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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
  (Forts.)

2. Die politischen Gewalten im neuen Reich.   (Forts.)

Die ersten Aufgaben der inneren Reichspolitik nach 1870 bestanden darin, diejenigen Lebenssphären des deutschen Volkes, die in den älteren Nationalstaaten längst einheitlich geordnet waren, durch gemeinsame Reichsinstitutionen zusammenzufassen, und mit der Idee der Einheit, die einen fast magischen Charakter für die letzte deutsche Generation gewonnen hatte, den Sondergeist mit [172] allen seinen in Jahrhunderten erwachsenen Merkmalen der Zersplitterung zu überwinden. Wenn das Reich zu einem Nationalstaat werden wollte, mußte es seine Kompetenz wieder in die Hoheitsrechte der Bundesstaaten, die nur auf Kosten des alten Reiches erwachsen waren, Schritt für Schritt hineinschieben: das aber bedeutete nicht nur ein Einschmelzen von mittelstaatlichen und kleinstaatlichen, sondern auch von preußischen Hoheitsrechten.

Bismarck war gegen Ende der sechziger und in der ersten Hälfte der siebziger Jahre entschlossen, auf diesem Wege weit voranzuschreiten. Er setzte im Jahre 1869 der Warnung eines partikularistisch gesinnten Staatsrechtslehrers: die Gefahr für die Einzelstaaten, allmählich ihrer Befugnisse entkleidet zu werden, bestehe auch für Preußen, kühn und gelassen ein "accipio" entgegen; und wenn jener die Frage aufwarf, ob Preußen im Norddeutschen Bunde völlig aufgehen oder innerhalb seines staatlichen Gebietes eine selbständige Existenz behaupten solle, so trug er kein Bedenken, die erstere Alternative ausdrücklich zu bejahen. Dabei war er sich bewußt, auf starke preußische Widerstände zu stoßen. Hatte er doch damals Mühe genug, dem preußischen Kriegsminister von Roon, der die Marine nicht als norddeutsche Bundeseinrichtung, sondern als preußische Einrichtung wollte, klarzumachen, daß Mecklenburg, Oldenburg und die Hansestädte auf ihre Seehoheit nicht zugunsten des Königs von Preußen, sondern des Bundesoberhauptes verzichtet hätten.16 Ja, er sprach seinem altpreußischen Genossen sogar die Hoffnung aus, daß er die Zeit erleben werde, "wo unsre Söhne es sich zur Ehre rechnen werden, den Söhnen des Königs in einer Königlich deutschen Flotte und dem Königlich deutschen Heere zu dienen".17 Aber schon während des deutsch-französischen Krieges machte er die Erfahrung, daß die zweite seiner Hoffnungen dem Lauf der Dinge weit vorauseilte. Als der Großherzog Friedrich von Baden in Versailles die badische Militärhoheit freiwillig aufgab, um sie in edler Wallung der Idee des neuen Reiches zum Opfer zu bringen, gelang es ihm nicht, sie in einem deutschen Reichsheer aufgehen zu lassen; niemals dachte der preußisch-militärische Geist weniger daran, sich zugunsten eines deutschen Zukunftsheeres zu verflüchtigen, und der Großherzog mußte statt der Reichskokarde, an die er für seine Truppen neben der badischen gedacht hatte, die preußische Kokarde annehmen. Bismarck aber stand, mit einer gewissen Erbitterung, in den Verhandlungen über die preußisch-badische Militärkonvention auf der Seite des Großherzogs, da er instinktiv fühlte, daß es sich in diesen verhältnismäßig geringen Fragen um einen symbolhaften Vorgang [173] handele. Ob er damals schon in vollem Umfang überschaute, daß die verfassungsmäßigen süddeutschen Reservatrechte grundsätzlich auch dem preußischen Reservat, das unausgesprochen, aber mächtig und urwüchsig, hinter den Dingen stand, zugute kommen mußten?

Damals fühlte der Gründer des Reiches sich von der aufsteigenden Welle der Einheit getragen, und er konnte darauf rechnen, daß ihm der unitarische Tatendrang des Reichstages zur Seite stehen werde, der in dem Werke der Vereinheitlichung seine nationale Ehrenpflicht, seinen politischen Rechtstitel und seine nächste praktische Aufgabe erblickte. Die Idee der Einheit und die Idee des Parlaments hatten in der Geschichte der Nationalbewegung von jeher zusammengehört. Bismarck hatte das demokratische Prinzip, das in dem Frankfurter Versuche der Reichsgründung von 1848/49 das Ganze des Staates zu tragen bestimmt war, wenigstens als ein mittragendes politisches Element in seinen Aufriß des Reichsgebäudes übernommen. Er hatte die deutsche Volksvertretung auf Grund des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts als Ziel verkündet, als er im Frühjahr 1866 in den großen Kampf um die Macht hineinging, um mit diesem Verbündeten die partikularistischen Gegenkräfte aus dem Felde zu schlagen; er verließ sich bei diesem gewagten Schritte auf die Massen der monarchisch gesinnten ländlichen Bevölkerung in Preußen und traute ihnen sogar zu, die bürgerliche Mittelschicht der Liberalen zu überflügeln. Die Wirkungen des demokratischen Wahlrechts schienen auch seine Kreise nicht zu stören, so lange der große Antrieb seiner erfolgreichen Politik von 1866 und 1870/71 die Stimmung des Volkes beherrschte. Mit diesem auf breiter Basis ruhenden Organ des Reichstages glaubte er dem nationalen Lebenswillen ein kräftiges Instrument, dem zunächst noch lockeren Gefüge des Reiches eine unzerbrechliche Klammer im Sinne seiner Ordnung geschaffen zu haben.

Die großen Ereignisse der Reichsgründung hatten zu einer inneren und äußeren Umgestaltung des deutschen Parteilebens geführt. In den ersten Reichstagen überwog stark die Stimmung der liberalen Nationalpartei, die einst den nationalen Staat auf ihrem Wege erstrebt hatte, sich jetzt aber, mehr oder weniger bereitwillig, in die von Bismarck geschaffene und seinen Stempel tragende Wirklichkeit hineinfand. Dieser staatlicher und realistischer gewordene Liberalismus gab dem Reichstag die Signatur und dem öffentlichen Leben die beherrschende Farbe; seine Anziehungskraft dehnte sich auch auf politische Elemente aus, die aus dem alten konservativen Lager Preußens und der Mittelstaaten kamen, oder auf dem Boden der Demokratie erwachsen waren, jetzt aber dem Zuge der Zeit und dem Zwang zum Handeln sich nicht entziehen mochten. Mit Genugtuung glaubte Bismarck das Hineinwachsen immer breiterer befriedigter Schichten in die neue Ordnung feststellen zu können: er verzeichnete damals voll optimistischer Hoffnung auf längere Fristen, "wie stark und massenhaft die Bekehrung gewesen ist und noch ist von roten zu gemäßigten Liberalen, von gemäßigt [174] liberalen zu konservativen Gesinnungen, von doktrinärer Opposition zu dem Gefühl des Interesses am Staate und der Verantwortlichkeit für denselben".18 Vom Standpunkt der alten Ideale gesehen, hatten die Liberalen allerdings Wasser in den brausenden Wein der Jugend gießen müssen. So hatte Rudolf von Bennigsen im Jahr 1866 nach der deutschen Revolution, die Bismarck vollzogen hatte, die liberalen Aufgaben der Zukunft beurteilt: "Mehr kann die Nation zur Zeit nicht verlangen, die doch an der heilsamen Krisis dieses Jahres ziemlich unschuldig ist und vorerst gar keinen begründeten Anspruch erheben kann, von der preußischen Krone und dem deutschen Richelieu den Parlamentarismus und den ganzen Komplex von Freiheiten in Gnaden verliehen zu erhalten".19 Man mußte sich bescheiden, fortan mit diesem deutschen Richelieu zusammen, der in dem liberalen Lager fast eine stärkere Resonanz fand als in den altkonservativen Kreisen seiner Herkunft, die innere Gestalt des neuen Reichs zu formen, in ständigem Ringen, aber auch in ständigem Zusammenwirken. Die alten Gegensätze zwischen Krone und Parlament schienen vertagt und zurückgetreten, aber auf dem Grunde war doch der Glaube der Liberalen ungebrochen, ein gutes Teil der eigenen Ideale, in einer machtvollen Stellung des Reichstages verkörpert, der neuen Schöpfung einverleiben zu können. Es war die zweite oder dritte Generation dieses Liberalismus, nicht mehr so ursprünglich und einheitlich wie ihre Väter, in ihren weltanschaulichen Begründungen längst mehr in die Breite als in die Tiefe gehend, in ihrer Stellung zum geschichtlichen Staate nicht mehr auf das Prinzip, sondern auf den realpolitischen Kompromiß gestellt, aber doch mit dem großen Strome einer Entwicklung marschierend, die auch auf dem weiteren europäischen Schauplatze noch immer eine der stärksten Lebensmächte verkörperte. In diesem nationalen Liberalismus überwog das bürgerliche Element mit seinen klassenmäßigen Ideologien und Interessen; wirtschaftlich griff es begierig nach den neuen Möglichkeiten, die der sich dehnende Körper des großen Nationalstaates ihm gewährte; noch schien seine Stellung stark genug, die entfesselten Kräfte des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in sein Strombett zu lenken. Einheitlicher und freiheitlicher Ausbau des Reiches, das war die Parole, die allen diesen nationalen und liberalen Strömungen den Glauben, den Schwung und die Berechtigung gab.

