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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 1: Die deutsche Verwaltung
des Generalgouvernements in Belgien 1914-1918
  (Forts.)

Generalleutnant Hans v. Winterfeld

5. Die Zivilverwaltung.   (Forts.)

Die politische Abteilung.

Allgemeine Aufgaben.

Bereits in den ersten Tagen des Bestehens des Generalgouvernements war der Generalgouverneur in die Lage versetzt worden, sich mit Aufgaben der äußeren Politik beschäftigen zu müssen. Die Gesandten der neutralen Staaten, welche beim König der Belgier beglaubigt gewesen waren, befanden sich zum Teil noch in Brüssel und hatten nicht die Absicht, die Stadt zu verlassen. Es mußte also ein auf der Grundlage des Völkerrechts und der diplomatischen Gepflogenheiten beruhendes Verhältnis mit ihnen gefunden werden. Es zeigte sich bald, daß die deutsche Verwaltung aus ihrer Anwesenheit manchen wesentlichen Nutzen würde ziehen können.

Eine der ersten Gelegenheiten, wo ein Mitglied einer dieser fremden Missionen für deutsche Zwecke Verwendung finden konnte, war die Belagerung von Antwerpen. Durch den spanischen Marineattaché wurde die nach der Haager Landkriegsordnung notwendige Mitteilung über das bevorstehende Bombardement in der Festung abgegeben. Schnell häuften sich die Beziehungen außenpolitischer Art, so daß ein besonderes Organ zur Bearbeitung dieser Aufgaben im Rahmen der Zivilverwaltung geschaffen werden mußte. Der dafür nötige Beamte fand sich unter den im Generalgouvernement befindlichen deutschen Offizieren in der Person eines höheren Diplomaten.

Bald zeigte es sich, daß viele der in das Gebiet der politischen Abteilung fallenden Aufgaben mit dem Wesen der deutschen Zivilverwaltung nur in losem Zusammenhange standen. Schon im Februar 1915 wurde die Politische Abteilung aus dem Rahmen der Zivilverwaltung losgelöst und als selbständige Behörde dem Generalgouverneur unmittelbar unterstellt. In diesem Verhältnis änderte sich bis zum Kriegsende nichts.

Auch diese Abteilung stand in der Person ihres verantwortlichen Chefs in einem doppelten Unterordnungsverhältnis. Der Reichskanzler, durch Vermittlung des Auswärtigen Amtes, war Vorgesetzter des Abteilungschefs geblieben und nutzte diese Lage ganz natürlich in mancherlei Angelegenheiten aus, die mit dem Generalgouvernement nur in sehr losem oder gar keinem Zusammenhange standen. Die Vorteile und Nachteile einer solchen Doppelstellung zeigten sich im Laufe der Zeit häufig. Sie lagen im Wesen der Sache begründet.

Die Aufgaben, welche der neuen Abteilung bei ihrem Entstehen zugewiesen wurden, waren recht mannigfaltig.

[60] Sie betrafen im wesentlichen den diplomatischen Verkehr mit den in Belgien gebliebenen neutralen Gesandten, besonders auch in bezug auf die amerikanische, später spanisch-niederländische Hilfskommission, innerpolitisch die Flamen- und die kirchlichen Angelegenheiten, die Regelung der Pressefragen und die Durchforschung der belgischen Staatsarchive.

Die Anwesenheit der neutralen Gesandten und die gemeinsame Arbeit mit ihnen war deswegen recht wichtig, weil sich in Belgien sehr viele Ausländer aufhielten, deren Beziehungen vielerlei Aufsicht und Regelungen erforderten. Sehr viele Holländer und Franzosen lebten dauernd in Belgien, aber auch zahlreiche Engländer hatten hier ihren Wohnsitz. Die Anwesenheit der feindlichen Ausländer war an sich nicht wünschenswert. Es geschah daher alles, um ihre Anzahl zu vermindern. Die von feindlicher Seite für Deutsche angeordnete scharfe Internierung wurde von deutscher Seite für die Engländer so wenig wie möglich angewendet. Wo sie nötig war, wurden die betreffenden Leute nach Deutschland in die Internierungslager geschafft. Im übrigen wurden möglichst viele Personen, die es selbst bezahlen konnten, zur freiwilligen Abreise in ihre Heimat auf dem Wege über Holland veranlaßt.

Die vielen vorhandenen Franzosen wurden nicht anders behandelt als die auf französischem Gebiet wohnenden, denn es war natürlich unerheblich, ob ein Franzose in Nordfrankreich oder in dem unmittelbar anschließenden Belgien wohnte; nur unterlagen sie einer scharfen Überwachungs- und Meldepflicht.

Für die zurückbleibenden feindlichen Ausländer waren die neutralen Gesandten die Vertreter ihrer Schutzmächte. Es ergaben sich hieraus zahllose Beziehungen wegen Aus- und Einreise- und Paßangelegenheiten, Vermögensfragen und Dingen völkerrechtlicher Art. Die Gesandten, zu denen auch der päpstliche Nuntius gehörte, genossen alle den Diplomaten zustehenden Rechte der Exterritorialität, welche sich auch auf alle zu ihrer Gesandtschaft gehörenden Personen erstreckte. Sogar Grundstücke, die unter ihrem Schutze standen, darunter auch Belgiern gehörende, und die durch neutrale Landesfarben geschützt waren, unterlagen z. B. nicht dem Einquartierungszwang. Manche Fehler, die in der ersten Zeit der Besetzung durch zu weitherzige Zusicherungen an diese Gesandten gemacht worden waren, erregten später mit Recht böses Blut, konnten nun aber nur sehr schwer wieder ausgeglichen werden.

Sogar die Möglichkeit freien Verkehrs über die Grenze, auch im Kraftwagen für ihre diplomatische Post, konnte den Gesandten nicht versagt werden. Sie barg ja die große Gefahr unerlaubter Nachrichtenübermittlung ins feindliche Ausland, konnte aber nicht unterbunden werden, solange nicht zwingende Beweise für verbotene Handlungsweise vorlag, und diese waren trotz häufig vorhandener Verdachtsmomente schwer zu erlangen. Gewiß war den Gesandten selber ein solches bewußtes Übertreten der Bestimmungen nicht zuzu- [61] trauen; aber diese Post war meist sehr umfangreich, und alle den Gesandtschaften in irgendeiner Weise nahestehenden Personen waren nicht gleichmäßig vertrauenswürdig.

Unter den Diplomaten waren die wichtigsten der nordamerikanische, spanische und der Vertreter des niederländischen Gesandten. Der erste, Brand-Withlock, kein zünftiger Diplomat, schien weniger politische, sondern mehr künstlerische und wissenschaftliche Interessen zu haben. Daß er seine politischen Eigenschaften und Gesinnungen stark zu verheimlichen verstanden hatte, zeigten seine Äußerungen und Veröffentlichungen nach seiner später erfolgten Rückkehr nach Amerika. Er benutzte die in Belgien gemachten Beobachtungen und erlangten Kenntnisse zu groben Entstellungen und gehässigen Verleumdungen der deutschen Verwaltung. Die anderen beiden waren ihrem Amte voll gewachsen. Beide waren deutschfreundlich, wenigstens äußerlich und vielleicht nur im Sinne ihrer Souveräne handelnd, die ja stets nach der deutschen Seite neigten, soweit ihre Regierungen es ihnen gestatteten.

