Bd. 4: Der Seekrieg - Der Krieg um die
Kolonien
Die Kampfhandlungen in der Türkei
Der Gaskrieg - Der Luftkrieg
Abschnitt: Der
Seekrieg
Kapitel 1: Die Grundlagen für die
Führung des Seekriegs (Forts.)
Konteradmiral Eberhard Heydel
2. Die allgemeinen Grundlagen der
Seekriegführung.
Mit dem Eintritt Englands in den Krieg wurden zum Kriegsschauplatz die
Weltmeere. Nicht nur die über die Ozeane verzweigte Dislokation der
deutschen und feindlichen Seestreitkräfte mußte das
notwendigerweise zur Folge haben. Eine Welt von Feinden und politischen
Mitläufern erhob sich gegen Deutschland. Was nicht als Glied des
englischen Imperiums (Dominions) ohnehin zur Heeresfolge oder durch das
englische Vertragsnetz zu militärischer oder politischer Gefolgschaft
verpflichtet war, wandte sich aus Opportunitätsgründen oder unter
dem Einfluß wirtschaftlicher Abhängigkeit dem Dreiverbande zu
oder wurde durch den starken Druck der feindlichen Koalition dazu gezwungen.
Nur wenige europäische und außereuropäische Staaten haben
sich hiervon freihalten können, teilweise unter dem unmittelbaren
Einfluß ihrer geographischen Lage zu Deutschland (Holland,
Dänemark, Schweden) und unter starker eigener Belastung durch
rücksichtslose Behandlung seitens des Dreiverbandes, insbesondere
Englands.
England Hauptgegner.
Wie während der politische Vorkriegsperiode, behielt England auch
während des Krieges die Führerschaft der feindlichen
Staatengemeinschaft. Nicht nur die Fäden der politischen, auch die der
militärischen Führung des großen Krieges liefen in London
zusammen. Den Seekrieg aber betrachtete es als seine Domäne.
England spielte das Spiel - das war festzuhalten - und schob die Figuren seiner
Partei. Solange England das Spiel nicht aufgab, war an einen auch nur [8] annehmbaren Ausgang
für Deutschland nicht zu denken. England war der Hauptfeind, der Kopf der
feindlichen Koalition. Seinen Kriegswillen zu brechen war die
Hauptaufgabe der großen Kriegführung. Daß dieser Wille den
vollen Sieg wollte, war selbstverständlich. Dafür sprach schon der
Preis, um den es ging, und die ungeheure Macht, die zu Gebote stand. Über
die Entschlossenheit, durchzuhalten, konnten die wiederholten und sehr ernst zu
nehmenden Äußerungen englischer Staatsmänner
während des Krieges ebensowenig Zweifel lassen, wie die Methoden, nach
denen England den Krieg von vornherein führte.
Nur wenn England selbst schwer bedroht werden konnte, war somit ein Einlenken
zu erhoffen.
Eine solche Bedrohung ermöglichte in der Hauptsache nur der Seekrieg. Sie
mußte daher die allgemeine Grundlage der Seekriegführung und das
operative Hauptziel der Kriegführung in der Nordsee im besonderen
bilden.
Die Grundlagen der englischen Seekriegführung.
Das Hauptziel der feindlichen Kriegführung war die Niederringung
Deutschlands. Lag Deutschland am Boden, lag auch der Dreibund am Boden, und
der Sieg war gewonnen. Das Schwergewicht der feindlichen Kriegführung
mußte sich somit gegen Deutschland richten. Rein militärisch lag die
Aufgabe der Landkriegführung ob, die Deutschland im Zweifrontenkrieg
zermürben sollte. Wirtschaftlich hatte England sich die Lösung
vorbehalten. Sie bestand in der materiellen Erdrosselung Deutschlands durch
völligen Abschluß von der Außenwelt und war die
Hauptaufgabe der englischen Seekriegführung in wechselseitigem
Zusammenwirken mit der politischen Kriegführung. Das Mittel war eine Blockade, die
allen Regeln des Völkerrechts widersprach. Denn diese Blockade
verschloß ein ganzes Meer, die Nordsee, dem freien Seeverkehr und
erstreckte sich damit praktisch auch auf die angrenzende neutralen Küsten
Hollands, Dänemarks, Norwegens und weiterhin die Küsten aller
Ostseestaaten. Das Wesen dieser sogenannten "weiten" Blockade bestand in der
Verblockung der Nordseeausgänge zum Weltmeer. Die Nordsee wurde
damit für Deutschland zum Binnenmeer. Die Engländer belegten
diese ihrer Form nach defensive Art der Blockade mit dem Ausdruck "to
bottle the North Sea".
Die weiteren der englischen Flotte obliegenden Aufgaben hat Admiral Jellicoe in
seinem Werk über die Grand Fleet
1914 - 1916 mit folgenden Worten gekennzeichnet:
1. "To ensure for British ships the unimpeded use of the sea, this
being vital to the existence of an island nation, particularly one which is not
self-supporting in regard to food."
(Sicherung des uneingeschränkten Gebrauchs der See für den
britischen Seehandel, da hiervon die Existenz eines Inselvolkes abhängt,
insbesondere eines solchen, das seinen Unterhalt nicht aus dem eigenen Lande
bestreiten kann.)
[9] 2. "To bring
steady economic pressure to bear on our adversary by denying to him the use of
the sea, thus compelling him to accept peace."
(Ausübung ständigen wirtschaftlichen Drucks auf den Gegner durch
Unterbindung seines Seeverkehrs [nach englischer Auffassung auch der
völkerrechtlich legalen Verbindungen], um ihn dadurch zum Frieden zu
zwingen. [Die Blockade.])
3. "Similarly in the event of war, to cover the passage and assist any
army sent over seas, and protect its communications and supplies."
(Schutz der Truppentransporte über See [zunächst des Transports der
Expeditionary Force nach dem westlichen Kriegsschauplatz. D. V.]
und Sicherung des Nachschubs.]
4. "To prevent invasion of this country and its overseas Dominions
by enemy forces."
(Verhinderung einer Invasion.)
Die Aufgaben weisen zugleich auf die Stellen hin, an denen England am
empfindlichsten zu treffen war: Der Seeverkehr und die Sicherheit
der Insel.
Der Seeverkehr ist Englands Lebensader. Kein anderes Land ist so
ausschließlich auf die Überseeversorgung angewiesen wie England.
Wird sie unterbunden, so ist der physische und wirtschaftliche Zusammenbruch
nur eine Frage der Zeit. Schon jede ernstere Störung des Seeverkehrs hat
sich während des Krieges unmittelbar und empfindlich in England
fühlbar gemacht. Nicht mit Unrecht hat Jellicoe daher unter den Aufgaben
der englischen Seekriegführung die Sicherung des Seeverkehrs an erster
Stelle genannt. Das Problem der Versorgung Englands im Kriege ist jahrelang
Gegenstand eingehenden Studiums gewesen, die einem eigens dazu von der
englischen Regierung eingesetzten Committee übertragen waren.
Englische Flottenmanöver haben sich vielfach mit der Sicherung der
Handelsstraßen im Kriege beschäftigt. Die gewonnenen Erfahrungen
wurden in besonderen "Kreuzerinstruktionen" niedergelegt. Durch Aufstapelung
von Rohstoffen und Getreide wurde für den Fall von Störungen in
der Zufuhr während des Krieges vorgebeugt.
Die Invasionsgefahr hat nicht nur als Schreckgespenst zu Propagandazwecken der
englischen Flottenpolitik gedient. Der Gedanken an sie hat während des
Krieges die englische Seekriegführung nicht unerheblich beeinflußt.
Jellicoe weist in seinem Buche mehrfach darauf hin, "daß der Gedanke an
überfallartige Unternehmungen gegen die englische Küste und an
eine Invasion beträchtlichen Einfluß auf die Dispositionen der
englischen Flotte gehabt habe". "Er habe bei Kreuz- und Übungsfahrten der
Flotte sich stets vor Augen halten müssen, daß die Flotte
überraschend vor die Aufgabe gestellt werden könnte, eine deutsche
[10] Landung zu verhindern."
Allerdings sind wohl in erster Linie handstreichartige Unternehmungen gemeint,
da die englische Kriegsleitung angesichts der ihr bekannten Lage auf dem
Kontinent, wo die deutschen Heere durch den Zweifrontenkrieg voll in Anspruch
genommen waren, kaum ernstlich mit einer Invasion im Sinne des Wortes
gerechnet haben dürfte. Immerhin hätten aber auch handstreichartige
Unternehmungen bei der auf die Invasionsgefahr erzogenen Öffentlichkeit
panikartige Wirkung hervorgerufen, die der Kriegsstimmung abträglich sein
konnten.
Jellicoe hätte noch einen fünften Punkt den Aufgaben
hinzufügen können: Die Aufrechterhaltung des Prestiges. In dem
Prestige, dem Dogma von der Unbesiegbarkeit der britische Seemacht, liegt ja das
Geheimnis der britischen Weltmachtstellung, bestand ja der Kitt, der das ganze
Gefüge der feindlichen Koalition, ihrer freiwilligen und vergewaltigten
Anhänger, zusammenhielt. Ging dieses Prestige verloren, so rückte
nicht nur der weltpolitische Schwerpunkt von England fort (Japan, Amerika!), das
ganze Fundament der englischen Seekriegführung gegen Deutschland geriet
ins Wanken. Denn der Druck der englischen Seemacht, der die zahlreichen
neutralen Staaten zwang, die völkerrechtswidrigen Maßnahmen der
Hungerblockade hinzunehmen und durchführen zu helfen, ohne die dieses
Radikalmittel unwirksam sein mußten, fiel fort.
Die Erfüllung jeder der drei Aufgaben - Sicherung der Seeverbindungen,
Verhinderung der Invasion und Aufrechterhaltung des
Prestiges - gründete sich auf der uneingeschränkten
Seeherrschaft der englischen Flotte. Jede ernstere Schwächung der Flotte,
die die Beherrschung der See in Frage stellte, mußte die Sorge vor der
Unerfüllbarkeit der Aufgaben, die die Gefährdung der Existenz und
Machtstellung bedeutete, entstehen lassen und den Kriegswillen
lähmen.
Die Grundlagen der deutschen Seekriegführung in der
Nordsee.
Eine ernste Schwächung der englischen Flotte war aber lediglich durch die
Schlacht erreichbar. Die Schlacht stand daher unter den Aufgaben der deutschen
Seekriegführung an erster Stelle, unbeschadet der Einflüsse und
Erwägungen, die diese Aufgabe zeitweise in den Hintergrund treten
ließen und deren Erörterung einem späteren Abschnitt
vorbehalten bleibt.
Eine für England ungünstig verlaufene Schlacht war das
schnellstwirkende Mittel, England zum Einlenken zu bringen. Und das war von
wesentlicher Bedeutung. Denn jeder Tag der Hungerblockade zehrte zunehmend
am Mark des deutschen Volkes und seinem Wirtschaftsleben; die Zeit arbeitete
gegen Deutschland, für England. An sich war somit ein möglichst
baldiger Austrag im Wege der Schlacht anzustreben.
Anderseits gebot aber die zahlenmäßig fast doppelte
Überlegenheit der englischen Flotte nach Ansicht der Seekriegsleitung,
durch Schädigung des Gegners im
Torpedoboots-, U-Boots- und Minenkrieg einen Kräfteausgleich
her- [11] beizuführen,
bevor die Schlacht angestrebt wurde, um für sie möglichst
günstige Bedingungen zu schaffen. Eine Schlacht um jeden Preis gestattete
nach Ansicht der Seekriegsleitung die Lage Deutschlands nicht. Dazu waren die
Rückwirkungen eines ungünstigen Verlaufs auf die
Gesamtkriegführung zu schwerwiegend.
Abgesehen von einem dann sehr wahrscheinlich viel stärkeren Druck gegen
die deutsche Nordseeküste, der sich voraussichtlich in einer für die
Seekriegführung von der Deutschen Bucht aus und damit für die
gesamte Seekriegführung in den heimischen Gewässern
empfindlichen Beschränkung der Bewegungsfreiheit ausgewirkt
hätte, würde einem Eindringen der englischen Flotte in die Ostsee
zur Vereinigung mit der russischen nichts mehr im Wege gestanden haben. Der
für die deutsche Gesamtkriegführung so wichtige Ostseeverkehr
wäre damit lahmgelegt worden.
Der Schutz der deutschen Küsten gegen Landungen im Rücken der
schwer kämpfenden Heere war dann nicht mehr gewährleistet. Die
Folgen wären schwerster Art gewesen.
Die Haltung der neutralen Nachbarstaaten (Holland, Dänemark, Schweden)
hätte unter dem fehlenden Druck der deutschen Flotte, dem um so
stärker werdenden der englischen und russischen, eine Wandlung erfahren,
die die Gesamtkriegführung auf das Nachteiligste beeinflussen
mußte.
Wies somit die Lage die deutsche Seekriegführung grundsätzlich auf
die Schlacht hin, so lagen die Verhältnisse bei England umgekehrt. Die
weite Blockade stellte an die Grand Fleet im wesentlichen die Aufgabe der
Überwachung des nördlichen Nordseeausgangs. Die konnte sie
ausüben, wenn sie sich in der Nähe ihrer nördlichen
Stützpunkte hielt. Einen Anlaß, die Schlacht zu suchen, hatte die
englische Flotte nicht. Ein Zwang für sie zur Schlacht bestand nur dann,
wenn die Durchführung ihrer Hauptaufgaben ernstlich bedroht wurde.
Solange dies nicht geschah, konnte die englische Flotte die weitere Entwicklung
der Dinge abwarten, um so mehr, als mit dem Kriegsziel, der Niederwerfung
Deutschlands durch die Hungerblockade, die Vernichtung der deutschen Flotte
ohnehin erreicht werden konnte - und erreicht worden ist. Die britische
Flotte hat sich denn auch immer mehr darauf beschränkt, die Blockade
durchzuführen und in ihrer Wirksamkeit gegen die deutsche
Kriegswirtschaft durch unmittelbare stärkste Eingriffe in die Rechte der
Neutralen zu verschärfen.
Das einzige und letzte Mittel, England durch starke Bedrängung zum
Frieden zu bringen, blieb die Unterbindung seines Seeverkehrs und die
Schädigung seiner Handelsflotte durch den U-Bootskrieg, der damit zur
Hauptaufgabe der Seekriegführung wurde. Er konnte, wie die englische
Hungerblockade, indes nur allmählich wirken. Der Seekrieg gegen England
nahm damit die Form des Wirtschaftskrieges an. Seine Entscheidung hing von der
Energie seiner Durchführung und von der Ausdauer im Ertragen der
feindlichen Blockade ab. Er wird eingehend im Abschnitt IV behandelt.
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