Das demokratische Wahlrecht des Reichstages hatte aber nicht nur den Anhängern des Neuen einen mächtigen Auftrieb gegeben, sondern es sollte fast unerwarteterweise auch den Gegnern der Lösung von 1866/71 die politische Organisation ermöglichen. In dem Reichstage, dem heißersehnten Organ des nationalen Einheitswillens, fanden sich auch diejenigen zusammen, die an den vergangenen Idealen deutscher Lebensgestaltung festhielten. Es bildete sich eine geschlossene Partei, die einen großen Teil der katholischen Bevölkerung mit Hilfe [175] der Geistlichkeit zusammenfaßte und als eine an das Corpus catholicorum des alten Reiches erinnernde politische Kampfgemeinschaft in den neuen Reichstag einzog. Wer die enge Verflechtung der kleindeutschen und großdeutschen Parteien mit den konfessionellen Gegensätzen verfolgt, wird kaum erstaunt sein, daß auch nach der großen Entscheidung von 1866 der Kampf auf einer anderen Ebene noch weiterging - diese konfessionellen Gegensätze waren nun einmal mit der Geschichte von Jahrhunderten, mit unseren höchsten Kraftanstrengungen und unserem geheimsten Wesen, mehr als es in irgendeinem anderen Volke der Fall war, verknüpft. Aber lief diese konfessionelle Parteibildung nicht dem Geiste des Einheitsgedankens zuwider, auf dessen ansteigender Flut das Reich seine Fahrt antreten sollte? Statt der erhofften Überbrückung der historischen Spaltung, die das deutsche Volk so abgrundtief zerrissen hatte, schien der Gegensatz, in seiner Unversöhnlichkeit wieder erwacht, ja die Scheidung der Geister zum politischen Prinzip erhoben zu sein. Diese Parteibildung betonte gegenüber dem unitarischen Zuge der Reichspolitik den föderalistischen Staatsgedanken und sammelte alle Elemente, die, statt in der formalen Einheit der Nation aufzugehen, vielmehr das Wesenhafte deutschen Lebens in der historisch erwachsenen Vielheit und Buntheit erblickten - ob sie nun echte, bodenständige Werte vertrat oder nur den Schein absterbenden Lebens widerspiegelte. Da das Zentrum recht eigentlich aus dem Lager der Besiegten von 1866 hervorging und sich einer Führung unterstellte, die sich auf der ganzen Linie der Politik Bismarcks entgegenwarf, übte es eine starke Anziehungskraft auf alle Geister des Widerspruchs aus, bis zu den Polen und Elsaß-Lothringern hin. Von einem obersten konfessionellen Prinzip zusammengehalten, konnte die Partei es wagen, obwohl historisch, legitimistisch, konservativ in der Grundtendenz, sich zugleich des ganzen Apparates parlamentarischer Ansprüche und demokratischer Forderungen zu bedienen; von den Massen und ihren gläubigen Instinkten reichte sie bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft, ja bis in die Nähe des Thrones hinauf - eine fast unangreifbare, aber der Idee der Reichseinheit entgegengesetzte Gewalt. Wenn Bismarck den Arnim-Konflikt erbarmungslos verfolgte, wollte er zugleich die höfischen Verbindungen der Partei bis in ihre letzten Ausläufer treffen. Man begreift, daß für die Nationalpartei und ihr Selbstgefühl in diesem Lager der Gegner saß. Der Natur Bismarcks entsprach es vollends, den Angriff nicht abzuwarten, sondern ihm zuvorzukommen.

Insofern ist der Kulturkampf der siebziger Jahre, auf seinen politischen Kern beurteilt, eine Fortsetzung der innerdeutschen Kämpfe um die Gestalt und Einheit des Reiches. Wie man auch über den Ursprung und Verlauf des Kulturkampfes deuten mag, es steht außer Frage, daß Bismarck keineswegs die katholische Kirche als solche bekämpfen wollte, sondern nur das Ziel verfolgte, die politisch-konfessionelle Bildung des Zentrums, die auf dem außenpolitischen wie dem innenpolitischen Schauplatz seiner Staatsleitung feindlich war, zu sprengen. [176] Die kirchenpolitischen Kampfpositionen und manche unerfreuliche Begleiterscheinungen des Kulturkampfes, die das religiöse Empfinden des katholischen Volksteils schwer verletzten, mögen preisgegeben werden, wie sie denn in den achtziger Jahren zu einem guten Teile wieder abgebaut worden sind. Der politische Kampf endete doch damit, daß die im Zentrum zusammengefaßten Bevölkerungsmassen schließlich in das Reich und die Mitarbeit am Staate, der das letzte Ergebnis des Kampfes blieb, hineinwuchsen - das Zentrum zu sprengen, war dem Reichskanzler nicht beschieden, wohl aber sollte er erleben, daß es, bis auf einen Rest seiner historischen und konfessionellen Vorbehalte, mit der Zeit auf den Boden des Reichs hinübertrat.