Besonders der spanische Gesandte Marquis de Villalobar war ein außerordentlich kluger und gewandter Diplomat, mit dem es sich angenehm und leicht verhandeln ließ, und welcher der deutschen Sache auch manchen Dienst geleistet hat. Man mußte sich nur vorsehen, daß man bei Verhandlungen mit ihm vermöge seiner überlegenen Gewandtheit nicht den kürzeren zog.

Wie aber doch auch sonst deutschfreundliche Ausländer häufig unter dem Eindrucke der feindlichen Propaganda über angebliche deutsche Greuel standen, zeigte der Umstand, daß der holländische Geschäftsträger noch im Jahre 1917 einmal gesprächsweise erwähnte, in seinem Besitze befänden sich Materialien, welche zur Anlegung von Bränden dienen sollten, und die er selber von deutschen Soldaten im August 1914 in Löwen erhalten habe. Bei näherer Untersuchung ergab sich, daß es Körner der Pulverladung deutscher Feldgeschütze waren, die in ihrer eigentümlichen Form einem Laien verdächtig erscheinen konnten, im übrigen für den angeblichen Zweck natürlich weder bestimmt noch geeignet waren.

Besonders in Angelegenheiten des später zu erwähnenden amerikanischen Ernährungswerkes waren zahllose Verhandlungen mit den Gesandten nötig. Es bestand dafür eine besondere, der Politischen Abteilung angegliederte Kommission, V. C. N. genannt, welche aus Vertretern der wichtigsten deutschen Behörden gebildet war und die Vermittelung mit dem Comité national zu leisten hatte. Diese Aufgabe war nicht immer leicht, wenn anscheinende Übergriffe von seiten deutscher Behörden oder Einzelpersonen, oder andererseits von seiten des Komitees oder seiner ausländischen Unterstützungskräfte vorzuliegen schienen.

Zur Politischen Abteilung gehörte weiter die Pressezentrale, welche ihrerseits in eine Nachrichtenabteilung und eine Zensurabteilung zerfiel. Ihre Zwecke sind durch die Namen bereits gekennzeichnet.

[62] Es war klar, daß die belgische öffentliche Meinung mit Nachrichten versorgt werden mußte. Dies durfte nicht im deutschfeindlichen Sinne erfolgen, sondern im deutschen Interesse war es nötig, daß wichtige Nachrichten über deutsche Verhältnisse überhaupt, über diejenigen im Generalgouvernement im besonderen, der Bevölkerung zugänglich gemacht wurden. In diesem Sinne wurde die zunächst ganz eingegangene, bald aber in vielen verschiedenen Erzeugnissen wieder auflebende Tagespresse beeinflußt. Zeitungen, welche sich diesen Bestrebungen gefügig zeigten, wurden unterstützt oder neu auf den Plan gerufen.

Als Organe dieser Pressezentrale waren den Militärgouverneuren besondere Pressedelegierte zugeteilt, welche in ihrem Bereich die entsprechenden Aufgaben zu lösen hatten. Hauptwert mußte von ihnen in den flämischen Provinzen auf die Förderung der flämischen Presse gelegt werden. Da auch in dem flandrischen Etappengebiet sehr große Interessen dieser Art zu vertreten waren, ergaben sich häufig Reibungen mit den Etappenbehörden, die oft nach anderen Gesichtspunkten zu arbeiten gezwungen waren, wie die Behörden des Generalgouvernements, oder auf eigene Faust Politik trieben.

Das Gebiet der Presse wäre eigentlich wohl mehr der Bearbeitung durch die inneren Verwaltungsbehörden zuzuteilen gewesen. Im ersten Zeitraum der deutschen Besetzung war dies auch tatsächlich so gewesen. Als aber die Betonung der politischen Wichtigkeit der Flamenfrage immer mehr in den Vordergrund trat, wurden die hierfür von einschneidender Bedeutung werdenden Presseangelegenheiten der Politischen Abteilung übertragen.

Erst mit Durchführung der Verwaltungstrennung im Jahre 1917 wurde die Presseabteilung den beiden Verwaltungschefs für ihre Sondergebiete überwiesen. Es war naturgemäß, daß dem Verwaltungschef für Flandern, dem nunmehr in erster Linie die Förderung der Flamenbewegung oblag, auch die Verfügung über das starke Machtmittel der Presse gegeben wurde. Dasselbe galt für Wallonien.

Die Kontrolle der belgischen Ausfuhr während des Krieges war dem Kommissar des Kriegsministeriums übertragen gewesen, solange die Beibehaltung dieser Dienststelle nötig erschienen war. Mit ihrer Aufhebung im Herbst 1915 ging sie auf die auch mit außenwirtschaftlichen Fragen befaßte Politische Abteilung über. Nur eine Anzahl Artikel, welche ganz besonderen Aufgaben der deutschen Kriegswirtschaft dienen sollten, unterlagen der Beaufsichtigung anderer Verwaltungsbehörden. Es waren dies besonders Lebens-, Genuß- und Futtermittel, alle Erzeugnisse der Kraftwagenindustrie, Öle, Fette, Kohlen, Metalle und Metallbearbeitungsmaschinen.

Bei Bearbeitung dieser oft schwierigen Fragen arbeitete die Politische Abteilung im engen Zusammenhang mit der Abteilung für Handel und Gewerbe.

Ein besonderer Delegierter des Generalgouverneurs war hauptsächlich für solche Zwecke der deutschen Gesandtschaft im Haag zugeteilt, da Holland für die Ausfuhr in erster Linie in Frage kam.

[63] Bei der Besetzung der belgischen Hauptstadt Brüssel mußte es natürlich von höchstem Werte sein, die belgischen Staatsarchive, soweit sie nicht von der geflüchteten Regierung mitgenommen waren, in die Hand zu bekommen. Die Durchforschung der vorgefundenen reichen Schätze wurde der Politischen Abteilung übertragen.

Viele für Belgiens politische Beziehungen vor dem Kriege und bis zum Kriege wichtige Aktenstücke wurden einer genauen Durchsicht unterzogen. Besonders die Ministerien des Auswärtigen und des Krieges lieferten reiche Ausbeute. Schon während des Krieges wurden Teile dieser Akten veröffentlicht, um nachweisen zu können, daß Belgien durch sein politisches Verhalten vor dem Kriege seine Besetzung durch Deutschland selbst verschuldet, und daß Deutschland nicht zum Kriege mit der Entente getrieben habe.

Daß der letztere Beweis für jeden, der in der Lage und des Willens ist, Aktenstücke richtig zu lesen, besonders aus den Gesandtschaftsberichten des langjährigen belgischen Gesandten in Berlin, des Barons Greindl, klar erbracht ist, unterliegt keinem Zweifel mehr.

