Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 20: Die Zeit der Friedensschlüsse im
Osten (Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund Glaise-Horstenau
7. Bündnisfragen.
Als Ludendorff im August 1917 der Mitwirkung deutscher Kräfte an der
italienischen Offensive zustimmte, tat er es nicht zuletzt in der Hoffnung,
hierdurch Österreich-Ungarn wieder fester an das deutsche Bündnis
zu knüpfen. Seinem klaren Blicke entging es im Laufe des nächsten
Halbjahres nicht, daß sich diese seine Erwartung nur in bescheidenem
Maße erfüllt hatte. Die Kräfte, [490] die in der
Donaumonarchie von der preußisch-deutschen "Bevormundung"
wegdrängten, ja ausgesprochen deutschfeindlich dachten, wuchsen
zusehends an, in der Tiefe der Massen sowohl, wo sich antideutscher
Chauvinismus und extremer Pazifismus die Hand reichten, wie in den hohen und
höchsten Kreisen, in denen sich immer mehr die Auffassung durchsetzte,
daß Österreich an der "alldeutschen Unersättlichkeit" zugrunde
gehen werde. Nicht zum mindesten war es beim Ersten Generalquartiermeister der
immer stärker aufdämmernde Zweifel über die Haltbarkeit des
Bündnisses, der ihn zu seiner die österreichischen Interessen kaum
mehr berücksichtigenden, egozentrisch deutschen Ostpolitik bewog, mit
welcher er freilich - man denke an die polnische
Frage - den bündnisabgeneigten Schichten des Donaureiches
mittelbar nur um so mehr in die Hände arbeitete. Vergeblich mühten
sich Kühlmann und Czernin einen Weg des Ausgleiches zu finden
zwischen den Strömungen, die in beiden Reichen die Bündnispolitik
erschwerten. Es gelang ihnen nur höchst unvollständig.
Die Sixtusaffäre hatte weiten deutschen Kreisen in grausamer
Unmittelbarkeit gezeigt, an welchem Abgrund das Bündnis der
Kaisermächte im Frühjahr und Sommer 1917 vorbeigegangen war.
Die unglückseligen Ableugnungsversuche taten noch ein übriges, das
Tun des Kaisers Karl in einem möglichst ungünstigen Lichte
erscheinen zu lassen. Daß dem Kaiser der Gedanke, sich dauernd unter die
"Vormundschaft" Preußen-Deutschlands zu begeben, höchst
unbehaglich war, ist sicher. Aber der innere Kampf, den er seit seiner
Thronbesteigung mit großer Zähigkeit führte, richtete sich
für den Augenblick mitnichten gegen das deutsche Bündnis an sich,
als vielmehr gegen die - wie man es bezeichnete - "alldeutsche
Politik", als deren Verkörperung Karl, nicht zuletzt dank dem Einfluß
Czernins, Hindenburg
und Ludendorff betrachtete und bei deren Befehdung er in
Deutschland selbst weiter Bundesgenossenschaft sicher zu sein glaubte. In dieser
Hinsicht ist es für das Urteil des Monarchen bezeichnend, daß er sich
gegenüber jenen nach wie vor überaus zahlreichen und gewichtigen
Ratgebern, die allzu ungestüm die Trennung von Deutschland verlangten,
mitunter sogar verpflichtet fühlte, seinen Bundesgenossen, den deutschen
Kaiser, vor dem Vorwurf der Länder- und Machtgier in Schutz zu nehmen.
"Kaiser Wilhelm denkt," konnte man ihn sagen hören, "in seinem Inneren
genau so friedensfreundlich wie ich; aber er ist der Gefangene seiner Generale. Ich
habe es zuwege gebracht, mich von Conrad trotz seiner unzweifelhaften
Volkstümlichkeit zu trennen. Der deutsche Kaiser bringt zu ähnlicher
Tat nicht die Kraft auf."11
Die Sixtusaffäre rief in Deutschland einen Sturm der Entrüstung
hervor, wiewohl das Duell zwischen Paris und Wien es noch nicht zuließ,
den Geschehnissen wirklich auf den Grund zu sehen. In maßgebenden
deutschen Kreisen wurden die schärfsten
Verhütungsmaßregeln gegen eine Wiederholung [491] von Sixtusaktionen
gefordert: Ausweisung der Parmas aus Österreich, Abberufung der beiden
Prinzen von der belgischen Front, Ausschaltung des Einflusses der Kaiserin Zita
u. dgl. mehr. Es war nicht zuletzt der vermittelnden Tätigkeit des
Generals von Cramon zu danken, daß nicht bloß Kaiser Wilhelm den
Bundesgenossen seine Verstimmung nur wenig fühlen ließ, sondern
auch sonst nur eine streng sachliche, von Vergeltungsgefühlen
unberührte Lösung angestrebt wurde.
Am 11. Mai trat der Kaiser seine "Canossafahrt" ins deutsche Hauptquartier an. In
seinem Gefolge befanden sich Burian und Arz, dazu noch zwei neue
Männer, von deren Einfluß man sich mit Recht allenthalben das
Beste versprach: der Obersthofmeister Graf Hunyady, der dem Prinzen Konrad
Hohenlohe im Amte gefolgt war, und der Generalmajor Freiherr
v. Zeidler-Sterneck, der den schwerkranken Freiherrn v. Marterer als
Generaladjutant und Vorstand der Militärkanzlei abgelöst hatte.
Die Forderungen, die in Spa an die Österreicher gestellt wurden, kamen
diesen nicht überraschend. Deutschland verlangte von der
Habsburgermonarchie für die Zukunft stärkere Bindungen. Die
beiden Mächte sollten sich nicht bloß politisch enger
zusammenschließen, sondern es sollten auch die lang geplante
Wirtschaftsgemeinschaft und der Waffenbund zur Tat werden. Über die
politischen und wirtschaftlichen Bindungen hatte Kaiser Karl schon seit
längerem - wenn auch mit einem gewissen
Widerstreben - mit sich reden lassen. Dagegen war er einer weiteren,
intensiven Zusammenarbeit der beiden Heere über den
Friedensschluß hinaus aufs schärfste abgeneigt. Zum ersten sah er
über den Vorzügen, die seine Wehrmacht auch jetzt noch hatte, deren
Mängel nicht; er war geneigt, ihre Leistungen zu überschätzen.
Andrerseits erfüllte ihn das unbesiegbare Mißtrauen, daß die
deutsche Heeresleitung durch gemeinsame Übungen, Offiziersaustausch
u. dgl. aus der k. u. k. Armee ein "bayrisches Kontingent"
machen wolle. Es war ja wirklich nicht leicht, in diesen Fragen, bei denen stets
Traditionen und Souveränitätsrechte berührt wurden, die
richtige Grenze herauszufinden. Aber man muß dem deutschen
Hauptquartier das Zeugnis ausstellen, daß
es - wieder beraten durch General v. Cramon - gerade in
dieser Angelegenheit mit seinen Forderungen kaum je über das
mögliche Maß hinausgegangen war.
Die Abmachungen von Spa verliefen reibungsloser, als Kaiser Karl und sein
Gefolge es sich erhofft hatten. Wohl unterschrieben die beiden Monarchen einen
Vertrag, in dem sie sich verpflichteten, das Bündnis in den drei
erwähnten Richtungen auszubauen, und die Chefs der Generalstäbe
verfaßten noch ein besonderes Abkommen. Aber die Durchführung
des ganzen Vertrages wurde österreichischerseits - gleichfalls
schriftlich - von einer den beiderseitigen Interessen entsprechenden
Lösung des polnischen Problems abhängig gemacht. Dadurch,
daß der deutsche Reichskanzler dieses Junktim annahm, war die [492] Erfüllung der
anderen Vertragsbestimmungen wieder auf die lange Bank geschoben. Man stand
dort, wo man früher war.