Eine zweite unabsehbare Wirkung des demokratischen Wahlrechtes wurde nicht mit einem Schlage, sondern erst allmählich sichtbar. Der politische Kampf um den deutschen Staat in den letzten Generationen war begleitet von einem tiefgreifenden sozialen Umbildungsprozeß. Hinter den bürgerlichen Schichten, deren Wachstum den nationalen und liberalen Ideen einen starken Rückhalt gegeben hatte, regten sich immer heftiger die Kräfte der Tiefe, begann sich unter dem Einfluß radikaler Denker und glänzender Demagogen die politische Organisation des vierten Standes vorzubereiten. Schon während des Konflikts, in den Jahren 1863/64, hatte Bismarck sich bezeichnenderweise über ein Programm des demokratischen Wahlrechts und staatssozialistischer Experimente mit Lassalle zu einigen versucht, da er damals diese sich zum ersten Male regenden Zukunftsgewalten gegen die Liberalen auszuspielen Verlangen trug. Jetzt aber sollte sich erweisen, daß die Wirkungen des demokratischen Wahlrechts auf dem Schauplatz des neuen Reiches einen Umfang annehmen konnten, der alle taktischen Berechnungen weit hinter sich ließ. Jene starken demokratischen Antriebe, die im Jahre 1848 vorübergehend große Teile des Bürgertums und des Bauerntums erfaßt hatten, sollten in dem vierten Stande, der mit dem Eintritt der industriell-kapitalistischen Entwicklung zu unaufhaltsamem Wachstum berufen war, ihr eigentliches Arbeitsfeld finden; indem sie sich mit den sozialen Forderungen und den sozialistischen Utopien dieser Klasse verbanden, erzeugten sie das Ferment einer politischen Parteibildung, das sich nur schwer wieder lockern ließ. Ähnlich wie das Zentrum stand auch die Sozialdemokratie in internationalen Beziehungen, lebte auch sie in Ideologien, die über den Nationalstaat weit hinausreichten. Der Herrschaft der in dem neuen Reiche politisch und sozial befriedigten Klassen setzte sie den Glauben an einen Zukunftsstaat entgegen, der alle Ungerechtigkeiten beseitigen und alle Träume erfüllen sollte - welche weltgeschichtlichen Möglichkeiten sich hier in der Tiefe regten, hatte die Episode der Pariser Kommune von 1871 zum ersten Male der Welt bedrohlich offenbart. Auch Bismarck erkannte in diesem Augenblicke eine Zukunftsgefahr, die seiner Schöpfung gefährlich werden konnte. War der konfessionelle Gegensatz das Erbteil von Jahrhunderten, dem man sich auch bei dem Ausbau des neuen Reiches [177] nicht entziehen konnte, den man vielmehr auch auf dieser Ebene noch einmal auskämpfen und in sich überwinden mußte, so handelte es sich bei dem Auftauchen der sozialen Frage und ihrer sozialistischen Lösungsversuche um eine Zukunftsgewalt, mit der sich der neue nationale Staat auf dem Kampfplatz der Idee und der Realität auseinanderzusetzen hatte. So stieg hier mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts in dem Reiche eine Macht empor, mit deren radikalem Oppositionswillen Bismarck eines Tages den Kampf aufnehmen mußte. Wie allen Großen in der Geschichte war auch ihm das Schwerste beschieden: mit den Kräften, die er selbst hatte entfesseln helfen, auf einem Schauplatz, den er ihnen selbst bereitet hatte, um den Bestand seiner Schöpfung zu ringen.20

Aus dem Ausbau der einheitlichen Reichsinstitutionen in den siebziger Jahren greifen wir im folgenden einige beherrschende Züge auf, um von der Richtung der politischen Arbeit eine Vorstellung zu geben. Die Vereinheitlichung war kaum umstritten und verhältnismäßig leicht durchführbar in allen Dingen des Handels und Verkehrs, die von jeher dem Einheitsbedürfnis einen kräftigen materiellen Auftrieb vermittelt hatten. Zu der Einheitlichkeit von Münze, Maß und Gewicht, zu der zentralen Institution der Reichsbank, gesellte sich nun die Einheitlichkeit von Post und Telegraphen, nur durch einige süddeutsche Reservate begrenzt; der Unternehmungsdrang der Reichspost ging freudig an die Aufgabe, das neue Reich mittels der Gebäude und Einrichtungen einer Reichsbehörde bis in das entlegenste Dorf symbolisch zur Anschauung zu bringen. Schwieriger war schon das Unternehmen, ein so überragendes Verkehrsmittel wie die Eisenbahnen grundsätzlich dem Reiche zu überweisen, und damit den mit der Begründung des Zollvereins eingeleiteten Prozeß der wirtschaftlichen Vereinigung in einer überwältigenden Weise zu vollenden. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre hatte der Reichskanzler dieses weit ausschauende Ziel mit vollem Vorbedacht auf sein Programm gesetzt: "Es ist die feste Absicht des Fürsten Bismarck, das ganze Eisenbahnwesen im Deutschen Reiche unter eine effektive Reichskontrolle zu bringen", schrieb der sächsische Bundesratsbevollmächtigte am 5. März 1873.21 Aber es war die Frage, ob der einzelstaatliche Eisenbahnbau nicht schon zu weit vorgeschritten und das Eisenbahnwesen überhaupt mit den wirtschaftlichen Sonderinteressen, den Finanz- und Verwaltungsbedürfnissen der größeren Einzelstaaten allzu eng verflochten war, um an ein so gewichtiges Hoheitsrecht von Reichs wegen tasten zu dürfen.

Längst von der Nation ersehnt war die Vereinheitlichung der ganzen bürgerlichen Rechtssphäre. Seitdem die einheitliche Lebensform des nationalen Rechts den Deutschen im Mittelalter verlorengegangen war, brachte ihnen das alltägliche Dasein zum Bewußtsein, wieviel noch an der ideellen Einheit der Nation fehle. So wurde zunächst die Einheitlichkeit der Gerichtsverfassung, des Gerichts- [178] verfahrens, des Strafrechts ohne ernstere Widerstände durchgeführt; nur hier und da spielten politische Erwägungen in die Neuordnung hinein; die Wahl Leipzigs zum Sitz des Reichsgerichts war ein merkwürdiges Kompromiß zwischen unitarischen und dezentralistischen Bemühungen.

Einen weit längeren Atem erforderte die Begründung eines einheitlichen bürgerlichen Rechtes, in dem die Deutschen sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter auseinandergelebt hatten; römisch-rechtliche Gebiete wechselten mit Gebieten einzelstaatlicher Kodifikation ab, und selbst ein Überrest der Fremdherrschaft hatte im französischen Recht auf dem linken Rheinufer sich erhalten. Nachdem schon im Norddeutschen Reichstage auf Antrag Miquel-Lasker die Überweisung der gemeinsamen Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht an den Bund beschlossen worden war, hatte der Reichstag diese Beschlüsse erneuert, aber erst im April 1873 waren alle Widerstände im Bundesrate überwunden. Jedoch selbst hier suchte die föderalistische Opposition des Zentrums sich in den Weg zu stellen. Sein Führer Windthorst stimmte ein bewegliches Klagelied an, daß die deutschen Fürsten den größten Schmuck ihrer Krone, die Justizhoheit, zu den Füßen Laskers niederlegten, und verstieg sich sogar zu der hämisch berechneten Prophezeiung, daß vom 2. April 1873 an die noch anscheinend souveränen Monarchen in der Lage der Standesherren sein würden, das Haus Wittelsbach die Stellung des Hauses Hohenlohe einnehmen würde.22 Es war nur eine Stimme aus vergangenen Tagen deutscher Geschichte. Als nach den gründlichsten Vorbereitungen, in denen die tiefsten Probleme unserer geschichtlichen Rechtsentwicklung zur Sprache kamen, das Bürgerliche Gesetzbuch vom Reichstage verabschiedet wurde, sollte auch das Zentrum seinen Stolz darein setzen, bei dem parlamentarischen Abschluß des nationalen Gesetzgebungswerkes führend mitzuwirken.