Nicht so klar konnte ersteres aus dem aufgefundenen Material erwiesen werden. Zwar wurden allerlei Schriftstücke ermittelt, aus denen sich klar ergab, daß Verhandlungen von englischer Seite mit belgischen Behörden über gemeinsame Kriegführung und ähnliches stattgefunden hatten; der von deutscher militärischer Seite schon lange gehegte, und in dieser Beziehung wohl auch auf Wahrheit beruhende Verdacht konnte aber durch wirklich schlüssige Beweise nicht erhärtet werden. Es wurde nicht klar, inwieweit die verantwortlichen englischen und belgischen Staatsbehörden mit diesen Verhandlungen befaßt gewesen, ob aus vorläufigen Verabredungen endgültige Vereinbarungen entstanden waren. Auch die einwandfrei erwiesene häufige Anwesenheit französischer und englischer Generalstabsoffiziere zu dienstlichen Reisen mit Wissen der belgischen Regierung war zwar verdächtig, aber bewies nichts Endgültiges.

Im Spätsommer 1918 wurde noch einmal ein vereinzelter Fund in einem bis dahin unbenutzten Schreibtisch der deutschen Kommandantur in Brüssel gemacht, die ihre Geschäftszimmer in den Räumen des belgischen Ministeriums des Auswärtigen hatte. Es fand sich dort ein Paket Originalberichte belgischer Gesandter aus Berlin, London, Paris und anderen Hauptstädten, umfassend etwa die letzten sechs Wochen vor Kriegsbeginn. Anscheinend waren sie noch nicht in die betreffenden Aktenstücke eingeordnet gewesen und bei der eiligen Flucht der Behörden aus Brüssel vergessen worden. Darunter befand sich ein Originalbericht des belgischen Gesandten in Paris, Guilleaume, von ihm selbst unterzeichnet, vom 31. Juli 1914, also von einem Tage, an dem von irgendeiner deutschen Kriegserklärung oder von einer Verletzung der belgischen Neutralität keine Rede sein konnte, an seinen vorgesetzten Minister.

An diesem Tage meldete der belgische Militärattaché in Paris seinem Gesandten unter anderem, daß ihm vom Chef des 2. Bureaus des Generalstabes, [64] welches der Mobilmachungsabteilung im deutschen Großen Generalstabe entsprach, dienstlich mitgeteilt worden sei, der englische Militärattaché habe soeben erklärt, im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich könne dieses auf englische Hilfe mit allen Mitteln, auch mit den Waffen, rechnen. Ob und in welcher Weise dieses auffällige Schriftstück seitens des deutschen Auswärtigen Amtes, dessen Staatssekretär es ausgehändigt wurde, verwertet worden ist oder vielleicht noch werden soll, entzieht sich bisher der Kenntnis.

Zwei besonders wichtige Gebiete, deren Bearbeitung der Politischen Abteilung vorbehalten war, betrafen die Kirchenpolitik und die Flamenbewegung. Jedem von beiden muß ein besonderer Abschnitt gewidmet werden, da sie für die Beurteilung der Tätigkeit der deutschen Verwaltung in Belgien von ungewöhnlichem Wert sind.


Die Kirchenpolitik.

Die belgische Bevölkerung ist zu so überwiegendem Teile katholisch, daß der verschwindende protestantische Bevölkerungsteil irgendeine Bedeutung überhaupt nicht besitzt. Obwohl weite Kreise der Einwohner besonders in den wallonischen Landesteilen politisch liberal oder sozialistisch gesonnen waren, hatte doch die klerikale Partei und mit ihr die katholische Kirche die politische Gewalt in Händen. Ihr Einfluß auf die großen Schichten des geistig weniger regsamen niederen Volkes war bedeutend und wurde durch den sehr zahlreichen Klerus, unterstützt von vielen Klöstern und geistlichen Einrichtungen aller Art, besonders auch Schulen, in ganz bestimmter Richtung ausgeübt. Mit Ausnahme weniger Geistlicher, besonders jüngerer, deren Anschauungen im flämischen Volkstum wurzelten, war der belgische Klerus durchaus französisch orientiert. An seiner Spitze der Erzbischof von Mecheln, der Kardinal Mercier.

Aus dem wallonischen Landesteil mit französischer Muttersprache gebürtig, hatte er schon von selbst die französische Geistesrichtung der belgischen Oberschichten. Dazu kam, daß er in der deutschen Verwaltung den Landesfeind und die Vertretung derjenigen Gewalten sah, in welchen er von den Zeiten der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges her den unversöhnlichen Feind seines Bekenntnisses erblicken zu müssen glaubte. Es kam hinzu, daß der Kardinal und mit ihm die Geistlichkeit eine Schmälerung ihres bis jetzt übermächtigen Einflusses im Lande und in der Regierung durch die deutsche Besetzung, deren Dauer man ja nicht übersehen konnte, befürchten mußte. Es war anzunehmen, daß die deutsche Regierung paritätisch, also im Sinne dieser Geistlichkeit ungerecht handeln würde, und dagegen glaubte letztere mit allen Mitteln angehen zu müssen.

Es muß dagegen besonders betont werden, daß den Generalgouverneuren nichts ferner lag, als etwa einen Kulturkampf in Belgien zu entfesseln, ein Beginnen, dessen Unsinnigkeit in dem rein katholischen Lande in die Augen springen [65] mußte. Diese Auffassung wurde auch zu wiederholten Malen den klerikalen Kreisen in Belgien und auch in Deutschland, wo auch manchmal Spuren einer solchen Befürchtung auftauchten, ausdrücklich kundgetan.

Dem belgischen Klerus lag aber nichts daran, den Glauben an eine solche drohende Unterdrückung seiner Kirche im Volke zu zerstören, weil er eben eine Minderung seines Einflusses befürchtete.

Obwohl die deutsche Verwaltung sich also peinlich jedes Eingriffes in die kirchlichen Gerechtsame und Verhältnisse enthielt, sich dauernd in der Verteidigung befand und nur selten gezwungenermaßen zu Maßregeln greifen mußte, welche die Freiheit einzelner Organe der Kirche beeinflussen konnten, wie es eben die Kriegszeit mit sich brachte, kam der von Kardinal Mercier entfesselte Kampf nicht zum Stillstand, nahm vielmehr immer schärfere Formen an.

Letzterer hatte sehr bald erkannt, daß der Generalgouverneur in seinem Verhalten gegen die katholische Kirche in Belgien stets durch die deutsche Regierung gefesselt werden würde, die sich in ihrer innerpolitischen Schwäche unter dem Einflusse des deutschen Zentrums befand. So konnte er sich manches herausnehmen, wissend, daß der Generalgouverneur immer von seiner Regierung gehindert werden würde, selbst wenn er in der Notwehr Anordnungen treffen mußte, welche den Interessen der Kirche in Belgien abträglich waren.

Wie geflissentlich von deutscher Seite versucht wurde, sich mit der höchsten geistlichen Stelle im Lande von vornherein auf einen guten Fuß zu stellen, zeigt der Umstand, daß der neuernannte Generalgouverneur, Generalfeldmarschall Freiherr v. d. Goltz, sich beeilte, dem Kardinal Mercier den Besuch zu erwidern, welchen er ihm zur Vorbringung verschiedener Klagen gemacht hatte.

