Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung,
Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im
Heere
Kapitel 1: Die deutsche
Verwaltung
des Generalgouvernements in Belgien
1914-1918 (Forts.)
Generalleutnant Hans v. Winterfeld
5. Die Zivilverwaltung.
Allgemeine Organisation der Zivilverwaltung.
Der neu ernannte Verwaltungschef fand bei seinem Eintreffen in Brüssel in
bezug auf die belgische Zivilverwaltung folgenden Zustand vor: Die politischen
Beamten, also die Minister, die Gouverneure der Provinzen und die
Arrondissementskommissare, letztere etwa den preußischen
Landräten entsprechend, hatten ihre Posten verlassen; die übrigen
Beamten waren geblieben, und es sah so aus, als ob die deutsche Verwaltung mit
ihnen würde rechnen können.
Ein kurzer Blick auf die belgische Verfassung wird nötig sein, um die
Zusammenhänge besser verstehen zu können.
In Belgien herrschte verfassungsmäßig das parlamentarische System.
Zwar besaß der König das Recht, die Minister und sämtliche
Staatsdiener zu ernennen, die von den Kammern beschlossenen Gesetze zu
sanktionieren und zu verkünden, das Begnadigungsrecht und einige andere
unbeträchtliche Gerechtsame. Das parlamentarische System zwang ihn
aber, die Minister aus der [39] Mehrheitspartei zu
wählen. Hätten diese Minister ihr Amt etwa nur mit Rücksicht
auf die Bedürfnisse des Landes verwaltet, ohne dabei die ihnen von ihrer
Partei gegebene Richtlinie innezuhalten, so waren sie in den Kammern ja schnell
erledigt. Der König hatte also bei ihrer Ernennung keine Wahl; er
mußte die Persönlichkeiten nehmen, die ihm angeboten wurden und
war daher an die jeweilige Kammermehrheit gebunden.
Bei Kriegsausbruch waren die Klerikalen seit 1884 in der Mehrheit, Liberale und
Sozialisten bildeten die Minderheit.
In die Rechte des Königs war der Generalgouverneur getreten. Für
ihn war das Parlament ohne Bedeutung, und dessen Befugnisse, also in erster
Linie die Gesetzgebung, ging demzufolge auch auf ihn über. Er war also
absoluter Herrscher.
In Belgien gab es bei Kriegsausbruch die Ministerien des Auswärtigen, des
Innern, des Krieges, der Finanzen, der Justiz, der Eisenbahnen, für Industrie
und Arbeit, für Kunst und Wissenschaft, für Ackerbau und
öffentliche Arbeiten, für Post und Telegraphen und für die
Kolonien.
Das Auswärtige, Kriegs-, Eisenbahn-, Post- und Kolonialministerium
waren und blieben durch die deutsche Besetzung ausgeschaltet. Die von ihnen
verwalteten Materien fielen entweder ganz fort oder duldeten eine Bearbeitung
nur durch deutsche Beamte. Im Laufe der Zeit wurde das Ministerium für
Post und Telegraphie auch wieder zur Mitarbeit herangezogen, um den
Verkehrsdienst für die Bevölkerung mit leisten zu können.
An die Stelle der außer Landes gegangenen Minister wurde zunächst
in jedem Ministerium ein deutscher Beamter als Generalreferent eingesetzt,
welcher dem Verwaltungschef untergeordnet war.
Es war nun die Frage, wie sich die belgischen Beamten der besetzenden Macht
gegenüber verhalten würden. Wie schon gesagt, zeigte es sich sehr
bald, daß mit ihrer Mitarbeit gerechnet werden konnte. Zweifellos handelten
sie damit auf Weisung ihrer geflohenen Regierung, die verständigerweise
im Interesse ihrer Landeskinder so zu handeln glaubte. Aber auch die deutsche
Verwaltung hatte den großen Vorteil davon, daß sie gleich mit gut
eingearbeitetem Personal die Geschäfte antreten konnte und nur eine
verhältnismäßig kleine Zahl deutscher Beamter anzustellen
brauchte.
Natürlich war es nötig, sich der Loyalität der Beamten durch
eine schriftliche Erklärung, die sie abgeben mußten, zu versichern.
Dies geschah ohne Schwierigkeit, und die Gesamtheit der Beamten hat dann unter
der deutschen Verwaltung ihren Dienst ordnungsmäßig getan und mit
ihren deutschen Vorgesetzten und untereinander in durchaus korrekten
Beziehungen gestanden.
Erst als nach 2½ Jahren die Verwaltungstrennung durchgeführt
werden sollte, traten, wie zu erwarten war, Schwierigkeiten ein, deren Schilderung
an anderer Stelle erfolgen wird.
[40] Dem Chef der
Zivilverwaltung war in jeder Provinz ein Präsident unterstellt, welcher den
Militärgouverneuren bei- und ihnen für viele Dienstangelegenheiten
auch untergeordnet war. Dieses doppelte Unterordnungsverhältnis
hätte wohl zu großen Unstimmigkeiten führen können;
erfreulicherweise kamen aber nur unbedeutende Konflikte dieser Art vor, die stets
bald geschlichtet werden konnten.
Die nicht militärischen Aufgaben, welche die höchsten Befehlshaber
in den Provinzen, die Militärgouverneure zu erledigen und zu deren
Bearbeitung sie sich der Zivilpräsidenten zu bedienen hatten, waren
Wiederbelebung von Ackerbau und Handel, Verwertung der Ernte, Ausnutzung
der Steuerkraft des Landes, Eintreibung der Strafkontributionen, Sicherstellung
der Verpflegung der Bevölkerung, sanitäre Überwachung,
Überwachung der belgischen Gerichte, der Presse, der Volksstimmung und
des Verkehrs.
Ebenso wie den Militärgouverneuren die Zivilpräsidenten, waren den
Kreischefs die Zivilkommissare beigeordnet und unterstellt und mit Bearbeitung
derselben Gebiete im kleineren befaßt.
Die belgische Provinzialverwaltung zeichnet sich durch besonders weitgehende
Befugnisse der Selbstverwaltungsorgane aus. Die Provinzialräte mit ihrem
Ausschuß, der Députation permanente, hatten im Frieden
unter den Gouverneuren die Geschäfte der Provinzialverwaltung besorgt.
Unter den deutschen Militärgouverneuren taten sie es weiter zum Segen der
belgischen Bevölkerung. Im Herbst 1916 erst legten die
Provinzialräte ihre Ämter nieder mit der Begründung,
daß durch die Abschiebung der belgischen Arbeitslosen die deutsche
Verwaltung ein völkerrechtswidriges System anwende, welches sie nicht
mitmachen könnten.