Bei jeder der großen Institutionen des Reiches mußte sich die Auseinandersetzung zwischen dem Ganzen und den Teilen, innerhalb des Ganzen zwischen Reichsregierung und Reichstag wiederholen. Sehr bemerkenswert trat das bei der gesetzlichen Festlegung der Heeresverfassung zutage. Die Reichsverfassung war nicht so weit gegangen, ein einheitliches deutsches Reichsheer zu schaffen, sondern hatte starke Unterschiede bestehen lassen. Neben dem preußischen Heere blieben die einzelnen Kontingente der Bundesstaaten bestehen, die allerdings größtenteils durch Militärkonventionen dem preußischen Heere vollkommen eingegliedert waren, während die Kontingente von Württemberg und Sachsen eine größere Selbständigkeit als besondere Einheiten mit eigener Militärverwaltung behaupteten; die bayrische Armee dagegen stellte - es war das Bedeutendste der Versailler Reservate - einen in sich geschlossenen Bestandteil des Bundesheeres mit selbständiger Militärverwaltung unter Militärhoheit des Königs von Bayern dar, wenn auch mit gemeinsamen Einrichtungen in Friedenspräsenz- [179] stärke und Organisation. Diese unregelmäßige Ordnung, in deren Abstufungen der historische Vorgang der Reichsgründung fortlebt, ist unverändert bis zum Weltkriege erhalten geblieben. Das Reichsmilitärgesetz von 1874 hatte nur die Aufgabe, diese vertragsmäßig begründete Ordnung in den Gesamtrahmen der Reichsinstitutionen einzufügen. Der Entwurf der militärischen Seite schlug eine zeitlich unbeschränkte gesetzliche Festlegung einer Friedenspräsenzstärke von 401 659 Mann vor, wie sie im Interesse der Stetigkeit der Organisation lag. Für den Reichstag aber war die gesetzliche Festlegung der Präsenzstärke auf unbestimmte Zeit eine Beeinträchtigung seines Budgetrechts und seiner politischen Kompetenz überhaupt. Wenn es dem preußischen Militärstaat, der an der Begründung des Reiches einen so großen Anteil hatte, widerstrebte, sein ganzes Gefüge in eine jährlich sich wiederholende Abhängigkeit von einer parlamentarischen Körperschaft zu setzen, wollte der Reichstag nicht das weitaus größte Gebiet des ganzen Finanzhaushalts seiner Mitwirkung und Beschlußfassung dauernd entzogen wissen. Es war natürlich, daß dieser Gegensatz, den prinzipiell zu erneuern die Erinnerung an den preußischen Militärkonflikt nicht ermutigen konnte, auf einer mittleren Linie verglichen wurde. Der Kompromißweg der Bewilligung auf sieben Jahre (Septennat) war an sich äußerlicher Natur, aber so zweckmäßig, daß er in den Jahren 1881 und 1888 wiederholt wurde. Wenn auch das Reichsheer äußerlich kein ganz einheitliches Gebilde war, so konnte doch weder das bayerische Reservat noch das Septennat seiner Geschlossenheit und Schlagfertigkeit das geringste anhaben, und der geschichtliche Verlauf hat den unwiderleglichen Nachweis erbracht, daß Bismarck recht daran tat, in der Form nachgiebig zu sein, wenn nur in der Sache das Ziel erreicht ward.

Wenn hier die machtpolitischen Hintergründe durch einen glücklichen Kompromiß überbrückt wurden, so mußten sie erkennbarer hervortreten, sobald es sich darum handelte, das Reich, das ursprünglich nur als Kostgänger der Einzelstaaten seine anfangs geringen finanziellen Erfordernisse deckte, mit dem Wachsen seiner Kompetenzen und seines Bedarfs finanziell auf eigene Füße zu stellen. Sobald dem Reiche eigene Finanzquellen erschlossen werden sollten, stand man vor der Frage, in welchem Umfange dafür direkte und indirekte Steuern und Zölle herangezogen werden sollten. Die Entscheidung darüber war nicht nur eine technische Frage finanzpolitischer oder wirtschaftspolitischer Natur, sondern sie betraf mit der Abgrenzung von Reichsfinanzen und Einzelstaatsfinanzen auch das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, den Charakter des bundesstaatlichen Aufbaus, an der entscheidenden Stelle; sie rührte schon empfindlicher an das Problem Reich und Preußen, das von Anfang an nicht so scharf gestellt war, wie wir es heute sehen, aber bei dem Umsichgreifen der Reichskompetenz sich doch bereits sichtbarer herausstellte; sie betraf, sobald die Einnahmen aus Zöllen für das Reich herangezogen wurden, auch die prinzipielle Entscheidung über die einzuschlagenden Wege der Wirtschaftspolitik. [180] Vor allem rückte mit allen diesen Fragen das Verhältnis zwischen Reichsregierung und Reichstag, die Mächteverteilung unter den Gewalten und Organen des Reiches in den Mittelpunkt. Man war an dem Punkte angelangt, wo die unitarischen Tendenzen eine geheime Wahlverwandtschaft mit dem parlamentarischen System verrieten. Es mußte eines Tages zu einer umfassenden Machtprobe kommen, die sowohl über das Problem Unitarismus - Föderalismus als auch über das Problem Krone - Parlament entschied.

Bismarck hatte das Unbefriedigende in dem Verhältnis zwischen Reich und Preußen längst erkannt; um der "Gefahr der Trockenlegung von Reich und Bundesrat durch den Partikularstaat Preußen" vorzubeugen, suchte er das Heilmittel "in Ausdehnung des Systems der Personalunion, wie sie bisher im Monarchen, im Kanzler, im Kriegsminister und im Auswärtigen besteht".23 Er hatte schon 1869 in den Funktionen, die der preußische Kriegsminister, der preußische Finanzminister und der Handelsminister für den Bund übernehmen mußten, den tatsächlichen Übergang zu einem wirklichen Bundesministerium "mit einer nach englischem Muster schärfer akzentuierten Verantwortlichkeit des Kanzlers als Ministerpräsidenten gesehen".24 Nachdem der systematische Ausbau sich lange verzögert hatte, entschloß er sich, dem Führer der Nationalliberalen ein preußisches Ministerium, Inneres oder auch Finanz, in Verbindung mit dem Amt eines Vizekanzlers im Reiche anzubieten. Er lud Ende Dezember 1877 Bennigsen zu einer Verhandlung nach Varzin, deren Inhalt eine verfassungsmäßige Ordnung der Stellvertretung des Reichskanzlers, eine Modifikation der Reichsämter und ihrer Beziehungen zu den preußischen Ministerien und schließlich die Finanzfragen, Zoll- und Steuerreform, umfaßte. Es schien, als ob die Praxis der bisherigen Zusammenarbeit mit den Liberalen nach der persönlichen wie nach der sachlichen Seite vertieft werden sollte. Bismarck mußte aber erkennen, daß die politischen Forderungen der Liberalen noch über den Inhalt seines nächsten Programms hinausgingen, und wenn er schon dadurch zweifelhaft werden mochte, so wurde er gleich darauf durch einen ungewöhnlich scharfen Brief des Kaisers, daß er Bennigsen in einer hohen Stellung im Staate nicht wünsche, an einem weiteren Vorgehen auf dem beabsichtigten Wege gehindert. Das Altpreußentum verwarf aus legitimistischen und persönlichen Empfindungen heraus den Führer der alten Nationalpartei.

