Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 20: Die Zeit der Friedensschlüsse im
Osten (Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund
Glaise-Horstenau
[480] 5. Der Bukarester
Friede und die Besetzung der Ukraine.
Zum Nachfolger Czernins bestellte der Kaiser am 16. April während eines
Aufenthaltes in Budapest den letzten Außenminister Kaiser Franz Josefs,
den Freiherrn Stephan v. Burian. Die Wahl war nicht leicht zu treffen. Der
Kaiser dachte vorübergehend an den bejahrten Botschafter in
Konstantinopel, den Markgrafen Pallavicini. Auch Tisza kam in Erwägung,
obwohl seine Berufung den heftigsten Widerstand aller pazifistischen und
demokratischen Parteien hervorgerufen hätte. Den Freiherrn
v. Burian schätzte der Monarch als verläßlichen,
gediegenen Charakter, von dem Überraschungen nicht zu gewärtigen
waren. Freilich hatte er für die doktrinäre Art des Ministers wenig
Geduld übrig. Wenn schließlich trotzdem die Wahl auf Burian fiel, so
war dies vor allem dessen tiefgründiger Kenntnis aller schwebenden
Probleme der äußeren Politik zu danken, einer Kenntnis, über
die zur Zeit kein anderer in Betracht kommender Staatsmann verfügte.
Burians erste und wichtige Aufgabe war der definitive Friedensschluß mit
Rumänien. Zu diesem möglichst rasch zu gelangen, forderte schon
die ewige Hetze des in die Opposition übergegangenen früheren
Ministerpräsidenten Bratianu, der nach wie vor im Dienste der Entente
arbeitete und die Friedensbedingungen der Mittelmächte als gegen die Ehre
Rumäniens gerichtet verwarf. Endlich konnte am 7. Mai 1918 im Schlosse
Cotroceni der Vertrag unterzeichnet werden. Zur Ratifikation dieses
Friedensschlusses kam es freilich überhaupt nicht mehr.
Österreich-Ungarn hatte durch die Verhandlungen mit Rumänien
zunächst schon Mitte März jene letzten schmalen Streifen im Osten
zurückgewonnen, die noch, in der Bukowina und in den
siebenbürgischen Karpathen, vom Feinde besetzt geblieben waren. Der
definitive Friedensschluß brachte der Donaumonarchie überdies
einen Teil der gewünschten Grenzberichtigungen, einen Landstreifen, der
beim Eisernen Tor begann und sich längs der siebenbürgischen und
bukowinischen Grenze bis Chotin am Dnjestr hinzog. Außerdem wurde das
Habsburgerreich in mehr oder minder ausgedehntem Maße der
wirtschaftlichen Zugeständnisse teilhaftig, die Rumänien den
Kaisermächten und ihren Verbündeten einräumen
mußte. Es wurde den Kabinetten von Wien und Berlin nicht immer leicht,
die Interessensphären abzugrenzen und für die Aufteilung des
rumänischen Überflusses einen beiden Partnern genehmen
Schlüssel zu finden.
Zu Rumäniens Nachgiebigkeit gegenüber dem Vierbund hatte sehr
viel die Tatsache beigetragen, daß der noch von der königlichen
Armee besetzte Teil des Landes, die Moldau, seit fast zwei Monaten infolge der
Besetzung Odessas von den Heeren der Mittelmächte völlig
eingeschlossen war. (Skizze 16.)
