Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890 (Forts.)
2. Die politischen Gewalten im neuen
Reich. (Forts.)
Die ersten Aufgaben der inneren Reichspolitik nach 1870 bestanden darin,
diejenigen Lebenssphären des deutschen Volkes, die in den älteren
Nationalstaaten längst einheitlich geordnet waren, durch gemeinsame
Reichsinstitutionen zusammenzufassen, und mit der Idee der Einheit, die einen
fast magischen Charakter für die letzte deutsche Generation gewonnen
hatte, den Sondergeist mit [172] allen seinen in
Jahrhunderten erwachsenen Merkmalen der Zersplitterung zu überwinden.
Wenn das Reich zu einem Nationalstaat werden wollte, mußte es seine
Kompetenz wieder in die Hoheitsrechte der Bundesstaaten, die nur auf Kosten des
alten Reiches erwachsen waren, Schritt für Schritt hineinschieben: das aber
bedeutete nicht nur ein Einschmelzen von mittelstaatlichen und kleinstaatlichen,
sondern auch von preußischen Hoheitsrechten.
Bismarck war gegen Ende der sechziger und in der ersten Hälfte der
siebziger Jahre entschlossen, auf diesem Wege weit voranzuschreiten. Er setzte im
Jahre 1869 der Warnung eines partikularistisch gesinnten Staatsrechtslehrers: die
Gefahr für die Einzelstaaten, allmählich ihrer Befugnisse entkleidet
zu werden, bestehe auch für Preußen, kühn und gelassen ein
"accipio" entgegen; und wenn jener die Frage aufwarf, ob Preußen
im Norddeutschen Bunde völlig aufgehen oder innerhalb seines staatlichen
Gebietes eine selbständige Existenz behaupten solle, so trug er kein
Bedenken, die erstere Alternative ausdrücklich zu bejahen. Dabei war er
sich bewußt, auf starke preußische Widerstände zu
stoßen. Hatte er doch damals Mühe genug, dem preußischen
Kriegsminister von Roon,
der die Marine nicht als norddeutsche
Bundeseinrichtung, sondern als preußische Einrichtung wollte,
klarzumachen, daß Mecklenburg, Oldenburg und die Hansestädte auf
ihre Seehoheit nicht zugunsten des Königs von Preußen, sondern des
Bundesoberhauptes verzichtet hätten.16 Ja, er
sprach seinem altpreußischen Genossen sogar die Hoffnung aus, daß
er die Zeit erleben werde, "wo unsre Söhne es sich zur Ehre rechnen
werden, den Söhnen des Königs in einer Königlich deutschen
Flotte und dem Königlich deutschen Heere zu dienen".17 Aber schon während des
deutsch-französischen Krieges machte er die Erfahrung, daß die
zweite seiner Hoffnungen dem Lauf der Dinge weit vorauseilte. Als der
Großherzog Friedrich von Baden in Versailles die badische
Militärhoheit freiwillig aufgab, um sie in edler Wallung der Idee des neuen
Reiches zum Opfer zu bringen, gelang es ihm nicht, sie in einem deutschen
Reichsheer aufgehen zu lassen; niemals dachte der
preußisch-militärische Geist weniger daran, sich zugunsten eines
deutschen Zukunftsheeres zu verflüchtigen, und der Großherzog
mußte statt der Reichskokarde, an die er für seine Truppen neben der
badischen gedacht hatte, die preußische Kokarde annehmen. Bismarck aber
stand, mit einer gewissen Erbitterung, in den Verhandlungen über die
preußisch-badische Militärkonvention auf der Seite des
Großherzogs, da er instinktiv fühlte, daß es sich in diesen
verhältnismäßig geringen Fragen um einen symbolhaften
Vorgang [173] handele. Ob er damals
schon in vollem Umfang überschaute, daß die
verfassungsmäßigen süddeutschen Reservatrechte
grundsätzlich auch dem preußischen Reservat, das unausgesprochen,
aber mächtig und urwüchsig, hinter den Dingen stand, zugute
kommen mußten?
Damals fühlte der Gründer des Reiches sich von der aufsteigenden
Welle der Einheit getragen, und er konnte darauf rechnen, daß ihm der
unitarische Tatendrang des Reichstages zur Seite stehen werde, der in dem Werke
der Vereinheitlichung seine nationale Ehrenpflicht, seinen politischen Rechtstitel
und seine nächste praktische Aufgabe erblickte. Die Idee der Einheit und
die Idee des Parlaments hatten in der Geschichte der Nationalbewegung von jeher
zusammengehört. Bismarck hatte das demokratische Prinzip, das in dem
Frankfurter Versuche der Reichsgründung von 1848/49 das Ganze des
Staates zu tragen bestimmt war, wenigstens als ein mittragendes politisches
Element in seinen Aufriß des Reichsgebäudes übernommen. Er
hatte die deutsche Volksvertretung auf Grund des allgemeinen gleichen und
direkten Wahlrechts als Ziel verkündet, als er im Frühjahr 1866 in
den großen Kampf um die Macht hineinging, um mit diesem
Verbündeten die partikularistischen Gegenkräfte aus dem Felde zu
schlagen; er verließ sich bei diesem gewagten Schritte auf die Massen der
monarchisch gesinnten ländlichen Bevölkerung in Preußen und
traute ihnen sogar zu, die bürgerliche Mittelschicht der Liberalen zu
überflügeln. Die Wirkungen des demokratischen Wahlrechts
schienen auch seine Kreise nicht zu stören, so lange der große
Antrieb seiner erfolgreichen Politik von 1866 und 1870/71 die Stimmung des
Volkes beherrschte. Mit diesem auf breiter Basis ruhenden Organ des Reichstages
glaubte er dem nationalen Lebenswillen ein kräftiges Instrument, dem
zunächst noch lockeren Gefüge des Reiches eine unzerbrechliche
Klammer im Sinne seiner Ordnung geschaffen zu haben.
Die großen Ereignisse der Reichsgründung hatten zu einer inneren
und äußeren Umgestaltung des deutschen Parteilebens geführt.