Die Notwendigkeit für Bismarck, nunmehr einen anderen Weg einzuschlagen und statt der verstärkten Fühlung mit den Liberalen die Möglichkeit einer Ablösung von ihnen in Betracht zu ziehen, wurde ihm durch äußere Vorgänge erleichtert. Der Tod des Papstes Pius IX. und die Nachfolge eines versöhnlichen Papstes zeigte plötzlich die Möglichkeit, den Kulturkampf abzubrechen, sich zunächst auf dieser Front von der Mitwirkung der Liberalen zu befreien und [181] andere Bundesgenossenschaften vorzubereiten. Die Attentate des Mai und Juni 1878 gaben eine Gelegenheit, in der Innenpolitik das Steuer scharf nach rechts, nach der Befestigung der staatlichen Autorität, herumzuwerfen. Der Reichskanzler wurde sich klar über die Gefahren, die für seine Schöpfung auf deutschem Boden aus dem extremen Flügel der Sozialdemokratie aufsteigen konnten, und entschloß sich, sie durch ein scharfes Ausnahmegesetz zu bannen, das der Sozialdemokratie jegliche politische Betätigung so gut wie unmöglich zu machen bestimmt war. Damit wurde ein gutes Teil der demokratischen Kräfte in den Untergründen des politischen Lebens gleichsam abgeriegelt. Mit diesen, in der Periode von 1878 bis 1890 mehrfach erneuerten Maßnahmen wurde eine politische Wendung im Sinne der besitzenden Klassen, der staatlichen Autorität und der ihr gefügigen Ordnungsparteien eingeleitet. Der einseitige Klassencharakter des Sozialistengesetzes wurde zwar durch eine groß angelegte Sozialpolitik, über die noch zu sprechen sein wird, gemildert, aber keineswegs beseitigt. Die Wirkung der Ausnahmegesetzgebung konnte den politischen Emanzipationsprozeß, in dem die sozialen Tiefen aus dem Dunkel sich ans Licht rangen und ihren Anteil an der politischen Machtverteilung forderten, auf die Dauer nicht aufhalten. Es war sogar die Frage, ob das neue Reich, das die allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine Wahlrecht und die allgemeine Schulpflicht als demokratische Institutionen in seinen Aufbau aufgenommen hatte, auf die Dauer so große Gruppen der rasch anwachsenden industriellen Arbeiterschaft als Volksbestandteile minderen Rechtes behandeln konnte. Zunächst trug auch das Sozialistengesetz dazu bei, die allgemeine machtpolitische Auseinandersetzung mit den Liberalen zu erleichtern. So verband sich ein Motiv mit dem andern, um die Reichsleitung von den politischen Gewalten abzulösen, die bisher auf Unitarisierung und Parlamentarisierung hingearbeitet hatten, und statt dessen sich denjenigen Elementen zu nähern, die bisher aus konservativen oder föderalistischen Gründen in Zurückhaltung oder Opposition verharrt hatten.

Bismarck hatte schon nach der Auflösung des Reichstages im Sommer 1878 auf eine Umbildung der Parteien aus überwiegend formal-verfassungsrechtlich orientierten zu vorwiegend produktiv-wirtschaftlich interessierten Parteien hingearbeitet - um die einheitliche Stoßkraft des parlamentarischen Machtwillens zu lähmen. Die überfraktionelle Bildung einer schutzzöllnerisch gesinnten Wirtschaftsgruppe im Reichstage kam seinen Absichten entgegen und zeigte an, daß eine Verlagerung der politischen Kräfte im Entstehen war. Und dieser neuen Mehrheit fiel jetzt die Entscheidung über die finanz- und wirtschaftspolitischen sowie die reichsorganisatorischen Probleme zu. Die Reichstagskämpfe um den Zolltarif von 1879 stellte die erste Erprobung eines neuen politischen Systems dar.

Der Übergang zum Schutzzollsystem war ein weiterer Schritt, das Wirtschaftsgebilde des Deutschen Reichs vollends zu einer Einheit zu verschmelzen; die bisherige Ausnahmestellung der Städte Hamburg und Bremen war jetzt [182] so gut wie unmöglich gemacht. Jene Gedanken, die einst Friedrich List in seinem nationalen System der politischen Ökonomie entwickelt hatte - der eigenwüchsige ökonomische Nebenstrang der deutschen Nationalbewegung um die Mitte des Jahrhunderts - sollten von nun an eine Verwirklichung erleben und der wirtschaftlichen Schwerkraft des Reiches in dem Wettbewerb der Welt einen mächtigen Auftrieb geben. Wie einst der Freihandel im Zollverein zumal seit 1860 eine natürliche Wahlverwandtschaft mit dem Liberalismus und seinen parlamentarischen Tendenzen besessen hatte, so entsprach die Organisation der schutzzöllnerischen Wirtschaftskräfte einer Neugruppierung von konservativen Elementen unter der Führung der staatlichen Autorität. So begann sich die eingetretene parteipolitische Wendung im deutschen Leben unter der Einwirkung wirtschaftspolitischer Motive immer mehr zu vertiefen: eine unaufhaltsam vordringende Erscheinung, der die Parallelen in anderen Ländern nicht fehlen. Man hat wohl beklagt, daß dadurch auch dem Eindringen der materiellen Interessen in das politische Leben Tor und Tür geöffnet worden sei. Aber die analogen politisch-wirtschaftlichen Kämpfe in anderen Staaten scheinen doch den Beweis zu liefern, daß diese Entwicklung allgemein und unvermeidlich war. Allerdings hat Bismarck, indem er diese Kräfte zu sich herüberriß und sie gleichsam in das Strombett seiner Reichspolitik zu lenken verstand, ihnen eine mächtige Förderung zuteil werden lassen. Nur wäre es eine Illusion zu glauben, daß sich etwa bei einer mehr parlamentarischen Staatsform das Ansteigen der wirtschaftlichen Motive im staatlichen Leben überhaupt hätte hintanhalten lassen. Nur dahin waren damals die Dinge noch nicht gediehen, daß das wirtschaftliche Interesse unmittelbar bestimmend in die politischen Beziehungen der großen Nationalstaaten eingegriffen hätte. Mochten auf dem inneren Schauplatz auch Politik und Wirtschaft einander stärker durchsetzen, auf dem äußeren Schauplatz galt für die großen Mächte noch der Primat der rein politischen Berechnungen in der Gestaltung ihrer Beziehungen, und Bismarck würde, wie er den einzelnen Parteien ein get you home, you fragments! zurief, auch den Wirtschaftsinteressen einen Einbruch in die absolute Autonomie der großen Politik unter allen Umständen auf das schärfste verwehrt haben.

Der Staat, der sein Gewicht fortan stärker in das wirtschaftliche Leben der Nation hineinschob, sollte auch gegenüber dem schwersten der Probleme das alte liberale Prinzip der Nichtintervention aufgeben und sich zur Pflicht der Fürsorge gegenüber dem vierten Stande bekennen, um durch Befriedigung der gerechten Forderungen der Arbeiter den gesunden Kern der sozialen Ideen zu verwirklichen. Schon während seines früheren Verkehrs mit Lassalle hatte Bismarck sich mit der sozialen Frage wenigstens zu dem Grundsatz "Der Staat kann" bekannt. Jetzt machte die Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 das einst für Preußen anerkannte Programm in der Fortbildung "Das Reich kann" sich zu eigen. Mit der staatlichen Kranken- und Unfall-, mit der Alters- [183] und Invalidenversicherung sollte das Deutsche Reich das Erbteil des preußischen Königtums übernehmen. Zumal mit der Alters- und Invaliditätsversicherung gedachte Bismarck geradezu dem Arbeiter die Sicherheit der Existenz in einer Form zu geben, daß der Reichsgedanke dabei gewann. Wenn es dieser Gesetzgebung auch nicht gelang, den politischen Emanzipationskampf der Arbeiterschaft wesentlich zu durchkreuzen, so wuchs mit ihr doch die Kompetenz des Reiches in Lebenssphären hinein, an die man bei der Reichsverfassung von 1871 noch gar nicht gedacht hatte.