Dasselbe tat dann später auch sein Nachfolger, der Generaloberst Freiherr v. Bissing.

Es kann nicht erwiesen werden, wo zuerst in Belgien die Überzeugung entstanden ist, daß von seiten der deutschen Regierung die feste Absicht bestünde, die belgische Bevölkerung evangelisch zu machen. Die Annahme, daß die höhere belgische Geistlichkeit diesen Glauben gehabt habe, würde gänzlich fehlgehen. Dazu war sie doch zu klug.

Aber ebenso sicher ist, daß sie nie diesem Glauben entgegengetreten ist, und dadurch allein schon ihn unterstützte, da sie ja gar kein Interesse daran haben konnte, ihn zu bekämpfen. So hatte sich diese Anschauung in vielen belgischen Köpfen befestigt und diente natürlich dem Klerus dazu, seine Anhänger noch fester um das Glaubenspanier zu scharen.

Die belgischen Geistlichen waren insofern Staatsbeamte, als sie einen Teil ihrer Gehälter von der belgischen Regierung erhalten hatten. Wie von allen anderen Staatsbeamten mußte also von ihnen die Erklärung verlangt werden, daß sie sich jeder feindlichen Handlung gegen die deutsche Verwaltung enthalten wollten, widrigenfalls sie des Gehaltes verlustig gingen. Obwohl er nicht [66] der Vorgesetzte der übrigen belgischen Bischöfe und deren Geistlicher, sondern nur Primus inter pares war, übernahm im Einverständnis mit der deutschen Verwaltung nun der Kardinal die Gesamtverpflichtung und damit Verantwortung für alle Geistlichen, was natürlich eine große Vereinfachung bedeutete.

Es bleibe dahingestellt, ob sein Einfluß auf den Klerus nicht weit genug reichte, oder ob er ihn nicht anwenden wollte - Tatsache ist jedenfalls, daß sehr viele Geistliche in schwere Verfehlungen gegen die deutsche Obrigkeit verwickelt wurden, mehr jedenfalls, als nach ihrem Prozentsatz innerhalb der Bevölkerung natürlich gewesen wäre. In mehreren geistlichen Instituten fanden sich im Laufe der Zeit Organisationen, welche die Abwanderung von jungen Belgiern über die Grenze bezweckten, und die Zahl der einzelnen Geistlichen, welche in Spionageprozesse verwickelt wurden, war sehr groß. Sie mußten behandelt werden wie andere Verbrecher ähnlicher Art, und mancher büßte seine Schuld mit dem Tode.

Mehrfach wurde verlangt, daß in dieser Weise schuldige Geistliche ihren geistlichen Oberen zur Bestrafung übergeben werden sollten. Dieses Verlangen war ganz abwegig. Denn irgendeine Sicherheit, daß diese Leute bestraft werden würden, bestand natürlich nicht; es wäre geradezu eine Belohnung der Spionage gewesen.

Denn der Kardinal selbst hielt sich nicht im Rahmen der von ihm gegebenen Loyalitätserklärung. Es war ihm auf seinen Wunsch jede Verkehrsmöglichkeit gegeben worden; er durfte seinen Kraftwagen für seine zahlreichen Reisen benutzen, es bestand Zensurfreiheit für seine Hirtenbriefe und sonstigen Erlasse, und auch sein Postverkehr mit dem Heiligen Stuhl durch Vermittlung des in Brüssel residierenden Nuntius war unbeschränkt.

Trotzdem erließ er am 1. Januar 1915 einen Hirtenbrief an seine Diözesanen, dessen Inhalt von Hetzereien gegen die deutsche Behörde erfüllt war; er wurde von allen Kanzeln verlesen; natürlich wurde er sofort beschlagnahmt, aber der Schaden war nun einmal geschehen. Vom Standpunkt des belgischen Patrioten hatte der Kardinal zweifellos recht, vom deutschen natürlich nicht, und so ergaben sich aus diesem Zwiespalt bei der leidenschaftlichen Natur des Kirchenfürsten die schwersten Zerwürfnisse.

Natürlich blieben die Streitigkeiten nicht auf Belgien beschränkt. Die deutsche und ausländische Presse nahm zu der Angelegenheit Stellung; der Kardinal rechtfertigte sich schriftlich, protestierte und wandte sich an seine geistlichen Kollegen in Deutschland und den Papst. Als die ersteren sich seinem Standpunkt nicht anschlossen, behauptete er, sie seien über seine Angelegenheiten, besonders über den Text seines Hirtenbriefes, nicht unterrichtet, was nicht den Tatsachen entsprach, und suchte immer wieder durch spitzfindige Denkschriften und Erwiderungen seine Gegner ins Unrecht zu setzen und sich reinzuwaschen.

Selbst eine Reise nach Rom, um dort seinen Standpunkt klarzustellen, wurde ihm genehmigt, selbstverständlich nur nach Abgabe des Versprechens, [67] im Auslande nicht hetzerisch gegen Deutschland zu wirken. Auch dieser Verpflichtung kam er nicht nach. Im Gegenteil scheute er sich nicht, in Rom ein Zusammentreffen mit Briand, dem damaligen französischen Ministerpräsidenten, zu suchen. Was dort besprochen wurde, entzieht sich natürlich deutscher Kenntnis; deutschfeindlich war es in jedem Falle, und das Verhalten des Kardinals verstieß in gröblichster Weise gegen sein gegebenes Versprechen.

Die Frage wurde damit brennend, ob Mercier wegen dieses Wortbruches die Rückkehr in seine Diözese überhaupt gestattet werden sollte. Der Generalgouverneur war sehr entschieden dagegen, aber die Reichsleitung beging den schweren Fehler, die Wiedereinreise zu erlauben, vermutlich auf Betreiben deutscher klerikaler Kreise. Zwar wären bei einem Verbot zweifellos im ersten Augenblick einige Schwierigkeiten entstanden, die deutsche Regierung wäre im In- und Auslande angegriffen worden, aber bei der Offensichtlichkeit der Schuld hätten sich die aufgeregten Wogen bald wieder beruhigt. Ein Quell vieler künftiger Unannehmlichkeiten wäre von vornherein verstopft worden.

Immerhin war erreicht, daß auch der Papst das Verhalten Merciers mißbilligte und ihn zu einwandfreiem Benehmen gegen die besetzende Macht anhielt. Der Erfolg war nicht durchschlagend, und wenn auch fürderhin nicht gerade schwere Verstöße des Kardinals zu verzeichnen waren, so flammte seine Unbotmäßigkeit bei jeder Gelegenheit auf, falls einmal von geistlicher oder deutscher untergeordneter Stelle irgendwo ein Übergriff stattgefunden hatte oder es wenigstens so schien. Unter den belgischen Geistlichen gab es sehr streitbare Naturen, und verschiedene andere Bischöfe machten der deutschen Verwaltung viel zu schaffen.