In den ersten Reichstagen überwog stark die Stimmung der liberalen
Nationalpartei, die einst den nationalen Staat auf ihrem Wege erstrebt hatte, sich
jetzt aber, mehr oder weniger bereitwillig, in die von Bismarck geschaffene und
seinen Stempel tragende Wirklichkeit hineinfand. Dieser staatlicher und
realistischer gewordene Liberalismus gab dem Reichstag die Signatur und dem
öffentlichen Leben die beherrschende Farbe; seine Anziehungskraft dehnte
sich auch auf politische Elemente aus, die aus dem alten konservativen Lager
Preußens und der Mittelstaaten kamen, oder auf dem Boden der Demokratie
erwachsen waren, jetzt aber dem Zuge der Zeit und dem Zwang zum Handeln sich
nicht entziehen mochten. Mit Genugtuung glaubte Bismarck das Hineinwachsen
immer breiterer befriedigter Schichten in die neue Ordnung feststellen zu
können: er verzeichnete damals voll optimistischer Hoffnung auf
längere Fristen, "wie stark und massenhaft die Bekehrung gewesen ist und
noch ist von roten zu gemäßigten Liberalen, von
gemäßigt [174] liberalen zu
konservativen Gesinnungen, von doktrinärer Opposition zu dem
Gefühl des Interesses am Staate und der Verantwortlichkeit für
denselben".18 Vom Standpunkt der alten Ideale
gesehen, hatten die Liberalen allerdings Wasser in den brausenden Wein der
Jugend gießen müssen. So hatte Rudolf von Bennigsen im Jahr 1866
nach der deutschen Revolution, die Bismarck vollzogen hatte, die liberalen
Aufgaben der Zukunft beurteilt: "Mehr kann die Nation zur Zeit nicht verlangen,
die doch an der heilsamen Krisis dieses Jahres ziemlich unschuldig ist und vorerst
gar keinen begründeten Anspruch erheben kann, von der preußischen
Krone und dem deutschen Richelieu den Parlamentarismus und den ganzen
Komplex von Freiheiten in Gnaden verliehen zu erhalten".19 Man mußte sich bescheiden,
fortan mit diesem deutschen Richelieu zusammen, der in dem liberalen Lager fast
eine stärkere Resonanz fand als in den altkonservativen Kreisen seiner
Herkunft, die innere Gestalt des neuen Reichs zu formen, in ständigem
Ringen, aber auch in ständigem Zusammenwirken. Die alten
Gegensätze zwischen Krone und Parlament schienen vertagt und
zurückgetreten, aber auf dem Grunde war doch der Glaube der Liberalen
ungebrochen, ein gutes Teil der eigenen Ideale, in einer machtvollen Stellung des
Reichstages verkörpert, der neuen Schöpfung einverleiben zu
können. Es war die zweite oder dritte Generation dieses Liberalismus, nicht
mehr so ursprünglich und einheitlich wie ihre Väter, in ihren
weltanschaulichen Begründungen längst mehr in die Breite als in die
Tiefe gehend, in ihrer Stellung zum geschichtlichen Staate nicht mehr auf das
Prinzip, sondern auf den realpolitischen Kompromiß gestellt, aber doch mit
dem großen Strome einer Entwicklung marschierend, die auch auf dem
weiteren europäischen Schauplatze noch immer eine der stärksten
Lebensmächte verkörperte. In diesem nationalen Liberalismus
überwog das bürgerliche Element mit seinen
klassenmäßigen Ideologien und Interessen; wirtschaftlich griff es
begierig nach den neuen Möglichkeiten, die der sich dehnende
Körper des großen Nationalstaates ihm gewährte; noch schien
seine Stellung stark genug, die entfesselten Kräfte des wirtschaftlichen und
sozialen Lebens in sein Strombett zu lenken. Einheitlicher und freiheitlicher
Ausbau des Reiches, das war die Parole, die allen diesen nationalen und liberalen
Strömungen den Glauben, den Schwung und die Berechtigung gab.
Das demokratische Wahlrecht des Reichstages hatte aber nicht nur den
Anhängern des Neuen einen mächtigen Auftrieb gegeben, sondern es
sollte fast unerwarteterweise auch den Gegnern der Lösung von 1866/71 die
politische Organisation ermöglichen. In dem Reichstage, dem
heißersehnten Organ des nationalen Einheitswillens, fanden sich auch
diejenigen zusammen, die an den vergangenen Idealen deutscher
Lebensgestaltung festhielten. Es bildete sich eine geschlossene Partei, die einen
großen Teil der katholischen Bevölkerung mit Hilfe [175] der Geistlichkeit
zusammenfaßte und als eine an das Corpus catholicorum des alten
Reiches erinnernde politische Kampfgemeinschaft in den neuen Reichstag einzog.
Wer die enge Verflechtung der kleindeutschen und großdeutschen Parteien
mit den konfessionellen Gegensätzen verfolgt, wird kaum erstaunt sein,
daß auch nach der großen Entscheidung von 1866 der Kampf auf
einer anderen Ebene noch weiterging - diese konfessionellen
Gegensätze waren nun einmal mit der Geschichte von Jahrhunderten, mit
unseren höchsten Kraftanstrengungen und unserem geheimsten Wesen,
mehr als es in irgendeinem anderen Volke der Fall war, verknüpft. Aber lief
diese konfessionelle Parteibildung nicht dem Geiste des Einheitsgedankens
zuwider, auf dessen ansteigender Flut das Reich seine Fahrt antreten sollte? Statt
der erhofften Überbrückung der historischen Spaltung, die das
deutsche Volk so abgrundtief zerrissen hatte, schien der Gegensatz, in seiner
Unversöhnlichkeit wieder erwacht, ja die Scheidung der Geister zum
politischen Prinzip erhoben zu sein. Diese Parteibildung betonte gegenüber
dem unitarischen Zuge der Reichspolitik den föderalistischen
Staatsgedanken und sammelte alle Elemente, die, statt in der formalen Einheit der
Nation aufzugehen, vielmehr das Wesenhafte deutschen Lebens in der historisch
erwachsenen Vielheit und Buntheit erblickten - ob sie nun echte,
bodenständige Werte vertrat oder nur den Schein absterbenden Lebens
widerspiegelte. Da das Zentrum recht eigentlich aus dem Lager der Besiegten von
1866 hervorging und sich einer Führung unterstellte, die sich auf der
ganzen Linie der Politik Bismarcks entgegenwarf, übte es eine starke
Anziehungskraft auf alle Geister des Widerspruchs aus, bis zu den Polen und
Elsaß-Lothringern hin. Von einem obersten konfessionellen Prinzip
zusammengehalten, konnte die Partei es wagen, obwohl historisch, legitimistisch,
konservativ in der Grundtendenz, sich zugleich des ganzen Apparates
parlamentarischer Ansprüche und demokratischer Forderungen zu
bedienen; von den Massen und ihren gläubigen Instinkten reichte sie bis in
die höchsten Kreise der Gesellschaft, ja bis in die Nähe des Thrones
hinauf - eine fast unangreifbare, aber der Idee der Reichseinheit
entgegengesetzte Gewalt. Wenn Bismarck den
Arnim-Konflikt erbarmungslos verfolgte, wollte er zugleich die höfischen
Verbindungen der Partei bis in ihre letzten Ausläufer treffen. Man begreift,
daß für die Nationalpartei und ihr Selbstgefühl in diesem Lager
der Gegner saß. Der Natur Bismarcks entsprach es vollends, den Angriff
nicht abzuwarten, sondern ihm zuvorzukommen.
Insofern ist der Kulturkampf der siebziger Jahre, auf seinen politischen Kern
beurteilt, eine Fortsetzung der innerdeutschen Kämpfe um die Gestalt und
Einheit des Reiches. Wie man auch über den Ursprung und Verlauf des
Kulturkampfes deuten mag, es steht außer Frage, daß Bismarck
keineswegs die katholische Kirche als solche bekämpfen wollte, sondern
nur das Ziel verfolgte, die politisch-konfessionelle Bildung des Zentrums, die auf
dem außenpolitischen wie dem innenpolitischen Schauplatz seiner
Staatsleitung feindlich war, zu sprengen. [176] Die kirchenpolitischen
Kampfpositionen und manche unerfreuliche Begleiterscheinungen des
Kulturkampfes, die das religiöse Empfinden des katholischen Volksteils
schwer verletzten, mögen preisgegeben werden, wie sie denn in den
achtziger Jahren zu einem guten Teile wieder abgebaut worden sind. Der
politische Kampf endete doch damit, daß die im Zentrum
zusammengefaßten Bevölkerungsmassen schließlich in das
Reich und die Mitarbeit am Staate, der das letzte Ergebnis des Kampfes blieb,
hineinwuchsen - das Zentrum zu sprengen, war dem Reichskanzler nicht
beschieden, wohl aber sollte er erleben, daß es, bis auf einen Rest seiner
historischen und konfessionellen Vorbehalte, mit der Zeit auf den Boden des
Reichs hinübertrat.