Gleichzeitig mit dem Übergang zum Schutzzollsystem fielen auch die ersten Entscheidungen in den Fragen der finanziellen Ausrüstung des Reiches. Indem die Reichsfinanzen wesentlich auf die Zölle und einzelne indirekte Steuern angewiesen wurden, blieben sie allerdings von dem parlamentarischen Budgetrecht unabhängiger, als wenn sie unwesentlichen auf den Erträgnissen direkter Steuern aufgebaut worden wären. Und da weiterhin auch die Einzelstaaten vermöge der Franckensteinschen Klausel an den Einkünften der Zölle und indirekten Steuern mitbeteiligt wurden, ergab sich, daß diese finanzielle Neuordnung nicht mehr vornehmlich unter dem unitarischen Gesetz stand, das bisher den Fortgang der Dinge beherrscht hatte, sondern gleichsam unter föderalistischen Vorzeichen ins Leben trat. Diese in ihrer politischen Tragweite gar nicht zu unterschätzende Wendung hatte zunächst zur Folge, daß die finanzielle Lösung nur eine Teillösung blieb, deren Unvollkommenheit in der weiteren Gestaltung der Reichsfinanzen bis zum Weltkriege niemals überwunden worden ist; indem die direkten Steuern grundsätzlich dem Einzelstaate vorbehalten blieben, wurde das Reich von einer gleichmäßigen und entwicklungsfähigen Begründung seiner Finanzen abgesperrt. So wurde an dieser Stelle zuerst erkennbar, daß die Hochflut der unitarischen Entwicklung im Reiche abzulaufen begann, und daß die föderalistisch-bundesstaatlichen Elemente des deutschen Lebens in den achtziger Jahren - stärker als man in dem Jahrzehnt vorher hätte annehmen dürfen - zur Geltung kamen. Insbesondere sollte diese Wendung dahin führen, daß das Schwergewicht des preußischen Staates, als des stärksten Trägers der konservativen Gewalten, sich innerhalb des Reiches unerschütterlich behauptete. Damit war diese preußische politische Individualität, der gesellschaftlich-wirtschaftliche Aufbau und die militärisch-traditionelle Eigenart, instand gesetzt, ihrerseits einen manchmal übergreifenden Einfluß auf die Gestaltung des Reiches auszuüben. Diese ganze Entwicklung entband gewiß viele fruchtbare und produktive Kräfte, aber konservierte auch wiederum manche rückständige Interessen und Anschauungen. Die damals noch nicht in ihrem vollen Umfange erkennbare Kehrseite bestand darin, daß das große Organisationsproblem Reich und Preußen in seinen entscheidenden Bestandteilen, zumal in den Beziehungen zwischen den deutschen und preußischen Zentralbehörden, ungelöst blieb und auf dem Entwicklungsstande verharrte, den die überragende Gestalt des Reichskanzlers ihr gegeben hatte.

[184] Die Ursache dafür, daß diese Entwicklung zum Stillstand kam, lag doch auch in der politischen Persönlichkeit Bismarcks. Seine schöpferische staatsmännische Begabung kam nicht so sehr in dem Systematisch-Organisatorischen der Institutionen zur Geltung, als in dem persönlichen Impuls, durch den er eine allmählich angewachsene Einsicht mit einer günstigen Konstellation des Momentes verknüpfte, alle auf den Erfolg gerichteten Kräfte zusammenraffend. Seine politische Methode glich eher der Praxis englischer Staatsmänner, sich bei großen Umwälzungen, mit einem praktischen Schritt zur Lösung hin, mit einem wesentlichen Teilerfolge zufriedenzugeben, statt das ganze Endziel schon in sein Handeln aufzunehmen. Er war sich im besonderen stets bewußt, daß in der äußern Politik die Gelegenheit einer Stunde niemals wiederkehre, während die Entscheidungen im Innern so oder so getroffen, ja, manchmal ohne Schaden vertagt werden konnten. Wie er in den sechziger Jahren in diesem Stile den Aufstieg zur Begründung des Reiches vollzogen hatte, so setzte er in den siebziger und achtziger Jahren den Ausbau des Reiches in derselben souveränen Gestaltungsweise fort, ohne sich darum zu sorgen, daß manches Einzelproblem allzulange vertagt ward, wie eben die deutsch-preußische Behördenverzahnung im Zentrum seiner Schöpfung oder auch die Gestaltung der staatsrechtlichen Stellung des Reichslandes Elsaß-Lothringen im Reiche, die er gleichfalls der folgenden Generation überließ. Dabei beobachtet man wohl, daß die außenpolitischen Methoden der Politik, in denen er vor allem lebte, auf seine innerpolitische Regierungspraxis übergriffen. Und wenn man als das Geheimnis seiner Macht bezeichnet, daß er alle politischen Einzelheiten in einer großen Verbundenheit zusammen sehen konnte, so konnte auch ein Stillstand eintreten, weil das Einzelne zugleich seine unentbehrliche Funktion im Gefüge des Ganzen hatte und deswegen nicht geändert werden dürfte; es war schließlich die Gefahr, daß alle politischen Lebenskräfte nur als Mittel im Dienste eines obersten Zusammenhanges, der Staatsräson des Reiches nach außen und innen, so wie sie in ihm lebendig war, gewertet wurden und darüber in ihrem Bereiche einer gewissen Entseelung verfallen konnten.

Dabei dürfen die Widerstände, die er auf dem Wege seiner Innenpolitik zu überwinden hatte, nicht zu gering veranschlagt werden. Die persönlich-sachlichen Kämpfe, in denen er sich verzehrte, wiegen darum nicht leichter, weil er sie in der Regel siegreich durchzuführen verstand, und weil sie für unsere heutige Generation in den Schatten getreten sind. Gerade bei dem schwierigsten aller Innenprobleme, der deutsch-preußischen Behördenorganisation, sollte man sich hüten, sich der leichten Kritik der Unterlassungen hinzugeben, nachdem wir erlebt haben, daß selbst eine revolutionäre Umwälzung, die vor den tiefsten Fundamenten des Reiches nicht innehielt, doch trotz der Gunst der Stunde an dieser Stelle die Problemlage nicht zu meistern vermochte, sondern sie, mit einer formalen Scheinlösung, eher erschwerte.

Über diesen tiefgreifenden Umwälzungen blieb der politische Machtbereich des Kanzlers im Wachsen. Er überflügelte alle politischen Rivalitäten, ob sie sich bei Hofe oder im Militär, im Reichstage oder im Bundesrat erhoben, und sprengte alle gegnerischen Kombinationen, die sich aus irgendwelchen Motiven zusammenfanden. Seit dem Beginn der achtziger Jahre begann seine Gestalt auch den alten Kaiser zu überschatten, und der Kronprinz schien seit der Wendung von 1879 vollends von dem Strom des lebendigen Geschehens entfernt, ja fast ohne Fühlung mit der Regierung des Reiches. Gleichzeitig aber gelang es Bismarck, die Gegenwirkungen parlamentarischer Herkunft mit seinen alten Kunstmitteln: erst spalten, dann beherrschen, matt zu setzen. Im großen Stil und mit vollem Erfolge hatte er sie angewandt gegen die Liberalen und die Konservativen, mit denen er in seinen politischen Zielen wahlverwandt war; weniger vermochte er es gegenüber den Parteien, die, wie Zentrum und Sozialdemokratie, über einen weltanschaulichen Kern verfügten, der ihm völlig wesensfremd war. Der greise Ranke, der nach seiner preußisch-konservativen Denkweise die liberal-parlamentarische Entwicklung des Reiches lange Zeit nur mit Sorge verfolgt hatte, glaubte schon im Sommer 1879 aufatmend feststellen zu dürfen: "Was man nicht hätte erwarten sollen, scheint ihm zu gelingen. Die ministerielle Autonomie spaltet und beherrscht den Reichstag." Bestimmter noch wagte er im Februar 1881 die Zeichen der Zeit zu deuten: "Die Frage scheint zu sein, ob die Formen der Konstitution und Administration sich, wie sie sind, behaupten, ober ob sie von einem dominierenden Geist, der große Ziele verfolgt, modifiziert und fortgerissen werden sollen." Das Bild, das vor seinen Augen aufstieg, mochte an die großen Gestalten allmächtiger Minister in der ihm vertrauten Welt des 17. und 18. Jahrhunderts, etwa an den Kardinal Richelieu, erinnern. Aber auch solche Parallelen treffen nicht den Kern dieser einzigartigen Führerstellung, in der sich der monarchisch-dynastische Dienstauftrag, die parlamentarische Verantwortlichkeit und die bundesstaatliche Delegation mit einem geschichtlich erworbenen Anspruch ohnegleichen verschmolzen. Die Notwendigkeit, das Innere und das Äußere, das Deutsche und das Preußische, das Parlamentarisch-Moderne und das Historisch-Konservative in einem einzigen Willen zu vereinen, verband sich mit einer geistigen Anlage, die blitzschnell in jeder Situation die für den äußeren Machteffekt entscheidenden Kräfte herausfand, und in dem Zusammenspiel der einzelnen Faktoren oder auch in einem System von Gegengewichten das Geheimnis der Herrschaft erkannte.