Während zu Anfang März die Divisionen des Generals v. Linsingen
von Zitomir und Kiew aus den Eisenbahnvormarsch in westlicher und
südwest- [481=Karte] [482] licher
Richtung fortsetzten, hatte auch die k. u. k. 2. Armee
Böhm-Ermolli mit dem XII. Korps (Feldzeugmeister Braun) und dem
XXV. (General Hofmann) ihre Vorrückung nach Podolien angetreten.
Diese vollzog sich vornehmlich längs der Bahn
Podwoloczyska - Zmerinka - Odessa und dann längs
der Küste des Schwarzen Meeres. Am 1. März wurden nach kurzem
Kampfe die Grenzstädte Kamienec-Podolsk und Proskurow genommen,
wobei sich 10 000 Russen, darunter zwei
Korps- und drei Divisionskommandos ergaben. Am nächsten Tage besetzte
das Sturmbataillon 30 den Bahnhof Zmerinka, worauf die 30. Infanteriedivision
(Feldmarschalleutnant Jesser) die Fahrt nach Odessa antreten konnte. Zwei
deutsche Bataillone schlossen sich an. Eines derselben geriet, allzukühn
vorgehend, am 6. März bei Slobodsieja in einen Hinterhalt und wurde
durch das andere, sowie die k. u. k. 18. Jäger herausgehauen.
Tags darauf trat die erste Staffel der Division Jesser unter dem Befehl des
Generalmajors Alfred v. Zeidler bei Birsula erneut ins Gefecht; der Feind,
der nebst russischen Matrosen auch chinesische Kulis aus den Häfen des
Schwarzen Meeres in seinen Reihen hatte, wurde in heftigen Kämpfen
geworfen. Am 11. fiel Razdjelnaja nordwestlich von Odessa in die Hände
der 30. Division. Unterdessen war, auf Grund einer Abmachung mit den
Rumänen, die deutsche Kampfgruppe General der Infanterie Kosch von
Galatz aus angesetzt worden. Ihre von Oberst Vogel befehligte Vorhut
kämpfte, gleichfalls mit Bahn herangebracht, schon am 12. am Westrand
von Odessa. Am nächsten Tage stürmte die Brigade Zeidler den
Frachtenbahnhof der Stadt und am 14. wurde diese von Norden und von Westen
her durch die Verbündeten besetzt. Die Bolschewiken Odessas
flüchteten zusammen mit den Matrosen auf Kriegsschiffen nach
Sebastapol.
Die zweite Märzhälfte wurde von den Verbündeten zur
Gewinnung des Küstenstriches bis an die
Dnjepr-Mündung ausgenutzt. Es ging nicht ohne schwere Kämpfe
gegen die von Oberst Murawiew geleiteten Banden und bolschewistischen
Revolutionäre ab. Nikolajew, nächst Odessa der wichtigste Hafen,
wurde am 17. von Teilen der deutschen 217. Division besetzt, Cherson drei Tage
später unter erfolgreicher Mitwirkung der Brigade Oberst Hauser des
k. u. k. XII. Korps genommen. Ein Teil der gegen die zweitgenannte
Stadt angesetzten Truppen mußte vor dem Einmarsch umkehren, um in
Nikolajew an der Niederwerfung eines plötzlich entflammten
Arbeiteraufstandes mitzuwirken.
Um ein Bild dieser eigenartigen Kriegführung zu geben, seien einige
Stellen aus einem Briefe angeführt, den der Kommandant der
k. u. k. 11. Division, General v. Metz, noch unter dem
frischen Eindruck der Geschehnisse niederschrieb:
"Es war in der Hauptsache eine tolle
Eisenbahnfahrt, wochenlang arbeitete ich Tag und Nacht in einem
Eisenbahnwagen, kam oft tage- und nächtelang nicht aus den
Kleidern - in engen, heißen, überfüllten Waggons
wahrlich kein angenehmes Dasein. Regimentsstäbe bei wildem
Schneetreiben in [483] Wagen vierter Klasse
oder auf offenen Loren! Natürlich gab's auch Eisenbahnunfälle, bei
denen es nicht ohne Opfer abging... Von Odessa aus, wo ich einige Tage verblieb,
wurde ich ins erste Treffen vorgezogen. Da hatte ich außer kleinen
Affären zwei schöne Gefechte. Wir waren eben im Begriffe, das von
Bolschewikis, Frontewikis und Matrosen gehaltene Cherson anzugehen, als wir
nach Nikolajew zurückgerufen wurden. Dort hatten 60 000
Bolschewiken zu den Waffen gegriffen und bedrängten die schwachen
deutschen und österreichischen Besatzungstruppen. Bei unserem Angriffe
hatten wir in der Front die aufrührerische Stadt, im Rücken fielen uns
die Bolschewiken in Panzerzügen an. Die Lage war manchmal sehr
kritisch. Das Divisionskommando stand während des Kampfes in der
Infanterielinie. Nach zwei Tagen blutigster Arbeit hatten wir vollen Erfolg. Dann
gings nach Cherson zurück. Hier wehrten sich 11 000 von allerlei
Gesindel unterstützte Bolschewiken und Matrosen, die auch über viel
Feld- und beträchtliche Schiffsartillerie verfügten. Wir zählten
7000 bis 8000 Mann und etwa 40 Geschütze, darunter kein einziges
schweres. Um vier Uhr früh gingen wir zum Angriff los. Es kam zu
äußerst erbitterten und blutigen Kämpfen, bei denen wir
namhafte Verluste an Mannschaften und Offizieren erlitten. Aber zu Mittag war
Cherson unser. Der Gegner floh zum Teil, zum Teil fiel er verwundet in unsere
Hand. Die Spitäler sind alle voll. Die Beute ist
gewaltig - rund 300 Schiffe, darunter acht Kriegsfahrzeuge und riesige
Verpflegungsvorräte!..."
Die Kriegführung in der Ukraine hatte schon in den ersten Wochen zu
Mißhelligkeiten zwischen den Verbündeten geführt. Die nach
Kiew berufenen Vertreter beider Heeresleitungen grenzten daraufhin in einem am
28. März abgeschlossenen Vertrag die Interessengebiete ab.
Österreich-Ungarn wurden die Gouvernements Podolien, Cherson und
Jekatarinoslaw zugesprochen, ein Gebiet, das nach Flächeninhalt und
west-östlicher Ausdehnung etwa den österreichischen
Kronländern Böhmen, Mähren, Schlesien und Galizien
gleichkam.10 Für die wichtigsten
Hafenstädte war gemischte Besatzung vorgesehen. Die Leitung des
österreichischen Verwaltungsgebietes übernahm das nach Odessa
verlegte 2. Armeekommando, alle anderen Gebiete der Ukraine wurden dem
Oberbefehlshaber der deutschen Heeresgruppe in
Kiew - nach dem Anfang April erfolgten Abgang Linsingens
Generalfeldmarschall v. Eichhorn - unterstellt.
Die militärischen Operationen in der Ukraine nahmen noch den ganzen
April in Anspruch. Zu Anfang Mai waren die Standorte der den 6½
k. u. k. Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen übergeordneten
Korpskommandos: [484] Zmerinka (XXV.
Hofmann), Cherson (XVII. Fabini) und Jekaterinoslaw (XII. Braun). Am
weitesten nach Osten erstreckten sich - bis Alexandrowsk und
Mariupol - die 59. und bis Bachmut die 34. Division; die erstgenannte hatte
an der Besetzung des Donezbeckens mitgewirkt. Das
deutsch-mährische Regiment 93 wurde nach Kiew verlegt; kleinere
Abteilungen desselben standen zeitweilig in Charkow.
Die Vertreter der Rada hatten in Brest-Litowsk die ukrainischen
Verhältnisse so geschildert, als lägen dort die Getreidemassen
einfach zur Ausfuhr bereit. Das war durchaus nicht der Fall. Die ersten zwei
Monate nach dem Abschluß des "Brotfriedens" vergingen, ohne daß
die Ukraine nennenswerte Vorräte ausgeführt hätte.
Inzwischen steigerte sich namentlich in Österreich der Nahrungsmangel bis
zur Unerträglichkeit. Im tschechischen Teil Böhmens und in
Galizien, den beiden Kornkammern Österreichs, sabotierte die
Bevölkerung von Woche zu Woche unverhohlener den staatlichen
Ernährungsdienst; tschechische und polnische Bezirksbehörden
halfen dabei mit. In Ungarn wirkte, obwohl inzwischen der
Ernährungsminister Graf Hadik vom Schauplatze abgetreten war, das von
ihm eingeführte lässige Aufbringungssystem noch in einer für
die Ernährungsaushilfen an Österreich höchst
ungünstigen Weise nach. Es mußte sich daher schon seit Anfang
1918 die Gebirgs- und die Industriebevölkerung Österreichs mit
1100 g Mehl in der Woche begnügen. Als Ende März der
Kaiser Deutsch-Böhmen bereiste, sah er dort ein Elend, wie es sich die
regste Phantasie nicht auszumalen vermocht hätte. Es herrschten
Hungersnot und Hungertyphus in den entsetzlichsten Formen. Zudem mußte
der junge Herrscher die schreckliche Erfahrung machen, daß er nicht
über einen einzigen Waggon als Notstandsaushilfe verfügen konnte.
Abermals fielen die Blicke auf die Ukraine. Der Chef des Generalstabes reiste in
eigener Person an die ostgalizische Einfuhrstation, um nach dem Rechten zu
sehen. Der im Ernährungsdienst besonders erfahrene General
v. Sendler wurde nach Odessa entsandt, um dort einen militärischen
Ernährungsdienst einzurichten.
Diese unter dem Drange der Not eingeleitete Sonderaktion verwirrte mehr, als sie
nützte. Im Mai wuchs die Ernährungsnot in Österreich so
gewaltig an, daß der Chef des Ernährungswesens, General
v. Landwehr, in seiner Bedrängnis einen auf der Donau
herauffahrenden, für Deutschland bestimmten rumänischen
Getreidetransport mit Beschlag belegte und verteilen ließ. Er nannte dieses
Verfahren selbst einen Straßenraub, durch den er allerdings Wien vor dem
Verhungern gerettet habe. Deutschland machte nach der ersten Entrüstung
gute Miene zum bösen Spiel. Als Österreich aber erneut an den
Bundesgenossen mit der Bitte um Ernährungsaushilfen herantrat,
erklärte sich die deutsche Regierung dazu nur unter der Bedingung bereit,
daß der gesamte Ernährungsdienst in der Ukraine in deutsche
Hände gelegt werde. Bei den Berliner Beratungen Mitte Mai 1918 nahm die
österreichisch- [485] ungarische Vertretung
diese Forderung an, wofür sich Deutschland verpflichtete, dem Donaureich
bis zum 15. Juni mindestens 150 000 Tonnen Brotfrucht zur
Verfügung zu stellen. Noch während diese Verhandlungen liefen,
wurde der im Verwaltungsdienst erprobte General Alfred Krauß statt des Feldmarschalls
v. Böhm-Ermolli zum Armeebefehlshaber in Odessa
ernannt. Er war zuerst für den Posten eines mit besonderen Vollmachten
ausgestatteten Generalquartiermeisters ausersehen, sollte nun aber seine
Fähigkeiten und und Erfahrungen auf dem heißen Boden der Ukraine
verwerten. Der Berliner Vertrag zog der Betätigung des Generals dann sehr
enge Grenzen.
Das Ergebnis der ukrainischen Ausfuhr blieb auch später weit hinter den
Erwartungen zurück. Der Anbau hatte in den zwei Revolutionsjahren
gewaltig nachgelassen. Die ungeordneten Verhältnisse, Ichsucht und
Radikalisierung der Bauernschaft und die Ententepropaganda wirkten in gleicher
Richtung. Die ukrainischen Städte litten zeitweilig selbst Hunger. Trotzdem
rollten im Laufe der Monate bis zum Umsturz insgesamt 42 000 Waggons
aus der Ukraine nach Österreich, eine Menge, die auch für ein
Millionenreich ins Gewicht fiel.
Für die Truppen hatte der Aufenthalt in der Ukraine mancherlei Nachteile
im Gefolge. Sie kamen mit einer Bevölkerung zusammen, die sich inmitten
einer an schweren sozialen Erschütterungen überreichen Revolution
befand. Auf der einen Seite Bestechlichkeit, Bereicherungssucht und Korruption,
auf der anderen kommunistische Träumereien und Bolschewismus!
Selbstverständlich hatten die Weltbeglücker in Moskau ganz ebenso
die Hand mit im Spiele, wie die Agenten der Entente. Die Folgen für die
Besatzung sollten nicht ausbleiben; sie zeigten sich beim Zusammenbruch.
6. Der Ostfriede und die
Heimat.
Mit den größten Hoffnungen hatten die Völker der
Mittelmächte, insbesondere jene Österreich-Ungarns die
Friedenbotschaft begrüßt, die im November 1917 aus dem Osten
gekommen war. Enttäuschte schon der Verlauf der Verhandlungen stark, so
blieb noch mehr das Ergebnis hinter den Erwartungen zurück: Der Krieg
dauerte fort, ohne daß sich irgendwo die Morgenröte besserer Tage,
Anzeichen einer Erlösung aus bitterer Not gezeigt hätten!
Für die zwiespältige Lage, die trotz der Friedensverträge im
Osten blieb und die eine reine Freude über die dortige Entwicklung nicht
aufkommen ließ, machten in der Donaumonarchie weite Kreise die
Regierung und ihre Abhängigkeit von der "alldeutschen Eroberungspolitik"
verantwortlich. Unter den Kritikern dieser Richtung standen die sozialistischen
Parteien in erster Reihe. Die deutschösterreichische Arbeiterpartei war, zum
Teil gegen den Willen der gemäßigten Führer, in das
Fahrwasser der reichsdeutschen Unabhängigen hinübergesegelt. Otto
Bauer verfocht den Leitsatz, daß ein Sieg der deutschen
"Militärkaste" gar nicht zu wünschen sei, und erinnerte noch lange
nach dem Kriege [486] mit einem gewissen
Stolze daran, daß man ihn damals einen Ententisten genannt habe. Auf der
anderen Seite stellte er im Gegensatz zu Karl Renner die Behauptung auf,
daß das Proletariat gar kein Interesse am Fortbestand des Habsburgerreiches
habe, sondern lediglich an einer nur durch den Zusammenbruch erreichbaren
Vereinigung Deutschösterreichs mit dem stark industrialisierten
Deutschland. Bauers Lehren gewannen außerordentlich an Boden, mit ihnen
zugleich eine alle Bedenken überflügelnde Friedenssehnsucht, der
die Arbeiter-Zeitung Ende März 1918 mit den Worten Ausdruck
verlieh: "Mit Ausnahme jener lärmenden Clique unter den
Deutschbürgerlichen ist die Begeisterung für den Krieg unter den
Nullpunkt gesunken. Er hat in den Gefühlen der Massen nicht den
geringsten Stützpunkt mehr; die Völker wollen nichts als den
Frieden..."
Ganz ähnlich hielt es das jeder Vertretung im Parlament entbehrende
magyarische Proletariat, mit dem Unterschied vielleicht, daß es noch in
wesentlich radikalere Bahnen trieb und den russischen Einflüssen
stärker unterlag als das deutschösterreichische. Schon im Januar
1918 war man in Budapest einer weitverzweigten Organisation, die den Umsturz
anstrebte, auf die Spur gekommen. Die Verschwörerliste
enthielt - neben dem Karolyis - fast alle die Namen, deren
Träger später, zur Zeit Sowjetungarns, Entsetzen und Abscheu
verbreiteten. Aber man fühlte sich nicht mehr stark genug, einzugreifen.
Ebensowenig wurde man jenseits und diesseits der Leitha jener zahllosen, wenn
auch partiellen Ausstände Herr, die fast allwöchentlich da und dort
aufflammten und immer deutlicher bewiesen, daß die Leitung der
Arbeiterbewegung zum großen Teil den Händen der alten
Führern entglitten war.
Die slawischen Sozialdemokraten unterschieden sich - abgesehen von einer
kleinen tschechischen Fraktion - von ihren deutschen und magyarischen
Genossen dadurch, daß sie sich völlig der auf die
Zertrümmerung der Monarchie ausgehenden nationalen Politik radikalster
Richtung in die Arme warfen. Was noch an Internationalismus in ihnen fortlebte,
fand Befriedigung in der "Einheitsfront", zu der
sich - um in der Sprache des Crewehouses zu
reden - die "unterdrückten Völker"
Österreich-Ungarns zusammengeschlossen hatten. Vertreter dieser
"unterdrückten Völker" benutzten Mitte Mai die fünfzigste
Wiederkehr der Gründung des Prager tschechischen Theaters zu einer
großen Kundgebung in der böhmischen Hauptstadt, wobei sich
sogleich auch die Straße zur Mitwirkung einfand und Karl Kramarsch vom
Erker der "Blauen Gans" eine Rede gegen den österreichischen
"Zwangsstaat" hielt. Die Polizei ließ nachträglich eine Verwarnung
kundmachen und stellte die Tageszeitung Národní Listy
ein. Südslawische Studenten, die sich besonders hervorgetan hatten,
wurden gewaltsam abgeschoben. So seltsam es klingen mag: Gerade die Siege,
die die deutsche Armee damals im Westen errang, steigerten den nationalen
Paroxismus dieser noch von unverbrauchten Kräften erfüllten
Völker. Die Parole, [487] von der sie sich
hinreißen ließen, war: Freiheit oder Untergang. Die Empfindung, der
sie sich hingaben, entsprach durchaus den Worten, die Masaryk im Sommer 1917
gegenüber den tschechoslowakischen Legionären des
Kerenski-Heeres gebraucht hatte: "Wie immer der Krieg enden mag, es kann nicht
schlechter werden, als es war!" Dabei schöpften sie freilich stets neuen Mut
aus dem starken Kriegswillen, der die Westmächte seit dem Nahen der
amerikanischen Hilfe wieder belebte und über dessen Festigkeit man in
Prag ungleich mehr Zuverlässiges wußte als in Wien und Berlin.
Diese verschiedenen Anzeichen fortschreitender Zersetzung erfüllten die
dem Staate ergebenen Kreise mit ernster Besorgnis. Wieder spukten in den
Köpfen Verantwortlicher und Unverantwortlicher Verfassungspläne
aller Art, durch die das Reich gerettet und der Kriegführung neue
moralische Kräfte zugeleitet werden sollten. Am Hofe waren es u. a.
abermals die Pläne einer Königskrönung in Prag, von deren
Verwirklichung man sich vielerlei versprach, die dann jedoch angesichts der
sonstigen staatsrechtlichen Folgen gleich wieder fallen gelassen wurden.
Wesentlich aussichtsreicher erschien der Gedanke, die südslawische Frage
noch in der elften Stunde einer entsprechenden Lösung zuzuführen.
Im Kronrat vom 30. Mai 1918 wurde das Thema wieder einmal erörtert.
Sowohl der Banus von Kroatien, v. Mihalovich, wie auch der Landeschef
von Bosnien, Generaloberst Freiherr v. Sarkotić, forderten dringend
die Vereinigung Kroatiens, Bosniens und Dalmatiens unter kroatischer
Führung. Der Kaiser neigte vorbehaltlos zu dieser Lösung hin. Aber
der ungarische Ministerpräsident Wekerle blieb wie immer kühl bis
ans Herz hinan. Übrigens standen auch einzelne deutschnationale Politiker
in Österreich einem künftigen Großkroatien dauernd mit
gemischten Gefühlen gegenüber; zum ersten, weil sie in einem
solchen politischen Neubau den Beginn einer Föderalisierung der
Monarchie erblickten, zum anderen, weil sie besorgten, daß durch die
früher oder später unvermeidliche Vereinigung der krainischen und
küstenländischen Slowenen mit den Stammesbrüdern den
deutschen Alpenlanden der Weg nach Triest versperrt werden könnte.
Das fortwährende Zögern trieb naturgemäß auch die
Slowenen und Kroaten, die bisher zu weitaus größtem Teile dem
Kaiser gegeben hatten, was des Kaisers war, immer mehr ins Lager der
jugoslawischen und großserbischen Irredenta und die ungarische Regierung
förderte diesen Prozeß noch dadurch, daß sie den
ungarländischen und slawonischen Serben nach wie vor ein gewisses
Wohlwollen angedeihen ließ.
Unterdessen hatte in Österreich das Ministerium Seidler den Reichsrat
vertagt, erfüllt von der Sorge, ob es überhaupt noch gelingen werde,
dem Kabinett eine tragfähige Parteigruppierung zu schaffen. Auf die Polen
war [488] seit der Abtretung
Cholms an die Ukraine schon gar nicht mehr zu rechnen; dies um so weniger, als
inzwischen auch Gerüchte über die geheime ostgalizische Klausel
durchgesickert waren. Es blieben daher nur die deutschbürgerlichen
Parteien, die Deutschnationalen und die Christlichsozialen. Doch war selbst die
Haltung der Deutschnationalen stark unsicher geworden. Die Erfüllung der
"deutschen Belange" ließ schon allzu lang auf sich warten. Auch die
verschiedenen Föderalisierungspläne, die in der Luft lagen,
beunruhigten die Deutschösterreicher, die es nicht begreifen wollten,
daß sie die unerhörtesten Kriegsopfer, die auf ihnen mehr als auf
irgendeinem Stamm des Reiches gelastet hatten, etwa noch mit dem Verzicht auf
ihre ohnehin schon stark erschütterte Führerstellung unter den
österreichischen Völkern bezahlen sollten. Dazu kam das
Bekanntwerden der Sixtusaktion. War die Zukunft des
deutschösterreichischen Volkes in den Augen seiner Führer und wohl
auch seiner breitesten Schichten ausschließlich auf den Sieg der
Mittelmächte eingestellt, so offenbarte der von Clémenceau
verlautbarte Kaiserbrief bedenkliche Strömungen in den höchsten
Kreisen, Strömungen, die von dem den Deutschösterreichern ans
Herz gewachsenen Bündnis weit wegführen konnten. Noch nie, seit
Habsburg in deutschösterreichischen Landen herrschte, fielen denn auch so
harte Worte gegen den Träger der Krone, wie seit jenen Ostertagen. In einer
Brixener Volkstagung fällten die Tiroler, die Treuesten der Treuen,
über die Rolle des Kaisers in der Sixtusaffäre ein scharfes Verdikt.
Deutsche Herrenhausmitglieder führten öffentlich Klage gegen die
Politik der Unverantwortlichen und Ministerpräsident v. Seidler
bemühte sich vergebens, die Krone dadurch zu decken, daß er sich
auch für Akte verantwortlich erklärte, die ohne sein Vorwissen, ja
selbst noch vor seiner Ministerschaft geschehen waren! Sogar unter den Prinzen
des kaiserlichen Hauses hatte sich die Mißstimmung in einer früher
nie dagewesenen Form verbreitet.