Eine zweite unabsehbare Wirkung des demokratischen Wahlrechtes wurde nicht
mit einem Schlage, sondern erst allmählich sichtbar. Der politische Kampf
um den deutschen Staat in den letzten Generationen war begleitet von einem
tiefgreifenden sozialen Umbildungsprozeß. Hinter den bürgerlichen
Schichten, deren Wachstum den nationalen und liberalen Ideen einen starken
Rückhalt gegeben hatte, regten sich immer heftiger die Kräfte der
Tiefe, begann sich unter dem Einfluß radikaler Denker und
glänzender Demagogen die politische Organisation des vierten Standes
vorzubereiten. Schon während des Konflikts, in den Jahren 1863/64, hatte
Bismarck sich bezeichnenderweise über ein Programm des demokratischen
Wahlrechts und staatssozialistischer Experimente mit Lassalle zu einigen
versucht, da er damals diese sich zum ersten Male regenden Zukunftsgewalten
gegen die Liberalen auszuspielen Verlangen trug. Jetzt aber sollte sich erweisen,
daß die Wirkungen des demokratischen Wahlrechts auf dem Schauplatz des
neuen Reiches einen Umfang annehmen konnten, der alle taktischen
Berechnungen weit hinter sich ließ. Jene starken demokratischen Antriebe,
die im Jahre 1848 vorübergehend große Teile des Bürgertums
und des Bauerntums erfaßt hatten, sollten in dem vierten Stande, der mit
dem Eintritt der industriell-kapitalistischen Entwicklung zu unaufhaltsamem
Wachstum berufen war, ihr eigentliches Arbeitsfeld finden; indem sie sich mit den
sozialen Forderungen und den sozialistischen Utopien dieser Klasse verbanden,
erzeugten sie das Ferment einer politischen Parteibildung, das sich nur schwer
wieder lockern ließ. Ähnlich wie das Zentrum stand auch die
Sozialdemokratie in internationalen Beziehungen, lebte auch sie in Ideologien, die
über den Nationalstaat weit hinausreichten. Der Herrschaft der in dem
neuen Reiche politisch und sozial befriedigten Klassen setzte sie den Glauben an
einen Zukunftsstaat entgegen, der alle Ungerechtigkeiten beseitigen und alle
Träume erfüllen sollte - welche weltgeschichtlichen
Möglichkeiten sich hier in der Tiefe regten, hatte die Episode der Pariser
Kommune von 1871 zum ersten Male der Welt bedrohlich offenbart. Auch
Bismarck erkannte in diesem Augenblicke eine Zukunftsgefahr, die seiner
Schöpfung gefährlich werden konnte. War der konfessionelle
Gegensatz das Erbteil von Jahrhunderten, dem man sich auch bei dem Ausbau des
neuen Reiches [177] nicht entziehen konnte,
den man vielmehr auch auf dieser Ebene noch einmal auskämpfen und in
sich überwinden mußte, so handelte es sich bei dem Auftauchen der
sozialen Frage und ihrer sozialistischen Lösungsversuche um eine
Zukunftsgewalt, mit der sich der neue nationale Staat auf dem Kampfplatz der
Idee und der Realität auseinanderzusetzen hatte. So stieg hier mit Hilfe des
allgemeinen Wahlrechts in dem Reiche eine Macht empor, mit deren radikalem
Oppositionswillen Bismarck eines Tages den Kampf aufnehmen mußte.
Wie allen Großen in der Geschichte war auch ihm das Schwerste
beschieden: mit den Kräften, die er selbst hatte entfesseln helfen, auf einem
Schauplatz, den er ihnen selbst bereitet hatte, um den Bestand seiner
Schöpfung zu ringen.20
Aus dem Ausbau der einheitlichen Reichsinstitutionen in den siebziger Jahren
greifen wir im folgenden einige beherrschende Züge auf, um von der
Richtung der politischen Arbeit eine Vorstellung zu geben. Die Vereinheitlichung
war kaum umstritten und verhältnismäßig leicht
durchführbar in allen Dingen des Handels und Verkehrs, die von jeher dem
Einheitsbedürfnis einen kräftigen materiellen Auftrieb vermittelt
hatten. Zu der Einheitlichkeit von Münze, Maß und Gewicht, zu der
zentralen Institution der Reichsbank, gesellte sich nun die Einheitlichkeit von Post
und Telegraphen, nur durch einige süddeutsche Reservate begrenzt; der
Unternehmungsdrang der Reichspost ging freudig an die Aufgabe, das neue Reich
mittels der Gebäude und Einrichtungen einer Reichsbehörde bis in
das entlegenste Dorf symbolisch zur Anschauung zu bringen. Schwieriger war
schon das Unternehmen, ein so überragendes Verkehrsmittel wie die
Eisenbahnen grundsätzlich dem Reiche zu überweisen, und damit
den mit der Begründung des Zollvereins eingeleiteten Prozeß der
wirtschaftlichen Vereinigung in einer überwältigenden Weise zu
vollenden. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre hatte der Reichskanzler
dieses weit ausschauende Ziel mit vollem Vorbedacht auf sein Programm gesetzt:
"Es ist die feste Absicht des Fürsten Bismarck, das ganze Eisenbahnwesen
im Deutschen Reiche unter eine effektive Reichskontrolle zu bringen", schrieb der
sächsische Bundesratsbevollmächtigte am 5. März 1873.21 Aber es war die Frage, ob der
einzelstaatliche Eisenbahnbau nicht schon zu weit vorgeschritten und das
Eisenbahnwesen überhaupt mit den wirtschaftlichen Sonderinteressen, den
Finanz- und Verwaltungsbedürfnissen der größeren
Einzelstaaten allzu eng verflochten war, um an ein so gewichtiges Hoheitsrecht
von Reichs wegen tasten zu dürfen.
Längst von der Nation ersehnt war die Vereinheitlichung der ganzen
bürgerlichen Rechtssphäre. Seitdem die einheitliche Lebensform des
nationalen Rechts den Deutschen im Mittelalter verlorengegangen war, brachte
ihnen das alltägliche Dasein zum Bewußtsein, wieviel noch an der
ideellen Einheit der Nation fehle. So wurde zunächst die Einheitlichkeit der
Gerichtsverfassung, des Gerichts- [178] verfahrens, des
Strafrechts ohne ernstere Widerstände durchgeführt; nur hier und da
spielten politische Erwägungen in die Neuordnung hinein; die Wahl
Leipzigs zum Sitz des Reichsgerichts war ein merkwürdiges
Kompromiß zwischen unitarischen und dezentralistischen
Bemühungen.
Einen weit längeren Atem erforderte die Begründung eines
einheitlichen bürgerlichen Rechtes, in dem die Deutschen sich im Laufe der
Jahrhunderte immer weiter auseinandergelebt hatten;
römisch-rechtliche Gebiete wechselten mit Gebieten einzelstaatlicher
Kodifikation ab, und selbst ein Überrest der Fremdherrschaft hatte im
französischen Recht auf dem linken Rheinufer sich erhalten. Nachdem
schon im Norddeutschen Reichstage auf Antrag
Miquel-Lasker die Überweisung der gemeinsamen Gesetzgebung
über das gesamte bürgerliche Recht an den Bund beschlossen worden
war, hatte der Reichstag diese Beschlüsse erneuert, aber erst im April 1873
waren alle Widerstände im Bundesrate überwunden. Jedoch selbst
hier suchte die föderalistische Opposition des Zentrums sich in den Weg zu
stellen. Sein Führer Windthorst stimmte ein bewegliches Klagelied an,
daß die deutschen Fürsten den größten Schmuck ihrer
Krone, die Justizhoheit, zu den Füßen Laskers niederlegten, und
verstieg sich sogar zu der hämisch berechneten Prophezeiung, daß
vom 2. April 1873 an die noch anscheinend souveränen Monarchen in der
Lage der Standesherren sein würden, das Haus Wittelsbach die Stellung des
Hauses Hohenlohe einnehmen würde.22 Es war
nur eine Stimme aus vergangenen Tagen deutscher Geschichte. Als nach den
gründlichsten Vorbereitungen, in denen die tiefsten Probleme unserer
geschichtlichen Rechtsentwicklung zur Sprache kamen, das Bürgerliche
Gesetzbuch vom Reichstage verabschiedet wurde, sollte auch das Zentrum seinen
Stolz darein setzen, bei dem parlamentarischen Abschluß des nationalen
Gesetzgebungswerkes führend mitzuwirken.