Die Machtstellung des Reichstages blieb trotz der wachsenden Kompetenz des Reiches und trotz des Anwachsens der oppositionellen Parteien in gewisse Grenzen gebannt. Der Kampf gegen das parlamentarische System, den Bismarck in dem Konflikt der sechziger Jahre auf dem preußischen Schauplatz siegreich durchgefochten hatte, wurde von ihm, auch wenn es nicht zu neuem Konflikt oder verfassungswidrigem Regiment kam, in der großen Arena des Reiches [186] in den achtziger Jahren aufgenommen und durchgeführt. Er stritt dann im Namen des monarchischen Prinzips, der Krone oder der verbündeten Regierungen gegen eine Opposition, die mit parlamentarischen Methoden einen Teil der politischen Macht zu erobern suchte; er trat dem Reichstage mit dem manchmal herrenmäßig herausfordernden Selbstgefühl gegenüber, daß er selbst doch diese Institution geschaffen habe; so wie er in späteren Jahren sich grollend vorwarf, daß er die Krone zu stark gemacht habe. Und wenn er 1877 sein politisches Ziel darin erblickt hatte, die Trockenlegung des Reiches durch Preußen zu verhindern, so konnte er am Ende seiner Laufbahn sein Kampfprogramm darin erblicken, das Reich zeitweilig zugunsten der Bundesstaaten trockenzulegen. Alles blieb Durchgang und Entwicklung, Lösung für den Moment, Aufstieg zu neuen Formen, in denen der erfindungsreiche Genius des Staatslenkers neue Wege zu seinem höchsten Ziel, der inneren und äußeren Stärkung der Ganzheit seiner Schöpfung, zu bahnen sich vermaß.

Daß der Reichskanzler in seinem Ringen mit den Parlamentsparteien bis nahe vor seinem Sturze der Stärkere blieb, hat seine tieferen geschichtlichen Gründe. Die hohe Blütezeit des europäischen Liberalismus war schon überschritten, und auf der ganzen Linie bereitete sich eine Ablösung der liberalen Ideale durch andere weltanschauliche Kräfte vor: in diesem allgemeinen europäischen Prozeß nimmt Bismarcks Staatsleitung eine besondere historische Stellung dadurch ein, daß er den Umschwung der Zeitalter von der Mitte des Erdteils aus tiefgehend beschleunigt hat. Auch im Deutschen Reiche begann sich im Rücken des selbstbewußten Bürgertums der vierte Stand mit seinen sozialen und politischen Forderungen zu organisieren; bevor dieser bürgerliche Liberalismus sich im Staate durchgesetzt hatte, wurde er gleichsam von hinten her durch die Stoßkraft der organisierten Massen erschüttert und abgelöst, dadurch aber der befestigten Autorität des Staates zugetrieben. So geschah es, daß manche bürgerliche Schichten, die früher in breiter Front mit der Hoffnung des Nationalstaates gegangen waren, sich nunmehr um die Vollendung scharten, die in dem lebenden Staate erreicht war; sie ließen sich vor allem genügen, die wirtschaftlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihnen durch Autorität und Macht dieses Reiches eröffnet worden waren. In dem komplizierten bundesstaatlichen Gefüge des Ganzen, in dem die Repräsentation in den Händen eines müder werdenden ehrwürdigen Greises lag, wurde Bismarck vielen Deutschen zum Symbol ihrer staatlichen Gemeinschaft. Wenn in den Spitzen des Staates vor allem der Druck empfunden wurde, der von dem einen Manne ausging, so wuchs dafür in breiten Schichten das Vertrauen zu dem Kanzler, der nicht über den Rechtstitel, aber über alle Gaben eines Diktators zu verfügen schien.

Man hat neuerdings, zumal seit dem Ausgange des Weltkrieges, immer nachdrücklicher die Frage aufgeworfen, ob diese Tatsache, die vermöge der geschichtlichen Gesamtleistung Bismarcks so tief in unsere Entwicklung eingegriffen [187] hat, dem politischen Erziehungsprozeß zum Segen gereicht hat, und man neigt zu der Antwort, daß ein Durchgang dieser Erziehung durch die Schule der parlamentarischen Lebensformen des Staates der Nation dienlicher gewesen sein würde. Es handelt sich um das Problem, das sich einem überzeugten europäischen Liberalen wie Gladstone in der Formel darstellte: Bismarck habe Deutschland groß und die Deutschen klein gemacht - wobei wir den zugrunde liegenden insularen Maßstab zunächst auf sich beruhen lassen wollen. Auch wenn man die positiven Seiten des politischen Bildungsprozesses würdigt, durch den die Parteien, ob Konservative, Liberale oder Katholiken, in den siebziger und achtziger Jahren hindurchgegangen sind, so wird man doch zugeben müssen, daß ein höheres Maß von verantwortlicher und selbständiger Mitarbeit in den spezifisch parlamentarischen Formen diesen Prozeß beschleunigt und vertieft haben würde. Insofern ist das Parlament als Schule und Auslese staatsmännischer Begabung im Zeitalter Bismarcks und ebenso in der anschließenden Epoche nicht genügend zur Geltung gekommen. Gewiß, Bismarck hat das preußisch-deutsche Problem, soweit es in dem innersten Kern seiner Schöpfung zurückblieb, nicht zu einer endgültigen Lösung gebracht, sondern es seinen Nachfolgern in einem Zustande der Unfertigkeit überlassen; aber man kann im Zweifel sein, ob gerade dieses Problem durch die rein parlamentarischen Methoden - wie sie sich in der deutschen Begabung entfalten - zu einer leichteren und vollkommeneren Lösung gediehen wäre.

Man hat zur Kennzeichnung der politischen Leistung Bismarcks von den Ideen von 1871 gesprochen; es sei dahingestellt, ob in dem Bedürfnis, den Ideen von 1789 oder auch von 1848 ein gedanklich ausgeprägtes Gegengewicht zu konstruieren, oder ob mehr durch die allgemeine deutsche Neigung verführt, sich auch die Summe praktisch-politischen Handelns nur in einem geschichtsphilosophischen Denkzusammenhange vorstellen zu können. Man wollte damit zwar nicht den ganzen Inhalt deutschen politischen Lebens der siebziger Jahre, aber doch alles Wertvolle, was in der Staatsleitung und Persönlichkeit Bismarcks schöpferisch hervortritt, in einem verlockend einfachen, aber auch inhaltlich höchst unbestimmten Sammelbegriff einfangen. Denn die Staatskunst Bismarcks erstrebte den Ausbau des Deutschen Reiches nicht nach einem ideell eindeutig bestimmbaren System von politischen Grundsätzen, sondern unter der elastisch wechselnden Verwendung von Methoden, die geistesgeschichtlich sehr verschiedenen Ideenschichten angehören: die bald in der modernen zentralistischen Staatspraxis wurzeln und mit der großen Flut der liberal-parlamentarischen Überzeugungen des Jahrhunderts einhergehen, bald aber auf die historischen Argumente und die bodenständigen Traditionen zurückgreifen, wie sie sich in den einzelstaatlichen und föderalistischen Elementen des deutschen Staatslebens verkörpern. Der Wechsel zwischen beiden Wegen, eine höchstpersönliche Auswahl derjenigen Mittel, die nach Zeit und Umständen dem obersten Zweck am sichersten dienen, eine Beweglichkeit auch in [188] der inneren Haltung, die - ähnlich wie in der Außenpolitik - nicht durch Sympathien und Antipathien oder überhaupt durch vorgefaßte Überzeugungen, sondern durch realistische Abwägung im Hinblick auf den Endzweck geleitet wird: das ist Bismarck. Eine Staatskunst dieses Gepräges widerspricht einer ideellen Definition, auch wenn sie dadurch verklärt werden soll.