Auch dem vermittelnden Verhalten der deutschen katholischen Militärgeistlichkeit gelang es nicht immer, Streitigkeiten vorzubeugen. Wenn es einmal gelungen war, aus einem Hirtenbrief, dessen Erscheinen bevorstand, durch gütliches Zureden einige besonders verhetzende Stellen rechtzeitig zu entfernen, dann ergab sicher kurze Zeit darauf eine angebliche Verkehrsbeschränkung für einen Bischof neuen Grund zum Streit.

Es muß dabei auch berücksichtigt werden, daß dem Generalgouverneur auch in den belgischen Etappengebieten die Führung der Kirchenpolitik ausdrücklich von der Obersten Heeresleitung zugesprochen worden war, um ihre Einheitlichkeit zu wahren, daß aber die Armee- und Etappenbehörden ganz natürlich oft ganz andere Interessen hatten, die mit den geistlichen zusammenstießen. Daraus entstand wieder eine Fülle von Streitpunkten, in denen das Generalgouvernement ausgleichend und vermittelnd einzugreifen berufen war.

Besonders heftige Konflikte entstanden über die Frage der Benutzung katholischer Kirchen für evangelischen Gottesdienst.

In Nordfrankreich hatten sich keine Schwierigkeiten in dieser Kirchenfrage gezeigt. Evangelische und katholische Militärgeistliche hielten abwechselnd Gottes- [68] dienst in derselben Kirche für ihre Gemeindemitglieder ab. Die Sache verlief im besten Einvernehmen. Auch im belgisch-flandrischen Etappengebiet hatten sich die Bischöfe von Brügge und Gent wohl oder übel mit der Abhaltung evangelischer Gottesdienste in einigen ihrer Kirchen einverstanden erklärt. Ganz anders im Gebiete des Generalgouvernements.

Zur Abhaltung des Gottesdienstes bedurfte es einer ausdrücklichen Genehmigung des zuständigen Bischofs. Denn wenn ohne seine Genehmigung etwa die Beschlagnahme einer katholischen Kirche für evangelischen Gottesdienst erfolgt wäre, so war er nach kanonischem Recht verpflichtet, die Kirche mit dem Interdikt zu belegen. Dies bedeutete, daß in einer solchen Kirche kein katholischer Gottesdienst stattfinden durfte, bis das Interdikt wieder aufgehoben wurde. Auch die deutschen katholischen Militärgeistlichen mußten sich dem fügen, denn auch für sie bestand das kanonische Recht. So wäre es denn gekommen, daß in Ortschaften mit nur einer Kirche entweder kein evangelischer oder kein katholischer Gottesdienst stattfinden konnte. In den Orten des Generalgouvernements war durch den Kardinal und die durchaus in seinem Fahrwasser segelnden Bischöfe von Lüttich und Namur in keinem Falle die Genehmigung zur Benutzung einer Kirche gegeben worden. Natürlich traf dies auch auf Gebiete zu, welche im Laufe der Zeit an die Etappen abgetreten wurden. Deren Behörden wiederum, die es in ihren alten Gebieten ja anders gewohnt waren, hatten meist kein Verständnis für die andersgearteten Verhältnisse im Generalgouvernement und erlaubten sich manchmal Übergriffe oder drohten wenigstens damit. Grund genug zu schweren Protesten seitens der Bischöfe und des Kardinals und keine Möglichkeit, ihnen auch nur mit dem Schein des Rechtes entgegenzutreten.

Fast ebenso große Unannehmlichkeiten entstanden, wenn den Bischöfen zeitweise die Bewegungsfreiheit in den Etappen verwehrt wurde. Sie brauchten diese Freiheit für ihre Visitations- und Firmungsreisen und zu anderen kirchlichen Zwecken. Zu gewissen Zeiten, besonders bei der Vorbereitung großer Angriffe u. dgl. mußten aber die Armeen den Zivilverkehr gänzlich sperren, um die Geheimhaltung möglichst zu sichern, also ganz mit Recht. Es war aber natürlich ganz ausgeschlossen, einem solchen Kirchenfürsten Verständnis für derartige Notwendigkeiten beizubringen. Er bestand auf seinem Schein und der Protest und Konflikt war fertig.

Fast den schlimmsten Grund zu schweren kirchlichen Ärgernissen hatte aber die drohende Beschlagnahme der belgischen Kirchenglocken gegeben.

Schon im Deutschen Reich hatte diese Kriegsnotwendigkeit in weiten Kreisen große Unruhe erregt. Nur die bittere Not und der dringende Bedarf an Bronzemetall hatte auch die katholische Geistlichkeit zur freiwilligen Ablieferung dieser geweihten Kirchengeräte veranlaßt.

Nun wurde von weiten Kreisen in der Heimat verlangt, daß auch in Belgien die Glocken beschlagnahmt werden sollten. In Frankreich entstanden weniger [69] Umstände, um so mehr, da viele Kirchen dort in den Kämpfen schwer beschädigt oder ganz zerstört waren.

In Belgien war auf freiwillige Ablieferung natürlich unter keinen Umständen zu rechnen. Die Beschlagnahme hätte einen Kirchenfrevel bedeutet, aber nicht nur in Belgien, sondern auch in deutschen katholischen Kreisen und natürlich in Rom schweres Ärgernis erregt. Dieses begann sich bereits zu äußern, als nur eine Bestandaufnahme angeordnet wurde, um die Menge des in Frage kommenden Metalls festzustellen. Die Schwierigkeiten wurden so groß, daß schließlich die Reichsleitung von der Beschlagnahme abzusehen vorschlug. Ob beim weiteren Fortgange des Krieges die Notwendigkeit nicht schließlich doch eingetreten wäre, ist schwer zu sagen. Wie die Bestandaufnahme ergeben hatte, war die Metallmenge nicht einmal groß. Es handelte sich um einige hundert Tonnen im ganzen.

Zur Leitung aller dieser sehr schwierigen Verhandlungen war der Chef der Politischen Abteilung berufen und dem Generalgouverneur verantwortlich. Es bedeutete für ihn eine wahre Sysiphusarbeit, dem Kardinal in die Irrgänge der spitzfindigen Dialektik seiner Schriftsätze zu folgen, in denen er immer wieder das Völkerrechtswidrige und Antikirchliche der Maßregeln des Generalgouverneurs zu beweisen und sich und die Geistlichkeit als harmlos und von loyalstem Willen erfüllt hinzustellen suchte.


Die Flamenbewegung.

Obwohl die deutsche Zivilverwaltung in Belgien zunächst nichts mit den nationalen Unterschieden zwischen Flamen und Wallonen zu tun hatte, ja dieselben planmäßig außer acht ließ, brachte es doch bald die Gewalt der Umstände mit sich, daß sie sich immer mehr damit beschäftigen mußte, weil es sich herausstellte, daß die Ausnutzung der völkischen Interessen in Belgien für deutsche Zwecke vielleicht recht wichtig werden könne.

