefster Erniedrigung", hatten sich aber diese Masuren und Oberschlesier in überwältigender Mehrheit für Deutschland und auch für das Deutschtum entschieden. Denn diese Menschen, deren Großeltern und Eltern im Jahre 1910 vielleicht noch lieber und besser eine polnische bzw. slawische Mundart als das Hochdeutsche gesprochen hatten, wollten doch u. a. wohl nach dem Erlebnis des ersten Weltkrieges "nichts als Deutsche sein" und auch gar nicht an den polnischen Lebensäußerungen im Reich teilnehmen. Das geht nicht nur aus den geringen Bezieherzahlen der polnischen Zeitungen und Besucherzahlen der polnischen Schulen hervor, sondern auch aus der niedrigen Mitgliederzahl der 34 polnischen Genossenschaften im Reich (1932 - 15000, 1936 - 8363 Mitglieder) und den bei den Wahlen in der Weimarer Republik von den polnischen Listen im ganzen Reichsgebiet erreichten Stimmenzahlen. Bei den Reichstagswahlen am 7. 5. 1924 erzielte nämlich die polnische Liste insgesamt nur 100260 Stimmen, am 2. 5. 1928 waren es 64707, am 31. 7. 1932 schließlich nur noch 33105 Stimmen. Die Deutschen in Polen dagegen brachten allein in der Wojewodschaft Schlesien bei der [78] letzten freien Wahl am 11. Mai 1930 (zum Schlesischen Sejm) 205342 Stimmen auf.62 ["63"]
Die Oberschlesier und Masuren
innerhalb des Reiches konnte man daher in ihrer übergroßen
Mehrheit nur als deutsch nach Bekenntnis und Haltung bezeichnen. Sie aber
gegen ihren ausgesprochenen Willen als Polen zu deklarieren, wie die
Polenbundführer es taten,63 geht nun doch nicht, zumindest nicht
im Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bzw. des Einzelnen.
Schließlich haben die volksdeutschen Stellen die vielen polonisierten
Deutschen oder gar Polen ursprünglich deutscher Abstammung bei der
einen Million ermittelter Deutscher im Versailler Polen niemals
mitgezählt, ja man hat von eben volksdeutscher Seite zur Zeit der
Reichsgaue Wartheland und Westpreußen
bzw. des Generalgouvernements
immer wieder dagegen Stellung genommen, wenn diese dem Deutschtum bereits
völlig Entglittenen in die Volksliste aufgenommen werden sollten.
Deutscherseits hat man im Dritten Reich manchmal nur mit 150.000 bis 250.000
Polen gerechnet. Ohne diese Zahlen abzulehnen, wollen wir als Arbeitshypothese
die 1933 ermittelten 440.168 Polnischsprachigen bzw.
Deutsch- und Polnischsprachigen gelten lassen und diese Zahl für
Vergleichszwecke sogar nach oben abrunden. Der für die Berichtszeit
einwandfrei festgestellten 1 Million Deutscher im Versailler Polen stünden
dann allerhöchstens 500.000 Polen im Deutschen Reich gegenüber.
Da wir in den folgenden Kapiteln oft auf die polnischerseits erhobene Forderung
nach Gegenseitigkeit bei Behandlung der Minderheiten stoßen werden,
wobei man zu gern von den angeblich 1½ Millionen Polen ausging, denen
nur 741000 Deutsche gegenüberstünden,64 war diese Auseinandersetzung mit den
polnischen Behauptungen auch hier notwendig.
60Swart, Friedrich: Das deutsche Genossenschaftswesen im Posener Lande. (erschienen: Leer 1954 unter dem Titel: Diesseits und jenseits der Grenze.) S. 43. ...zurück...
61Bierschenk , Theodor in: Der
Aufbau. Jg. II, S. 114; Kattowitz 1939; 62Wertheimer, Fritz: Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland. S12, 341; Berlin 1930 (2. Aufl.). [Scriptorium merkt an: Markierung Nr. 62 fehlt im Text des Originalbuches. Stattdessen gibt es die 63 im Text zweimal, und Quellenangabe 62 (diese) bleibt ohne Bezug. Wir nehmen an, daß dies einfach ein Druckfehler war und sich die erste als "63" gekennzeichnete Textstelle tatsächlich auf diese Quellenangabe 62 (Wertheimer...) bezieht.] ...zurück... 63Breyer, Richard: Die deutsch-polnischen Beziehungen und die deutsche Volksgruppe in Polen 1932-1937. S. 296; Diss. Göttingen 1952. ...zurück...
64Beck, Jozef Colonel: Dernier
Rapport. Politique
Polonaise 1929-1939. S. 307; Neuchatel 1951. ...zurück...
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