Alsbald zeigte es sich, daß gerade die Auffassungen, die die beiden
Kaisermächte über die Zukunft Polens hatten, weiter
auseinandergingen als je zuvor. In deutschen Regierungskreisen gewann die
Ansicht Ludendorffs zusehends an Boden. Selbst der deutsche Kaiser, der im
Winter noch der austropolnischen Lösung zugestimmt hatte, war jetzt nur
mehr - gleich seinen militärischen und zivilen
Beratern - für die "Kandidatenlösung" zu haben, die einem
entsprechend zugeschnittenen, militärisch an Deutschland, sonst
gleicherweise an beide Mittelmächte angeschlossenen Kongreßpolen
die freie Wahl des Monarchen zugestand. In Wien hingegen bildete, seit Burian
wieder am Ruder war, die austropolnische Lösung neuerlich die
unverrückbare Grundlage der Ostpolitik des Ballplatzes; zeitweilig sogar
zum Unbehagen des Kaisers Karl, der seinem ureigensten Empfinden nach nicht
allzu große Sehnsucht nach der Krone Sobieskis hatte, seinem
Außenminister aber angesichts der politischen Bedenken, die dieser
vorbrachte, immer wieder nachgab.
Neben der polnischen Frage spielte in den politischen Verhandlungen, die in den
nächsten Wochen zwischen den beiden Kabinetten gepflogen wurden, noch
die Abfassung eines sog. "Interpretationsvertrages" eine Rolle. Auf
Österreich-Ungarns Wunsch sollten, wie dies Czernin schon bei den
Berliner Februarbesprechungen gefordert hatte, die beiden Kaisermächte
schriftlich die Kriegsziele bezeichnen, bis zu deren Erreichen die Bundesgenossen
verpflichtet seien, im Kriege auszuharren. Auf deutscher Seite begegnete man
dem Wiener Verlangen begreiflicherweise mit Mißbehagen. Die
Verhandlungen wurden in die Länge gezogen und kamen nicht mehr zum
Abschluß.
Ungleich erfreulicher verliefen die zwischen den beiden Reichen eingeleiteten
wirtschaftlichen Besprechungen, deren Schauplatz die uralte deutsche
Bischofsstadt Salzburg war. Trotz großen Schwierigkeiten und
begreiflichen Interessengegensätzen war es bereits in einer ganzen Reihe
von Fragen zu einer grundsätzlichen Einigung gekommen, als der
Zusammenbruch des Habsburgerreiches dem in den Überlieferungen des
großen österreichischen Finanzministers Bruck aufgenommenen
Werke ein jähes Ende bereitete.
8. Das Heer im Frühjahr
1918.
Die glänzende Herbstoffensive gegen Italien hatte bei Truppe und
Führung nicht bloß das Kraftbewußtsein mächtig
gehoben, sondern der Feldarmee auch große wirtschaftliche Vorteile
eingebracht. Sie konnte sich zwei Monate hindurch wieder satt essen. Aber schon
im Februar schlich sich das Gespenst des Hungers von neuem in die Feldlager an
der Front und in die Kasernen der Heimat ein. Bald konnten den Kampftruppen
wöchentlich nur mehr 200 g, den Ersatzmannschaften
überhaupt nur mehr 100 g Fleisch zugestanden [493] werden. Noch
schlechter stand es dem Verhältnis nach mit Brot. Wochenlang erhielt der
Kämpfer im Schützengraben täglich nur 125 g kaum
genießbare Maisklumpen. Die Armee erhielt an Brotfrucht nur einen
Bruchteil dessen, was sie halbwegs zur Ernährung brauchte.
Dörrgemüse bildete wieder die Hauptnahrung und nichts ist
bezeichnender für das wirtschaftliche Elend des Heeres, als die fast
unglaubliche Tatsache, daß sich die Intendanz verpflichtet hielt, zu
verkünden, es seien die in diesem Nahrungsmittel etwa vorkommenden
Würmer wohl nicht appetitlich, aber keineswegs
gesundheitsschädlich! Pferdefleisch begann auch für die
Offiziersküchen eine Delikatesse zu werden.
Ähnlich wie mit der Ernährung der Menschen ging es mit jener der
Reit- und Zugtiere. Im Juni 1918 gab es bei der Isonzoarmee Feldbatterien, die
insgesamt 3 bis 5 Pferde im Stande hatten; eine besaß gar nur eins! Die
Möglichkeit, diese Mängel durch stärkere Verwendung des
mechanischen Zuges einigermaßen wettzumachen, scheiterte an der
begrenzten Leistungsfähigkeit der Industrie, deren Produktionskraft durch
Hunger und Politisierung der Arbeiterschaft gleicherweise litt wie durch den
Mangel an Rohstoffen. Besonders die Kohlenversorgung ging von Tag zu Tag
zurück. Das Eisenbahnwesen erlebte im Winter 1917/1918 eine Krise von
erdrückender Schwere. Der Zuschub an Schießbedarf und
technischen Kampfmitteln stach gegenüber dem Reichtum, über den
der Feind verfügte, beängstigend ab. Vor allem galt dies für
die Fliegerwaffe, die mit jeder Stunde deutlicher ihrer Unterlegenheit an Zahl und
Brauchbarkeit der Apparate gewahr werden konnte.
Die Operationsfähigkeit der Armee litt unter diesen Verhältnissen
bedenklich, im Großen ebenso wie in der Verwendbarkeit des einzelnen
Mannes, dem man wegen seines Kräftezustandes normale Märsche
überhaupt nicht mehr zumuten durfte. Trotzdem
wurde - dank dem ererbten österreichischen Talent, zu
improvisieren - an organisatorischer und ausrüstungstechnischer
Arbeit gerade in diesen Monaten noch Ungeheures geleistet. Die ganze
Wehrmacht wurde sozusagen von Grund aus umgebaut. Den festen Rahmen der
künftigen Gliederung hatten 60 einheitlich organisierte Infanteriedivisionen
und 12 kleinere, ähnlich beschaffene Kavalleriedivisionen zu bilden. Jede
Infanteriedivision wurde aus 2 Infanteriebrigaden zu je 6 Bataillonen und 1
Artilleriebrigade zu 4 Feldkanonen-, 6 Feldhaubitz-, 5 schweren
Haubitz-, 1 schweren Kanonen- und 3 Gebirgsbatterien, zusammen 72 leichten
und 24 schweren Geschützen gebildet.12 Diese
tiefgreifende Reorganisation forderte schon zum zweitenmal im Kriege eine
völlige Umgruppierung der
Artillerieregiments- und -abteilungsverbände. Gleichzeitig mußten
aber auch die Infanterieregimenter ihre vierten Bataillone zur Bildung von neuen
Truppenkörpern abgeben, [494] so daß es hinter
der Front der Armeen eine Zeitlang wie in einem Ameisenhaufen zuging. In der
Truppe schüttelte man denn auch über die Experimente der
Heeresleitung die Köpfe. Aber diese hatte die Neuorganisation deshalb
noch im Kriege vorgenommen, da sie sich sagte, daß nach dem
Friedensschluß eine Heeresvermehrung kaum mehr durchzusetzen sein
würde.
Die Ersatzlage hatte sich im Jahre 1917 bedenklich gestaltet. Die
Ostfriedensschlüsse brachten infolge der Heimkehr zahlreicher
Kriegsgefangener eine entscheidende Wendung.
Österreich-Ungarn hatte in den ersten drei Kriegsjahren nahezu zwei
Millionen Gefangene nach Rußland geliefert. Wenn auch natürlich
zunächst nur auf die Rückkehr eines Teiles gerechnet werden konnte,
so kamen doch Hunderttausende in Betracht. In der Tat setzte noch im
Spätwinter die Heimkehrbewegung an der Ostfront so stark ein, daß
man - mangels der nötigen Vorsorgen - dem ersten Ansturm
fast hilflos gegenüberstand. Es war weder für Nahrung, noch
Unterkunft, noch Kleidung vorgesorgt. Später wurden dann große
Barackenlager eingerichtet und die "Heimkehrer" in den Wochen der
Quarantäne menschenwürdig untergebracht und verpflegt.
So erfreulich die Heimkehrbewegung für die Ersatzlage war, so sehr erwies
sie sich alsbald als schwieriges soziales und militärpolitisches Problem. Die
Heimkehrer hatten durchwegs die russische Revolution miterlebt. Fühlten
sich die einen durch das Chaos, das sie mitangesehen, in die Seele hinein
angewidert, so gab es doch nicht wenige, die sich den neuen Lehren aus dem
Osten ganz und gar verschrieben hatten. Was diese Leute dann in der Heimat an
Elend und Kümmernissen zu sehen bekamen, verstärkte noch ihren
Glauben an das bolschewikische Evangelium und förderte
nachdrücklich die Weitergabe ihrer Ideen. Besonders hart empfanden es
viele Heimkehrer, daß man sie - kaum waren sie zu
Hause - wieder zu den Fahnen rief. Die Heeresleitung hatte erst nur vier
Wochen, dann doch deren zwölf als Erholungsurlaub vorgesehen. Aber
auch die zweite Frist war den Betroffenen noch viel zu karg bemessen. Die
Heimkehrer stellten denn auch zur Zahl der Stellungs- und
Fahnenflüchtigen ein beträchtliches Kontingent. Tausende
waffenfähiger Männer hielten sich damals bereits in Stadt und Land
verborgen. Im Süden der Monarchie bildeten sie bewaffnete
Räuberbanden, die in Wäldern hausten und von der
Bevölkerung aus Sympathie oder Furcht verborgen gehalten und
ernährt wurden. Diese "grünen Kader" machten im Sommer 1918
schon eine ganz schöne Armee aus, die auch über
Maschinengewehre und sogar einzelne Geschütze verfügte. Als der
Kaiser im Mai 1918 bei seinen Antrittsbesuchen in Sofia und Konstantinopel
durch das Gebiet der "grünen Kader" fuhr, mußten besondere
Vorsichtsmaßregeln gegen bewaffnete Überfälle getroffen
werden.
Eine auch in Deutschland bekannte Abart von Fahnenflüchtigen stellten
jene ungezählten Urlauber dar, die mit gefälschten Reiseurkunden
wochen- [495] und monatelang ihren
Truppenkörper stets an der falschen Front "suchten" und dabei auch noch
gewinnbringende Geschäfte abzuwickeln verstanden.
Bildeten schon diese Erscheinungen bedenkliche Zeichen der Zersetzung, so
zeigten sich andere in nicht geringerem Grade bei den Ersatztruppen selbst.
Knapp nacheinander kam es im Frühjahr 1918 in allen Richtungen der
Windrose zu Meutereien, an denen - mit Ausnahme der
Deutschösterreicher - alle Nationalitäten beteiligt waren:
Slowenen in der Steiermark, Tschechen zu Rumburg in Nordböhmen,
Magyaren in Budapest - gerade bei den Magyaren fanden laut Berichten aus
Rußland die bolschewikischen Ideen am raschesten
Eingang - ungarische Serben in Fünfkirchen, Bosniaken in Mostar,
Slowaken beim Ersatzbataillon in Kragujevac. Diese mehr oder minder
großen Ausschreitungen wurden mit Waffengewalt niedergeschlagen und
auch mit angemessener Strenge geahndet.
Daß die Front einem so beschaffenen Ersatz mit gemischten
Gefühlen entgegensah, ist begreiflich. Der Führung bereitete die
Unterwühlung des soldatischen Geistes um so mehr Sorge, als nun auch
von der Feindseite her die zersetzende Propaganda mit einer früher nicht
gekannten Heftigkeit einsetzte. Hatte doch Lord Northcliffe schon im April im
italienischen Hauptquartier eine internationale Propagandakommission
eingerichtet, der auch Vertreter der "unterdrückten Völker"
Österreich-Ungarns beigegeben waren. Sie gab sofort eine in polnischer,
tschechischer, serbokroatischer und rumänischer Sprache abgefaßte
Wochenschrift heraus, die - ebenso wie eine Unzahl von
Flugschriften - in einer eigenen Druckerei zu Reggio Emilia gedruckt
wurde. Italien übernahm sozusagen das Protektorat über den Kampf
der unterdrückten Nationen gegen ihre deutschen und magyarischen
Bedrücker; es tat dies, soweit die Nordslawen und die Rumänen in
Betracht kamen, mit ganzem Herzen, war jedoch nicht dazu zu bestimmen, zu
erklären, daß auch die Unabhängigkeit und Vereinigung aller
Südslawen ein Lebensinteresse Italiens sei. Slowenen, Kroaten und Serben
mußten sich vielmehr mit ganz allgemein umschriebenen
Sympathiebezeugungen ihrer welschen Adriarivalen begnügen.
Die Feindpropaganda arbeitete mit allen Mitteln. Flugzettel wurden aus der Luft
abgeworfen oder sonstwie in die österreichischen Gräben
befördert. Entlang der ganzen italienischen Front tauchten eigene, aus
tschechischen und südslawischen Legionären gebildete
Propagandapatrouillen auf. Sie sangen Lieder aus der Heimat, ließen wohl
auch Grammophone spielen, suchten bei Nacht mit gegenüberstehenden
Volksgenossen in persönlichen Verkehr zu treten. Noch mit
eindrucksvolleren Mitteln wurde gearbeitet: mit wundervoll gebackenen
Brotlaiben, die man, auf Bajonetten aufgespießt, in die Luft hielt als
Zeichen dafür, wie gut es überlaufende Landsleute drüben bei
den Italienern hätten!
[496] Der "Erfolg" blieb
nicht aus. Denn Lord Northcliffe hatte im Lager der k. u. k. Armee
einen Bundesgenossen, der ihm wertvollere Dienste leistete als jeder andere
Helfer: den Hunger. Ein paar Dutzend Nord- und Südslawen, Italiener oder
Rumänen liefen aus politischen Motiven über. Hundert andere
folgten ihnen, weil sie der Verlockung erlagen, sich nach langen Monaten endlich
wieder satt essen zu können. Daß es dieser nicht Tausende waren, ist
und bleibt ein fast unbegreifliches Wunder.
Wie es ja überhaupt ein Wunder war, daß diese darbende, frierende,
entkräftete, in Front und Rücken physisch und moralisch bedrohte
Armee nicht nur zusammenhielt, sondern darüber hinaus in der Hand ihrer
Führung noch ein Kriegswerkzeug bildete, das dem Feinde mit gutem
Grunde Achtung und Furcht einzuflößen vermochte! Für diese
Erscheinung, für die in der Geschichte jeder Vergleich fehlt, lassen sich mit
Erfolg nur zwei Begründungen anführen: zum ersten, daß das
Heer noch immer in seinem zwar gelichteten, aber ungebeugten Offizierskorps ein
festes Rückgrat besaß; zum andern, daß
es - entgegen allen Behauptungen späterer
Kritikaster - einen lebensvollen, krafterfüllten, geschichtlich
bedingten und gewordenen Körper darstellte, dem auch gewaltige
Stürme und Prüfungen nicht so ohne weiteres beikommen konnten.
Nur so ist es zu erklären, daß die Armee am 15. Juni mit
ungebrochener Angriffsfreude erneut zur Abrechnung mit dem Erbfeind antrat
und mit dem gleichen Opfermute, der sie in den großen
Einleitungsschlachten des Weltkrieges beseelt hatte, in den Kampf zog.
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