Mit großer Leidenschaft geführt, aber ohne größere sichtbare Erfolge, tobte in Belgien der Kampf der flämischen Volksmehrheit gegen die regierende wallonisch-französische Minderheit. Letztere zählte fast die gesamte gebildete Oberschicht des Landes zu ihren Anhängern, einschließlich vieler geborener Flamen, und es war ihr so gelungen, ihre Macht in fast absoluter Weise im Lande zur Geltung zu bringen. Von langer Zeit her war alles geschehen, um die Flamen zu unterdrücken; ihre Sprache hatte erst in letzter Zeit eine gewisse Gleichberechtigung errungen, aber alles, was seitens der Regierungspartei geschehen konnte, um dem flämischen Volke den Aufstieg zur gebildeten Oberschicht zu verwehren, geschah mit großer Planmäßigkeit. Die Schulen, niedere wie höhere, wurden nur begünstigt, wenn sie französisch gerichtet waren, die Beamten aus wallonischen Kreisen wurden besser behandelt, und so ging mit [70] wachsendem Erfolge die Französierung des Landes vorwärts. Es kam hinzu, daß seitens der französischen Republik den Wallonen alle geistige und materielle Unterstützung zufloß, deren französischer Chauvinismus nur fähig war, während umgekehrt das gleichstämmige Holland den Flamen in keiner Weise zu Hilfe kam. Holländische Schwerfälligkeit und die Verschiedenheit der Konfession mag dazu der Grund gewesen sein.

Trotz dieser Unterdrückung brannte in einer Anzahl flämischer Herzen hell die Erinnerung an die einstige Macht und Blüte des flandrischen Landes und Volkes und der glühende Wunsch nach ihrer Wiederkehr. In den Massen waren diese Gefühle nur dumpf vorhanden; sie lebten in stumpfer Gleichgültigkeit nur den Anforderungen des täglichen materiellen Behagens oder des notdürftigsten Kampfes um das tägliche Brot.

Sehr auffällig und ein Zeichen für die Kraft dieser nationalen Empfindung war der Umstand, daß die Verschiedenheit der Konfession und der politischen Auffassung unter den Flamenführern keine Rolle spielte; sie waren in dieser Beziehung nicht klerikal oder liberal, nicht katholisch oder evangelisch, sondern nur flämisch. Aber dieser führenden Männer gab es nur wenige.

Über diese stillen Kämpfe war in nichtbelgischen Ländern, auch in Deutschland, im ganzen nur wenig bekannt. Die wenige vorhandene Literatur darüber war schon recht alt und ziemlich verstaubt.

In diese völkischen Beziehungen mischte sich die deutsche Verwaltung.

Es hat bisher noch nicht einwandfrei festgestellt werden können, auf welche Weise der Gedanke, die Flamenbewegung deutschen Zwecken dienstbar zu machen, entstanden und von wem er zuerst fruchtbringend ins Auge gefaßt worden ist. Der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg hat allerdings schon sehr frühzeitig, schon in den ersten Wochen der Besetzung Belgiens, auf die flämische Bewegung und ihre eventuelle Bedeutung für Deutschland aufmerksam gemacht. Dieser Hinweis fand aber damals keinen Anklang und verschwand zunächst in den Schubladen der Zivilverwaltung.

Es scheint, daß dann von anderer Seite, und zwar aus der flandrischen Front, auf dem Wege über den Kronprinzen Rupprecht von Bayern die Anregung gekommen ist, die Gegnerschaft der Flamen gegen ihre Regierung dazu zu benutzen, um durch gute Beziehungen mit ihnen und sie unterstützend die Sicherheit der deutschen in Flandern stehenden Truppen besser zu gewährleisten.

Andere Anregungen kamen hinzu; von verschiedenen Seiten aus wissenschaftlichen Kreisen gelangten Denkschriften, Artikel und andere Veröffentlichungen ähnlichen Inhalts an den Generalgouverneur, so daß dieser um die Wende der Jahre 1914/15 der Angelegenheit nähertrat, die Anregung des Reichskanzlers wieder hervorholen ließ und mit dessen Einverständnis in eine aktive Betätigung der Flamenpolitik eintrat.

[71] Es entstand nun die Frage, was sollte mit der Unterstützung der Flamen in Belgien eigentlich bezweckt und erreicht werden.

Diese Frage hängt mit der Frage der deutschen Kriegsziele, soweit sie Belgien betrafen, unlöslich zusammen.

Daß die oberste politische Leitung des Deutschen Reiches jemals auch in dieser Hinsicht klare Ziele gehabt hat, ist höchst unwahrscheinlich. Jedenfalls hat sie dieselben nie klar ausgesprochen, besonders nicht in den ersten Kriegsjahren. Über das unglückliche Bekenntnis einer Schuld gegenüber Belgien und der Verpflichtung, diese wieder gutzumachen, ist sie kaum hinausgekommen. Später wurde dann wohl erklärt, daß wir Belgien nicht behalten wollten; aber doch leuchtete es dabei durch, daß Deutschland gewisse Rechte und einen beträchtlichen Einfluß weiterhin besitzen müsse. Etwas Klares, Bestimmtes war niemals zu erfahren, trotz vielfacher Anfragen und Anregungen, die von den verschiedenen Generalgouverneuren häufig nach Berlin gerichtet wurden.

Und doch wäre diese Klarheit so dringend nötig gewesen. Denn ohne sie, ohne feste Richtlinien über das festzuhaltende Ziel war den verschiedensten Ansichten über Belgiens Schicksal Tür und Tor geöffnet. Diese konnten sich nunmehr so recht austoben. Von den Absichten, die eine vollständige Einverleibung von ganz Belgien, besonders der flandrischen Küste, in das Deutsche Reich forderten, bis zum vollen Verzicht auf irgendwelchen Einfluß im Lande, ergab sich eine reiche Abstufung. Auch die mit der Durchführung der Flamenpolitik betrauten Beamten konnten sich diesen verschiedenen Auffassungen nicht entziehen. Man kann sich also denken, an wie verschiedenen Strängen demnach gezogen wurde. Nicht zum Nutzen der Sache, denn die Flamen selber, die ein feines Gefühl für die Art des ihnen gewährten Entgegenkommens bekamen, mußten den oft zwiespältig erscheinenden Worten und Handlungen der Persönlichkeiten, mit denen sie zu tun hatten, nur zu häufig mißtrauen.

Die Auffassungen der Generalgouverneure über die Zukunft Belgiens haben sich mehrfach geändert. An den Generalfeldmarschall Freiherr v. d. Goltz trat die Frage noch nicht eigentlich heran, ehe er nach der Türkei berufen wurde. Vom Generaloberst Freiherr v. Bissing steht fest, daß er in den ersten Kriegsjahren auf dem Standpunkt gestanden hat, Belgien müßte in Deutschland einverleibt werden; noch im Spätjahre 1916 bekannte er sich dazu. Zuletzt war er aber dann zu der Auffassung gekommen, daß Belgien zwar selbständig, aber mit deutlicher Anlehnung, besonders in wirtschaftlicher Beziehung, an Deutschland bestehen müßte. Diese letztere Auffassung teilte der letzte Generalgouverneur Generaloberst Freiherr v. Falkenhausen.

Die Richtlinien, welche zur Verwirklichung dieses Zieles führen sollten, wurden beim Generalgouvernement festgelegt.