Bei jeder der großen Institutionen des Reiches mußte sich die
Auseinandersetzung zwischen dem Ganzen und den Teilen, innerhalb des Ganzen
zwischen Reichsregierung und Reichstag wiederholen. Sehr bemerkenswert trat
das bei der gesetzlichen Festlegung der Heeresverfassung zutage. Die
Reichsverfassung war nicht so weit gegangen, ein einheitliches deutsches
Reichsheer zu schaffen, sondern hatte starke Unterschiede bestehen lassen. Neben
dem preußischen Heere blieben die einzelnen Kontingente der
Bundesstaaten bestehen, die allerdings größtenteils durch
Militärkonventionen dem preußischen Heere vollkommen eingegliedert
waren, während die Kontingente von Württemberg und Sachsen eine
größere Selbständigkeit als besondere Einheiten mit eigener
Militärverwaltung behaupteten; die bayrische Armee dagegen
stellte - es war das Bedeutendste der Versailler
Reservate - einen in sich geschlossenen Bestandteil des Bundesheeres mit
selbständiger Militärverwaltung unter Militärhoheit des
Königs von Bayern dar, wenn auch mit gemeinsamen Einrichtungen in
Friedenspräsenz- [179] stärke und
Organisation. Diese unregelmäßige Ordnung, in deren Abstufungen
der historische Vorgang der Reichsgründung fortlebt, ist unverändert
bis zum Weltkriege erhalten geblieben. Das Reichsmilitärgesetz von 1874
hatte nur die Aufgabe, diese vertragsmäßig begründete
Ordnung in den Gesamtrahmen der Reichsinstitutionen einzufügen. Der
Entwurf der militärischen Seite schlug eine zeitlich unbeschränkte
gesetzliche Festlegung einer Friedenspräsenzstärke von
401 659 Mann vor, wie sie im Interesse der Stetigkeit der Organisation lag.
Für den Reichstag aber war die gesetzliche Festlegung der
Präsenzstärke auf unbestimmte Zeit eine Beeinträchtigung
seines Budgetrechts und seiner politischen Kompetenz überhaupt. Wenn es
dem preußischen Militärstaat, der an der Begründung des
Reiches einen so großen Anteil hatte, widerstrebte, sein ganzes
Gefüge in eine jährlich sich wiederholende Abhängigkeit von
einer parlamentarischen Körperschaft zu setzen, wollte der Reichstag nicht
das weitaus größte Gebiet des ganzen Finanzhaushalts seiner
Mitwirkung und Beschlußfassung dauernd entzogen wissen. Es war
natürlich, daß dieser Gegensatz, den prinzipiell zu erneuern die
Erinnerung an den preußischen Militärkonflikt nicht ermutigen
konnte, auf einer mittleren Linie verglichen wurde. Der Kompromißweg der
Bewilligung auf sieben Jahre (Septennat) war an sich äußerlicher
Natur, aber so zweckmäßig, daß er in den Jahren 1881 und
1888 wiederholt wurde. Wenn auch das Reichsheer äußerlich kein
ganz einheitliches Gebilde war, so konnte doch weder das bayerische Reservat
noch das Septennat seiner Geschlossenheit und Schlagfertigkeit das geringste
anhaben, und der geschichtliche Verlauf hat den unwiderleglichen Nachweis
erbracht, daß Bismarck recht daran tat, in der Form nachgiebig zu sein,
wenn nur in der Sache das Ziel erreicht ward.
Wenn hier die machtpolitischen Hintergründe durch einen
glücklichen Kompromiß überbrückt wurden, so
mußten sie erkennbarer hervortreten, sobald es sich darum handelte, das
Reich, das ursprünglich nur als Kostgänger der Einzelstaaten seine
anfangs geringen finanziellen Erfordernisse deckte, mit dem Wachsen seiner
Kompetenzen und seines Bedarfs finanziell auf eigene Füße zu
stellen. Sobald dem Reiche eigene Finanzquellen erschlossen werden sollten,
stand man vor der Frage, in welchem Umfange dafür direkte und indirekte
Steuern und Zölle herangezogen werden sollten. Die Entscheidung
darüber war nicht nur eine technische Frage finanzpolitischer oder
wirtschaftspolitischer Natur, sondern sie betraf mit der Abgrenzung von
Reichsfinanzen und Einzelstaatsfinanzen auch das grundsätzliche
Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, den Charakter des
bundesstaatlichen Aufbaus, an der entscheidenden Stelle; sie rührte schon
empfindlicher an das Problem Reich und Preußen, das von Anfang an nicht
so scharf gestellt war, wie wir es heute sehen, aber bei dem Umsichgreifen der
Reichskompetenz sich doch bereits sichtbarer herausstellte; sie betraf, sobald die
Einnahmen aus Zöllen für das Reich herangezogen wurden, auch die
prinzipielle Entscheidung über die einzuschlagenden Wege der
Wirtschaftspolitik. [180] Vor allem rückte
mit allen diesen Fragen das Verhältnis zwischen Reichsregierung und
Reichstag, die Mächteverteilung unter den Gewalten und Organen des
Reiches in den Mittelpunkt. Man war an dem Punkte angelangt, wo die
unitarischen Tendenzen eine geheime Wahlverwandtschaft mit dem
parlamentarischen System verrieten. Es mußte eines Tages zu einer
umfassenden Machtprobe kommen, die sowohl über das Problem
Unitarismus - Föderalismus als auch über das Problem
Krone - Parlament entschied.
Bismarck hatte das Unbefriedigende in dem Verhältnis zwischen Reich und
Preußen längst erkannt; um der "Gefahr der Trockenlegung von
Reich und Bundesrat durch den Partikularstaat Preußen" vorzubeugen,
suchte er das Heilmittel "in Ausdehnung des Systems der Personalunion, wie sie
bisher im Monarchen, im Kanzler, im Kriegsminister und im Auswärtigen
besteht".23 Er hatte schon 1869 in den
Funktionen, die der preußische Kriegsminister, der preußische
Finanzminister und der Handelsminister für den Bund übernehmen
mußten, den tatsächlichen Übergang zu einem wirklichen
Bundesministerium "mit einer nach englischem Muster schärfer
akzentuierten Verantwortlichkeit des Kanzlers als Ministerpräsidenten
gesehen".24 Nachdem der systematische Ausbau
sich lange verzögert hatte, entschloß er sich, dem Führer der
Nationalliberalen ein preußisches Ministerium, Inneres oder auch Finanz, in
Verbindung mit dem Amt eines Vizekanzlers im Reiche anzubieten. Er lud Ende
Dezember 1877 Bennigsen zu einer Verhandlung nach Varzin, deren Inhalt eine
verfassungsmäßige Ordnung der Stellvertretung des Reichskanzlers,
eine Modifikation der Reichsämter und ihrer Beziehungen zu den
preußischen Ministerien und schließlich die Finanzfragen,
Zoll- und Steuerreform, umfaßte. Es schien, als ob die Praxis der bisherigen
Zusammenarbeit mit den Liberalen nach der persönlichen wie nach der
sachlichen Seite vertieft werden sollte. Bismarck mußte aber erkennen,
daß die politischen Forderungen der Liberalen noch über den Inhalt
seines nächsten Programms hinausgingen, und wenn er schon dadurch
zweifelhaft werden mochte, so wurde er gleich darauf durch einen
ungewöhnlich scharfen Brief des Kaisers, daß er Bennigsen in einer
hohen Stellung im Staate nicht wünsche, an einem weiteren Vorgehen auf
dem beabsichtigten Wege gehindert. Das Altpreußentum verwarf aus
legitimistischen und persönlichen Empfindungen heraus den Führer
der alten Nationalpartei.