Danach könnte man zu dem Ergebnis kommen, der entgegengesetzte in verschiedenen Lagern erhobene Einwand sei berechtigt, daß die staatsmännischen Methoden Bismarcks, um eines höchsten, alle Mittel heiligenden Zweckes willen, allzu sprunghaft und skrupellos gewechselt hätten, daß sie allzusehr, um nicht von Ideenlosigkeit zu reden, von einer Geringschätzung der Idee getragen seien, was sich denn schließlich für ihn oder für sein Werk bestraft habe. Die höchste Pflicht des Staatsmannes, so wie sie von Bismarck aufgefaßt wurde, gebietet: in dem ewig wandelbaren und flüssigen Element der Politik mit immer wieder den Umständen, d. h. der Wahrscheinlichkeit des Erfolges sich anpassenden Mitteln, dem höchsten Gegenstande aller seiner Fürsorge, dem äußeren und inneren Leben des Staates zu dienen. Das ist seine Idee. Dieser Idee wird er alle anderen zur geschichtlichen Ausprägung gelangten Ideen unterordnen - in dieser großen Rangordnung aller Werte lebt er, findet er sein Genüge und auch seine Grenzen. Es kann wohl sein, daß er um seiner Idee willen unbarmherzig in Lebensgebiete eingreift, die ihre Idee und ihren Rang in sich selber tragen und sich letztlich als unbesiegbar erweisen - das hat auch Bismarck erfahren müssen. Von der sehr hohen Stellung aus, von der er die Dinge dieser Welt überschaute, sah er nicht so sehr ein System absoluter Werte, die er zu bejahen oder zu verneinen hatte, sondern er empfand die Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes, dessen Führung in seine Hände gelegt war, als ein so hohes und zentrales Gut, daß er alle anderen Werte in eine Beziehung dazu zu setzen versuchte, aus der allzu leicht eine Unterordnung wurde. Der Primat der äußeren vor der inneren Politik ist gewiß keine ethisch oder logisch zu beweisende Norm, aber sie ist ein Lebensgesetz, das zwar für die verschiedenen Staaten, in verschiedener Lage, in verschiedenem Ausmaß gilt, aber die säkularen Erfahrungen unseres geschichtlichen Lebensganges hatten für den Schöpfer des Reiches den Rang dieses Lebensgesetzes so erhöht, daß sein ganzes Handeln von dieser Seite her die letzten verpflichtenden Gebote erhielt. Weder der Versuch einer ideellen Dogmatisierung noch der Vorwurf der realpolitischen Ideenlosigkeit wird demjenigen gerecht, was in der Leistung Bismarcks das Eigentliche war. Sie trägt ein Ethos in sich, das weder auf "Ideen" abgezogen und dadurch scheinbar erhöht werden, noch von seiner Höhe durch den Nachweis rein realpolitischer taktischer Methoden herabgedrückt werden kann.

So erwuchs auf dem Boden des Deutschen Reiches ein neuer überlegener Typus der Staatsleitung, etwas Einmaliges und Vorbildloses, an seine Zeit und ihre Umstände gebunden: gebunden an die Monarchie, in deren Namen er [189] sprach, gebunden an die parlamentarischen Einrichtungen, die er selber geschaffen hatte, die Summe seiner Ämter immer mehr mit seiner Persönlichkeit erfüllend, die schließlich alles, Dynastie und Bundesstaat, Reichstag und Massen in Beziehung auf seine Politik setzte. Gewiß steht die einzigartige Machtstellung auch in seinem Jahrhundert nicht ganz vereinzelt da. Man sieht neuerdings auch in altparlamentarischen Ländern ein persönliches Führertum sich über den formalen Repräsentationsgedanken erheben, und den Zeitgenossen Mussolinis wird manches an den Regierungsmethoden Bismarcks als vorweggenommen erscheinen. Es war eine Macht, deren er sich selbst niemals in ruhigem Besitze erfreuen durfte, die er täglich von neuem erobern mußte. Das mächtige Ansteigen seines europäischen Prestiges wirkte auch auf seine preußisch-deutsche Führerstellung zurück; die unbedingte Autorität, die er mit Hilfe des monarchischen Rückhalts im Innern besaß, gab nach außen jedem seiner Schritte ein wachsendes Gewicht. Seine äußere Autorität konnte auch in sein innerpolitisches Wollen bestimmend eingreifen, und es geschah wohl, daß er seine Spielmethoden von dem europäischen Schachbrett auf den innerpolitischen Kampf übertrug.

So sollte er in diesen Jahren von 1876 bis 1879, in denen er, auf einer zweiten Höhe schöpferischer Produktion stehend, in eine neue Phase seiner inneren Reichsleitung hinübertrat, - wo er Lösung von den Liberalen und Abbruch des Kulturkampfes, Kampf mit der Sozialdemokratie und Übergang zum Schutzzoll durchführte - gleichzeitig auch die außenpolitische Machtstellung des Reiches, deren Probleme während der ersten Phase noch nirgends gelöst worden waren, endgültig befestigen, nach dem Bilde, welches er in seiner Seele trug. Das Innere und das Äußere, mit allen sachlichen Reibungen und allen persönlichen Gegensätzen, die auf so vielen Schauplätzen erwuchsen, wurde von einem einzigen Menschen, der seine gesamten Aufgaben unter einem einzigen Gesichtspunkte begriff, wie von einem Atlas, auf seine Schultern genommen.

Zu der Außenpolitik des Reiches seit 1876 kehren wir nunmehr zurück.


16 [1/172]H. Goldschmidt a. a. O. S. 7 f. ...zurück...

17 [2/172]Bismarck an Roon 27. August 69. Bismarck-Jahrbuch 3, 283 ff. Vgl. H. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich (1907), S. 34. Noch im Winter 1873/74 bedurfte es eines mehrmonatlichen Kampfes Bismarcks, bis die vom Kaiser befohlene Bezeichnung der Marine als einer Königlichen wieder vom Titelblatt der Rangliste verschwand. H. Goldschmidt a. a. O. S. 21. ...zurück...

18 [1/174]An Arnim 20. 12.1872. Gr. Pol. I, 161. ...zurück...

19 [2/174]H. Oncken, Rudolf von Bennigsen 2, 13. ...zurück...

20 [1/177]Vgl. H. Oncken, Lassalle 4. Aufl. (1923) S. 499 - 533: "Historische Perspektiven." ...zurück...

21 [2/177]H. Goldschmidt a. a. O. S. 63 f. ...zurück...

22 [1/178]Frensdorff, Gottlieb Planck, S. 301. ...zurück...

23 [1/180]H. Oncken, Rudolf von Bennigsen 2, 326 f. ...zurück...

24 [2/180]H. Goldschmidt a. a. O. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte