Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung,
Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im
Heere
Kapitel 1: Die deutsche
Verwaltung
des Generalgouvernements in Belgien
1914-1918 (Forts.)
Generalleutnant Hans v. Winterfeld
4. Die
Militärverwaltung.
Militärpolitische Einteilung.
Nach der Abberufung des ersten Generalgouverneurs, des Generalfeldmarschalls
Freiherr v. d. Goltz, welcher schon am 27. November 1914 der
Person des Kaisers der Ottomanen zugeteilt wurde, war Generaloberst Freiherr
v. Bissing zum Generalgouverneur ernannt worden. Als er am 18. April
1917 aus seiner rastlosen dienstlichen Tätigkeit durch den Tod abgerufen
wurde, folgte ihm in seiner Dienststellung der Generaloberst Freiherr
v. Falkenhausen, welcher bis zur Auflösung des
Generalgouvernements im Amte blieb.
Das Gebiet des Generalgouvernements in Belgien ist im Laufe der Zeit vielfachen
Veränderungen unterworfen gewesen.
Nach der Eroberung von Antwerpen und Erreichung der Küste durch die
deutschen Truppen ist es am größten gewesen. Es umfaßte
damals die neun belgischen Provinzen, soweit nicht noch Kämpfe in
Westflandern tobten, und den französischen Gebietsteil der Kommandantur
Maubeuge, bald auch den tief in Belgien einschneidenden französischen
Givetzipfel.
Als dann im Verlauf des Stellungskrieges an der Westfront die scharfe und genaue
Abgrenzung des Operations- und Etappengebiets der einzelnen Armeen, ja die
starke Vergrößerung des letzteren nötig wurde, mußten
größere Teile des Gebiets vom Generalgouvernement wieder
abgetrennt werden.
Dies geschah schon bald mit Ost- und Westflandern, im Lauf der Zeit folgten
Maubeuge und der Kreis Tournai; im Zusammenhang mit der Verkürzung
der deutschen Front durch den Rückzug in die Siegfriedstellung wurden
große Teile der Provinzen Hennegau mit Mons und Luxemburg mit Arel
abgezweigt. Als dann im Jahre 1918 es immer deutlicher wurde, daß die
deutschen Linien vielleicht noch weiter nach Osten verlegt werden mußten,
wurde die Etappengrenze bis zu einer Linie dicht westlich Brüssel
zurückgezogen, und als schließlich die deutschen Heere den
Rückzug antraten, kam die gänzliche Auflösung des
Generalgouvernements in Frage. Zwar wollte der Reichskanzler die
Aufrechterhaltung wenigstens des Begriffs des Generalgouvernements als solchen
bis zum letzten Augenblick aus politischen Gründen gewahrt wissen, und
es blieben daher auch noch, als die zurückgehenden deutschen Heere schon
die Hauptstadt Brüssel erreicht hatten, Teile des Landes mit Brüssel
als Enklave im Etappengebiet als Generalgouvernement bestehen. Erst am 9.
November [9] 1918 wurden auch diese
Teile zur Etappe, während die Behörde als solche auch dann noch
weiter bestehen bleiben sollte.
Ein genaueres Eingehen auf die Einzelheiten der Verhandlungen über die
anderweitige Abgrenzung der Etappengebiete würde zu weit führen.
Es genüge zu erwähnen, daß die Armeen und ihre
Etappeninspektionen sehr weitgehende Rechte in den ihnen neu zuzuteilenden
Gebieten des Generalgouvernements erstrebten. Es lag ihnen daran, diese Gebiete
wirtschaftlich für ihre Truppen und Heeresbetriebe, besonders auch die
Arbeitskraft der Bevölkerung auszunutzen. Diese Wünsche waren an
sich durchaus verständlich. Aus politischen Gründen aber
mußten dem Generalgouverneur im Einvernehmen mit der Obersten
Heeresleitung so bedeutende Befugnisse im Rahmen seiner Zivilverwaltung
belassen werden, daß die Etappenbehörden in dieser Beziehung
großenteils ausgeschaltet waren. Aus Gründen der Einheitlichkeit in
der Behandlung der inneren und der Kirchenpolitik wurde dies als durchaus
nötig erachtet.
So blieben bis zuletzt auch in den vom Generalgouvernement abgetrennten Teilen
Belgiens die Präsidenten der Zivilverwaltung mit ihren Organen dem Chef
dieser Verwaltung beim Generalgouverneur unmittelbar unterstellt.
Daß aus diesen Gründen zeitweise sehr schwierige
Verhältnisse für die Verwaltung sowohl, wie für die
Armee- und Etappenbehörden und nicht zum wenigsten für die
Einwohner eintraten, ist nur natürlich. So war z. B. die Provinz
Hennegau zeitweise unter fünf verschiedene Befehlsinstanzen aufgeteilt.
Ihre Teile gehörten zu den Operationsgebieten der 4. und 6. Armee, zu den
Etappengebieten derselben und zum Generalgouvernement. In jedem dieser
Gebiete galt zum großen Teil verschiedenes Recht. Das war störend,
aber nicht zu ändern.
Die erste systematische Einteilung des Gebiets des Generalgouvernements
erfolgte am 1. November 1914. Bis dahin waren von den durchziehenden Armeen
in den Festungen, Städten und sonstigen wichtigen Orten Gouverneure,
Kommandanten und Etappenkommandanten je nach Bedarf bestellt worden. Auch
der Generalgouverneur hatte für einige Gebietsteile Bezirksinspekteure
eingesetzt.
Nunmehr wurde in jeder der bisherigen neun belgischen Provinzen Lüttich,
Namur, Luxemburg, Brabant, Limburg, Hennegau, Antwerpen,
Ost- und Westflandern je ein höherer General mit seinem Stabe als
Militärgouverneur eingesetzt. Die Hauptstädte und gleichzeitig
Amtssitze dieser Gouvernements waren Lüttich, Namur, Arel (Arlon),
Brüssel, Hasselt, Mons, Antwerpen, Gent und Brügge. In den drei
Festungen Antwerpen, Lüttich, Namur und in der Landeshauptstadt
Brüssel gab es außerdem noch je ein
(Festungs-)Gouvernement. Diese letzteren bestanden bis zum März 1915
und wurden dann mit den Militärgouvernements der betreffenden Provinz
verschmolzen, weil die doppelte [10] Einrichtung sich als
überflüssig erwies. Das Gouvernement von Brabant hieß von
nun an: Gouvernement von Brüssel und Brabant. In der großen
Festung Antwerpen fand die Vereinigung der beiden Gouvernements erst
später statt.
Eine endgültige Regelung war für Ost- und Westflandern damit aber
noch nicht gefunden. Der Zustand, daß im
Etappen-, ja sogar im Operationsgebiet der 4. Armee militärische
Behörden des Generalgouvernements wirken sollten, erwies sich bald als
unhaltbar, und mit der endgültigen Zuteilung der beiden Provinzen an die 4.
Armee gingen die beiden Gouvernements ein, und die ihnen unterstellten
Behörden und Truppen traten zur 4. Armee.
Als selbständiger Verwaltungsbezirk trat die Kommandantur Maubeuge mit
ihrem französischen Gebiet unter das Generalgouvernement. Die
einspringende Lage dieses Teiles erforderte dies. Dasselbe geschah Ende 1914 mit
dem französischen Gebiet von Givet und Fumay, wo dieselben
Verhältnisse obwalteten.
Den Gouverneuren unterstellt waren die Präsidenten der Zivilverwaltung;
ihre Aufgabe geht aus ihrem Namen hervor. Sie waren gleichzeitig Untergebene
des Chefs der Zivilverwaltung.
Für ihre militärischen Aufgaben unterstanden den Gouverneuren die
Kreischefs, in jeder Provinz zwei bis vier, im Durchschnitt drei,
Militärbefehlshaber, unter deren Kommando die bisherigen belgischen
Verwaltungsbezirke, die Arrondissements, zusammengefaßt waren. Auch
ihnen waren Verwaltungsbeamte beigeordnet.
Das Nähere über die Tätigkeit dieser Zivilbehörden
bleibt späteren Darlegungen vorbehalten.
Stärke und Aufgaben der Besatzungstruppen.
Jeder Provinz zugeteilt waren entsprechende Teile der Besatzungstruppen. Sie
bestanden aus allen Waffengattungen. Je nach der Kriegslage und etwa neu
auftretenden Aufgaben wechselte ihre Stärke und Zusammensetzung.
Bei Beginn der Besetzung, zu einer Zeit, wo die kriegerische Zukunft nicht zu
übersehen war und wo man natürlich nicht ahnen konnte, wessen
man sich von der immerhin aufgeregten Bevölkerung zu versehen hatte,
war die Truppenzahl sehr erheblich.
Am 1. April 1915 betrug beispielsweise ihre Stärke 102 Bataillone
Infanterie, 32 Eskadrons, einige Batterien
Feld- und zahlreiche Bataillone und Batterien Fußartillerie. Dazu traten
Maschinengewehrkompagnien und technische Formationen aller Art.
Naturgemäß waren dies alles nicht Truppen erster Linie, sondern mit
wenigen Ausnahmen Landsturm und Landwehr ältester Jahrgänge.
Aber auch von diesen wurden im Lauf der Zeit viele geschlossene Truppenteile
und noch mehr einzelne Mannschaften nach den
ver- [11] schiedensten
Kriegsschauplätzen abtransportiert, wo sie auch in vorderster Linie
treu ihre Pflicht taten.
Stets ist seitens des Generalgouvernements den Anforderungen der Obersten
Heeresleitung auf Abgabe von neuen Truppen bereitwilligst stattgegeben worden,
obwohl ihm die Erfüllung seiner Aufgaben damit immer mehr erschwert
und seinen Truppen eine fast nicht mehr zu leistende Diensttätigkeit
aufgelegt wurde. Aber besser als die Kameraden im Schützengraben und
Trichterfeld hatten sie es immer noch, und so leisteten sie ihren Dienst bis zuletzt
treu und zuverlässig.
Für den bei den Truppen des Generalgouvernements herrschenden Geist
sprechen die nachstehenden Tatsachen.
Die letzten Truppen des Generalgouvernements, welche der Verfasser dieser
Zeilen unter seinem Befehl hatte, waren bis zum 15. November 1918 zwei
rheinische und zwei bayerische Landsturmbataillone, welche an diesem Tage auf
Befehl und fest in der Hand ihrer Führer aus der Gegend von Verviers in
die Heimat abmarschierten. Der Stab des Generalgouvernements, 200 Offiziere
und 1400 Mann, wurde vom 18. November 1918 ab in Bad Harzburg
planmäßig demobil gemacht, nachdem er in zwei Transporten quer
durch das von Arbeiter- und Soldatenräten beherrschte Deutschland
ordnungsmäßig gefahren war. Und die Pferde des Stabes erreichten
mit einem Fußmarsch von 660 km Länge von Brüssel
aus denselben Demobilmachungsort, ohne einen Mann oder ein Pferd
einzubüßen. Wahrlich Beweise von Treue und Pflichtgefühl.
Der Abschied von allen diesen Leuten war schmerzlich, aber erhebend durch die
Beweise wahrer Kameradschaft und militärischen
Standesbewußtseins. Daß auch Ausnahmen vorkamen, ist
selbstverständlich.
Außer den dauernd zum Besatzungsheere des Generalgouvernements
gehörenden waren zeitweise andere große Truppenmengen in Belgien
untergebracht.
Aus der Front gezogene Divisionen, welchen eine längere Ruhe in den
guten belgischen Quartieren zugedacht war, und andere, welche außerdem
gegen zeitweise von England durch Holland oder von Holland allein zu
besorgende Gefahren an der holländischen Grenze bereitgestellt wurden,
nahmen den Truppen des Generalgouvernements manchen Dienst ab.
Außer den überwiesenen entstanden im Generalgouvernement neue
Truppen durch bereits frühzeitig betriebene Aufstellung von
Neuformationen. Aus Freiwilligen wurden vor allem
Maschinengewehrformationen in großer Zahl aufgestellt, aber auch
Feldartilleriebatterien mit Beutematerial gebildet, und das
Landwehrinfanterieregiment 56 entstand aus felddienstfähigen
Landwehrleuten der Landsturmbataillone. Dieses letztere Regiment, auf dem
belgischen Truppenübungsplatz Beverloo gebildet, war der Ursprung der
Infanterieersatztruppe dieses Namens, welche der Feldarmee viele tausend Mann
[12] Ersatz lieferte. Sie
wurde am 2. August 1915 vom Kriegsministerium übernommen, unterstand
nunmehr diesem, war aber in wirtschaftlicher Beziehung weiter von dem
Generalgouvernement abhängig. In der ersten Zeit erhielt sie ihren Ersatz
aus den Truppen in Belgien, bald aber wurden ihr in regelmäßigem
Wechsel Rekruten von den heimischen Ersatzbehörden zugewiesen, damit
die guten Unterbringungs- und Ausbildungsmöglichkeiten des belgischen
Übungsplatzes ausgenutzt werden konnten. Es befanden sich hier dauernd
über 10 000 Mann gleichzeitig in der Ausbildung.
Recht interessant waren übrigens manche Verhältnisse auf dem
Übungsplatz. Als ihn die deutsche Verwaltung übernahm, waren
seine neuesten Einrichtungen im Ausbau noch nicht vollendet. Immerhin war der
Bauplan soweit einwandfrei zu übersehen, daß eine Unterbringung
von mindestens 30 000 Mann gleichzeitig ohne weiteres möglich
war. Die Garnisonbäckerei war auf eine Lieferung von 60 000
Brotportionen täglich zugeschnitten. Da niemals Truppen in dieser
Kopfstärke gleichzeitig auf dem räumlich nicht sehr großen
Platze üben konnten, die riesige Größe der Einrichtungen der
Stärke des kleinen belgischen Friedensheeres auch nicht annähernd
angepaßt war und außerdem die neuesten Bauten genau englischen
Mustern entsprachen, so bestand wohl Grund zu eigentümlichen
Vermutungen. Beweise dafür, daß dies alles für englische
Zwecke und mit englischem Gelde hergestellt sei, haben sich natürlich
nicht beibringen lassen.
Die Aufgaben militärischer Art, welche die Gouvernements nach den
Bestimmungen des Generalgouvernements mit den unterstellten Truppen zu
leisten hatten, waren von der allerverschiedensten Art.
Zunächst blieb ein Teil von ihnen, naturgemäß die
kampfkräftigsten, in den verschiedenen Landesteilen verteilt, zur
Verfügung des Generalgouverneurs für besondere Fälle. Sie
nahmen zwar an dem allgemeinen Dienst teil, durften aber nur so verwendet
werden, daß sie in kürzester Zeit zur Niederschlagung etwaiger
Unruhen oder für andere Zwecke herausgezogen werden konnten. Es
mußte angestrebt werden, daß sie durch eingehendere
feldmäßige Ausbildung und bessere Ausrüstung mit Waffen,
Pferden und Gerät den kampfkräftigsten Teil der Besatzungstruppen
bildeten.
Die Sicherheitsbesatzung der drei großen Festungen beanspruchte weiter
erhebliche Truppenmengen. Daher fand natürlich hier, aber auch in den
anderen zahlreichen Ortschaften, ein umfangreicher Wachtdienst statt. Die
zahllosen militärischen Einrichtungen mit ihren für die deutsche
Kriegswirtschaft unersetzlichen Vorräten forderten viele Kräfte.
Fast am wichtigsten aber war der Bahnsicherungsdienst. Das belgische Bahnnetz
hat in den vier Kriegsjahren wohl die größten Transportleistungen an
der Westfront bewältigt. Die auf diesem Kriegsschauplatz jemals
verwendeten Truppen sind sicherlich alle mehrmals auf diesen
Transportstraßen [13] gefahren worden. Dabei
waren die Eisenbahnverhältnisse noch besonders ungünstig, da das
sonst weitverzweigte belgische Bahnnetz nur an wenigen, technisch auch
besonders empfindlichen Stellen mit dem deutschen zusammenhing.
Eine schwere Beschädigung der zahlreichen Tunnels und Brücken
bei Lüttich z. B. hätte sicher verhängnisvolle Folgen
für die Transportbewegung haben müssen. So mußten denn
alle Strecken, und besonders die zahlreichen Kunstbauten, eingehend bewacht
werden. Viele Landsturmbataillone waren daher, in kleine Wachen zerlegt, an der
Strecke verteilt und lebten so ihrem schweren und besonders eintönigen
Dienst. Von der sonst im Wachtdienst vorgeschriebenen Zahl von wachtfreien
Nächten konnte natürlich keine Rede sein; das hätte zu viel
Mannschaften erfordert; so mußte denn schließlich der Mann eine um
die andere Nacht, zeitweise sogar dauernd Posten stehen. Trotz dieser
geisttötenden Anstrengung gelang es aber jede größere
Bahnzerstörung zu verhindern, obwohl es an Versuchen aller Art dazu
seitens fanatisierter Einwohner oder besonderer vom Feinde entsandter
Sprengkommandos nicht fehlte. Was zur Erleichterung dieses Nachtdienstes getan
werden konnte, geschah natürlich. Die Ablösungsmöglichkeit
der Bataillone hatte aber ihre Grenze in ihrer verhältnismäßig
nicht großen und immer abnehmenden Anzahl.
Nächst dem Bahnschutz bildete ein Haupttätigkeitsfeld der
Besatzungstruppen der Grenzschutz. Das Gebiet des Generalgouvernements
bildete in seinem ganzen Umfang einen selbständigen eigenen
Wirtschaftsverband. Aus diesem Grunde und um der Spionage
entgegenzuarbeiten, waren die Grenzen gegen Holland, Deutschland, Luxemburg
sowohl wie auch gegen die Etappengebiete der einzelnen Armeen streng
abgeschlossen. Die Abschließung gegen Holland begann bereits im
November 1914. Zivilpersonen, auch deutsche, durften diese Grenzen nur mit
Pässen überschreiten, und die
Aus- und Einfuhr von Gütern, außer Heeresgütern, war aus
Zoll- und anderen Gründen an bestimmte Regeln und Genehmigungen
gebunden. Die Sicherung dieser Beschränkungen mußte durch
Bewachung gewährleistet werden. Diese hätte ganz erhebliche
Truppenmengen in Anspruch genommen, wenn sie überall mit der gleichen
Strenge hätte zur Durchführung kommen sollen. Die Grenzen gegen
die Etappengebiete waren im ganzen weniger wichtig, weil der Verkehr zwischen
dem Generalgouvernement und ihnen an und für sich recht gering
geworden war, wenn man den militärischen Verkehr nicht
berücksichtigt. Die Bewachung an diesen Grenzen wurde daher auch schon
im August 1916 eingestellt. Notwendig war aber eine genaue Überwachung
der Grenze gegen Holland. Ohne eine solche wäre es nicht möglich
gewesen, dem Übertritt von Belgien nach Holland und der Ausfuhr vieler
für die deutsche Kriegswirtschaft nötiger Güter
entgegenzutreten. An dieser wichtigsten Grenze wurde daher ein technisches
Mittel angewendet: ein elektrisch geladener Drahtzaun von solcher Höhe,
daß seine Überschreitung ohne besondere Vorrichtungen
überhaupt nicht, und immer mit [14] Lebensgefahr verbunden
war. Er lief nahe der Grenze, möglichst gradlinig von der
deutsch-holländischen Grenze bis zum Meere, war durch Schaltposten
bedient und Tag und Nacht von Landsturm bewacht. Einzelne
Übergänge an Hauptstraßen und Eisenbahnen dienten dem
erlaubten Verkehr. Diese sehr umfangreiche Arbeit war am 15. September 1916
fertig geworden und ersparte eine große Menge Bewachungstruppen. Wie
notwendig diese Einrichtung war, zeigt der Umstand, daß sehr häufig,
manchmal tagelang hintereinander, an diesem Zaun Personen
verunglückten, welche die Grenze unerlaubterweise überschreiten
wollten, Schmuggler, Spione, Deserteure usw. An immer neuen Versuchen
der Technik, Einrichtungen zu ersinnen, welche die Wirkungen des Zaunes
hindern sollten, fehlte es nicht. Gummihandschuhe zum Zerschneiden des
Drahtes, Leitern und vielerlei andere Apparate zum Überklettern oder
Durchkriechen des Zaunes waren am beliebtesten.
Die Überwachung der Bevölkerung.
Der Grenzzaun war eine der hauptsächlichsten Vorkehrungen zur
Überwachung der Bevölkerung.
Es war klar, daß die deutschen Behörden auf das genaueste
über die Sinnesart und die Stimmung der Bevölkerung, sowie
über die unvermeidlichen Bewegungen, welche der Verkehr und andere
Verhältnisse hervorrief, unterrichtet sein mußten, um etwaigen gegen
die deutsche Besetzung gerichteten Bestrebungen rechtzeitig vorbeugen zu
können.
Bei Beginn der Besetzung war ganz naturgemäß die Stimmung der
Bevölkerung ausgesprochen deutschfeindlich, und ist es mit geringen
Ausnahmen, die später zu erwähnen sein werden, geblieben. Diese
Feindseligkeit äußerte sich zunächst, wie bekannt, in den
Ausschreitungen des von den Regierungsorganen geförderten
Franktireurkrieges. Als die deutschen Maßnahmen dem ein Ende bereitet
hatte, glimmte der Deutschenhaß unter der Asche weiter und
äußerte sich in passivem Widerstand, zeitweilig hervortretenden
wörtlichen oder tätlichen Angriffen auf einzelne deutsche
Heeresangehörige, dem Aufkommen einer giftigen geheimen Presse und
einem ausgedehnten und sehr gefährlichen Spionagedienst. Der
hinterlistige, aber im Grunde feige Volkscharakter der Belgier hat
größere Volkserhebungen gänzlich verhindert. Zwar kamen im
Laufe der Zeit mehrfach Warnungen an die deutschen Behörden, besagend,
daß mit großen Arbeiteraufständen gerechnet werden
müsse; niemals aber kam es zu derartigen Bewegungen. Zwar brachen
Aufstände aus; diese erwiesen sich aber fast immer als Lohnkämpfe
oder hatten bessere Verpflegung zum Ziel und konnten meist schnell beigelegt
werden.
Ein weiteres Stimmungsmoment war die Angst vor der deutschen Besatzung. Die
von der Feindespresse betriebene Schilderung der "deutschen Greuel" hatte viele
Tausende von Einwohnern, besonders der wohlhabenden [15] Kreise zur Flucht nach
Holland, England und Frankreich bewogen, wo sie, fern von der Heimat, meist in
recht bedrängter Lage lebten. Ihre Besitztümer wären besser
gewahrt gewesen, wenn die Leute in ihren Wohnungen geblieben wären
und sich mit der deutschen Besatzung
schiedlich-friedlich, wie dies meist geschah, auseinandergesetzt hätten.
Besonders während der Belagerung von Antwerpen waren Hunderttausende
von Einwohnern auf holländisches Gebiet übergetreten, sehr zum
Leidwesen der dortigen Regierung.
Ein fernerer Grund zur Abwanderung war für die im wehrpflichtigen Alter
stehenden Männer der weit verbreitete Glaube, daß sie zum Dienst im
deutschen Heere gepreßt werden würden. Daß auch eine ganze
Anzahl Männer über die Grenze gingen, um teils freiwillig, teils dem
Aufgebot ihrer Regierung folgend im belgischen Heere zu dienen, soll nicht
verschwiegen werden.
Besonders merkwürdig war die Leichtigkeit, mit welcher die belgische
Bevölkerung den oft auftauchenden Gerüchten der
unwahrscheinlichsten Art Glauben schenkte und wie sich ihr zugehende
Nachrichten in ihrer Stimmung äußerten. Die offiziellen deutschen
Berichte hat sie bis zum Schluß meist nicht geglaubt; dagegen
äußerte sie Freude und Zuversicht, wenn von irgendeiner Seite die
sichere Nachricht aufkam, daß z. B. in fünf Tagen der
König der Belgier wieder in seiner Hauptstadt eintreffen würde und
ähnliches. Jede auch nur vorübergehende Veränderung an der
deutschen Front wirkte auf Grund der feindlichen Heeresberichte erhebend oder
niederdrückend.
Um diese Stimmungen der Volksseele aufmerksam überwachen zu
können, tat die deutsche Militärverwaltung alles, um die infolge der
Kriegshandlungen eingetretenen Verschiebungen der Bevölkerung wieder
auszugleichen und letztere wieder seßhaft zu machen. Im Benehmen mit der
holländischen Regierung erging die Aufforderung zur Rückkehr an
die nach Holland Geflohenen unter Zusicherung der Straflosigkeit und Betonung
der ganz selbstverständlichen Mitteilung, daß niemand in das
deutsche Heer eingestellt werden würde.
Um nun die Einwohner gut unter Aufsicht zu halten, wurde für jeden von
ihnen ein Personalausweis vorgeschrieben und eine scharfe Beschränkung
der Freizügigkeit eingeführt. Diese wurde indessen so gestaltet,
daß der notwendige und auch für Deutschland wichtige Handel und
Verkehr aufrechterhalten blieb. Bald wurden auch die Beschränkungen
immer mehr abgebaut.
Dem gleichen Zweck diente die möglichst schleunige
Rückführung der in den ersten Kriegsmonaten in großer
Anzahl nach deutschen Gefangenenlagern überführten
Zivilgefangenen, Geiseln usw. In allen Fällen, in denen nicht ein
dringendes deutsches Interesse vorlag, wenn also den Betreffenden keine Schuld
nachgewiesen werden konnte, wurden sie in ihre Heimat entlassen. Von solchen
Vergünstigungen ausgeschlossen blieben natürlich auch später
solche Persönlichkeiten, die durch richterlichen Spruch oder besondere
Verwaltungsmaßregeln zur Internierung nach Deutschland bestimmt
wurden. Diese Internierung war [16] sehr gefürchtet.
Sie wurde verhältnismäßig nicht sehr oft angewendet. Die
Verhängung dieser Strafe wurde dem Generalgouvernement durch die
Einflüsse der Heimat nicht leicht gemacht. In vielen Einzelfällen
versuchten deutsche Politiker und andere einflußreiche Personen, selbst
Reichsbehörden, in diese Maßregelungen einzugreifen. Politische
oder Verwandtschaftsgründe waren meist die Ursache von unberechtigten
und daher unzulässigen, man kann ruhig sagen unpatriotischen
Einmischungen.
Zur Überwachung der Bevölkerung waren beim Stabe des
Generalgouvernements die Paßbehörden, die Leitung des
Meldewesens und die Zentralpolizeistelle eingerichtet. Jede hatte in den
Provinzen ihre Sonderorgane.
Die Ein- und Ausreise nach und von Belgien konnte nur mit einem von der
Paßzentrale ausgestellten Paß geschehen. Deutsche mußten die
Erlaubnis zur Einreise vorher nachsuchen. Die Erlaubnis wurde oft verweigert;
das Generalgouvernement sicherte sich auf diese Weise gegen eine
Überflutung durch unlautere Elemente, die oft genug versuchten, in Belgien
unerlaubte wirtschaftliche Vorteile zu erlangen. Eine Ausnahme von dem
Paßzwang bildete das sogenannte Grenzzonengebiet, welches in dem
Augenblick in die Erscheinung trat, als der elektrische Grenzzaun fertiggestellt
war. Um seine Linienführung und Bewachung möglichst einfach zu
gestalten, folgte er nicht überall dem sehr gewundenen Laufe der
holländisch-belgischen Grenze. Große ausspringende Zipfel
belgischen Landes wurden so von dem übrigen Gebiet des
Generalgouvernements abgetrennt. Da die Paßkontrolle nur am Grenzzaun
selber stattfinden konnte, war der Verkehr zwischen Holland und dem
außerhalb des Zaunes liegenden Belgien, eben dem Grenzzonengebiet,
unbeschränkt. Die entstehenden Nachteile waren ganz unwesentlich.
Für die Überwachung der wehrfähigen Belgier bestanden die
Meldeämter. In regelmäßigen, kurz bemessenen
Zwischenräumen wurden die Leute nach den genau geführten Listen
kontrolliert, und strenge Strafen ahndeten etwaige Versäumnisse. Eine
besondere Kategorie von Leuten bildeten hierbei die Mitglieder der ehemaligen
Garde civique. Ursprünglich als eine Art Bürgerwehr im
politischen Sinne gedacht, hatte sie zum Teil, und zwar auf Anweisung ihrer
Regierung, sich am Kampfe beteiligt. Trotzdem war und blieb es unklar, ob alle
ihre Teile im völkerrechtlichen Sinne als Bestandteil der bewaffneten
Macht zu betrachten seien. Nur wenige, die im Gefecht gefangen worden waren,
blieben daher Kriegsgefangene; die übrigen wurden durch eine
Loyalitätserklärung zu friedlichem Verhalten verpflichtet und nur,
wenn sie diese verweigerten, nach Deutschland abgeschoben. Alle mußten
sich aber durch die Meldeämter kontrollieren lassen.
Außer der Beaufsichtigung der wehrpflichtigen Belgier lag den
Meldeämtern auch die Kontrolle von Franzosen, Engländern und
sonstigen feindlichen Ausländern und der deutschen Wehrpflichtigen
ob.
[17] Die feindlichen
Ausländer mußten verschieden behandelt werden. Bei den Franzosen
hinderte schon die große im Lande vorhandene Zahl die Internierung; auch
hätte man sie nur in Deutschland internieren können und dort die
Anzahl der überflüssigen Esser vermehrt. So wurden nur diejenigen
Persönlichkeiten abgeschoben, deren Verbleiben in Belgien wirkliche
Gefahren für die deutsche Besetzung gehabt hätte. Ein näheres
Eingehen hierauf würde zu weit führen.
Die Zentralpolizeistelle, welche mit der Geheimen Feldpolizei des Feldheeres in
enger Verbindung stand, hatte mit ihren Organen als Haupttätigkeit die
Untersuchung in Spionagefällen, gegen unerlaubte Auswanderung, gegen
die geheime in Belgien erscheinende Presse und gegen Falschmünzerei zu
führen. Die Aburteilung nach abgeschlossener Untersuchung lag den
deutschen Militärgerichten ob, welche sonst nur noch diejenigen
Straffälle behandelten, in denen irgendein deutsches Interesse berührt
wurde. Die gesamte rein belgische Gerichtsbarkeit blieb den belgischen Gerichten
überlassen.
Spionage lag dem Belgier seiner ganzen Anlage nach besonders gut. Die
Gelegenheit war auch zu günstig; in der dichten Bevölkerungsmasse
konnte der einzelne leicht ungestört beobachten oder unbemerkt, wenn
nötig, verschwinden. Die zahlreichen deutschen Soldaten waren leider
meist leicht auszuforschen, und der ungeheure militärische
Transportverkehr auf den Bahnen ließ sich in sinnreicher Weise gut
auskundschaften. Die Grenze war nicht weit, die Bevölkerung half dem
Spion in jeder Weise, und in Holland saßen die umfangreichen englischen
und französischen Bureaus, die gute Nachrichten mit Gold aufwogen. So
war die feindliche Nachrichtenorganisation immer glänzend über
alles unterrichtet, was in Belgien vorging und welche Truppenverschiebungen die
Oberste Heeresleitung vornahm.
Trotz dieser großen Schwierigkeiten gelang es der Zentralpolizeistelle, doch
eine sehr große Zahl von umfangreichen Spionageorganisationen
aufzudecken und viele der Schuldigen der Strafe zuzuführen. Man
mußte sorgfältig zwischen solchen Schuldigen unterscheiden, welche
oft mit großer Hingabe aus Vaterlandsliebe sich schuldig gemacht hatten,
und solchen, die nur aus schnöder Geldgier handelten. Den Standpunkt der
ersteren konnte man durchaus anerkennen, wenn sie auch weitaus die
gefährlicheren waren und im deutschen Interesse keinerlei Schonung
gewärtigen konnten. Die Handlungsweise der anderen war einfach
verächtlich. Unter den ersteren befanden sich viele fanatische katholische
Geistliche. Ihre notwendige Verurteilung führte häufig zu
Zwischenfällen mit Vertretern des Päpstlichen Stuhles oder mit
einflußreichen Mitgliedern der deutschen Zentrumspartei.
Ebenso häufig und nicht minder gefährlich waren diejenigen
Organisationen, welche die Zuführung von wehrpflichtigen Belgiern oder
noch im Lande befindlichen englischen und französischen Soldaten, meist
entwichenen Kriegs- [18] gefangenen, an die
feindlichen Heere zum Zweck hatten. Auch für sie waren die schwersten
Strafen angedroht.
Wie gefährlich diese Organisationen waren, beweisen die zahlreichen
Gefechte, welche von den Grenzschutztruppen mit Banden solcher
Grenzläufer geführt werden mußten, wobei es auf beiden
Seiten Tote und Verwundete gab.
Es kam sogar vor, daß solche Banden sich mit raffinierter Schlauheit in den
Besitz deutscher Dampfer setzten und auf tollkühner Fahrt die Maas hinab,
ein Wehr im hochangeschwollenen Flußbett überspringend oder eine
provisorische Brücke durchbrechend, unter dem Feuer der
Grenzbewachung das holländische Gebiet erreichten. In einem solchen Fall
war allerdings der Schiffsführer ein deutscher Soldat elsässischer
Abstammung gewesen und mit den Grenzbrechern verschwunden.
Die Zahl der für die vorgenannten Verbrechen geführten
Kapitalprozesse war Legion. Viele Todesurteile wurden gefällt, eine nicht
geringe Zahl auch vollstreckt. Dasjenige, welches am meisten Aufsehen erregte
und der Propaganda wegen "der deutschen Greuel" willkommenen Stoff gab, war
die
Erschießung der Engländerin Miß Cavell in
Brüssel. Ganz einwandfrei war erwiesen, auch hatte sie
eingestanden, einer ganzen Anzahl ihrer Landsleute zur Überschreitung der
Grenze verholfen zu haben. Sie war die Leiterin der Angelegenheit gewesen. Das
Urteil konnte nach den Gesetzen nicht anders lauten als auf Todesstrafe. Es wurde
gesetzmäßig gesprochen, bestätigt und vollstreckt. Alles
andere ist eine Propagandafabel.
Daß England sich über das Urteil erregte, ist natürlich. Vom
englischen Standpunkte aus war Miß Cavell eine Heldin, vom deutschen
aus verdiente sie den Tod. Daß die englische Regierung die
Rechtmäßigkeit des Urteils anerkannt hat, beweist der Umstand,
daß die an dem Prozeß beteiligten deutschen Offiziere und Beamten
nicht auf der Liste der sogenannten "Kriegsverbrecher" standen, was allgemein
erwartet wurde.
Immerhin hatte der entstandene Lärm die unerwünschte Folge,
daß Frauen, welche weiterhin zum Tode verurteilt werden mußten,
auf Anweisung des deutschen Kaisers nicht hingerichtet, sondern begnadigt
wurden. Das Ergebnis war, daß nunmehr in steigender Anzahl Frauen an
den gefährdetsten Stellen in der Spionage auftraten. Sie wußten,
daß ihnen nichts Schlimmes passieren würde.
Einen des Humors nicht entbehrenden Kampf führte die deutsche Polizei
gegen die geheime belgische Presse, besonders gegen die von Zeit zu Zeit
erscheinende La libre Belgique. Es war ein sehr geschickt, manchmal
geistreich redigiertes Machwerk, welches in unflätiger Weise die deutsche
Verwaltung, besonders auch die Persönlichkeiten der jeweiligen
Generalgouverneure angriff. Gedruckt in irgendeiner unbekannten Druckerei,
erschien sie plötzlich in Tausenden [19] von Abdrücken
im ganzen Lande und erregte den Jubel der Belgier. Der oder die eigentlichen
Verfasser sind nie entdeckt worden, die Druckereien wurden oft ausgehoben, aber
immer wieder fanden sich neue.
Ebenso ging es mit den Falschmünzerbanden. Großes Unheil ist nicht
entstanden. Eine Bande, welche mit dem größten Fleiß und
kaum glaublicher Sorgfalt arbeitete, konnte gerade noch vor dem letzten
Abschluß ihrer Vorbereitungen zum Druck deutschen Papiergeldes
gefaßt werden. Die Ergebnisse ihrer Tätigkeit waren so vortrefflich,
daß sicher schwerer Schaden entstanden wäre.
Unterstützung fanden die deutschen Beamten in ihren Untersuchungen bei
vielen Belgiern, welche sich nicht scheuten, gegen klingenden Lohn oder aus
persönlichen Gründen ihre Landsleute zu verraten. Es war nicht
anders als wie im Deutschen Reich, wo nach Friedensschluß sich für
die Ententekommissionen Deutsche als Denunzianten finden.
Ein polizeilicher Kleinkrieg wurde auch geführt gegen das Tragen
nationalistischer Abzeichen, Fähnchen, Rosetten, Schleifen usw.,
welche verboten werden mußten, da sie zu Demonstrationszwecken,
besonders an belgischen Gedenktagen, viel verwendet wurden.
Eine beliebte Herausforderung seitens der Belgier war auch das Spielen von
vaterländischen Liedern, besonders der "Brabançonne" an solchen
Tagen. Mancher Organist mußte seinen Patriotismus büßen,
wenn er in der Kirche am Schluß des Gottesdienstes dieses Lied, vielfach
geschickt unter musikalischen Variationen versteckt, von der Orgel ertönen
ließ. Diese Maßregelung kann kleinlich erscheinen, war bei der
Sinnesart der Belgier aber durchaus notwendig. Duldsamkeit hätte sofort
größere Unverschämtheiten hervorgerufen.
Dagegen hat niemals im Gebiet des Generalgouvernements die kleinliche
Schikane der Grußverpflichtung der Bevölkerung vor deutschen
Fahnen oder Offizieren bestanden. Möglicherweise hat irgendwo ein
übereifriger Befehlshaber Ähnliches angeordnet. Von seiten des
Generalgouvernements ist aber immer, wenn derartiges zu seiner Kenntnis kam,
dagegen eingeschritten worden. Die Maßregel war unnötig und ihre
Befolgung nicht zu überwachen.
Alle durch die deutschen Gerichte bestraften oder sonstwie gemaßregelten
Belgier konnten, wie schon erwähnt, nach Deutschland abgeschoben
werden. Allmählich erreichte die Zahl der in Deutschland Festgehaltenen
eine solche Höhe, daß zur Entlastung der Heimat neue
Maßnahmen getroffen werden mußten.
So wurden denn unter Aufwand erheblicher Mittel die alte Zitadelle in Diest und
eine riesige Kaserne in Vilvorde als Gefangenenlager und als
Strafgefängnis eingerichtet und eine große Anzahl Belgier aus
Deutschland dorthin zurückgeführt. Die Bewachung verursachte
manche Schwierigkeiten.
Sehr bezeichnend ist der Umstand, daß die Kaserne in Vilvorde sich in
einem so schlechten Bauzustande befand, und zwar schon vor Kriegsausbruch,
daß man deutschen Truppen niemals dauernd eine solche Unterkunft
zugemutet hätte.
[20] Trotz der bedeutenden
für diese Einrichtungen aufgewendeten Mittel gaben sie den Belgiern
Anlaß zu allerlei Unzufriedenheit. Von seiten der belgischen Regierung
sowohl wie durch Vermittelung des spanischen Gesandten in Brüssel
kamen bewegliche Klagen über angebliche Mißstände.
Selbstverständlich erwiesen sie sich als unbegründet und wurden
abgelehnt. Ebenso aber auch das Verlangen, dem Gesandten ein Aufsichtsrecht
über die Anstalten einzuräumen, weil zwar die spanische Botschaft
in Berlin die Schutzmacht für die belgischen Interessen, aber der spanische
Gesandte in Brüssel in keiner Weise als Vertreter dieser Macht für
diese gefangenen Belgier beglaubigt war.
Verteidigungseinrichtungen des Generalgouvernements.
Wie gegen den inneren Feind, so mußte aber auch Vorsorge getroffen
werden, daß kriegerischen Handlungen des Feindes auf dem Boden des
Generalgouvernements Widerstand geleistet werden konnte.
Die drei Festungen Antwerpen, Lüttich und Namur galten bis zum
Kriegsbeginn als modern. Mit ihrem Gürtel aus panzerstarrenden
Betonforts hielt man sie in Belgien für uneinnehmbar. Die deutsche
Artillerie brach die Panzerfesten in wenigen Tagen, wobei einige von ihnen
einfach in die Luft geflogen waren.
Ähnliches konnte natürlich erfolgen, wenn die Festen nunmehr in
deutscher Hand einem feindlichen Angriff gegenüber hätten
verteidigt werden müssen. Denn auch der Gegner verfügte bald
über schwerste Artillerie von ähnlicher Wirkung. So mußte
denn der Wiederausbau der Festungen unter anderen Gesichtspunkten
erfolgen.
Da niemand auf die jahrelange Dauer des Krieges rechnen konnte, verbot sich,
auch wegen der Kosten, die Ausführung noch stärkerer und besser
gedeckter Panzerwerke von selbst. Von weit her sichtbare Panzertürme, wie
es die meisten in den drei Festungen waren, erwiesen sich überhaupt als
zwecklos, da sie in kürzester Zeit erledigt sein mußten. Auch war der
Beton in den belgischen Forts, wie die Untersuchungen deutscher
Sachverständiger ergaben, häufig von schlechter Beschaffenheit; die
Werke hatten sich überhaupt als Menschenfallen erwiesen.
Deshalb wurde von ihrem Ausbau gänzlich abgesehen. Es wurden auf den
zum Feinde gelegenen Fronten, bei Lüttich und Namur nach Westen, bei
Antwerpen von Westen bis Nordosten (gegen Holland) Feldstellungen angelegt,
welche etwa denen entsprachen, die an der Westfront an den gut ausgebauten
Fronten bestanden. Die Forts mit der in ihnen enthaltenen Artillerie wurden als
solche aufgegeben, die riesigen Eisenmassen der Türme sollten der
deutschen Kriegswirtschaft als Schrott dienen.
Ob die Neuanlagen den manchmal von Monat zu Monat wechselnden
Anforderungen der Feldbefestigung dauernd gewachsen geblieben wären,
darf [21] füglich bezweifelt
werden. Was heute Vorschrift war, mußte morgen anderen Angriffsmitteln
gegenüber zwecklos werden. So blieb der Ausbau dauernd im Fluß;
schließlich wurde Lüttich am 1. Juli 1916 als Festung aufgegeben;
Namur wäre wohl auch bei längerer Dauer des Krieges gefolgt.
Gebaut wurde auch hier seit 1915 nicht mehr. Bei Antwerpen lag die Sache
insofern etwas anders, als es auf der wahrscheinlichen Angriffsfront im Westen
und zum Teil im Norden durch künstliche Überschwemmung gut
gesichert werden konnte.
Bei Antwerpen war die Sicherung gegen Norden besonders nötig, denn die
holländische Grenze war sehr nahe. Zwar war Holland neutral und im
ganzen, besonders in seiner Armee, meist deutschfreundlich. Aber die Landung
englischer Truppen auch unter Nichtachtung des Völkerrechts oder
sonstiger englischer Zwang konnte eines Tages die Neutralität des kleinen
Staates in kriegerische Feindseligkeit verkehren. Mehrfach schien dieser Fall in
greifbare Nähe zu treten. Dagegen mußte vorgesorgt werden.
Außer der Vorbereitung der Nordfront von Antwerpen diente dazu die
Herrichtung von Hindernissen und kleinen Brückenköpfen an den
Übergängen des Turnhouter Kanals. Von Antwerpen bis Turnhout,
parallel der holländisch-belgischen Grenze laufend, war er nicht als eine
starre Verteidigungslinie gedacht, sondern als ein Hindernis gegen feindliche
Aufklärung und kleinere Abteilungen, in dessen Schutze eigene Truppen
gedeckt versammelt werden konnten.
Auch sonst war der Kriegsfall mit Holland, den natürlich niemand auf
deutscher Seite wünschte, wohl vorbereitet. Sollte es dazu kommen, so
wollte die Oberste Heeresleitung sich nicht in der Verteidigung halten, sondern
sofort selbst zum Angriff schreiten. Konzentrisch von zwei Seiten her, aus dem
preußischen Ostfriesland und den belgischen Provinzen Antwerpen und
Limburg, sollte er erfolgen. Stets waren die dafür nötigen Truppen
bestimmt, die Etappeneinrichtungen bis auf die Einzelheiten vorbereitet. Selbst
Truppen des Generalgouvernements sollten daran teilnehmen, welche für
diesen Zweck auch auf dem Truppenübungsplatz Beverloo in
größeren Verbänden geschult wurden.
Die Verkehrseinrichtungen.
Wenn auch der öffentliche Verkehr im militärischen Interesse sehr
eingeschränkt werden mußte, so blieben doch eine große
Anzahl Verkehrsangelegenheiten seitens der Behörden des
Generalgouvernements zu bearbeiten, deren Regelung auch über das
Kriegsende hinaus für Belgien und seine Bewohner von bleibendem Vorteil
werden sollte.
Der Betrieb der hauptsächlichsten Verkehrsmittel, der Eisenbahn, der
militärischen Schiffahrt, der Post und Telegraphie, lag zwar besonderen,
dem Generalgouvernement gegenüber selbständigen
militärischen oder Zivilbehörden ob, von denen später zu
reden sein wird. Es gab aber außerdem noch genug [22] Dienstzweige, deren
sachgemäße Bewirtschaftung dem Generalgouvernement und seinen
Organisationen verblieben war. Unterhaltung und Neubau von
Wasserstraßen nebst den dazugehörigen Brücken und
sonstigen Anlagen, Landstraßenbau
und -unterhaltung, die nicht rein im militärischen Interesse liegende
Schiffahrt, die Regelung und Ausnutzung des Kraftwagenverkehrs und
schließlich auch die Angelegenheiten der Landesaufnahme gehören
hierher.
Für den Land- und Wasserstraßenbau, der natürlich in erster
Linie militärische Bedeutung hatte und behielt, sorgte die dem
Generalgouvernement unterstehende sehr umfangreiche Behörde der
Baudirektion, ähnlich wie sie bei den Etappeninspektionen bestand.
Noch viele Jahre wird man in Belgien wissen, wenn auch vielleicht nicht
öffentlich betonen, was sie für das Wohl des Landes geleistet
hat.
Das Wasserstraßennetz in Belgien war in der Ausdehnung gut entwickelt.
Die beiden Hauptflüsse des Landes, Maas und Schelde, und viele ihrer
Zuflüsse waren schiffbar, wo nötig kanalisiert. Beide waren
verbunden durch ein wohl ausgedachtes, gut unterhaltenes Kanalnetz, welches
allerdings den Nachteil besaß, daß einige seiner Hauptstrecken nur
Schiffen von verhältnismäßig geringem Fassungsraum die
Durchfahrt gestattete, und daher im ganzen nicht sehr brauchbar war.
Infolge der sehr weitgehenden Selbstverwaltung der einzelnen Landesteile und
sogar Gemeinden, kamen selten einheitlich gehaltene Pläne für
Neu- oder Umbauten von Wasserstraßen zur Ausführung.
Verzögerungen, die oft viele Jahre ausmachten, hinderten die
nötigsten Verbesserungen, weil die verschiedenen Parteiinteressen der
Beteiligten in den meist leidenschaftlich geführten Kämpfen nicht zu
vereinigen waren und eine entscheidende Instanz zum Ausgleichen fehlte. So
blieben z. B. wichtige Kanäle für größere
Kähne unbenutzbar, weil nur Teile von ihnen auf die größere
Breite und Tiefe umgebaut wurden. Es kam soweit, daß von
Sachverständigen behauptet und bewiesen werden konnte, die belgischen
Wasserstraßen brächten wirtschaftlich gegenüber den
Eisenbahnen keinen Vorteil, man müsse daher letztere verbessern und die
große Zahl von noch unerledigten Kanalplänen
zurückstellen.
Mit den Nachbarländern Holland und Frankreich bestanden vielfache
Verbindungen; besonders die Kanäle, welche die
belgisch-französische Grenze erreichten, fanden fast immer auf der anderen
Seite einen passenden Wasserweg. Nur mit Deutschland gab es keine unmittelbare
Verbindung; immer mußte für diesen Schiffsverkehr der Umweg
durch Holland zur Maas oder Schelde gewählt werden. Zwar waren schon
früher Pläne für große Kanalbauten zwischen
Deutschland und Belgien erörtert worden; aber ein wirkliches Studium der
Frage entstand erst während des Krieges von deutscher Seite. Die
Schwierigkeiten technischer Art wären wegen der starken
Höhenunterschiede am rechten Maasufer sicher sehr groß geworden.
Deutsche Tatkraft hätte sie ohne Zweifel [23] überwunden.
Dazu kam es aber nicht, denn im ersten Teil des Krieges wurde
merkwürdigerweise auf die Ausnutzung der Wasserstraßen für
den Heeresnachschub wenig Wert gelegt, und so erschien ein Kanalneubau an
dieser Stelle als nicht wichtig genug. Im späteren Verlauf, als die
Verkehrsmittel der Eisenbahn sich verschlechterten, aber die Anforderungen an
sie immer größer wurden, würde man gerne dieses
Entlastungsmittel besessen haben; aber nun wäre es zu spät gewesen,
auch wenn die Zeit zum Bau ausgereicht hätte.
Im Generalgouvernement war der Wert guter Wasserverbindungen sofort erkannt
worden. Es mag wohl an der Notwendigkeit, sie an Stelle der für den
Zivilverkehr wenig verwendbaren Eisenbahnen zu benutzen, gelegen haben.
Zunächst handelte es sich darum, die vorhandenen Wasserwege
wiederherzustellen, wenn sie beschädigt waren. Unendlicher Schaden
hätte entstehen können, wenn von den zahlreichen Schleusen oder
Wehren eine größere Zahl zerstört gewesen wäre. Davon
war zum Glück nichts geschehen. Nur von den vielen größeren
und kleineren Brücken waren eine ganze Anzahl von Belgiern und
Franzosen auf dem Rückzuge gesprengt worden. Die wichtigsten zum
Glück nicht. So war z. B. von sechs großen
Maasbrücken in Lüttich durch ein Mißverständnis nur
eine einzige zerstört worden und damit ein für den deutschen
Vormarsch unschätzbares Hilfsmittel erhalten geblieben.
Die in den Flußbetten liegenden Brückentrümmer waren ein
schweres Schiffahrtshindernis; sie mußten zunächst
fortgeräumt werden. Mit Hilfe mancher neuartiger Erfindungen und
Einrichtungen gelang dies verhältnismäßig schnell. Was an
Schiffahrtsgesellschaften in Belgien vorhanden war, wurde nun bald in Betrieb
gesetzt. Aber hier zeigten sich große Schwierigkeiten. Im Frieden war der
Verkehr zwischen Holland, Belgien und Frankreich mit den Schiffen dieser drei
Länder unbeschränkt vor sich gegangen. Jetzt fanden sich nicht mehr
viele belgische und französische vor. Manche waren zerstört worden,
sehr viele waren ins besetzte Frankreich oder besonders nach Holland entflohen
und hatten aus Angst vor den Deutschen keine Lust zurückzukehren. Sie
fürchteten mit Recht die Beschlagnahme. Die holländischen Schiffe
blieben vorerst aus Neutralitätsgründen aus. So war die Lage wegen
der erschwerten Kohlen- und Lebensmittelversorgung recht brennend
geworden.
Es wurde nun durch das Generalgouvernement alles getan, um die im Lande
verbliebenen Mittel für die Schiffahrt nutzbar zu machen. Aber diese
genügten nicht annähernd. Es galt sich im Auslande umzutun.
Holland mit seinem gleichfalls gut ausgebildeten Wasserstraßennetz kam
allein in Frage.
An die nach Holland geflohenen belgischen Schiffer wurde herangetreten. Viele
gewann man durch Zusicherungen von Vorteilen und Erleichterungen aller Art,
und bald waren viele auch überzeugt, welche guten Geschäfte sie
machten, wenn sie sich der deutschen Kriegswirtschaft zur Verfügung
stellten. Nur verlangten sie, wie auch sonst in Belgien Industrie und Handel, von
der [24] besetzenden Macht
einen gewissen Druck, eine Art Zwang, damit sie ihren Landsleuten und der
fernen Regierung gegenüber sich mit der Nötigung durch den Feind
entschuldigen konnten.
Aber auch diese Mittel genügten noch nicht; denn viele belgische Schiffer
blieben freiwillig in Holland, anderen waren ihre Schiffe durch die Agenten der
Entente zum Nachteile Deutschlands abgekauft worden.
So blieb denn nichts übrig, als Schiffe aus holländischem Besitze
selber zu erwerben; auf direktem Wege war dies aus Gründen der
Neutralität nicht möglich. Die holländische Regierung konnte
den Verkauf holländischer Schiffe an deutsche Behörden nicht
gestatten, ohne sich englischen Verboten oder Repressalien auszusetzen. Aber es
gab auch deutsche Sympathien und Interessenten in Holland; und so bildete sich
bald eine holländische Schiffahrtsgesellschaft, deren Schiffe in Belgien zu
fahren bereit waren. Die eigentlichen Leiter dieser Gesellschaft waren Mitglieder
des Stabes des Generalgouvernements, deren Zivilberuf sie für diesen
Dienst besonders geeignet machte. Die Finanzierung geschah aus belgischen
Mitteln der deutschen Verwaltung, da diese Verkehrsmaßnahmen ja auch
Belgien zugute kamen.
Das Generalgouvernement hat sich dann im Laufe der Zeit einen Schiffspark von
mehreren hunderttausend Tonnen beschafft, mit dem auch in umfangreichstem
Maße Transporte für Kriegszwecke, Holz, Schotter, Kies usw.
gefahren wurde.
[24a]
Armierungsbrücke bei Burght bei
Antwerpen.
|
Von diesen Schiffahrtsverhältnissen wurde nicht viel gesprochen, um nicht
die Helfer der deutschen Verwaltung in Holland zu schädigen. Die
näheren Zusammenhänge waren nur ganz wenigen Wissenden
bekannt.
Wie die Inbetriebsetzung bereits vorhandener, so ließ sich die deutsche
Verwaltung auch die Vollendung erst angefangener belgischer
Wasserstraßen angelegen sein. Hier sind es besonders zwei Werke, welche
den Belgiern die deutsche Verwaltung noch lange in die Erinnerung rufen
werden.
Im Canal du Centre befindet sich in der Gegend von La-Louvière eine
Strecke, deren Bau, obwohl bereits in den achtziger Jahren des
19. Jahrhunderts begonnen, aus innerpolitischen Gründen nicht hatte
fertiggestellt werden können. Die sehr großen
Höhenunterschiede hatten hier die Anwendung eines technisch sehr
wirksamen, damals überhaupt nur einmal, und zwar in Deutschland, bei
Henrichenburg angewendeten Mittels, eines sogenannten Schiffshebewerks
notwendig gemacht, weil gewöhnliche Schleusenanlagen die
Schwierigkeiten nicht hätten überwinden können. Vier dieser
gewaltigen Bauwerke fand die deutsche Bauverwaltung unvollendet vor, und trotz
aller Schwierigkeiten in der Beschaffung von Personal und Material wurden sie
alle nach und nach der Vollendung zugeführt.
Dasselbe war mit dem Seekanal von Brüssel zur Schelde der Fall. Auch
seine schließliche Vollendung verdankt Belgien der deutschen
Verwaltung.
[25] Diese Verbesserungen
kamen natürlich auch den deutschen Bedürfnissen zugute. Aber als
die voraussichtlich sehr lange Zeit in Anspruch nehmende Fortführung der
Bauten vom Generalgouvernement beschlossen wurde, konnte niemand die Dauer
des Krieges voraussehen, und so sind sie um der Sache selbst willen vollendet
worden.
Außer der Wiederherstellung der Wasserwege waren aber auch besonders
die Landverbindungen zu pflegen. Auch sie kamen natürlich den deutschen
Interessen zugute. Zunächst handelte es sich um den Neubau der vielen
zerstörten Brücken. Die meisten waren behelfsmäßig
schnell wiederhergestellt. Dies genügte aber auf die Dauer keineswegs, und
es entstanden daher nach und nach unter Leitung der deutschen Baudirektion jene
vielen Brücken, deren technische Vollendung und gefällige Formen
für die Leistungsfähigkeit der großen deutschen Firmen, die sie
ausführten, ein Denkmal bilden, welches der praktische Sinn der Belgier
voraussichtlich besser erhalten wird als manches andere.
Belgien ist berühmt durch sein weitverzweigtes, vorzüglich
unterhaltenes Straßennetz. Seine Erhaltung und Verbesserung war die stete
Sorge der Militärverwaltung. Wer auf belgischen Straßen marschierte
oder im Kraftwagen dahinflog, kennt die Erfolge dieser Sorge.
Zur Ausführung dieser Werke war die Ausnutzung vieler Fabriken und
besonders auch Steinbrüche im Lande unerläßlich und lag
sowohl im deutschen wie im belgischen Interesse. Alles dieses belastete
selbstverständlich den Geldbeutel des Reiches nicht. Aus belgischen
Mitteln, auf Grund des aus belgischen Steuern und Abgaben gespeisten
Haushaltsetats, wurden die Ausgaben geleistet. Bis zu guter Letzt konnten die
deutschen Heere noch die Tätigkeit der deutschen Verwaltung
genießen. Denn der deutsche Rückzug durch Belgien im Jahre 1918
hätte ohne die guten Brücken und Straßen in der geschehenen
Weise überhaupt nicht geleistet werden können.
Die Tätigkeit anderer nicht dem Generalgouvernement unterstellter
Behörden fällt in den Rahmen dieser Betrachtungen und kann nicht
übergangen werden, wenn auch das Generalgouvernement für sie
nicht zuständig war. In erster Linie kommen hier die Verwaltungen der
belgischen Eisenbahnen, Post und Telegraphen in Betracht.
Selbstverständlich stockten sie bei Annäherung der deutschen
Truppen sofort sämtlich. Da diese Einrichtungen unter
Kriegsverhältnissen zunächst nur im militärischen Interesse
benutzt werden können, wurden sie, soweit möglich sofort, dann
allmählich in immer weiterem Umfange dem Betrieb übergeben, bis
schließlich das ganze belgische Eisenbahnnetz, mit Ausnahme weniger
unwichtiger Strecken, im rein militärischen Betrieb stand, der mit der Zeit,
soweit es die militärischen Interessen zuließen, auch den
Bedürfnissen der Zivilbevölkerung gerecht zu werden suchte. Die
Beschränkungen blieben aber natürlich immer sehr einschneidend.
Daher blieb denn die Eisenbahn dauernd nur ihren militärischen
Vorgesetzten, dem Chef [26] des
Feldeisenbahnwesens und weiter dem Chef des Generalstabs des Feldheeres allein
unterstellt. Die Militärgeneraldirektion der Eisenbahnen in Brüssel
blieb dem Generalgouvernement gegenüber auf ihrem Gebiet, wozu alle
ihre Einrichtungen gehörten, also ganz souverän. Es ist klar,
daß daraus viele Reibungen entstanden, da die für ganz andere
Zwecke arbeitenden Eisenbahnbehörden durch viele notwendige
Verordnungen des Generalgouvernements gestört werden mußten. So
waren besonders die wirtschaftlichen Ein- und Ausfuhrverordnungen des
Generalgouvernements ein Grund für dauernde Verhandlungen.
Der Betrieb wurde in den oberen Stellen durch rein deutsches Personal und mit
sehr vielem deutschen rollenden Material aufrechterhalten, während die
unteren Stellen auch durch Belgier besetzt waren, welche außerdem das
zahlreiche Werkstätten- und sonstige Arbeiterpersonal stellten. Man hat mit
ihnen im ganzen gute Erfahrungen gemacht. Streikbewegungen kamen vor, sie
waren aber alle nur von kurzer Dauer. In solchen Fällen und auch bei
Arbeiterbeschaffungen großen Stils nahm die sonst selbständige
Militärgeneraldirektion gern die Hilfe der Organe des
Generalgouvernements in Anspruch.
Da ein beschränkter Zivilverkehr schon wegen der Aufrechterhaltung von
Handel und Gewerbe unbedingt notwendig war, so wurde er eingerichtet.
Daß er nicht übermäßig ausgenutzt werden konnte,
dafür sorgten die mit Absicht sehr hoch gehaltenen Fahrpreise.
Die Militärgeneraldirektion war bestrebt, ihre Anlagen möglichst
leistungsfähig zu gestalten. Viele
Um- und einige große Neubauten erwiesen sich als notwendig. Die
wichtigsten dienten der Verbesserung der Verbindungen mit Deutschland. Wie
schon erwähnt, waren das deutsche und belgische Eisenbahnnetz in
Nordbelgien so ungünstig verbunden, daß mit geringen Ausnahmen
alle Transporte den Engpaß von Lüttich durchfahren mußten.
Die dortige Hauptlinie nach Brüssel stammte außerdem aus einer so
frühen Zeit, daß sie technisch den Anforderungen der Neuzeit in
keiner Weise gewachsen war. Die Steigung aus dem Maastal nach Zentralbelgien
hinauf war eine der stärksten in Europa, so daß die langen
Militärtransporte hier oft liegenblieben.
Die bald in Angriff genommene, im Jahre 1917 fertiggestellte zweigleisige Bahn
von Aachen, nördlich von Lüttich die Maas überschreitend,
nach Tongern, schuf die große Entlastung. Durch Tunnelbauten, riesige
Dämme und großartige Brückenanlagen wurde fast jede
Steigung vermieden, auch hier wieder ein Denkmal zielbewußter deutscher
Technik. Auch an anderen Stellen fanden kleinere Bauten zur besseren
Verbindung vorhandener Strecken statt.
Der Militärgeneraldirektion angegliedert war die
Militärkanaldirektion, welche an Bedeutung sehr zunahm, als im
späteren Verlauf des Krieges die ungeheuren Transporte an Heeresmaterial
nicht mehr von der Eisenbahn bewältigt werden konnten. Mit Hilfe von
beschlagnahmten belgischen und fran- [27] zösischen
Schiffen, Neubauten und Schleppern, die aus Deutschland über Holland
eingeführt werden konnten, entwickelte sie eine beträchtliche
Tätigkeit, die an den Schiffahrtseinrichtungen des Generalgouvernements
eine große, aber als nicht gern gesehene Konkurrenz aufgefaßte Hilfe
behielt.
Als im Laufe der Zeit immer mehr Gebiet des Generalgouvernements an die
Etappen abgegeben wurde, also in rein militärische Verwaltung kam,
wurden schließlich auch die Schiffahrtsbetriebe des Generalgouvernements
an die Kanaldirektion abgegeben.
Eine besondere Rolle spielte in Belgien das Kleinbahnwesen. Die chemins de
fer vicinaux besaßen ein sehr ausgedehntes leistungsfähiges und
vortrefflich verwaltetes Netz, welches in Friedenszeiten sich als wichtiger
Zubringer für die Hauptbahnen erwiesen hatte. Da ihre Spurweite den Lauf
von Militärtransporten nicht erlaubte, wurden sie nunmehr ein
unentbehrliches Verkehrsmittel für Einwohner und Besatzungstruppen und
machten dabei glänzende Geschäfte. Dabei spielte die Sinnesart der
Belgier mit, welche lieber mit der Kleinbahn weite Umwege fuhren, statt auf der
Hauptbahn der deutschen Verwaltung durch das Fahrgeld einen Verdienst
zuzuwenden.
Aber schon im Jahre 1915 mußten auch die Vizinalbahnen für die
deutsche Kriegführung nutzbar gemacht werden. Zahlreiche Strecken,
Tausende von Kilometern Gleis und viel rollendes Material mußte abgebaut
werden, um an der deutschen Ostfront die riesigen verbindungsarmen
Länderstrecken überwinden zu helfen. Es war nicht leicht, hier die
notwendigen Bedürfnisse der belgischen Einwohnerschaft mit den
militärischen in Einklang zu bringen.
Ähnlich, aber nicht ganz so abgeschlossen von den deutschen
Behörden des Generalgouvernements, waltete die deutsche Post und
Telegraphie in Belgien. Dieses wichtige Verkehrsmittel diente zuerst nur
militärischen Zwecken in Gestalt der Feldpost und Feldtelegraphie. Aber
schon sehr schnell erwiesen sich diese als unzureichend, auch wurden sie bei den
fechtenden Armeen weiter vorn notwendiger gebraucht. An ihre Stelle trat sofort
die Reichspost. Es gelang ihr leicht, einen sehr großen Teil der belgischen
Beamten in ihre Dienste zu bekommen, die unter Leitung der höheren
deutschen ihren Dienst einwandfrei versahen. Die Beobachtung aber, daß
der Belgier unter den gleichen Bedingungen weniger leistet als der Deutsche,
wurde auch hier gemacht.
Sehr schnell stieg die Zahl der Post- und Telegraphenämter; auch für
die Belgier wurde bald Verkehr zugelassen und dieser immer mehr, allerdings
unter Beschränkungen, vergrößert, schließlich sogar mit
Deutschland und neutralen Ländern eingeführt.
Hierbei aber waren sehr einschneidende Überwachungen nötig, und
durch die Postüberwachungsstellen wurden alle Sendungen, soweit sie
nicht durch den Briefstempel einer deutschen Behörde davon befreit waren,
geöffnet und gelesen. Die große Spionagegefahr nötigte
hierzu.
[28] Zu den Anordnungen
der deutschen Verwaltung, welche dem Verkehr dienten, muß auch die
Einrichtung der kartographischen Abteilung beim Generalgouvernement rechnen.
Es war nötig, das belgische Kartenwesen für deutsche Zwecke
nutzbar zu machen, und es entstand bald in den Räumen der belgischen
Landesaufnahme unter Leitung deutscher sachverständiger Offiziere und
Beamter ein großer und wichtiger Betrieb. Teilweise Neuvermessung und
Erkundung des Landes und Herstellung von Kartenwerken wurden sofort in
Angriff genommen. Eine Karte des ganzen Landes
1 : 100 000 nach dem Muster der deutschen Generalstabskarte
wurde hergestellt und besaß alle bekannten Vorzüge ihres
Vorbildes.
Eine Karte von Belgien 1 : 320 000 wurde noch im Jahre
1918 fertig.
Die in dieser Abteilung hergestellten Kartenblätter für die
verschiedensten Zwecke der Frontarmeen gehen in die Millionen.
Die Ausnutzung des Landes in militärischem
Interesse.
Wie die Ausnutzung der Verkehrseinrichtungen in Belgien
selbstverständlich den deutschen Behörden oblag, so mußten
auch natürlich die sächlichen und bis zu einem gewissen Grade auch
die persönlichen Hilfsmittel des Landes der deutschen Kriegführung
dienen. Deutschland hatte an sich kein Interesse daran, feindliche Länder
auf das äußerste auszunutzen, ihnen wohl gar dadurch dauernden
Schaden zuzufügen. Schon die Grundsätze des Völkerrechtes,
an welche die deutsche Regierung sich zu halten gewillt war, standen dem
entgegen. Wenn durch überseeische Zufuhr die der deutschen Wirtschaft
fehlenden Rohstoffe hätten beschafft werden können, so
erübrigte sich die Beschlagnahme in Feindesland vollkommen. Nichts
wäre der Reichsleitung willkommener gewesen.
Auch einer der Grundgedanken der deutschen Kriegswirtschaft, Arbeiter zu
sparen, um mehr Soldaten verfügbar zu machen, mußte auf diesen
Weg hinweisen, da die Ausnutzung feindlichen Landes trotz der vielen
einheimischen Arbeiter eine beträchtliche Kopfmenge an
Aufsichtspersonen erforderte. Letzterer Umstand sprach besonders bei der
Gewinnung des Holzes mit.
Da aber
die See für die deutsche Zufuhr hermetisch gesperrt war, blieb nur
die Wirtschaftsnotwehr übrig.
Es war klar, daß alle Güter, die in Belgien selber gewonnen werden
konnten, der deutschen Kriegswirtschaft, also auch Volkswirtschaft zugute kamen
und diese entlasteten, und es gab kaum irgendwelche Rohstoffe oder Fabrikate
Belgiens, die man nicht an der deutschen Front oder im Inlande gut brauchen
konnte.
Es kann nicht im Rahmen dieser Darstellung liegen, alle die zahllosen einzelnen
Werte zu behandeln, die in Belgien zum deutschen Nutzen gewonnen wurden. Es
müssen zunächst die wichtigsten derjenigen Dinge erwähnt
werden, [29] deren Gewinnung im
unmittelbarsten Interesse der Truppen an der Front lag und die daher auch am
unmittelbarsten der Bewirtschaftung durch militärische Dienststellen
unterlag. Hierzu muß man die Pferdeaushebung, die Holzgewinnung, die
Schotter- und Kiesausbeutung und die Einrichtung von Fabriken und
Werkstätten für militärische Kampfmittel rechnen. Ferner sind
erwähnenswert die zahlreichen militärischen Einrichtungen aller Art,
die zwar im Gebiete des Generalgouvernements entstanden, ihm aber gar nicht
oder nur lose in wirtschaftlicher Beziehung angegliedert waren und nicht zu den
schon besprochenen Verkehrseinrichtungen zählten.
Eine der ersten in die Augen springenden Notwendigkeiten war die Ausnutzung
des belgischen Pferdebestandes.
Belgien besaß zwar nicht die in Deutschland in vielen Provinzen
blühende militärisch so wertvolle Halbblutzucht; das belgische
Militärpferd, soweit es nicht schweren Schlages war, stammte meist aus
England. Im Lande waren zwar einige leistungsfähige und berühmte
Vollblutgestüte, die aber schon zahlenmäßig für
Heereszwecke nicht in Frage kamen. Sonst blühte nur die allerdings
hervorragende Zucht des schweren belgischen Kaltblüters, jenes massigen,
für schwere Lasten auf guten Wegen besonders geeigneten Pferdes, welches
in großen Mengen im ganzen Lande vorhanden, die größten
Gewichte in langsamster Gangart bewegte. In den Ardennen gab es
außerdem eine beschränkte Aufzucht eines schweren Pferdes,
welches bei großer Härte und Leistungsfähigkeit auch in
schnelleren Gangarten sehr brauchbar war, das Ideal eines
Artilleriezugpferdes.
Der Gesamtpferdebestand in Belgien war zahlenmäßig groß.
Für militärische Zwecke unbrauchbar waren aber die zahlreichen
Pferde, welche in den Kohlenbergwerken, zum Teil unter Tage verwendet
wurden, so daß von der statistisch vorhandenen Zahl beträchtliche
Abstriche gemacht werden mußten.
Beim ersten Durchzuge der deutschen Truppen waren selbstverständlich
viele Pferde aus dem Lande mitgegangen, sei es als Ersatz für gefallene
oder im Austausch für kranke und unbrauchbare der Truppen oder
schließlich zur Aufstellung für neue notwendige Formationen. Als
die erste Flut verrauscht war, blieben aber immer noch so viele Pferde im Lande,
daß im umfangreichen Maße darauf zurückgegriffen werden
konnte.
Das Generalgouvernement richtete dementsprechend zahlreiche Pferdedepots ein,
welche die Aushebung der nötigen Pferde gegen Bescheinigung,
später gegen Barzahlung besorgte. Die Pferde wurden gegen angemessene
Taxpreise übernommen, die allerdings weitaus nicht denen entsprachen,
welche die Belgier glaubten verlangen zu können.
Bei der Aushebung wurde trotz aller Gründlichkeit durchaus
Rücksicht auf die Bedürfnisse der Landwirtschaft genommen, die,
wie noch gezeigt werden wird, für die deutsche Verwaltung von der
größten Wichtigkeit war, sowie auf die [30] Treidelschiffahrt und
den nötigen Fuhrpark des Comité National, von welchem
später die Rede sein wird. Daß die belgische Pferdezucht durch die
Aushebung geschädigt wurde, ist natürlich, aber nicht
annähernd in dem Maße, wie es von feindlicher Seite behauptet
wurde. So wurden z. B., als es sich als notwendig erwies, auch Hengste
auszuheben, besonders gute Zuchthengste in großer Zahl
zurückgestellt, gerade mit Rücksicht auf Belgiens Pferdezucht. Die
Zahl der dem deutschen Heere zugeführten Pferde ging in die
Hunderttausende. Auch für die deutsche Heimat wurden militärisch
nicht brauchbare Pferde ausgehoben und der Landwirtschaft gegen Bezahlung zur
Verfügung gestellt.
Schon frühzeitig hatte sich die Wichtigkeit der Brieftaube zu
Meldezwecken gezeigt. Der besonders blühende und leistungsfähige
belgische Brieftaubensport konnte während des Krieges mit
Rücksicht auf den feindlichen Nachrichtendienst natürlich nicht
geduldet werden; er wurde aber nicht etwa vernichtet, sondern nur entsprechend
beschränkt, dagegen die geeignete Nachzucht für eigene Zwecke
beschlagnahmt und verwendet.
Als dann auch der Meldehund seinen Wert in der Kriegführung bewiesen
hatte, konnten Tausende dieser Tiere in Belgien für deutsche Zwecke
ausgehoben werden. Diese Maßregel ging dem Belgier, welcher dem
Hunderennsport ganz besonders ergeben ist, sehr nahe.
Als eines der wichtigsten Hilfsmittel des Stellungskrieges war das Holz
anzusehen. Beim Stellungs- und Barackenbau und für tausend andere
Zwecke wurden ungeheure Holzmassen gebraucht.
Selbstverständlich nahm man dieses Holz, wo man es fand. Wenn nun auch
in den Argonnen, den französischen Ardennen und an anderen Stellen
Nordfrankreichs sich viel brauchbares Bauholz fand, so genügte es doch
nicht annähernd den Anforderungen der Front. Transporte aus Deutschland
mußten wegen der Entlastung der Eisenbahnen soweit wie möglich
vermieden werden. Es mußte also auf die belgischen Wälder
zurückgegriffen werden. In den nördlichen, hauptsächlich
Ackerbau treibenden Landesteilen war nicht viel zu holen, aber die Karte zeigte in
den südwestlich der Maas und Sambre liegenden Gegenden ungeheure
Forsten. Nur entsprach die Menge des wirklich schlagbaren Holzes nicht der
Größe der Wälder. Die belgische Forstwirtschaft war eine
andere wie in Deutschland. Schälwaldungen in riesigem Umfange fanden
sich in den Ardennen, und die großen Bestände, die man in Belgien
als Grubenholz verwendete, ließ man nicht alt werden, weil aus technischen
Gründen die belgischen Gruben nur Holz von schwächeren
Maßen verwenden konnten.
So fanden sich denn nicht allzu viele wirklich nutzbare Waldungen, deren
Ausbeutung schleunigst in Angriff genommen wurde. Die schönsten
Stämme fand man in den zahlreichen Parks und an den großen
Chausseen. Es war nicht möglich, ganz auf ihre Ausnutzung zu verzichten.
Aber aus ästhetischen Gründen wurden die größten
Rücksichten genommen, die sich mit der
Kriegs- [31] notwendigkeit irgend
verbinden ließen. Manche Deutsche fanden sogar, daß diese
Schonung zu weit ginge. Dies ist aber unrichtig, denn was die Front brauchte, hat
sie stets erhalten. Hätte der Krieg länger gedauert, dann hätten
allerdings auch diese geschonten Bestände angegriffen werden
müssen.
So manchem dieser Parks oder Wälder mit dem wunderbaren Baumwuchs
ist diese deutsche Bewirtschaftung sogar gut bekommen, wenn die häufig
engen Bestände durch Ausholzen Licht und Luft bekamen. Als ein Beispiel
sei nur der Wald von Soignes, dicht bei Brüssel, angeführt, dem man
die Herausnahme von vielen Tausenden von Eisenbahnschwellen aus seinem
herrlichen Buchenbestande nicht anmerken konnte.
Die Entnahme des Holzes lag den für diesen Zweck eingesetzten
militärischen deutschen Forstämtern ob; preußische,
bayerische, sächsische, badische Oberförster waren die Leiter; aus
Holzarbeitern, besonders bayerischen Holzknechten, gebildete
Forstwirtschaftskompagnien lieferten die Vorarbeiter, und Belgier besorgten,
blutenden Herzens zwar, aber eifrig die Arbeit, weil sie ja im Akkord arbeiteten.
Die Einrichtung von zahlreichen Waldbahnen, großen Sägewerken
und sonstigen Holzverwertungsanstalten war selbstverständlich.
In demselben Umfange wie Holz wurden auch die anderen für den
Stellungsbau nötigen Baustoffe gewonnen. Es entstanden Zementfabriken,
militärische Eisenwerke, die Stacheldraht, Hindernispfähle und alles
nur erdenkliche Eisengerät herstellten und die heimatlichen Werke
außerordentlich entlasteten.
In ganz besonders großem Umfange wurden aber die Steinbrüche und
die Kieslager ausgenutzt, um den Straßenbau und die Betonbauten an den
Fronten versorgen zu können. Die zunächst nur für den
eigenen Bedarf arbeitende Baudirektion entwickelte sich bald zu einem
Lieferanten größten Stils, welcher mit deutschen Maschinen und
vielen Kriegsgefangenen Hunderttausende von Tons monatlich an die Front
abfahren konnte. Die günstige Lage der meisten dieser Werke an
Flüssen und Kanälen diente zu einer außerordentlichen
Entlastung der Eisenbahnen. Die Ausdehnung dieser Betriebe führte bald
zu einem innigen Zusammenarbeiten mit ähnlichen Unternehmungen,
welche die Bergbehörden der Zivilverwaltung zu ursprünglich
anderen Zwecken schon im Gange hatten.
Soweit wie möglich wurde auch die Anfertigung von Waffen und Munition
ins Auge gefaßt. Solange noch Rohstoffe vorhanden waren, arbeiteten die
staatlichen Pulverfabriken, und auch die zahlreichen bei Lüttich gelegenen
großen Fabriken für Handfeuerwaffen wurden ausgenutzt, soweit es
ging. Eine Schwierigkeit lag hierbei darin, daß der Belgier für diese
offensichtlichen Kriegszwecke nur ungern arbeiten wollte, was man ihm
natürlich nicht verdenken konnte. Es mußte hier mehr auf den
deutschen Waffenarbeiter zurückgegriffen werden, der sich unter den
Besatzungstruppen befand. Was mit diesen Kräften z. B. auf dem
Gebiet der Wiederherstellung und Anpassung von erbeutetem
Maschinengewehrgerät geleistet werden konnte, ist staunenswert.
[32] Belgien besaß eine
blühende Automobilindustrie, wie es ja der Reichtum des Landes und die
überaus günstigen Straßenverhältnisse mit sich brachten.
Die Ausnutzung dieses neuartigen Kriegsmittels ließ sich das
Generalgouvernement besonders angelegen sein. Der zivile Kraftwagenverkehr
wurde auf einige wenige, ganz bestimmte Ausnahmefälle beschränkt,
die geeignetsten Fabriken von der militärischen Kraftfahrstelle selber in
Betrieb genommen und mit den vorgefundenen
Roh- und Betriebsstoffen eine rege Tätigkeit entfaltet. So entstanden unter
anderem die umfangreichen Reparaturwerkstätten für den
größten Teil der Armeen der Westfront in Brüssel und
Charleroi.
Es wurde hier möglich, zahlreiche Lastkraftwagenkolonnen neu
aufzustellen, z. B. für die in Kleinasien und Palästina
verwendeten deutschen Truppen. Auch die Verrichtung von Lastkraftwagen zum
Transport von Feldgeschützen zu einer Zeit, als der Pferdemangel an der
Front bedrohlich wurde, konnte im Kraftwagenpark in Brüssel
vorgenommen werden. Mehrere Regimenter der Heeresartillerie wurden auf diese
Weise neu ausgerüstet.
Auch die Wiederherstellung der ersten erbeuteten, aber meist beschädigten
englischen Tanks fand in einer besonders dafür eingerichteten Werkstatt in
Charleroi statt. Für Neufertigung hätten die Rohstoffe, nicht aber die
Fähigkeiten und sonstigen Möglichkeiten gefehlt.
Bis zu dem Zeitpunkt, wo die Leistungsfähigkeit der Einrichtungen des
Generalgouvernements es diesem gestatteten, die Ausnutzung derjenigen Stoffe,
welche die deutsche Kriegswirtschaft brauchte, besonders der sogenannten
Massengüter, selber zu übernehmen, war ein besonderer Kommissar
des preußischen Kriegsministeriums eingesetzt. Bald erwies sich dessen
Tätigkeit als überflüssig, so daß diese Dienststelle
eingezogen werden konnte.
Aber die Mitwirkung einer anderen, dem Generalgouvernement nicht
unterstehenden Dienststelle wurde bald nötig. Die Ausnutzung der
besetzten Gebiete in den Etappen, also besonders Nordfrankreichs, war Sache des
Generalquartiermeisters im Großen Hauptquartier. Bei der
räumlichen Ausdehnung der deutschen Kriegsschauplätze war eine
Unterteilung dieser Dienststelle nötig. Und so wurde denn der Beauftragte
des Generalquartiermeisters für die Westfront mit dem Sitze in Charleville
geschaffen. Ihm lag die Aufnahme der Fühlung und die Verbindung mit den
Wirtschaftsbehörden des Generalgouvernements ob. Auf diese Weise
konnte der Austausch von Rohstoffen und Fabrikaten zwischen den verschiedenen
Gebieten und die zweckmäßige Verteilung geregelt werden. So war
z. B. die Einfuhr von großen Mengen von Eisen aus den
lothringischen Werken zur Versorgung der deutschen Metallindustrie in Belgien
nötig, weil dieser Rohstoff hier fehlte. Andererseits waren die belgischen
Kohlen in Nordfrankreich dringend erforderlich. Diese Beziehungen
führten auch dazu, daß dem "Beauftragten" einige Werke, die er
für seine Zwecke selber brauchte, im Gebiet des Generalgouvernements
[33] überlassen
wurden. Mit dieser Behörde stand das Generalgouvernement stets in den
besten Beziehungen.
Die vielfach günstigen, von Außenstehenden aber häufig noch
viel mehr überschätzten Verhältnisse in Belgien führten
oft dazu, daß auch andere Behörden versuchten, sich mit oder ohne
Genehmigung im Lande anzusiedeln. Es kam dazu, daß im Laufe der Zeit
eine sehr große Anzahl wichtiger und umfangreicher militärischer
Einrichtungen mit Zustimmung des Generalgouvernements auf belgischem Boden
untergebracht wurden.
Die Kriegsnotwendigkeit zwang dazu, viele Truppenteile hinter der Front teils neu
aufzustellen, teils mit den neuen Kampfverfahren bekannt zu machen, oder ihre
Ausbildung zu vervollkommnen. Dies konnte einerseits nicht im Bereich des
weitreichenden feindlichen Artilleriefeuers geschehen, mußte aber
andererseits zur Verminderung und Beschleunigung der nötigen Transporte
in möglichster Nähe der Kampfzonen stattfinden.
Die guten Unterbringungs- und Ausbildungsmöglichkeiten in Belgien boten
sehr große Vorteile für die Einrichtung von
Übungsplätzen. Um nur einige der wichtigsten zu nennen, seien die
Feldartillerieschießschule in Ciney, der Maschinengewehrausbildungsplatz
in Tongern, die Fliegerbeobachterschule in Diest, die Fliegerschießschule in
Genck, der Fußartillerieschießplatz in Namur, die
Nachrichtenmittelschule ebendaselbst erwähnt, lauter
Übungsplätze, die viele Quadratmeilen oft des besten Landes
beanspruchten. Mehrfach kam es auch vor, daß ganz plötzlich
größere oder kleinere Organisationen aufgedeckt wurden, welche von
benachbarten Armeen in aller Heimlichkeit eingerichtet worden waren.
Als die Bildung des Kriegsamtes in Berlin erfolgte, war auch die Einsetzung einer
Kriegsamtsstelle in Brüssel zwar nicht gesetzlich, aber aus
Zweckmäßigkeitsgründen in Aussicht genommen. Sie war
gedacht als eine Stelle, welche der Vermittlung zwischen dem Kriegsamt und dem
Generalgouvernement dienen, die gegenseitigen Wünsche und
Bedürfnisse mitteilen und für den Ausgleich sorgen sollte. Als diese
Stelle aber bald anfing an Überorganisation zu leiden, sich zu einem
Kontrollorgan zu entwickeln, unberechtigte Eingriffe vornehmen wollte, sich als
Schädling erwies, wurde sie auf Verlangen des Generalgouvernements
schleunigst zu einem sehr geringen noch zulässigen Umfang abgebaut.
So wie in diesem Falle mußte überhaupt streng darauf gehalten
werden, daß außenstehende deutsche Behörden sich im
Generalgouvernement keine eigenen Befehlsbefugnisse aneignen konnten. So
wurden z. B. auch die Anforderungen, welche seitens des "Wumba"1 an die Lieferung von belgischen
Maschinen zur Waffen- und Munitionsherstellung gestellt wurden, nur im
Einvernehmen mit dem Generalgouvernement und durch dessen Behörden
erfüllt.
[34] Die zum
Generalgouvernement gehörende Dienststelle des Generals der
Fußartillerie besorgte die Beschlagnahme von Waffen, Maschinen,
Metallen usw. in ähnlicher Weise, wie dies in Deutschland geschah.
Die Einsammlung der sogenannten Sparmetalle, Kupfer, Messing,
Nickel usw., die aus sogenannten Hausgeräten stammten, fand nach
denselben Gesichtspunkten statt, wie in der Heimat. Dieselben Proteste, Klagen,
Verheimlichungen wie dort zeigten sich hier in verstärktem Maße,
konnten aber natürlich noch weniger Berücksichtigung finden.
Alle diese Betriebe und Organisationen waren im höchsten Maße auf
die Mitwirkung der belgischen Arbeiter eingestellt. Die Hunderttausende, die man
brauchte, fanden und bewährten sich. Durch die Einwirkungen des Krieges,
die mangelnde Rohstoffzufuhr, waren viele Industrien zum Erliegen gekommen,
die Arbeitslosigkeit war erschreckend; Hunderttausende feierten. Viele von ihnen
begnügten sich mit der kargen Unterstützung, welche die belgischen
Organisationen ihnen reichten; aber viele andere begehrten Arbeit.
Mit dem Personenwechsel in der deutschen Obersten Heeresleitung im Herbst
1916 war auch eine Wandlung in den Anschauungen über die
Notwendigkeiten der Kriegführung eingetreten. Das Hindenburgprogramm
erforderte ungeheure Leistungen und zahllose Arbeitskräfte. In Deutschland
waren sie nicht mehr vorhanden, wenn man seine Heere nicht zu sehr
schwächen sollte. Da fiel manchen Mannes Auge auf die Scharen der
Arbeitslosen im besetzten Belgien. So kam es zu jener schon damals viel
umstrittenen Abschiebung der belgischen Arbeitslosen, welche sich bald als ein
gänzlich verfehltes Unternehmen herausstellen und der deutschen
Kriegführung moralisch und politisch großen Schaden bringen
sollte.
In wessen Kopf der Gedanke, belgische Arbeiter in großen Massen zur
Arbeit zwangsweise nach Deutschland zu überführen, zuerst
entstanden ist, wird sich schwer einwandfrei feststellen lassen. Soviel bleibt aber
sicher, daß der Generalgouverneur Generaloberst Freiherr v. Bissing
von Anfang an mit der äußersten Energie sich gegen die
Maßregel wehrte und fast prophetisch auf die üblen Folgen
hinwies.
Es ist allerdings richtig, daß in einer seiner Denkschriften, die auch in die
Hände der obersten deutschen Reichsbehörden gelangte, der
Gedanke ausgesprochen worden war, der großen Arbeitslosigkeit in Belgien
durch Arbeitszwang zu steuern, wozu die Regierung auch nach belgischem Gesetz
berechtigt war. Es bestand nämlich eine gesetzliche Bestimmung im Lande,
nach welcher Arbeitslose, die sich weigerten, eine ihnen angebotene angemessene
Arbeit auszuführen, dazu gezwungen werden konnten. Gemeint war aber
sinngemäß nur Arbeit in Belgien und nicht zum Nutzen des
Feindes.
Auf dieser Bestimmung fußend, wurde das Ersuchen an den
Generalgouverneur gerichtet, 200 000 Arbeiter zwangsweise nach
Deutschland schaffen [35] zu lassen, denn er hatte
die Arbeitslosenziffer schätzungsweise auf mehrere hunderttausend
abgegeben. In den Etappengebieten, wo die Befehlsgewalt des
Generalgouvernements aufhörte, genügte die Anordnung des
Generalquartiermeisters zur Aufstellung von militärisch organisierten
Arbeiterbataillonen. Diese sollten nun allerdings nicht in Deutschland, sondern in
den Etappengebieten selber verwendet werden, hier aber zu ganz offensichtlicher
Kriegsarbeit, nämlich zum
Stellungs-, Eisenbahn- und Straßenbau.
Die Stellungnahme des Generalgouverneurs gegen die Abschiebung wurde erst
erschüttert, als ihm von den sachverständigsten
Persönlichkeiten der Industrie die Notwendigkeit der Arbeitergestellung
dargelegt und von den verschiedensten Seiten ohne sie ein ungünstiger
Ausgang des Krieges mit Sicherheit in Aussicht gestellt wurde.
Daraufhin erließ der Generalgouverneur die nötigen Befehle. Es
sollten natürlich nur Arbeitslose, die für die betreffende Arbeit
geeignet seien, ausgehoben werden, nachdem sie vorher auf ihren
Gesundheitszustand untersucht worden waren.
Da die deutsche Militärverwaltung keine genaue Statistik über die
Leute haben konnte, mußte die Mitwirkung der belgischen
Gemeindeverwaltungen beansprucht werden. Sie hatten Listen, in denen die Leute
verzeichnet waren, die wegen Arbeitslosigkeit Unterstützungen
erhielten.
Aber die Aufforderung, diese Listen herauszugeben, wurde nur in ganz seltenen
Fällen befolgt; die meisten Gemeindebehörden weigerten sich mit
der Behauptung, diese Listen gehörten der später zu
erwähnenden großen Organisation des Comité
National, welches unter dem diplomatischen Schutze der neutralen Gesandten
stand. Auch mit Gewalt war unter diesen Umständen nichts zu machen.
Es blieb den deutschen Kreischefs nichts anderes übrig, als nach eigenem
Ermessen, den Angaben der Meldeämter usw., die Auswahl der
Arbeitslosen vorzunehmen. Natürlich kamen nun viele Mißgriffe vor,
denn die Bevölkerung leistete passiven Widerstand; viele
Gemeindebehörden betätigten sich sogar in der Weise, daß sie
die politischen Widersacher in ihren Gemeinden als arbeitslos bezeichneten, um
sie loszuwerden.
Von seiten der Obersten Heeresleitung wurde dauernd auf die baldige Gestellung
der Leute gedrängt, und so wurden denn in kurzer Frist etwa 60 000
Männer nach Deutschland in große Verteilungsstellen abgesendet,
aus denen die deutschen Werke sich die nötigen Arbeiter heraussuchen
sollten.
Ein Widerstand seitens der Bevölkerung erfolgte nur durch Proteste und
unzählige Klagen. Wo der Abtransport gut organisiert war, die
Eisenbahnzüge in der gerade herrschenden kalten Jahreszeit geheizt und
für Verpflegung, wie vorgeschrieben, gesorgt war, ergaben sich keine
Schwierigkeiten. Diese begannen erst in Deutschland.
[36] Die meisten der Leute
weigerten sich dauernd, Arbeit anzunehmen, obwohl ihnen der sehr hohe Lohn
der deutschen Arbeiter und allerlei sonstige Erleichterungen gewährt wurde
und sie ganz zweifellos in jeder Beziehung sehr viel günstiger gestellt
waren als in ihrer Heimat. Sehr viele waren für die Arbeit ganz ungeeignet;
auch waren seitens der deutschen Behörden in der Heimat manche
unpraktische Anordnungen getroffen worden, um die Leute zur Arbeitsaufnahme
zu veranlassen, und so war denn das Ergebnis ein recht mäßiges. Im
ganzen arbeiteten etwa 30 000 Mann in Deutschland. Die übrigen
wurden entweder bald auf die Reklamationen bei den deutschen Behörden
in Belgien zurückgeschafft, nachdem in jedem einzelnen Fall bewiesen war,
daß der betreffende Mann fälschlich als arbeitslos bezeichnet oder
überhaupt gar nicht als Arbeiter zu bezeichnen war. Die dann immer noch
beträchtliche Anzahl, die nicht arbeitend in Deutschland blieb, wurde nach
etwa einem halben Jahr auf ausdrücklichen Befehl des deutschen Kaisers in
die Heimat entlassen, als die schädlichen Folgen des ganzen Verfahrens
offensichtlich wurden.
Denn die Maßregel hatte ein ungeheures Aufsehen gemacht.
Selbstverständlich hatte die feindliche Propaganda sich der Angelegenheit
bemächtigt und sie über Gebühr unter willkürlicher
Ausschmückung mit erfundenen oder übertriebenen Einzelheiten
aufgebauscht. Die Folge waren geharnischte Proteste, Vorstellungen, politische
Noten seitens der bis dahin neutralen Mächte und des Papstes an die
deutsche Regierung, welche dieser die größten Schwierigkeiten
bereiteten. Das gute Verhältnis mit Holland und Spanien wurde auf
längere Zeit getrübt. Auch in Deutschland fanden die Belgier in
weiten Kreisen Sympathie, die oft über diejenige hinausging, die den
eigenen Volksgenossen dargebracht wurde.
Die ganze Angelegenheit war ein Schlag ins Wasser. Der Schaden überwog
den Nachteil bei weitem. Die wenigen tausend Leute, welche freiwillig in
Deutschland blieben, hatten sich nicht zu beklagen; ihre Arbeitskraft war
geschätzt, wenn sie auch nicht an die des deutschen Arbeiters
heranreichte.
Dagegen bewährte sich eine andere Organisation recht gut. Schon bald nach
der Besetzung wandte sich die westdeutsche Großindustrie an den
Generalgouverneur mit der Bitte, die Anwerbung freiwilliger Arbeiter für
deutsche Fabriken zu gestatten. Dagegen war nichts einzuwenden. So entstand
denn in Brüssel das Deutsche Industriebureau mit Filialen in vielen anderen
Orten, welches eine private Einrichtung war, aber sich der Förderung und
Begünstigung der deutschen Behörden im höchsten Grade
erfreute.
Der nicht gezwungene belgische Arbeiter erkannte auch die ihm in Deutschland
gebotenen Vorteile, hohen Lohn, gute Verpflegung, Urlaub, Unterstützung
seiner in Belgien bleibenden Familie bald an, und so hinderte ihn sein
Patriotismus keineswegs, die Arbeit, auch sogenannte Kriegsarbeit, in
Deutschland gern zu suchen.
[37] Das Industriebureau hat
im Laufe der Zeit über 100 000 männliche und weibliche
Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt, ohne der deutschen Verwaltung
besondere Kosten zu verursachen oder sonstige Klagen hervorzurufen.
Militärische Sanitätseinrichtungen.
Die großen Hilfsmittel eines so reichen Landes wie Belgien kamen auch der
Gesundheitspflege für die deutschen Heere zugute. Das
Nächstliegende war die Einrichtung von Lazaretten für die
Verwundeten und Kranken der deutschen Riesenheere. Schon die
Augustschlachten 1914 brachten starke Belegung aller vorhandenen
Krankenanstalten, und im weiteren Verlauf des Krieges lagen große Teile
der Fronten auf belgischem Boden oder so nahe, daß weite
Eisenbahntransporte erspart werden konnten. So wurden denn in allen
größeren Städten umfangreiche Einrichtungen nötig, die
zur Entlastung der Heimat dienten und schnelle Zuführung der
Wiederhergestellten zur Truppe möglich machten.
Auch sehr große Genesenenheime fanden in Belgien Platz. Das
bedeutendste war dasjenige, welches in Spa für den größten
Teil der Typhus- und Ruhrrekonvaleszenten der ganzen Westfront eingerichtet
wurde. Dieser luxuriöse, internationale Badeort war infolge des Krieges
gänzlich verödet und bot mit seinen vielen Hotels und sonstigen
bequemen Unterkunftsmöglichkeiten die denkbar günstigsten
Verhältnisse für viele Tausende von Genesenen zu einer
stärkenden Nachkur.
Als dann das Große Hauptquartier im letzten Kriegsjahr nach Spa gelegt
werden mußte, wurde die Auflösung dieses großen
Genesungsheims in andere Heilanstalten nötig. Eine ähnliche
Einrichtung, aber kleineren Maßstabes, entstand im Lager Beverloo.
Eine große, infolge der Kriegsunruhen leer gewordene Erziehungsanstalt in
Malonne bei Namur nahm eine Heilstätte für Verletzte auf, welche
durch die Schrecknisse des Krieges geistig geschädigt worden waren.
Schon sehr bald nach der Einrichtung der deutschen Militärbehörden
wurde die Ausrüstung von
Verwundeten- und Krankenzügen in Angriff genommen. Eine sehr
große Anzahl konnte in einigen Monaten gebildet und dem Chef des
Feldsanitätswesens zur Verfügung gestellt werden. Bis zum Januar
1915 waren es bereits 20 an der Zahl.
Nach der Eroberung von Antwerpen konnten die dort vorgefundenen ungeheuren
Vorräte der Festungslazarette und Hafenspeicher ausgenutzt werden, um
ein Hauptsanitätsdepot großen Umfanges einzurichten, welches bis
zum Kriegsende einen sehr großen Teil des Bedarfes der Westfront an
Verband- und Heilmitteln lieferte.
Wie soeben erwähnt wurde, kam im letzten Kriegsjahre auch das deutsche
Große Hauptquartier mit seinen zahlreichen Dienstzweigen im Bereich des
Generalgouvernements unter, so daß auch die wichtigen und
einschneidenden [38] Ereignisse beim
Ausbruch der deutschen Revolution 1918 auf belgischem Boden stattfanden. Der
Schwerpunkt des Krieges an der Westfront hatte sich bei Kriegsende
offensichtlich immer mehr nach dem nördlichen Flügel verlegt, so
daß es zweckmäßig erschien, auch die Oberste Heeresleitung
mehr diesem Flügel zu nähern. Es kam hinzu, daß der
bisherige Unterbringungsraum des Großen Hauptquartiers
Bingen - Kreuznach - Münster am Stein von der
dauernden Belegung entlastet werden mußte, schließlich nicht zum
wenigsten die Bedrohung der Orte durch Fliegerangriffe, welche bei der nicht
großen Entfernung der feindlichen Front häufig stattfanden. Alle
diese Nachteile mußten in Spa fortfallen; tatsächlich hat hier auch nie
ein Fliegerangriff stattgefunden, wohl weil er wegen der sehr zerstreuten Bauart
des Badeortes und des örtlichen Schutzes nur wenig Aussicht auf Erfolg
hatte.
Spa mit seiner weiteren Umgebung und ein Teil von Verviers wurden zu einem
besonderen Verwaltungs- und Bewachungsbezirk gemacht, da wegen der
besonderen Verhältnisse ein mehrfaches Abweichen von den sonstigen
wirtschaftlichen und Überwachungsbestimmungen des
Generalgouvernements nötig wurde.
Alle Dienststellen des Großen Hauptquartiers konnten sehr bequem
untergebracht werden, und die schöne landschaftliche Umgebung
erleichterte seinen Mitgliedern die Erholung in der karg zugemessenen Ruhezeit.
Daß für die Behörden des Generalgouvernements infolge der
geringen räumlichen Entfernung leichte Gelegenheit zur
persönlichen Erledigung wichtiger dienstlicher Fragen bestand, war eine
große Annehmlichkeit.
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