Aber auch dadurch änderte sich nicht sehr viel; denn an die Stelle der
Provinzialräte, welche zum Beispiel bisher im Namen der Provinzen die
Garantie für die Kontributionsanleihe übernommen hatten, traten nun
mit denselben Aufgaben die Militärgouverneure gemeinsam mit den
Zivilpräsidenten. Und auch der Geschäftsbetrieb blieb fast der
gleiche. Denn die Bureaus der Provinzialräte arbeiteten weiter, und viele
Mitglieder der Députation permanente beschäftigten sich
inoffiziell mit der Wahrnehmung ihrer Obliegenheiten. Im allseitigen Interesse
ließ man sie gerne gewähren.
Die Befugnisse der Provinzialverwaltungen erstreckten sich im allgemeinen auf
die Aufstellung der Kostenanschläge und die Verwendung der Gelder
für die nicht von den Gemeinden, sondern von den Provinzen zu leistenden
Ausgaben, die aber nicht einmal sehr umfangreich waren.
Denn die hauptsächlichsten Verwaltungsbehörden im Lande waren
die der Gemeinden, welche volle Selbstverwaltung besaßen. Der
Bürgermeister mit seinen wenigen Schöffen hatte neben sich den aus
der unmittelbaren Wahl der Gemeindemitglieder hervorgehenden Gemeinderat
und regierte mit ihm [41] in sehr
selbständiger Weise. Auch die Lokalpolizei unterstand ihm
uneingeschränkt.
Die deutsche Verwaltung ist mit den belgischen Bürgermeistern im ganzen
gut ausgekommen. Die meisten sahen ein, daß es im eigensten Interesse
ihrer Gemeinden läge, wenn sie sich mit der deutschen Verwaltung in
einem erträglichen gegenseitigen Verhältnisse befanden. So
ließ man sie denn in ihrer Machtvollkommenheit gewähren und griff
nur ein, wenn sich irgendwelche Unbotmäßigkeit zeigte. Nur selten
war dies nötig, wie im Falle des Bürgermeisters Max von
Brüssel, der schon bald nach der Besetzung sich grobe Zuwiderhandlungen
gegen die deutsche Verwaltung zuschulden kommen ließ und trotz
mehrfacher Verwarnungen im Widerstande verharrte, so daß er
schließlich nach Deutschland zur Internierung abgeschoben werden
mußte, wo er durch Widerspenstigkeit immer neue Schwierigkeiten
hervorzurufen suchte.
Im übrigen beschränkten sich die Gemeindeverwaltungen auf
zahllose papierne Proteste gegen die Anordnungen der deutschen Behörden
und glaubten damit unter meist schwülstigen Berufungen auf das
Völkerrecht ihr Gewissen beruhigen zu können. Eine weitere
Beachtung brauchten diese Proteste nur in seltenen Fällen zu finden.
Für die Anstellung aller deutschen Beamten war der Chef der
Zivilverwaltung verantwortlich, hing aber dabei ganz vom Reichsamt des Innern
ab; denn von diesem wurden sie überwiesen, wenn auch ein großer
Teil von ihnen nicht der eigentlichen Beamtenhierarchie, sondern vielfach den
freien Berufen, dem Handel und der Industrie entstammten und für ihre
Posten oft von den deutschen Verwaltungsstellen erst vorgeschlagen wurden. Sie
stammten aus allen deutschen Staaten; besonders fanden sich viele
Süddeutsche darunter; niemals sind etwa aus dieser landsmannschaftlichen
Mischung Unzuträglichkeiten entstanden. Im Gegenteil herrschte,
abgesehen von den durch die menschlichen Eigenschaften bedingten
Rivalitäten, Eifersüchteleien und sonstigen kleinen Unstimmigkeiten,
stets ein höchst angenehmer Korpsgeist und Verkehrston untereinander und
mit den Vertretern der militärischen Behörden, mit welchen ja auch
dauernd die engsten Beziehungen durch die fortwährend sich
berührenden Dienstgeschäfte bestanden. Fast bei jeder dienstlichen
Besprechung fanden sich militärische und zivile Mitglieder zur Arbeit
zusammen.
Die immerfort zunehmenden Aufgaben der deutschen Zivilverwaltung
verursachten für die Bestellung der notwendigen Beamten bald
Schwierigkeiten. Auch in der Heimat beanspruchten die vielen neu entstehenden
kriegswirtschaftlichen Organisationen immer neue Beamte, und die Front
verlangte Offiziere und Soldaten. So wurde es denn bald schwer, die geeigneten
Persönlichkeiten auf die wichtigen Posten zu stellen. Wenn auch viele
schon früher ausgeschiedene Beamte teilweise vorgerückten
Lebensalters sich zur Verfügung stellten und unter den aus den freien
Berufen hervorgegangenen Herren viele [42] sich als besonders
geeignet erwiesen, so blieb der Mangel doch bestehen, besonders als im weiteren
Verlauf des Krieges der Bedarf an Heeresersatz immer wieder zur
Nachprüfung der Felddienstfähigkeit des einzelnen zwang.
Nur bei wenigen felddienstfähigen Persönlichkeiten wurde seitens
der Ersatzbehörden die dienstliche Unabkömmlichkeit anerkannt.
Das war für den Dienst sehr störend, aber die Zwangslage der
Ersatzbehörden war nun einmal nicht zu leugnen.
Die weitverbreitete Meinung, daß sich im Generalgouvernement und in den
anderen besetzten Gebieten und den Etappen unter den Beamten zahlreiche
Drückeberger befunden haben sollen, wird wohl am besten durch die
Tatsache widerlegt, daß im Anfang des Jahres 1918 von den 3500 deutschen
Beamten der Zivilverwaltung in Belgien nur 1025 wehrpflichtig und von diesen
nur noch 115, d. h. 3%, im ganzen kriegsverwendungsfähig waren.
Für die militärischen Behörden des Generalgouvernements
fehlt die statistische Nachweisung. Aber auch unter deren Offizieren und Beamten
war die Zahl der kriegsverwendungsfähigen sehr gering. Mitglieder des
aktiven Standes fanden sich überhaupt nur ganz wenige, und solche unter
ihnen, welche trotz schwerer Kriegsbeschädigungen ihren Dienst mit
unverminderter Pflichttreue leisteten, waren eine alltägliche
Erscheinung.
Mit der niedrigen Prozentzahl an Kriegsverwendungsfähigen stand das
Generalgouvernement in Belgien von allen Behörden am
günstigsten, selbst noch günstiger als die 170 Kriegsgesellschaften in
der Heimat, bei denen sich am gleichen Zeitpunkt 3,6%
kriegsverwendungsfähige Beamte befanden.
Durch die Anwendung des Hilfsdienstgesetzes wurde nur wenig gebessert.
Die aus Deutschland überwiesenen, meist für die unteren Stellen
bestimmten Hilfsdienstpflichtigen genügten nur in
verhältnismäßig wenigen Fällen den
Anforderungen. Viele mußten wegen gänzlich mangelnder Eignung,
wegen Unzuverlässigkeit, auch wegen allerlei Vergehen bald wieder
entlassen werden.