Die Notwendigkeit für Bismarck, nunmehr einen anderen Weg
einzuschlagen und statt der verstärkten Fühlung mit den Liberalen
die Möglichkeit einer Ablösung von ihnen in Betracht zu ziehen,
wurde ihm durch äußere Vorgänge erleichtert. Der Tod des
Papstes Pius IX. und die Nachfolge eines versöhnlichen Papstes
zeigte plötzlich die Möglichkeit, den Kulturkampf abzubrechen, sich
zunächst auf dieser Front von der Mitwirkung der Liberalen zu befreien und
[181] andere
Bundesgenossenschaften vorzubereiten. Die Attentate des Mai und Juni 1878
gaben eine Gelegenheit, in der Innenpolitik das Steuer scharf nach rechts, nach der
Befestigung der staatlichen Autorität, herumzuwerfen. Der Reichskanzler
wurde sich klar über die Gefahren, die für seine Schöpfung auf
deutschem Boden aus dem extremen Flügel der Sozialdemokratie
aufsteigen konnten, und entschloß sich, sie durch ein scharfes
Ausnahmegesetz zu bannen, das der Sozialdemokratie jegliche politische
Betätigung so gut wie unmöglich zu machen bestimmt war. Damit
wurde ein gutes Teil der demokratischen Kräfte in den Untergründen
des politischen Lebens gleichsam abgeriegelt. Mit diesen, in der Periode von 1878
bis 1890 mehrfach erneuerten Maßnahmen wurde eine politische Wendung
im Sinne der besitzenden Klassen, der staatlichen Autorität und der ihr
gefügigen Ordnungsparteien eingeleitet. Der einseitige Klassencharakter
des Sozialistengesetzes wurde zwar durch eine groß angelegte Sozialpolitik,
über die noch zu sprechen sein wird, gemildert, aber keineswegs beseitigt.
Die Wirkung der Ausnahmegesetzgebung konnte den politischen
Emanzipationsprozeß, in dem die sozialen Tiefen aus dem Dunkel sich ans
Licht rangen und ihren Anteil an der politischen Machtverteilung forderten, auf
die Dauer nicht aufhalten. Es war sogar die Frage, ob das neue Reich, das die
allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine Wahlrecht und die allgemeine
Schulpflicht als demokratische Institutionen in seinen Aufbau aufgenommen
hatte, auf die Dauer so große Gruppen der rasch anwachsenden industriellen
Arbeiterschaft als Volksbestandteile minderen Rechtes behandeln konnte.
Zunächst trug auch das Sozialistengesetz dazu bei, die allgemeine
machtpolitische Auseinandersetzung mit den Liberalen zu erleichtern. So verband
sich ein Motiv mit dem andern, um die Reichsleitung von den politischen
Gewalten abzulösen, die bisher auf Unitarisierung und Parlamentarisierung
hingearbeitet hatten, und statt dessen sich denjenigen Elementen zu nähern,
die bisher aus konservativen oder föderalistischen Gründen in
Zurückhaltung oder Opposition verharrt hatten.
Bismarck hatte schon nach der Auflösung des Reichstages im Sommer
1878 auf eine Umbildung der Parteien aus überwiegend
formal-verfassungsrechtlich orientierten zu vorwiegend
produktiv-wirtschaftlich interessierten Parteien
hingearbeitet - um die einheitliche Stoßkraft des parlamentarischen
Machtwillens zu lähmen. Die überfraktionelle Bildung einer
schutzzöllnerisch gesinnten Wirtschaftsgruppe im Reichstage kam seinen
Absichten entgegen und zeigte an, daß eine Verlagerung der politischen
Kräfte im Entstehen war. Und dieser neuen Mehrheit fiel jetzt die
Entscheidung über die finanz- und wirtschaftspolitischen sowie die
reichsorganisatorischen Probleme zu. Die Reichstagskämpfe um den
Zolltarif von 1879 stellte die erste Erprobung eines neuen politischen Systems
dar.
Der Übergang zum Schutzzollsystem war ein weiterer Schritt, das
Wirtschaftsgebilde des Deutschen Reichs vollends zu einer Einheit zu
verschmelzen; die bisherige Ausnahmestellung der Städte Hamburg und
Bremen war jetzt [182] so gut wie
unmöglich gemacht. Jene Gedanken, die einst Friedrich List in seinem
nationalen System der politischen Ökonomie entwickelt
hatte - der eigenwüchsige ökonomische Nebenstrang der
deutschen Nationalbewegung um die Mitte des
Jahrhunderts - sollten von nun an eine Verwirklichung erleben und der
wirtschaftlichen Schwerkraft des Reiches in dem Wettbewerb der Welt einen
mächtigen Auftrieb geben. Wie einst der Freihandel im Zollverein zumal
seit 1860 eine natürliche Wahlverwandtschaft mit dem Liberalismus und
seinen parlamentarischen Tendenzen besessen hatte, so entsprach die Organisation
der schutzzöllnerischen Wirtschaftskräfte einer Neugruppierung von
konservativen Elementen unter der Führung der staatlichen Autorität.
So begann sich die eingetretene parteipolitische Wendung im deutschen Leben
unter der Einwirkung wirtschaftspolitischer Motive immer mehr zu vertiefen: eine
unaufhaltsam vordringende Erscheinung, der die Parallelen in anderen
Ländern nicht fehlen. Man hat wohl beklagt, daß dadurch auch dem
Eindringen der materiellen Interessen in das politische Leben Tor und Tür
geöffnet worden sei. Aber die analogen
politisch-wirtschaftlichen Kämpfe in anderen Staaten scheinen doch den
Beweis zu liefern, daß diese Entwicklung allgemein und unvermeidlich war.
Allerdings hat Bismarck, indem er diese Kräfte zu sich
herüberriß und sie gleichsam in das Strombett seiner Reichspolitik zu
lenken verstand, ihnen eine mächtige Förderung zuteil werden
lassen. Nur wäre es eine Illusion zu glauben, daß sich etwa bei einer
mehr parlamentarischen Staatsform das Ansteigen der wirtschaftlichen Motive im
staatlichen Leben überhaupt hätte hintanhalten lassen. Nur dahin
waren damals die Dinge noch nicht gediehen, daß das wirtschaftliche
Interesse unmittelbar bestimmend in die politischen Beziehungen der
großen Nationalstaaten eingegriffen hätte. Mochten auf dem inneren
Schauplatz auch Politik und Wirtschaft einander stärker durchsetzen, auf
dem äußeren Schauplatz galt für die großen
Mächte noch der Primat der rein politischen Berechnungen in der
Gestaltung ihrer Beziehungen, und Bismarck würde, wie er den einzelnen
Parteien ein get you home, you fragments! zurief, auch den
Wirtschaftsinteressen einen Einbruch in die absolute Autonomie der großen
Politik unter allen Umständen auf das schärfste verwehrt haben.
Der Staat, der sein Gewicht fortan stärker in das wirtschaftliche Leben der
Nation hineinschob, sollte auch gegenüber dem schwersten der Probleme
das alte liberale Prinzip der Nichtintervention aufgeben und sich zur Pflicht der
Fürsorge gegenüber dem vierten Stande bekennen, um durch
Befriedigung der gerechten Forderungen der Arbeiter den gesunden Kern der
sozialen Ideen zu verwirklichen. Schon während seines früheren
Verkehrs mit Lassalle hatte Bismarck sich mit der sozialen Frage wenigstens zu
dem Grundsatz "Der Staat kann" bekannt. Jetzt machte die Kaiserliche Botschaft
vom 17. November 1881 das einst für Preußen anerkannte Programm
in der Fortbildung "Das Reich kann" sich zu eigen. Mit der staatlichen
Kranken- und Unfall-, mit der Alters- [183] und
Invalidenversicherung sollte das Deutsche Reich das Erbteil des
preußischen Königtums übernehmen. Zumal mit der
Alters- und Invaliditätsversicherung gedachte Bismarck geradezu dem
Arbeiter die Sicherheit der Existenz in einer Form zu geben, daß der
Reichsgedanke dabei gewann. Wenn es dieser Gesetzgebung auch nicht gelang,
den politischen Emanzipationskampf der Arbeiterschaft wesentlich zu
durchkreuzen, so wuchs mit ihr doch die Kompetenz des Reiches in
Lebenssphären hinein, an die man bei der Reichsverfassung von 1871 noch
gar nicht gedacht hatte.
Gleichzeitig mit dem Übergang zum Schutzzollsystem fielen auch die
ersten Entscheidungen in den Fragen der finanziellen Ausrüstung des
Reiches. Indem die Reichsfinanzen wesentlich auf die Zölle und einzelne
indirekte Steuern angewiesen wurden, blieben sie allerdings von dem
parlamentarischen Budgetrecht unabhängiger, als wenn sie unwesentlichen
auf den Erträgnissen direkter Steuern aufgebaut worden wären. Und
da weiterhin auch die Einzelstaaten vermöge der Franckensteinschen
Klausel an den Einkünften der Zölle und indirekten Steuern
mitbeteiligt wurden, ergab sich, daß diese finanzielle Neuordnung nicht
mehr vornehmlich unter dem unitarischen Gesetz stand, das bisher den Fortgang
der Dinge beherrscht hatte, sondern gleichsam unter föderalistischen
Vorzeichen ins Leben trat. Diese in ihrer politischen Tragweite gar nicht zu
unterschätzende Wendung hatte zunächst zur Folge, daß die
finanzielle Lösung nur eine Teillösung blieb, deren
Unvollkommenheit in der weiteren Gestaltung der Reichsfinanzen bis zum
Weltkriege niemals überwunden worden ist; indem die direkten Steuern
grundsätzlich dem Einzelstaate vorbehalten blieben, wurde das Reich von
einer gleichmäßigen und entwicklungsfähigen
Begründung seiner Finanzen abgesperrt. So wurde an dieser Stelle zuerst
erkennbar, daß die Hochflut der unitarischen Entwicklung im Reiche
abzulaufen begann, und daß die
föderalistisch-bundesstaatlichen Elemente des deutschen Lebens in den
achtziger Jahren - stärker als man in dem Jahrzehnt vorher
hätte annehmen dürfen - zur Geltung kamen. Insbesondere
sollte diese Wendung dahin führen, daß das Schwergewicht des
preußischen Staates, als des stärksten Trägers der
konservativen Gewalten, sich innerhalb des Reiches unerschütterlich
behauptete. Damit war diese preußische politische Individualität, der
gesellschaftlich-wirtschaftliche Aufbau und die
militärisch-traditionelle Eigenart, instand gesetzt, ihrerseits einen
manchmal übergreifenden Einfluß auf die Gestaltung des Reiches
auszuüben. Diese ganze Entwicklung entband gewiß viele fruchtbare
und produktive Kräfte, aber konservierte auch wiederum manche
rückständige Interessen und Anschauungen. Die damals noch nicht in
ihrem vollen Umfange erkennbare Kehrseite bestand darin, daß das
große Organisationsproblem Reich und Preußen in seinen
entscheidenden Bestandteilen, zumal in den Beziehungen zwischen den deutschen
und preußischen Zentralbehörden, ungelöst blieb und auf dem
Entwicklungsstande verharrte, den die überragende Gestalt des
Reichskanzlers ihr gegeben hatte.
[184] Die Ursache
dafür, daß diese Entwicklung zum Stillstand kam, lag doch auch in
der politischen Persönlichkeit Bismarcks. Seine schöpferische
staatsmännische Begabung kam nicht so sehr in dem
Systematisch-Organisatorischen der Institutionen zur Geltung, als in dem
persönlichen Impuls, durch den er eine allmählich angewachsene
Einsicht mit einer günstigen Konstellation des Momentes verknüpfte,
alle auf den Erfolg gerichteten Kräfte zusammenraffend. Seine politische
Methode glich eher der Praxis englischer Staatsmänner, sich bei
großen Umwälzungen, mit einem praktischen Schritt zur
Lösung hin, mit einem wesentlichen Teilerfolge zufriedenzugeben, statt das
ganze Endziel schon in sein Handeln aufzunehmen. Er war sich im besonderen
stets bewußt, daß in der äußern Politik die Gelegenheit
einer Stunde niemals wiederkehre, während die Entscheidungen im Innern
so oder so getroffen, ja, manchmal ohne Schaden vertagt werden konnten. Wie er
in den sechziger Jahren in diesem Stile den Aufstieg zur Begründung des
Reiches vollzogen hatte, so setzte er in den siebziger und achtziger Jahren den
Ausbau des Reiches in derselben souveränen Gestaltungsweise fort, ohne
sich darum zu sorgen, daß manches Einzelproblem allzulange vertagt ward,
wie eben die deutsch-preußische Behördenverzahnung im Zentrum
seiner Schöpfung oder auch die Gestaltung der staatsrechtlichen Stellung
des Reichslandes Elsaß-Lothringen im Reiche, die er gleichfalls der
folgenden Generation überließ. Dabei beobachtet man wohl,
daß die außenpolitischen Methoden der Politik, in denen er vor allem
lebte, auf seine innerpolitische Regierungspraxis übergriffen. Und wenn
man als das Geheimnis seiner Macht bezeichnet, daß er alle politischen
Einzelheiten in einer großen Verbundenheit zusammen sehen konnte, so
konnte auch ein Stillstand eintreten, weil das Einzelne zugleich seine
unentbehrliche Funktion im Gefüge des Ganzen hatte und deswegen nicht
geändert werden dürfte; es war schließlich die Gefahr,
daß alle politischen Lebenskräfte nur als Mittel im Dienste eines
obersten Zusammenhanges, der Staatsräson des Reiches nach außen
und innen, so wie sie in ihm lebendig war, gewertet wurden und darüber in
ihrem Bereiche einer gewissen Entseelung verfallen konnten.
Dabei dürfen die Widerstände, die er auf dem Wege seiner
Innenpolitik zu überwinden hatte, nicht zu gering veranschlagt werden. Die
persönlich-sachlichen Kämpfe, in denen er sich verzehrte, wiegen
darum nicht leichter, weil er sie in der Regel siegreich durchzuführen
verstand, und weil sie für unsere heutige Generation in den Schatten
getreten sind. Gerade bei dem schwierigsten aller Innenprobleme, der
deutsch-preußischen Behördenorganisation, sollte man sich
hüten, sich der leichten Kritik der Unterlassungen hinzugeben, nachdem
wir erlebt haben, daß selbst eine revolutionäre Umwälzung, die
vor den tiefsten Fundamenten des Reiches nicht innehielt, doch trotz der Gunst
der Stunde an dieser Stelle die Problemlage nicht zu meistern vermochte, sondern
sie, mit einer formalen Scheinlösung, eher erschwerte.
Über diesen tiefgreifenden Umwälzungen blieb der politische
Machtbereich des Kanzlers im Wachsen. Er überflügelte alle
politischen Rivalitäten, ob sie sich bei Hofe oder im Militär, im
Reichstage oder im Bundesrat erhoben, und sprengte alle gegnerischen
Kombinationen, die sich aus irgendwelchen Motiven zusammenfanden. Seit dem
Beginn der achtziger Jahre begann seine Gestalt auch den alten Kaiser zu
überschatten, und der Kronprinz schien seit der Wendung von 1879
vollends von dem Strom des lebendigen Geschehens entfernt, ja fast ohne
Fühlung mit der Regierung des Reiches. Gleichzeitig aber gelang es
Bismarck, die Gegenwirkungen parlamentarischer Herkunft mit seinen alten
Kunstmitteln: erst spalten, dann beherrschen, matt zu setzen. Im großen Stil
und mit vollem Erfolge hatte er sie angewandt gegen die Liberalen und die
Konservativen, mit denen er in seinen politischen Zielen wahlverwandt war;
weniger vermochte er es gegenüber den Parteien, die, wie Zentrum und
Sozialdemokratie, über einen weltanschaulichen Kern verfügten, der
ihm völlig wesensfremd war. Der greise Ranke, der nach seiner
preußisch-konservativen Denkweise die
liberal-parlamentarische Entwicklung des Reiches lange Zeit nur mit Sorge
verfolgt hatte, glaubte schon im Sommer 1879 aufatmend feststellen zu
dürfen: "Was man nicht hätte erwarten sollen, scheint ihm zu
gelingen. Die ministerielle Autonomie spaltet und beherrscht den Reichstag."
Bestimmter noch wagte er im Februar 1881 die Zeichen der Zeit zu deuten: "Die
Frage scheint zu sein, ob die Formen der Konstitution und Administration sich,
wie sie sind, behaupten, ober ob sie von einem dominierenden Geist, der
große Ziele verfolgt, modifiziert und fortgerissen werden sollen." Das Bild,
das vor seinen Augen aufstieg, mochte an die großen Gestalten
allmächtiger Minister in der ihm vertrauten Welt des 17. und
18. Jahrhunderts, etwa an den Kardinal Richelieu, erinnern. Aber auch
solche Parallelen treffen nicht den Kern dieser einzigartigen Führerstellung,
in der sich der monarchisch-dynastische Dienstauftrag, die parlamentarische
Verantwortlichkeit und die bundesstaatliche Delegation mit einem geschichtlich
erworbenen Anspruch ohnegleichen verschmolzen. Die Notwendigkeit, das Innere
und das Äußere, das Deutsche und das Preußische, das
Parlamentarisch-Moderne und das Historisch-Konservative in einem einzigen
Willen zu vereinen, verband sich mit einer geistigen Anlage, die blitzschnell in
jeder Situation die für den äußeren Machteffekt
entscheidenden Kräfte herausfand, und in dem Zusammenspiel der
einzelnen Faktoren oder auch in einem System von Gegengewichten das
Geheimnis der Herrschaft erkannte.
Die Machtstellung des Reichstages blieb trotz der wachsenden Kompetenz des
Reiches und trotz des Anwachsens der oppositionellen Parteien in gewisse
Grenzen gebannt. Der Kampf gegen das parlamentarische System, den Bismarck
in dem Konflikt der sechziger Jahre auf dem preußischen Schauplatz
siegreich durchgefochten hatte, wurde von ihm, auch wenn es nicht zu neuem
Konflikt oder verfassungswidrigem Regiment kam, in der großen Arena des
Reiches [186] in den achtziger Jahren
aufgenommen und durchgeführt. Er stritt dann im Namen des
monarchischen Prinzips, der Krone oder der verbündeten Regierungen
gegen eine Opposition, die mit parlamentarischen Methoden einen Teil der
politischen Macht zu erobern suchte; er trat dem Reichstage mit dem manchmal
herrenmäßig herausfordernden Selbstgefühl gegenüber,
daß er selbst doch diese Institution geschaffen habe; so wie er in
späteren Jahren sich grollend vorwarf, daß er die Krone zu stark
gemacht habe. Und wenn er 1877 sein politisches Ziel darin erblickt hatte, die
Trockenlegung des Reiches durch Preußen zu verhindern, so konnte er am
Ende seiner Laufbahn sein Kampfprogramm darin erblicken, das Reich zeitweilig
zugunsten der Bundesstaaten trockenzulegen. Alles blieb Durchgang und
Entwicklung, Lösung für den Moment, Aufstieg zu neuen Formen, in
denen der erfindungsreiche Genius des Staatslenkers neue Wege zu seinem
höchsten Ziel, der inneren und äußeren Stärkung der
Ganzheit seiner Schöpfung, zu bahnen sich vermaß.
Daß der Reichskanzler in seinem Ringen mit den Parlamentsparteien bis
nahe vor seinem Sturze der Stärkere blieb, hat seine tieferen
geschichtlichen Gründe. Die hohe Blütezeit des europäischen
Liberalismus war schon überschritten, und auf der ganzen Linie bereitete
sich eine Ablösung der liberalen Ideale durch andere weltanschauliche
Kräfte vor: in diesem allgemeinen europäischen Prozeß nimmt
Bismarcks Staatsleitung eine besondere historische Stellung dadurch ein,
daß er den Umschwung der Zeitalter von der Mitte des Erdteils aus
tiefgehend beschleunigt hat. Auch im Deutschen Reiche begann sich im
Rücken des selbstbewußten Bürgertums der vierte Stand mit
seinen sozialen und politischen Forderungen zu organisieren; bevor dieser
bürgerliche Liberalismus sich im Staate durchgesetzt hatte, wurde er
gleichsam von hinten her durch die Stoßkraft der organisierten Massen
erschüttert und abgelöst, dadurch aber der befestigten
Autorität des Staates zugetrieben. So geschah es, daß manche
bürgerliche Schichten, die früher in breiter Front mit der Hoffnung
des Nationalstaates gegangen waren, sich nunmehr um die Vollendung scharten,
die in dem lebenden Staate erreicht war; sie ließen sich vor allem
genügen, die wirtschaftlichen Möglichkeiten auszuschöpfen,
die ihnen durch Autorität und Macht dieses Reiches eröffnet worden
waren. In dem komplizierten bundesstaatlichen Gefüge des Ganzen, in dem
die Repräsentation in den Händen eines müder werdenden
ehrwürdigen Greises lag, wurde Bismarck vielen Deutschen zum Symbol
ihrer staatlichen Gemeinschaft. Wenn in den Spitzen des Staates vor allem der
Druck empfunden wurde, der von dem einen Manne ausging, so wuchs
dafür in breiten Schichten das Vertrauen zu dem Kanzler, der nicht
über den Rechtstitel, aber über alle Gaben eines Diktators zu
verfügen schien.
Man hat neuerdings, zumal seit dem Ausgange des Weltkrieges, immer
nachdrücklicher die Frage aufgeworfen, ob diese Tatsache, die
vermöge der geschichtlichen Gesamtleistung Bismarcks so tief in unsere
Entwicklung eingegriffen [187] hat, dem politischen
Erziehungsprozeß zum Segen gereicht hat, und man neigt zu der Antwort,
daß ein Durchgang dieser Erziehung durch die Schule der
parlamentarischen Lebensformen des Staates der Nation dienlicher gewesen sein
würde. Es handelt sich um das Problem, das sich einem überzeugten
europäischen Liberalen wie Gladstone in der Formel darstellte: Bismarck
habe Deutschland groß und die Deutschen klein
gemacht - wobei wir den zugrunde liegenden insularen Maßstab
zunächst auf sich beruhen lassen wollen. Auch wenn man die positiven
Seiten des politischen Bildungsprozesses würdigt, durch den die Parteien,
ob Konservative, Liberale oder Katholiken, in den siebziger und achtziger Jahren
hindurchgegangen sind, so wird man doch zugeben müssen, daß ein
höheres Maß von verantwortlicher und selbständiger Mitarbeit
in den spezifisch parlamentarischen Formen diesen Prozeß beschleunigt und
vertieft haben würde. Insofern ist das Parlament als Schule und Auslese
staatsmännischer Begabung im Zeitalter Bismarcks und ebenso in der
anschließenden Epoche nicht genügend zur Geltung gekommen.
Gewiß, Bismarck hat das preußisch-deutsche Problem, soweit es in
dem innersten Kern seiner Schöpfung zurückblieb, nicht zu einer
endgültigen Lösung gebracht, sondern es seinen Nachfolgern in
einem Zustande der Unfertigkeit überlassen; aber man kann im Zweifel
sein, ob gerade dieses Problem durch die rein parlamentarischen
Methoden - wie sie sich in der deutschen Begabung
entfalten - zu einer leichteren und vollkommeneren Lösung gediehen
wäre.
Man hat zur Kennzeichnung der politischen Leistung Bismarcks von den Ideen
von 1871 gesprochen; es sei dahingestellt, ob in dem Bedürfnis, den Ideen
von 1789 oder auch von 1848 ein gedanklich ausgeprägtes Gegengewicht
zu konstruieren, oder ob mehr durch die allgemeine deutsche Neigung
verführt, sich auch die Summe
praktisch-politischen Handelns nur in einem geschichtsphilosophischen
Denkzusammenhange vorstellen zu können. Man wollte damit zwar nicht
den ganzen Inhalt deutschen politischen Lebens der siebziger Jahre, aber doch
alles Wertvolle, was in der Staatsleitung und Persönlichkeit Bismarcks
schöpferisch hervortritt, in einem verlockend einfachen, aber auch
inhaltlich höchst unbestimmten Sammelbegriff einfangen. Denn die
Staatskunst Bismarcks erstrebte den Ausbau des Deutschen Reiches nicht nach
einem ideell eindeutig bestimmbaren System von politischen Grundsätzen,
sondern unter der elastisch wechselnden Verwendung von Methoden, die
geistesgeschichtlich sehr verschiedenen Ideenschichten angehören: die bald
in der modernen zentralistischen Staatspraxis wurzeln und mit der großen
Flut der liberal-parlamentarischen Überzeugungen des Jahrhunderts
einhergehen, bald aber auf die historischen Argumente und die
bodenständigen Traditionen zurückgreifen, wie sie sich in den
einzelstaatlichen und föderalistischen Elementen des deutschen
Staatslebens verkörpern. Der Wechsel zwischen beiden Wegen, eine
höchstpersönliche Auswahl derjenigen Mittel, die nach Zeit und
Umständen dem obersten Zweck am sichersten dienen, eine Beweglichkeit
auch in [188] der inneren Haltung,
die - ähnlich wie in der
Außenpolitik - nicht durch Sympathien und Antipathien oder
überhaupt durch vorgefaßte Überzeugungen, sondern durch
realistische Abwägung im Hinblick auf den Endzweck geleitet wird: das ist
Bismarck. Eine Staatskunst dieses Gepräges widerspricht einer ideellen
Definition, auch wenn sie dadurch verklärt werden soll.
Danach könnte man zu dem Ergebnis kommen, der entgegengesetzte in
verschiedenen Lagern erhobene Einwand sei berechtigt, daß die
staatsmännischen Methoden Bismarcks, um eines höchsten, alle
Mittel heiligenden Zweckes willen, allzu sprunghaft und skrupellos gewechselt
hätten, daß sie allzusehr, um nicht von Ideenlosigkeit zu reden, von
einer Geringschätzung der Idee getragen seien, was sich denn
schließlich für ihn oder für sein Werk bestraft habe. Die
höchste Pflicht des Staatsmannes, so wie sie von Bismarck aufgefaßt
wurde, gebietet: in dem ewig wandelbaren und flüssigen Element der
Politik mit immer wieder den Umständen, d. h. der
Wahrscheinlichkeit des Erfolges sich anpassenden Mitteln, dem höchsten
Gegenstande aller seiner Fürsorge, dem äußeren und inneren
Leben des Staates zu dienen. Das ist seine Idee. Dieser Idee wird er alle anderen
zur geschichtlichen Ausprägung gelangten Ideen
unterordnen - in dieser großen Rangordnung aller Werte lebt er,
findet er sein Genüge und auch seine Grenzen. Es kann wohl sein,
daß er um seiner Idee willen unbarmherzig in Lebensgebiete eingreift, die
ihre Idee und ihren Rang in sich selber tragen und sich letztlich als unbesiegbar
erweisen - das hat auch Bismarck erfahren müssen. Von der sehr
hohen Stellung aus, von der er die Dinge dieser Welt überschaute, sah er
nicht so sehr ein System absoluter Werte, die er zu bejahen oder zu verneinen
hatte, sondern er empfand die Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes,
dessen Führung in seine Hände gelegt war, als ein so hohes und
zentrales Gut, daß er alle anderen Werte in eine Beziehung dazu zu setzen
versuchte, aus der allzu leicht eine Unterordnung wurde. Der Primat der
äußeren vor der inneren Politik ist gewiß keine ethisch oder
logisch zu beweisende Norm, aber sie ist ein Lebensgesetz, das zwar für die
verschiedenen Staaten, in verschiedener Lage, in verschiedenem Ausmaß
gilt, aber die säkularen Erfahrungen unseres geschichtlichen Lebensganges
hatten für den Schöpfer des Reiches den Rang dieses Lebensgesetzes
so erhöht, daß sein ganzes Handeln von dieser Seite her die letzten
verpflichtenden Gebote erhielt. Weder der Versuch einer ideellen Dogmatisierung
noch der Vorwurf der realpolitischen Ideenlosigkeit wird demjenigen gerecht, was
in der Leistung Bismarcks das Eigentliche war. Sie trägt ein Ethos in sich,
das weder auf "Ideen" abgezogen und dadurch scheinbar erhöht werden,
noch von seiner Höhe durch den Nachweis rein realpolitischer taktischer
Methoden herabgedrückt werden kann.
So erwuchs auf dem Boden des Deutschen Reiches ein neuer überlegener
Typus der Staatsleitung, etwas Einmaliges und Vorbildloses, an seine Zeit und
ihre Umstände gebunden: gebunden an die Monarchie, in deren Namen er
[189] sprach, gebunden an
die parlamentarischen Einrichtungen, die er selber geschaffen hatte, die Summe
seiner Ämter immer mehr mit seiner Persönlichkeit erfüllend,
die schließlich alles, Dynastie und Bundesstaat, Reichstag und Massen in
Beziehung auf seine Politik setzte. Gewiß steht die einzigartige
Machtstellung auch in seinem Jahrhundert nicht ganz vereinzelt da. Man sieht
neuerdings auch in altparlamentarischen Ländern ein persönliches
Führertum sich über den formalen Repräsentationsgedanken
erheben, und den Zeitgenossen Mussolinis wird manches an den
Regierungsmethoden Bismarcks als vorweggenommen erscheinen. Es war eine
Macht, deren er sich selbst niemals in ruhigem Besitze erfreuen durfte, die er
täglich von neuem erobern mußte. Das mächtige Ansteigen
seines europäischen Prestiges wirkte auch auf seine
preußisch-deutsche Führerstellung zurück; die unbedingte
Autorität, die er mit Hilfe des monarchischen Rückhalts im Innern
besaß, gab nach außen jedem seiner Schritte ein wachsendes Gewicht.
Seine äußere Autorität konnte auch in sein innerpolitisches
Wollen bestimmend eingreifen, und es geschah wohl, daß er seine
Spielmethoden von dem europäischen Schachbrett auf den innerpolitischen
Kampf übertrug.
So sollte er in diesen Jahren von 1876 bis 1879, in denen er, auf einer zweiten
Höhe schöpferischer Produktion stehend, in eine neue Phase seiner
inneren Reichsleitung hinübertrat, - wo er Lösung von den
Liberalen und Abbruch des Kulturkampfes, Kampf mit der Sozialdemokratie und
Übergang zum Schutzzoll durchführte - gleichzeitig auch die
außenpolitische Machtstellung des Reiches, deren Probleme während
der ersten Phase noch nirgends gelöst worden waren, endgültig
befestigen, nach dem Bilde, welches er in seiner Seele trug. Das Innere und das
Äußere, mit allen sachlichen Reibungen und allen persönlichen
Gegensätzen, die auf so vielen Schauplätzen erwuchsen, wurde von
einem einzigen Menschen, der seine gesamten Aufgaben unter einem einzigen
Gesichtspunkte begriff, wie von einem Atlas, auf seine Schultern genommen.
Zu der Außenpolitik des Reiches seit 1876 kehren wir nunmehr
zurück.
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