Um die Anlehnung an Deutschland zu erzielen, erschien es zweckmäßig, Belgien dadurch zu schwächen, daß die bisherige zentralistische Regierung einer [72] für das flämische und wallonische Land geteilten Verwaltung Platz machen müsse. Indem so die Verwaltung im Flamland mit vielen deutschen Beamten durchsetzt worden wäre, die erst allmählich den heranzubildenden flämischen Platz machen würden, sollte der deutsche Einfluß befestigt werden, der schon durch den unvermeidlichen Gegensatz gegen den französisch-wallonischen von selbst entstehen mußte. Das in nicht zu ferner Zeit zu erreichende Ziel war also die Verwaltungstrennung.

Sie war nicht eigentlich gedacht als ein Zerfall des belgischen in zwei ganz selbständige Staaten, sondern mehr als der Weg zu einem Föderativstaat, verbunden durch Personalunion des belgischen Königshauses.

Diesem Zwecke sollte die Belebung des flämischen Selbstbewußtseins, die Zusammenfassung der völkischen Stoßkraft und die Heranbildung der nötigen Führer durch intensive Förderung der flämischen Kultur dienen. Presse, Propaganda, Unterricht, besonders auch der Hochschulunterricht, mußten gefördert werden, lauter Dinge, die vollständig im argen lagen.

So mußte ziemlich weit unten angefangen werden.

Als ein Hauptmittel zur Heranbildung von geistigen Führern des Volkes wurde die Wiederbelebung der einstmals flämischen Universität in Gent, welche inzwischen französisch geworden war, im alten Sinne angesehen. Sie war die einzige "Hoogeschool", welche den Flamen geboten werden konnte. Es war nicht einfach, sie auf die Füße zu stellen. Ein flämisches Professorenkollegium fehlte ganz; auch war die Gelehrtenschicht, aus denen es hätte gebildet werden können, sehr dünn; manche, die in Frage kamen, scheuten sich auch zunächst, sich so schroff in Gegensatz zu ihrer eigenen Regierung zu stellen, welche niemals in die Flamisierung dieser Universität gewilligt hätte.

Unter Heranziehung holländischer Gelehrter gelang es dann endlich, die Eröffnung der Universität im Oktober 1916 vorzunehmen. Durch Stiftung namhafter Kapitalien aus den Fonds der belgischen Verwaltung wurde die junge Hochschule auch materiell auf eigene feste Füße gestellt.

Zunächst sah es allerdings um ihre Zukunft etwas trübe aus; es fehlte nämlich an Hörern, während das Dozentenkollegium ziemlich vollzählig geworden war.

Von den als flämische Hörer geeigneten jungen Leuten waren sehr viele als Soldaten im belgischen Heere, andere in deutscher Gefangenschaft, und überhaupt war ja, wie schon geschildert, die Schicht der für höhere Bildung geeigneten Flamen noch dünn. Aber bald hob sich die Zahl der Studenten, und als im Herbst 1917 die Hochschule auf ihr einjähriges Bestehen zurückschauen konnte, da schien die Zukunft dieser Pflanzstätte flämischer Kultur gesichert. Und dies trotz des häufig hervortretenden Widerstandes, welchen vielfach die Etappenbehörden in vielleicht zu schroffer Wahrung ihrer eigenen Interessen der Universität leisteten. Eine scharfe Überwachung der Hochschulmitglieder [73] in bezug auf ihre politische Zuverlässigkeit und die Sicherung gegen etwaige Spionagetätigkeit war ja nötig. Aber manchmal artete diese von seiten untergeordneter Organe in kleinliche Schikane aus, und so wurde es dem Generalgouvernement nicht leicht, die Rechte seiner Schützlinge immer zu wahren.

Eine der hauptsächlichsten Notwendigkeiten für die Hebung der flämischen Rasse war die Förderung ihrer Sprache. Diese galt, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung nur ihrer mächtig war, einfach als minderwertig. Nach gesetzlicher Bestimmung waren Flämisch und Französisch zwar in der Verwaltung durchaus gleichberechtigt, in der Praxis wurde von dieser Bestimmung wenig Gebrauch gemacht: Französisch war Trumpf. Schon im Schulwesen begann die Unterdrückung, indem flämische Kinder einfach in französische Schulen gesteckt wurden, obgleich sie die gesetzliche Berechtigung zu eigenem sprachlichen Unterricht hatten. Bewußt unrichtige und gefärbte Statistik war die Unterlage für diese Ungerechtigkeit. Dem wurde zunächst Abhilfe geschaffen, indem durch sorgfältige Feststellung der eigentlichen Muttersprache der Schüler die Notwendigkeit zur Neueinrichtung einer großen Anzahl flämischer Klassen sich ergab.

Desgleichen wurde eine besondere Dienstanweisung für den Gebrauch der beiden Landessprachen in den zwei Sprachgebieten erlassen. Für die staatlichen Behörden wurde die einseitige Bevorzugung des Französischen endgültig beseitigt und den meist widerspenstigen Gemeindebehörden dasselbe nahegelegt.

Die verschiedenen Maßnahmen der Verwaltung wurden von den Flamen mit Freude und Enthusiasmus begrüßt. Von den meisten auch mit Dankbarkeit; aber nicht von allen. Denn schon bald fanden sich in echt germanischer Parteispaltung auch unter den Flamen viele, denen alle diese sorgfältig vorbereiteten deutschen Maßregeln lange nicht weit genug gingen.

Während von deutscher Seite ein systematisches Hinarbeiten auf die Trennung der Verwaltungsgebiete geplant war, sahen diese Aktivisten oder Jungflamen das einzige Heil in sofortiger reinlicher Scheidung, nicht bedenkend, daß alle Grundlagen zu so radikalem Vorgehen durchaus fehlten. Aber wie ja bei allen politischen Bewegungen die extremen Parteien das große Wort zu führen suchen, so war es auch hier, und natürlich nicht zum Segen der Sache. Denn durch dies häufig stürmische Gebaren wurden viele der ruhigeren Elemente abgestoßen und der flämischen Sache überhaupt entfremdet. Der natürlich von seiten der belgischen Regierung in Le Havre allen diesen deutschen Anordnungen geleistete Widerstand, ihr Hinweis auf die angebliche Völkerrechtswidrigkeit des deutschen Vorgehens, ihr Drohen mit Repressalien nach beendetem Kriege, machten andere schwächere Naturen bedenklich.

So machte denn die flämische Bewegung nach anfänglichem Aufschwung nicht diejenigen stetigen Fortschritte, auf die sie selbst gehofft hatte.

Wie wenig fähig die Flamen überhaupt noch waren, ihre Geschicke selber in die Hand zu nehmen, zeigte bald die Geschichte des "Rates von Flandern". [74] Es war immer mehr bei den Flamen der Wunsch rege geworden, an der Fortentwicklung ihrer eigenen Sache mitzuarbeiten. Eigentlich dachten sie sich das in der Gestalt einer eigenen Volksvertretung, die sie sich hätten wählen dürfen.