Ehrend muß dagegen einer Schar Angehöriger deutscher
Pfadfindervereine gedacht werden, welche, im noch nicht wehrpflichtigen Alter
stehend, verschiedenen Behörden in Brüssel als Boten usw.
zugeteilt waren und unter guter Obhut und Fürsorge sich ganz hervorragend
bewährt haben.
Der große Mangel an männlichen Beamten führte in immer
steigendem Maße zur Verwendung von Frauen, von denen auch viele den
Anforderungen vortrefflich entsprachen. Ihre Zahl wuchs derart, und ihre eigenen
Interessen traten bald so hervor, daß ein besonderes Frauenamt unter
Leitung einer ganz besonders geeigneten Dame geschaffen werden mußte.
In der Lösung seiner Aufgaben auf dem Gebiete der Anstellung, Entlassung
und sonstigen Fürsorge aller Art hatte dieses Amt keinen leichten
Stand.
Besonders auffällig zeigte sich auch hier die große Aufmerksamkeit,
die allem, was in Belgien tatsächlich oder angeblich vorkam, in der
deutschen Heimat gewidmet wurde.
[43] Von vielen, teilweise
sehr hochgestellten Persönlichkeiten und Organisationen, die sich in
Deutschland mit Frauenfragen beschäftigten, kamen an den
Generalgouverneur Aufforderungen und Anträge in großer Zahl, er
möge für die deutschen Beamtinnen in der Fremde sorgen und damit
verbunden die bereitwillige Erklärung, ihn dabei durch tätige
Mithilfe zu unterstützen. Mit größtem Entgegenkommen
wurden solchen Anerbietungen durch den Generalgouverneur entsprochen und die
nötigen Besprechungen in Brüssel vorgeschlagen.
Es entbehrte dann nicht des Humors, wenn die aus der Heimat mit großen
Plänen und Vorschlägen für das Wohl der deutschen Frauen
anlangenden Damen sich schon nach ganz kurzer Zeit überzeugen konnten,
daß die unglaublichen Zustände, auf welche sie gefaßt und die
sie abzustellen gewillt waren, gar nicht bestanden, daß vielmehr ihre
vortrefflichen Absichten, die ohne Sachkenntnis ausgearbeitet waren, durch
Einrichtungen des Generalgouvernements schon längst, soweit es die
Verhältnisse irgend zuließen, erfüllt waren!
Bei der großen Zahl deutscher Frauen lag die Gefahr vor, daß der
Dienst in einer ganz bestimmten Richtung Schaden leiden könne. Es war zu
besorgen und trat auch tatsächlich manchmal in die Erscheinung, daß
bei der Anstellung weiblicher Hilfskräfte verwandtschaftliche
Verhältnisse eine Rolle spielen könnten, daß unnötige
Stellen geschaffen und ungeeignete Persönlichkeiten eingestellt
würden. Ferner war es ganz unvermeidlich, daß sich Cliquenwesen
und allerlei sonstige Beziehungen ausbildeten, durch welche der Dienst Schaden
leiden mußte. Zuweilen stieß man hierbei auf ganz
friedensmäßige Anschauungen, welche in die Zeitverhältnisse
durchaus nicht paßten. Es bedurfte zuletzt ziemlich drakonischer
Maßregeln, um dem einreißenden Unwesen bei der Verwendung
weiblicher Angehöriger zu steuern. Die Intrigen und Verschleierungen, um
solche Maßregeln unwirksam zu machen, waren häufig und
manchmal recht komisch.
Die wichtigsten unter den Zweigen der Zivilverwaltung und diejenigen, welche
allmählich aus der eigentlichen Organisation der Zivilverwaltung
ausschieden und zu selbständigen Abteilungen ausgebaut wurden, waren
die Bank-, die Politische, die Finanzabteilung und die Abteilung für Handel
und Gewerbe. Ihrer Tätigkeit wird in besonderen Abschnitten gedacht
werden.
Letztere beiden wurden erst mit der Durchführung der
Verwaltungstrennung selbständig.
Von den hauptsächlichsten Aufgaben, welche der deutschen Verwaltung außer den in den vorgenannten Abteilungen zu bearbeitenden oblagen, seien
die folgenden genannt:
Auf dem Gebiete der Volksbildung und des Unterrichts lagen die
Verhältnisse in Belgien ziemlich im argen. Die allgemeine Schulpflicht
hatte bisher überhaupt nicht bestanden; erst im Juni 1914, kurz vor dem
Kriege, war sie gesetzmäßig eingeführt. Die Unbildung im
Volke war daher sehr groß; etwa 10% der Bevölkerung waren
Analphabeten. Durch scharfe Beaufsichtigung [44] dieses belgischen
Gesetzes suchte nun die deutsche Verwaltung dem Mangel zu steuern. Die
notwendige Errichtung neuer Schulen oder Klassen in den schon bestehenden
durch die Gemeinden wurde mit Nachdruck gefördert und besonders auch
darauf gehalten, daß der Unterricht in der Muttersprache stattfand. Hieran
hatte es hauptsächlich gefehlt. Aus politischen Gründen hatte die
französisch gesinnte Regierung den Unterricht in der französischen
Sprache gefördert, den in der flämischen stark zurückgesetzt.
Folge war die bedeutend geringere Volksbildung in den flämischen
Landesteilen. Aus gerade umgekehrten Gründen sollte sie nun von
deutscher Seite gefördert werden.
Durch den Krieg war das belgische Hochschulwesen gänzlich lahmgelegt
worden. Die verschiedenen, in Belgien bestehenden Hochschulen, welche
teilweise staatlichen Charakter hatten, teils nur gewisse staatliche
Zuschüsse erhielten und einer Aufsicht unterlagen, hatten den Unterricht
eingestellt. Es gelang nicht, die betreffenden Korporationen dazu zu bewegen, ihn
wieder aufzunehmen. In mißverstandenem Patriotismus erklärten sie,
dies während einer deutschen Besetzung unter keinen Umständen tun
zu wollen. Den Schaden trug nicht die deutsche Verwaltung, sondern nur die
Bevölkerung.
Trotzdem gelang es den deutschen Behörden, durch entsprechend
gewählte Anordnungen wenigstens dem zu befürchtenden Mangel an
Lehrpersonal für die Schulen zu begegnen und durchaus genügende
Lehrerprüfungen durchzuführen, obwohl die geistlichen
Behörden, welche gesetzlich dabei mitwirken mußten, sich auch
ablehnend verhielten.
Eine Ausnahme von diesem Streik der "Intellektuellen" bildete die
Wiederbelebung der Universität in Gent. Diese ging aber auch nicht von
seiten der regierenden französischen, sondern von der unterdrückten
flämischen Kultur aus.
Neben der Pflege des belgischen Unterrichts lag dem Generalgouverneur auch
besonders die Förderung der deutschen Schulen am Herzen. In den
bedeutenderen Städten, so in Brüssel, Antwerpen, Lüttich,
hatten schon vor dem Kriege für die Kinder deutscher
Staatsangehöriger Schulen bestanden, die, natürlich auf privater
Grundlage, nach deutschem Lehrplan, sich eines großen Zuspruchs und
Ansehens erfreuten. Bei Kriegsbeginn geschlossen, wurden sie bald wieder
eröffnet und gelangten während der deutschen Besetzung schnell
wieder zu hoher Blüte.
Eins ganz besondere Einrichtung auf diesem Gebiete bildeten die in Brüssel
stattgehabten Hochschulkurse für Angehörige der Besatzungstruppen
und der in der Nähe befindlichen Armeen. Nach dem Vorbilde in einigen
Armeebezirken sollten sie den unter den Truppen befindlichen Studierenden
Gelegenheit geben, in mehrwöchigen Kursen ihre Kenntnisse, die sie vor
dem Kriege erworben hatten, wieder aufzufrischen, oder ihnen einen
Gesamtüberblick über die verschiedenen Wissensgebiete zu
verschaffen, der ihnen nach Kriegsende von Nutzen sein mußte. Die
Möglichkeit zu einem abgeschlossenen Studium war natürlich
ausgeschlossen.
[45] Unter begeisterter
Mitwirkung vieler der berühmtesten deutschen Hochschullehrer, die sich in
uneigennützigster Weise zur Verfügung stellten, wurde mehreren
Hunderten deutscher Studenten im grauen Rock Gelegenheit zur
Wiederauffrischung ihrer Geisteskräfte nach dem langen, oft
eintönigen und abstumpfenden Dienste gegeben.
Da sich in Brüssel keine für diesen Zweck passenden
Hochschullokalitäten fanden, mußte auf die privaten,
großartigen und besonders geeigneten Räume des "Institut Solvay"
zurückgegriffen werden, einer hochherzigen Stiftung des bekannten
Gelehrten und Industriellen gleichen Namens.
Die Unduldsamkeit der feindlichen Gelehrtenwelt gegen alles Deutsche zeigte
sich aber auch in dieser rein wissenschaftlichen Angelegenheit, als Solvay in
gehässigster Weise das sehr höfliche Ersuchen der deutschen
Verwaltung ablehnte, so daß zu einer zwangsweisen Benutzung der
Räume geschritten werden mußte.
Irgendeinen Schaden, auch nur allergeringster Art, haben sie natürlich nicht
genommen.
Was sonst zur Förderung und Erhaltung der belgischen Wissenschaft und
Kunst seitens der deutschen Behörden geschehen konnte, wurde
veranlaßt, soweit es der Krieg zuließ. Meist konnte man sich darauf
beschränken, störende Eingriffe zu verhindern, im übrigen den
Dingen ihren Lauf zu lassen, die sich zum großen Teil von selbst wieder
ziemlich friedensmäßig einstellten.
Was insbesondere die Kunstpflege angeht, so wurde dafür gesorgt,
daß die Museen mit ihren reichen Schätzen wieder geöffnet
wurden, und ihnen voller Schutz zuteil wurde. Die Erzählungen über
Raub an belgischen Kunstschätzen sind natürlich Fabeln. Im
Gegenteil wurde sogar Museumsgütern aus französischem Gebiet,
welche durch englische und französische Beschießung
gefährdet waren, gastliche Aufnahme in Belgien gewährt.
Wenn man das damalige belgische Theaterwesen überhaupt unter dem
Begriff Kunst zusammenfassen kann, so ist auch ihm keinerlei Zwang angetan
worden. Die zahlreichen Theater unterlagen einer Zensur; aber nie war Grund
wegen irgendwelcher gegen die Deutschen gerichteten Bestrebungen zum
Eingreifen. Die Qualität der Theaterstücke war meist sehr
minderwertig, die Schauspielkunst dagegen stand auf großer
Höhe.
Auch Aufführungen deutscher Truppen fanden häufig statt. In
Brüssel bestand sogar ein eigenes deutsches Theater unter der Oberleitung
des Generalgouvernements. Beide Arten der Darbietungen fanden vielen
Beifall.
Auch die belgische Justiz unterstand dem Verwaltungschef.
Wie in allen Kulturstaaten, war auch die belgische Rechtsprechung vom Staate
ganz unabhängig gewesen und sollte nur nach den Gesetzen arbeiten.
Dieser Zustand wurde unter der deutschen Verwaltung vollständig
aufrechterhalten. Die für die Rechtsprechung geltenden Gesetze blieben
uneingeschränkt in Kraft, und die Gerichte aller Instanzen urteilten nach
ihren Bestimmungen. [46] Als eine Folge dieser
berechtigten Duldsamkeit kann vielleicht angenommen werden, daß
gerichtsseitig anerkannt wurde, auch die vom Generalgouverneur als
Rechtsnachfolger des Königs erlassenen Gesetze seien für die
Rechtsprechung maßgebend.
Nur die Beurteilung einer Anzahl von Straftaten, welche sich gegen die Interessen
der besetzenden Macht wendeten, war, wie natürlich, den deutschen
Feldkriegsgerichten vorbehalten; außerdem gab es Fälle, in denen
durch besondere Verordnung des Generalgouverneurs die Zuständigkeit
dieser Gerichte besonders angeordnet war, weil sie Dinge betrafen, in denen man
belgischen Richtern die Unparteilichkeit nicht zumuten konnte. Sie betrafen
z. B. die Aburteilungen von Vergehen gegen deutsche kriegswirtschaftliche
Verordnungen.
Eine genaue Aufsicht über die Geschäftsführung der
belgischen Gerichte war selbstverständlich vorhanden.
Dieser durchaus befriedigende Zustand blieb bis zur Verwaltungstrennung im
Sommer 1917 unverändert bestehen. In diesem Augenblicke trat eine
grundlegende Änderung ein.
Die belgische Regierung in Le Havre und mit ihr die belgischen richterlichen
Beamten mußten die Trennung des Landes in die beiden
Verwaltungsbezirke Flandern und Wallonien als ein hochverräterisches
Unternehmen ansehen. Es war daher vom juristischen Standpunkte aus durchaus
begreiflich, daß die belgische höchste Gerichtsbehörde in
Brüssel, welche für solche Verbrechen zuständig war, die
Bestrafung von Persönlichkeiten anstrebte, welche als Belgier der
Teilnahme an der Verwaltungstrennung schuldig erschienen. Dies betraf einige
der bekannteren Flamenführer. Die belgische Staatsanwaltschaft ließ
sie verhaften.
Natürlich mußte die deutsche Verwaltung, welche die Trennung des
Landes ja angeordnet hatte, diese Verhaftung als eine Herausforderung aufnehmen
und konnte sie nicht dulden.
Die betreffenden Persönlichkeiten wurden sofort in Freiheit gesetzt, aber
nun erklärte der belgische Gerichtshof, daß er unter diesen
Umständen seine Tätigkeit einstellen müßte.
Langwierige Verhandlungen, sowie angedrohte und in Einzelfällen auch
durchgeführte Abschiebungen nach Deutschland wegen Widersetzlichkeit
hatten kein Ergebnis; im Gegenteil schlossen sich diesem Richterstreik fast alle
belgischen Gerichte im ganzen Lande an, mit der Begründung, daß
durch die Arbeitsniederlegung der höchsten Gerichtsinstanz auch ihre
Tätigkeit folgerichtig beeinträchtigt würde.
Diese Geschäftseinstellung mußte schließlich als
endgültig angesehen werden.
Es hätte ja nun der Ausweg gefunden werden können, die
gerichtliche Tätigkeit im allgemeinen in diesem Zustande zu belassen und
für die Fälle, in denen ein deutsches Interesse irgendwie
berührt sein konnte, die Zuständigkeit der Kriegsgerichte
anzuordnen.
[47] Aus mehrfachen
praktischen Gründen, besonders auch aus völkerrechtlichen, erschien
es aber besser, die ordentlichen Gerichte wieder in Tätigkeit zu setzen,
indem die Stelle der belgischen deutsche Gerichtspersonen einnahmen, die dann
nach belgischem Recht urteilen konnten. Die sofort unternommenen
Maßregeln führten dann bald dazu, daß trotz des großen
Personalmangels die nötige Anzahl deutscher Richter gewonnen wurde, um
den Dienst, wenn auch nur notdürftig, wieder aufzunehmen. Diese
Einrichtung bestand bis zum Ende des Krieges.
Soweit es möglich war, wurden einschneidende Maßnahmen
getroffen, um schon während des Krieges auch die äußerlichen
Kriegsschäden im Lande zu heilen. Dies bezog sich ganz besonders auf die
Wiederherstellung von zerstörten Wohnstätten.
Die Zahl der zerstörten Häuser im Lande war nicht annähernd
so groß, als man nach den Fabeln der feindlichen Propaganda hätte
annehmen müssen. Selbst wenn man alle diejenigen Häuser, die
irgendeinen, wenn auch nur ganz geringen Schaden aufwiesen, mitrechnen will,
bilden sie nur einen kleinen Prozentsatz der im ganzen vorhandenen. Allerdings
vereinigten sich an einzelnen Stellen, wo heftige Kämpfe stattgefunden
hatten, die Zerstörungen zu manchmal grausigen Bildern. Die Städte
Visé, nördlich Lüttich, Dinant, zum Teil Löwen und
andere sahen schlimm aus, aber andererseits wies die große Mehrzahl aller
Ortschaften überhaupt keine Beschädigungen auf. Auch in den
meisten stark beschädigten Orten waren es vielfach nur einzelne Stadtteile,
in denen die großen Schäden gedrängt waren. So war
z. B. in Löwen, welches angeblich in Asche gelegt sein sollte, nur
ein Zehntel der Häuser zerstört, allerdings in den Hauptstraßen
der Stadt. Merkwürdigerweise stand mitten in diesem Teil
vollständig unbeschädigt die Perle mittelalterlicher flämischer
Baukunst, das berühmte Rathaus, vor dem Brande durch deutsche Offiziere
und Soldaten geschützt.
Natürlich sah es im Kampfgebiet in Westflandern anders aus. Hier war
auch während des Krieges nichts zu machen.
Die Einwohner der zerstörten Gebäude, soweit sie nicht geflohen
waren, hausten in meist recht primitiven Notwohnungen. Diesem Zustande
mußte ein Ende gemacht werden. Es handelte sich zunächst darum,
die Trümmermassen zu beseitigen, ehe man an den Wiederaufbau gehen
konnte. Bei den meisten Gemeinden, die auf die Ausräumung hingewiesen
wurden, fand die Verwaltung Indolenz oder ausgesprochenen bösen Willen.
In falsch verstandenem Patriotismus glaubten viele Belgier, daß die
Erhaltung der Ruinen als Schandmal der deutschen Greuel eine Pflicht für
sie sei. Ja, es wird sogar behauptet, daß schon eine Gesellschaft in der
Bildung begriffen gewesen sei, welche diese Ruinen nach dem Kriege zum Ziele
von Gesellschaftsreisen für sensationslüsterne Fremde
machen wollte.
Wie dem auch sei, es wurde die Niederlegung der Ruinen und die Fortschaffung
des Schuttes angeordnet. Hierdurch konnten viele Arbeitslose
Be- [48] schäftigung
finden. Diejenigen Gemeinden, welche unter allerlei Vorwänden sich
weigerten, mußten Strafkontributionen zahlen und fügten sich
dann.
Für den Aufbau wurden den Besitzern verschiedene Erleichterungen
gewährt, auch in bezug auf Erlangung der Baugelder, und so begann denn
an vielen Stellen neues Leben aus den Ruinen zu blühen.
Wo es nötig erschien und größere Gebäudekomplexe
wiederherzustellen waren, war die Verwaltung mit der Bearbeitung
zweckmäßiger und gefälliger Baupläne
beschäftigt. Zu ihrer Ausführung ist es nicht mehr gekommen.
Aber auf einem weiteren Gebiet verwandter Art wurden sehr bedeutende Erfolge
erzielt, auf dem der Einrichtung von Kriegerfriedhöfen.
Ein sehr großer Teil der Augustschlachten des Jahres 1914 hatten auf
belgischem Boden stattgefunden. Die Namen Lüttich, Namur, Antwerpen,
Mons, Charleroi, Dinant, Neufchâteau sagen genug. Viele Tausende
deutscher, französischer, englischer, belgischer Krieger lagen weit zerstreut
oder in Massengräbern in belgischer Erde. Ihnen sollte eine würdige
Ruhestätte bereitet werden.
An vielen Stellen, meist landschaftlich schön gelegen, wurde das
nötige Land erworben und die Gefallenen, soweit es irgend möglich
war, umgebettet, wobei mit allen Mitteln versucht wurde festzustellen, wem die
vielfach unbekannten Überreste angehörten. Sie wurden dann mit
standfesten, würdigen Kreuzen und Namen und Daten versehen, die ganze
Anlage gärtnerisch geschmückt und der Obhut der belgischen
Gemeinden übergeben. Freund und Feind ruhten dort ohne
äußeren Unterschied in der Bestattungsweise.
Die traurige Arbeit lag besonderen von Offizieren geleiteten
Gräberkommandos ob, welche mit einer ganz außerordentlichen
Zuverlässigkeit arbeiteten und eine Ehre darin suchten, von den als
unbekannt bezeichneten Toten eine möglichst große Anzahl noch
nachträglich festzustellen. Es gelang dies auf deutscher Seite durch
Nachfragen in der Heimat und auf andere Weise bei ungefähr 90% dieser
Unbekannten. Bei den feindlichen Toten war es schwerer, da die Verbindungen
mit deren Heimatsländern nicht in derselben Weise bestanden. Immerhin
konnten viele Anfragen, die über das Schweizer Rote Kreuz nach dem
Verbleib feindlicher Heeresangehöriger an das Generalgouvernement
gelangten, aufklärend beantwortet werden.
Einen interessanten Beitrag für die Beurteilung der gegenseitigen
Waffenwirkung in den Kämpfen liefert der Umstand, daß auf diesen
Friedhöfen die Anzahl der feindlichen Gräber die der deutschen in
der Gesamtzahl immer überwog. Meist war die Zahl der feindlichen
Gefallenen ein Vielfaches der Deutschen, öfters bis zum Dreifachen. Die
geringe Zahl der nach Deutschland Überführten kam für die
Gesamtzahl in dieser Hinsicht nicht in Betracht.
Beachtenswert ist auch die Tatsache, daß die deutschen Uniformen und
Ausrüstungsstücke, die in den Gräbern gefunden wurden, viel
besser waren als z. B. die französischen. Der graue Mantel und der
so oft geschmähte Infanterie- [49] stiefel waren nach
mehreren Jahren des Liegens in der Erde oft noch sehr gut erhalten,
während die französischen Sachen wie Zunder zerfallen waren.
Ob diese Kriegerfriedhöfe nach der Wiederherstellung der belgischen
Hoheitsrechte unbeschädigt und so wohlgepflegt bleiben werden, ist
natürlich nicht vorauszusehen. Bei der Einweihung hatten seinerzeit
mehrere der belgischen Gemeindebehörden unaufgefordert die
ausdrückliche Verpflichtung übernommen, für die
Friedhöfe zu sorgen. Es ist zu hoffen, daß dies allgemein geschehen
ist und so bleiben wird.
Eine unter normalen Verhältnissen sehr wichtige Aufgabe der inneren
Verwaltung, nämlich die Handhabung der Polizeigewalt, war im
Generalgouvernement nur von geringerer Bedeutung. Die politische und die
Militärpolizei behandelten für sich sehr weite Abschnitte dieses
Verwaltungszweiges; für andere waren die mit weitgehenden
Selbstverwaltungsrechten ausgestatteten Gemeinden zuständig. Man
beließ ihnen diese Rechte, und es stellte sich heraus, daß die
Polizeiorgane der Belgier im ganzen genommen ihre Pflichten sehr ordentlich und
zuverlässig erfüllten. Schon wenn man ihre äußere
Haltung und ihr Benehmen gegenüber den Organen der deutschen
Verwaltung betrachtete, hatte man einen guten Eindruck, und dieser steigerte sich,
wenn man beobachten konnte, wie sie ihren Dienst stets in gutem Einvernehmen
mit den deutschen Polizeibehörden versahen. Um ihnen ihre
Autorität nicht zu beschränken, sondern noch zu stärken,
wurde auch stets darauf gehalten, daß ein notwendiges Einschreiten der
Polizei immer durch die belgischen Beamten erfolgte; auch ihre Bewaffnung
durften sie behalten.
Trotzdem aber konnte es nötig werden, zur Beaufsichtigung der belgischen
Bevölkerung in bezug auf die vielen nötig gewordenen
wirtschaftlichen Verordnungen besondere Organe zu verwenden. Für diese
Zwecke reichte schon die Zahl der belgischen Polizisten nicht aus. Es wurde
nötig, im Einvernehmen mit den militärischen Behörden eine
große Zahl von Kontrolleuren aus den Besatzungstruppen zu verwenden,
welche z. B. die Befolgung der Bestimmungen für die
Lebensmittelwirtschaft, für die Verbesserung von Ackerbau und Viehzucht
und ähnliche Verordnungen im Auge zu halten hatten.
Denn auch in dieser Hinsicht mußte viel durch die deutsche Verwaltung
geschehen, schon um in Verbindung mit den Bestrebungen der
Zentral-Erntekommission die landwirtschaftliche Erzeugung möglichst
ergiebig zu gestalten.
Eine bedeutende Steigerung der Lehensmittelerzeugung war in Belgien nicht
möglich. In denjenigen Landesteilen, welche sich nach Klima und
Bodenverhältnissen für den Ackerbau eigneten, stand er in
höchster Blüte. Weniger günstig für die Bestellung
erwiesen sich eigentlich nur die Ardennengegenden der Provinz Luxemburg und
die Kampine in der Provinz Limburg. An beiden Stellen gestattete der Boden nur
den Anbau weniger ertragreicher Früchte, in den Ardennen wurde dies
durch ungünstigere klimatische Verhältnisse noch [50] verschlimmert. Im
übrigen Belgien aber war das Land zwar örtlich sehr verschieden,
aber überall für bestimmte Kulturgewächse hervorragend
geeignet, das Klima milde und von einer gleichmäßigen, sehr
günstigen durchschnittlichen Feuchtigkeit.
Die Verteilung und Ausnutzung des Grund und Bodens trug zwar sehr zu den im
Verhältnis zur Gesamtfläche unerhört hohen
Erträgnissen bei, war aber doch andererseits der Grund dafür,
daß nur ein sehr geringer Teil des Hauptnahrungsmittels der
Bevölkerung, des Brotkornes, im Lande selbst gewonnen werden
konnte.
Es gehört nämlich zwar der größte Teil des Landes in
Belgien Großgrundbesitzern, aber nur in seltenen Fällen
bewirtschaften diese ihre Güter selbst. Der Adel, die Kirche und, immer
mehr zunehmend, städtische Kapitalisten verpachten in den allermeisten
Fällen ihr Land und sichern sich so eine gleichmäßig
fließende Bodenrente.
Bei der sehr großen Nachfrage nach ländlichen Grundstücken
aus den Kreisen der dichten Bevölkerung führte dies System zu einer
immer größeren Zahl von Kleinbesitzern und Pächtern und
daraus folgender Verkleinerung der einzelnen Grundstücke. Von den auf
diese Weise sich bildenden Zwergbetrieben in der Hand von Tagelöhnern
und städtischen Industriearbeitern entstanden vor dem Kriege
jährlich mehrere Tausend.
Aus dieser stetigen Zunahme kleinster Betriebe folgte aber eine zwar
überaus intensive Bearbeitung und Ausnutzung des Bodens, aber auch die
Bevorzugung besonders wertvoller Kulturpflanzen, namentlich der
Handelsgewächse und der Gemüse, vielfach unter allmählicher
Zurückdrängung des Anbaues von Brotfrucht und Kartoffeln.
Dies war mit ein Grund, daß Belgien nur etwa ein Fünftel des
für die Bevölkerung nötigen Brotkornes erzeugen konnte,
während die normalen Kartoffelernten allerdings noch für den Bedarf
ausreichten.
Wenn nun auch durch die amerikanische Einfuhr das für die Belgier sonst
noch erforderliche Getreide oder Mehl geliefert wurde, so lag doch eine
Verbesserung oder mindestens keine Verschlechterung dieses
Ernteverhältnisses im dringendsten deutschen Interesse. Denn
schließlich konnte aus irgendeinem Grunde das amerikanische Hilfswerk
plötzlich aufhören, und dann hätte Belgien sich selbst
ernähren müssen.
Ganz von selbst aber ging es hier in der Landwirtschaft wie anderwärts
auch. Der Landwirt baute das an, was ihm den meisten Nutzen bringen
mußte, und so lag die Gefahr vor, daß der Anbau der
Körnerfrüchte weiter zurückging. Dem mußte
vorgebeugt werden, und dies geschah durch Bestimmungen, welche einen
gewissen Anbauzwang für die wichtigeren Gewächse bezweckten.
Wie immer aber konnte der Zwang eher zur Verringerung als zur Vermehrung der
landwirtschaftlichen Erzeugung führen.
[51] Da im
Generalgouvernement die Zwangswirtschaft nur in beschränktem
Maße angewendet zu werden brauchte, so konnte sich die Verwaltung sonst
auf Eingriffe beschränken, welche nicht störend, sondern
fördernd auf die Landwirtschaft einwirkten.
Es wurde unter anderem mit Nachdruck dahin gewirkt, daß brach und
öde liegendes Land möglichst auch bestellt wurde, und in dieser
Beziehung viel erreicht.
Im ganzen ging es den belgischen Landwirten während des Krieges sehr
gut; einen besonderen Vorteil gegenüber anderen kriegführenden
Ländern genossen sie durch das Vorhandensein vieler Arbeitskräfte,
da der belgischen Regierung die Heranziehung ihrer Untertanen zum Heeresdienst
nicht annähernd in gleichem Maße gelingen konnte wie
anderswo.
Im Zusammenhange mit der Landwirtschaft verdienten auch die Verordnungen,
betreffend die Ausübung der Jagd, eine Erwähnung.
Die Untersagung der Führung von Schußwaffen brachte es mit sich,
daß nur Deutschen, und zwar deutschen Offizieren, das Jagdrecht
zugebilligt werden konnte; selbstverständlich unterlag es einer besonderen
Erlaubnis und mußte nach Bestimmungen, die den deutschen ähnlich
waren, ausgeübt werden. Sie bezweckten die Ausnutzung, aber auch die
Pflege des Wildstandes und regelten alles damit Zusammenhängende,
Wildschaden usw. Das erlegte Wild gehörte dem Jagdbesitzer; er
mußte es zu bestimmten Preisen verkaufen, zu welchen es aber auch der
Schütze für sich behalten konnte. Trophäen blieben dem
Schützen.
Aus Rücksichten auf die Landwirtschaft mußte es zeitweise
notwendig werden, das Schwarzwild, welches sich während des Krieges
besonders in den Ardennen aus Mangel an Abschuß bedeutend vermehrt
hatte, zu beschränken, zu welchem Zweck besondere Jagden abgehalten
und dauernde Jagdpatrouillen gestellt wurden.
Eine Maßregel ganz besonderer Art zeigte sich im Weltkriege vielfach als
nötig, die Verpflanzung ganzer Bevölkerungen. Im Altertum und
noch im Mittelalter nichts Ungewöhnliches, war doch in der Neuzeit die
zwangsweise Austreibung von Volksmassen aus ihrer Heimat als eine
Grausamkeit empfunden und nur selten noch angewendet worden. Den Russen in
Ostpreußen und den Franzosen im Elsaß blieb es vorbehalten,
große Mengen von Menschen jeden Alters und Geschlechtes in die
Gefangenschaft zu verschleppen, wo sie noch dazu unmenschlich behandelt
wurden. Aber auch auf deutscher Seite zeigte sich im Laufe des Krieges die
Notwendigkeit ähnlicher Maßregeln, hier aber gerade aus
Gründen der Menschlichkeit. Die großen Strecken Landes, welche
von dem jahrelangen Stellungskrieg in unmittelbarste Mitleidenschaft gezogen
waren, beherbergten zum Teil eine dichte Bevölkerung, so besonders in
Nordfrankreich mit seinen vielen Industriezentren. Konnte schon im Frieden ihre
Ernährung nicht ohne Einfuhr stattfinden, so war diese Möglichkeit
im Kriege [52] noch mehr erschwert.
Wenn auch die Commission for relief für diese Bevölkerung
sorgte, so war diese Hilfe doch nicht ausreichend, und so herrschte hier meist
bittere Not, welcher die deutsche Verwaltung mit ihren beschränkten
Mitteln auch nicht abhelfen konnte, wenn auch die deutschen Soldaten mit den
Notleidenden oft ihre karge Kost teilten.
Auch die fortschreitende Zerstörung der Ortschaften durch die immer
weiter schießende feindliche Artillerie und die dadurch zunehmende
Lebensgefahr machte das Verbleiben der Leute in ihrer Heimat zur
Unmöglichkeit.
Diese Gründe hatten schon frühzeitig dazu geführt, mit der
französischen Regierung wegen der Abschiebung der Bevölkerung in
das von deutschen Truppen nichtbesetzte Frankreich in Verbindung zu treten.
Einflußreiche Persönlichkeiten aus dem besetzten Gebiet sahen die
Notwendigkeit natürlich auch ein und förderten diese Bestrebungen.
Eine Abschiebung in die Etappen oder gar nach Deutschland hätte die
Lebensgefahr, nicht aber die Not ausgeschaltet und kam daher nicht für
dauernd in Frage. So kamen also schon 1915 Vereinbarungen zustande, wonach
regelmäßige Transporte über die Schweiz nach Frankreich
geleitet werden konnten. Die unmittelbare Zuführung etwa über die
nahe gegenüberliegenden Schützengräben hinaus wäre
sicher auch möglich und zweifellos das einfachste gewesen. Dies
wäre aber an der entschiedenen Weigerung der Franzosen gescheitert, die
dahinter wohl irgendwelche verräterische Absichten der Deutschen
vermutet hätten.
Es mußte daher ein Verfahren angewendet werden, welches der feindlichen
Greuelpropaganda ganz unberechtigterweise Stoff zu den bösartigsten
Verleumdungen gab.
Da die auszusiedelnden Menschenmassen sehr groß waren - es handelte sich
um Hunderttausende -, die Schweiz aber nur eine beschränkte Zahl
täglich durch ihr Land fahren konnte, so mußte die
Abbeförderung sehr lange Zeit dauern; es kamen auch Gründe der
Kriegführung hinzu, welche das ganze Verfahren erschwerte. Zur
Sicherung der deutschen Truppen mußten die Abschüblinge,
nachdem sie das Kampfgebiet verlassen hatten, im rückwärtigen
Gebiet eine sogenannte Nachrichtenquarantäne durchmachen, damit ihre
neuesten Kenntnisse der deutschen Stellungen usw. nicht in Frankreich
verwertet werden konnten. Auch war es nicht möglich, alle vorhandenen
Leute zu entlassen, da die militärdienstfähigen Männer, oder
solche Knaben, die voraussichtlich bald in das entsprechende Alter traten, nicht
dem französischen Heere zugeführt werden konnten. Auch gewisse
Kranke ließ die Schweiz nicht über ihr Gebiet. Es kamen daher
schmerzliche Zerreißungen von einzelnen Familien vor, deren Mitglieder in
verschiedener Weise zu behandeln waren. Die deutschen Behörden
bedauerten dies am meisten.
Für Belgien war dieses Verfahren besonders einschneidend, weil das Land
mit seinen zahlreichen wohlgebauten und nicht zerstörten Ortschaften ein
vor- [53] treffliches Reservoir zur
vorübergehenden Unterbringung von Hunderttausenden von Menschen
bieten konnte.
Die erste Anforderung dieser Art für das Generalgouvernement war die
Aufnahme von vielen Hunderten von Geisteskranken und Insassen anderer
Pflegeanstalten, deren Unterbringung wegen der besonderen Verhältnisse
dieser Leute natürlich nicht einfach war. Die dann folgenden
größeren Massen kamen verhältnismäßig leicht
unter. Sie wurden planmäßig über das ganze Land, mit
Ausschluß der großen Städte, besonders auf die
ländlichen Bezirke verteilt, wo auch die
Ernährungsverhältnisse günstiger waren. Die belgische
Bevölkerung nahm die Leute zunächst sehr freundlich und hilfreich
auf, bald aber wurden sie doch nur als recht lästig empfunden und
demgemäß auch behandelt. Es war ja natürlich, daß sie
durch ihre sehr große Zahl die Ernährungsverhältnisse
für die Belgier verschlechtern mußten. Zwar sorgte das
Comité national ohne die geringste Widerrede und in wahrhaft
großzügiger Weise für die ganze Masse der
Abschüblinge; aber viele von ihnen waren doch in der Lage, sich auch mit
ihren eigenen Mitteln Nahrung zu kaufen und diese den Belgiern zu
schmälern.
Der Weitertransport erfolgte dann nach der Anzahl von Zügen, welche die
Schweiz jeweils bereit war anzunehmen. Die Zusammenstellung dieser
Transporte, welche nach Basel geleitet werden mußten, erforderte besondere
Sorgfalt, da die Schweiz sehr scharfe Bedingungen gestellt hatte. Die Zahl der
Menschen, das Gepäck, das mitzunehmende Geld und vieles andere war
genau vorgeschrieben und mußte streng innegehalten werden, weil sonst die
Weiterführung des im deutschen Interesse sehr wichtigen Werkes
gefährdet war.
Der Abfluß erfolgte ziemlich langsam, und es befanden sich daher dauernd
Hunderttausende von Mehreinwohnern im Generalgouvernement. Daß diese
Transporte seitens der deutschen Behörde selbstverständlich in
nötigenfalls erwärmten Personenwagen unter Mitgabe von
Verpflegung, Zuteilung von Ärzten und Pflegepersonal mit
Rücksicht auf die vielen Frauen und Kinder erfolgten, braucht nicht erst
besonders erwähnt zu werden. Trotzdem war es eine traurige, aber durch
den Krieg, und besonders durch die Maßregeln der Feinde, erzwungene
Angelegenheit.
Bei vielen von den zahlreichen Aufgaben, deren Bearbeitung den
Zivilverwaltungen des Generalgouvernements oblag, war sie auch in den Gebieten
der Etappen der 4. und 6. Armee zuständig.
In sehr vielen Beziehungen lagen in diesen, verschiedenen
Verwaltungssphären angehörenden Landesteilen die
Verhältnisse so gleichartig, daß eine einheitliche, nach denselben
Grundsätzen arbeitende Verwaltungspraxis notwendig war, soweit es die
militärischen Bedürfnisse irgend zuließen. Natürlich war
es oft für die Behörden der Etappen und Armeen nicht leicht, die
Berechtigung dieser Grundsätze einzusehen, da sie ja viel mehr nur nach
militärischen Rücksichten zu handeln brauchten als der
Generalgouverneur, in dessen Gesichts- [54] kreis auch in erster Linie
außen- und innerpolitische Beziehungen, auch solche der Reichsleitung,
fallen mußten.
Bei den vielen Verhandlungen über diese verwickelten Etappenfragen
wurde immer wieder von den Etappenbehörden betont, daß sie in
ihrem eigenen Gebiet gegenüber vielen Verwaltungsanordnungen rechtlos
seien, und daß dieser Zustand geändert werden müsse. Die
Berechtigung dieser Klagen konnte häufig zugegeben werden; aber von den
für die Etappen zuständigen Organen des Generalquartiermeisters
wurde schließlich immer darauf hingewiesen, daß, solange die
militärischen Möglichkeiten es irgend zuließen, an diesem
Zustande der Dinge nichts geändert werden könne. Wichtige
politische Gründe der Reichsleitung mußten hier den Vorrang
haben.
So erstreckte sich die Zuständigkeit der Behörden des
Generalgouverneurs auf die Presse, Flamenfrage, Kirchenpolitik, Kultus,
Schulverwaltung, Kunstpflege, belgische Justiz, Gewerbeaufsicht,
Geld- und Bankwesen, Steuern, Viehzucht, Lebensmittelversorgung der
Bevölkerung und Beamtenfragen. Für diese Arbeitsgebiete blieben
die Präsidenten der Zivilverwaltungen der betreffenden Provinzen
zuständig, wenn auch deren Militärgouverneure keinerlei
Machtbefugnisse mehr besaßen, insoweit diese Teile nicht mehr zum
Generalgouvernement gehörten.
Die Präsidenten mußten zur Erledigung ihrer Dienstgeschäfte
die Etappenbehörden als Vermittler anrufen, ein Verfahren, welches sich
trotz seiner natürlichen Umständlichkeiten im allgemeinen
bewährt hat.
Die notwendigen auch für das Etappengebiet bestimmten allgemeinen
Anordnungen schickte das Generalgouvernement auf dem Wege über die
Etappeninspektion an die Armee-Oberkommandos, welche nach
voraufgegangener Prüfung die entsprechenden Befehle erließen.
So war die Stellung des Präsidenten der Zivilverwaltung im Etappengebiet
mehr die eines Mittlers und erforderte in erster Linie verständnisvollen
Takt. Zivilkommissare waren in den Etappengebieten nicht vorhanden, ihre
Aufgaben wurden von den militärischen Etappenbehörden mit
übernommen.
Nachdem ein allgemeiner Überblick über die Organisation der
deutschen Zivilverwaltung in ihrer Zentrale gewonnen ist, müssen nun die
wichtigsten Hauptzweige ins Auge gefaßt werden, welchen von Anfang an
eine gewisse Selbständigkeit innewohnen mußte, die
allmählich zur vollen Loslösung von der Zentralverwaltung
führte.
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