Angesichts der unter den deutschen Politikern herrschenden Unruhe fühlte
sich die Regierung verpflichtet, wenigstens für diese letzten ihrer Getreuen
etwas zu tun. Am 19. Mai erschien eine Regierungsverordnung, in
welcher - entsprechend dem langjährigen Wunsche der
Deutschböhmen - die Teilung Böhmens in zwölf Kreise
mit starker Selbständigkeit gegenüber der Prager Statthalterei und die
Aufstellung der zwei ersten Kreisregierungen, Leitmeritz und
Prag-Umgebung, für den 1. Januar 1919 verfügt wurde. Dieser
politische Kopfsprung, den der Ministerpräsident unter dem Drucke der
deutschen Parteien unternommen hatte, fand bei den Tschechen das Echo, das zu
erwarten war: eine Flut zum Teil hohnvoller Verwahrungen, in die
selbst - natürlich in einer seinen Traditionen entsprechenden,
würdigeren Form - der konservative Großgrundbesitz
Böhmens einstimmte. Herr v. Seidler hatte sich mit dieser Tat
ausschließlich den deutschen Parteien verschrieben. Er war nur noch ihr
Minister.
[489] Die Verhältnisse
in Ungarn boten kaum ein erfreulicheres Bild als die in Österreich. Die
schwache Regierung Wekerle stand nach wie vor der oppositionellen Mehrheit
Tiszas gegenüber, während auf der anderen
Seite - angesichts der im Volke immer stärker hervortretenden
Kräfte - das Parlament in seiner Gesamtheit von Tag zu Tag mehr an
Boden in der Öffentlichkeit des Landes verlor. Die Wahlreform stand noch
immer im Vordergrund der parlamentarischen Kämpfe; König wie
Ministerium erwogen des öfteren, den Widerstand der
Tisza-Partei durch den Appell an die Wählerschaft zu brechen. Alle
vierzehn Tage verfiel das Kabinett einer Krise, die erdenklichsten
Ministerkandidaten wurden genannt - aber jedesmal kehrte nach Austausch
einiger Ressortchefs Alexander Wekerle mit breit lächelndem Antlitz
wieder. Bei der Umbildung, die das Kabinett im Januar 1918 erfahren hatte, trat
Ludwig Windischgrätz, des Kaisers persönlicher Freund, an die
Spitze des Ernährungsministeriums. So wenig sein politisches Wirken
geeignet gewesen sein mag, in den allgemeinen Kurs Stetigkeit zu bringen, so sehr
bewährte sich der erst 36jährige Prinz in seinem Ressort. Er
räumte mit der parteipolitischen Lässigkeit auf, die im letzten Jahre
im ungarischen Ernährungswesen eingerissen war, und verpflichtete sich, in
Zukunft - von Aushilfen für Österreich
abgesehen - die Armee im wesentlichen ausschließlich aus den
ungarischen Vorräten zu ernähren. Er schuf sich dadurch zahlreiche
Widersacher in seinem Vaterlande und bot dem Kreise um Karolyi reichlich
Gelegenheit zu demagogischen Hetzereien. Um diesen den Boden abzugraben,
hißten dann auch die Männer der Regierungsparteien die Flagge der
ungarischen Unabhängigkeit immer höher, wozu sie sich
überdies durch die mindestens zum Föderalismus drängende
Nationalitätenbewegung in Österreich bewogen fühlten. Im
Zusammenhang damit wurde die Sehnsucht nach der selbständigen
ungarischen Wehrmacht immer brennender und der Kaiser hielt zu Anfang Januar
1918 in Baden mit allen Marschällen und Armeeführern eine
Beratung ab, in der lediglich die Frage vorgelegt wurde, ob die Armeetrennung
noch während des Krieges oder erst nach demselben durchzuführen
wäre. Der fast einstimmige grundsätzliche Protest der versammelten
Paladine - rückhaltlos sprach sich bloß der Erzherzog Josef
für die ungarische Armee aus - konnte an dem Todesurteil
über das gemeinsame Heer grundsätzlich nichts mehr ändern.
Nur die Wahl des Zeitpunktes blieb offen.
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