Selbstverständlich lag dies ganz außerhalb des Rahmens, den die deutsche Verwaltung zimmern konnte. Es war ausgeschlossen, in Kriegszeiten einen Körper entstehen zu lassen, der etwa eigene Befugnisse in der Verwaltung hätte beanspruchen können. Wohl aber konnte man sich eine Körperschaft gefallen lassen, welche in der Lage war, die flämischen Wünsche an die deutsche Verwaltung heranzutragen und eine gewisse Vermittlung zu bewirken.

In einem ziemlich primitiven Wahlverfahren wurde nun der "Rat von Flandern" zustande gebracht. Es zeigte sich schnell, wie wenig wirklich politisch wertvolle Persönlichkeiten die flämische Intelligenz bisher besaß. Denn der nicht einmal sehr zahlreiche Rat enthielt viele recht tiefstehende Mittelmäßigkeiten, weil eben nichts Besseres vorhanden war. Bald begannen auch in dem Schoße des Rates die heftigsten inneren Streitigkeiten.

Ganz selbstverständlich hatten denn auch die Flamenführer den Wunsch, von der deutschen Regierung authentisch zu erfahren, was sie von ihr bei Kriegsende und im Frieden zu erwarten hätten. Eine mehr oder minder scharfe Lossagung von ihrer bisherigen Regierung, bei vielen auch eine radikale Absage an Belgien und seinen König überhaupt war das Ziel ihrer Wünsche.

Aber zu einer klaren Stellungnahme konnte sich die deutsche Reichsleitung nicht aufschwingen. Außer allgemeinen ermunternden Redensarten brachten die vom Reichskanzler empfangenen Mitglieder des Rates nichts anderes mit, als die Überzeugung, daß Deutschland Belgien aufgeben würde und ihre Sache somit auf sich selbst gestellt sein müßte.

Auch dies war nicht geeignet, die flämische Sache weiter vorwärts zu bringen. Zwar waren einige Lichtpunkte zu verzeichnen. Einzelne Erinnerungsfeste an vaterländische Ehrentage, so an "die goldene Sporenschlacht", ein gewisses Aufblühen flämischer Theaterkunst, sowie der Presse waren sicher eindrucksvolle und wichtige Kundgebungen, aber in weiten Kreisen griff doch eine deutliche Entmutigung um sich.

Auffallend war allerdings eine Erscheinung, die plötzlich im Jahre 1918 sich bemerkbar machte und anscheinend verheißungsvolle Ausblicke eröffnete. Natürlich waren die flämischen Bestrebungen nicht nur bei der belgischen Regierung, sondern auch bei dem im nichtbesetzten belgischen Gebiete befindlichen Volksteil, dem belgischen Heere, aufmerksam verfolgt worden. Durch den stets regen, obzwar verbotenen Nachrichtenverkehr über Holland und die auch betriebene deutsche Propaganda muß bei den Truppen von den tatsächlichen Verhältnissen in Belgien mehr bekanntgeworden sein, als der eigenen Regierung lieb sein mochte.

[75] Die sechs Infanterie- und zwei Kavalleriedivisionen starke Armee stand der 4. deutschen Armee im äußersten Zipfel von Westflandern gegenüber; ernstere Kämpfe hatten dort seit langem nicht mehr stattgefunden, als sich eines Tages an der deutschen Front einige belgische Deserteure einfanden, die wichtige Aussagen machen zu können angaben; es waren Studenten, die erklärten, die Flamenbewegung habe auch im Heere solche Fortschritte gemacht und sei den Vorgesetzten so verdächtig und gefährlich erschienen, daß mit scharfen Unterdrückungsmaßregeln dagegen vorgegangen sei. Nichts Greifbares sei allerdings dabei festgestellt worden; immerhin sei die Stimmung in weiten Kreisen der Truppen, die ja auch in der Mehrheit völkisch-flämisch sei, derartig, daß die Vorgesetzten mit erfolgreichem Widerstand gegen die Deutschen selber nicht rechneten.

Wieweit diese Nachrichten, deren Mitteilung durch eigene Vorträge dieser Überläufer der flämischen Bevölkerung weithin bekanntgemacht wurde, der Wahrheit entsprachen und nicht übertrieben waren, ist schwer festzustellen. Ein greifbares Ergebnis konnte nicht erzielt werden. Immerhin stand bei Kriegsende das ganze belgische Heer den deutschen Truppen nicht mehr als achtunggebietender Gegner gegenüber, ohne daß große Verluste oder lange schwere Anstrengungen als Grund hierfür angegeben werden konnten.

Die ersten Truppen, die bei der Endoffensive der Entente im Herbst 1918 in das aus den Händen der deutschen Verwaltung endlich befreite Gent einrückten, waren nicht etwa Belgier, sondern Franzosen. Erst in zweiter Linie folgten bezeichnenderweise Brandkommandos, national-wallonische Truppen unter französischen Offizieren, deren einzige Aufgabe es war, die Häuser der bekannten Flamenführer in Brand zu stecken und zu plündern. Dieser Auftrag wurde planmäßig ausgeführt; die betreffenden Persönlichkeiten, soweit sie nicht schon früher sich nach Holland oder Deutschland gewendet hatten, retteten nur das nackte Leben aus den Händen dieser Kulturträger.

Wenn auch die Förderung der Flamenbewegung durch die deutsche Verwaltung sonach keine besonderen Fortschritte gemacht zu haben schien, so muß doch wohl mit durch diese Verwaltung ein tieferes Verständnis für die Berechtigung der flämischen Forderungen, für die Unmöglichkeit, auf die Dauer die entfesselte Bewegung einzudämmen, selbst der belgischen Regierung aufgegangen sein.

Zwar wurden nach der Aufgabe Belgiens durch die deutschen Heere sofort die schärfsten Maßregeln gegen die Flamenführer ergriffen. Die wenigen, die im Lande verblieben waren, wurden selbstverständlich sofort verhaftet, gegen die anderen wenigstens in Abwesenheit die schwersten Urteile wegen Hochverrat verhängt. Vom belgischen Standpunkte ein ganz selbstverständliches, pflichtmäßiges Vorgehen.

Dennoch aber haben sich viele der von deutscher Seite in vierjähriger Tätigkeit getätigten Bestrebungen durchgesetzt. Die seit Kriegsende zweimal [76] erfolgten Parlamentswahlen haben den Flamen, wenn auch noch nicht die Mehrheit, so doch einen bedeutenden Stimmenzuwachs gebracht. Es ist ihnen in der Kammer gelungen, sich viel mehr durchzusetzen wie früher. Die Regierung muß auf ihre Wünsche hören. Die Sprachenverordnungen werden schon jetzt streng in der den Flamen erwünschten Weise durchgeführt, und die Trennung der Verwaltung in Flandern und Wallonien scheint bestehen zu bleiben.

Auch das eine Hauptziel der flämischen Bewegung, die Universität Gent mit flämischer Lehrsprache, dürfte wohl in kurzer Zeit erreicht werden, nachdem es mit dem Ausgange des Krieges naturgemäß wieder in weite Ferne gerückt schien.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte