Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende
Kapitel 7: Der Krieg im Osten 1917/18
(Forts.)
Oberstleutnant Hans Garcke
2. Die Winterschlachten an der
Aa.
Bei den Russen hatte nach den Niederlagen in Rumänien und dem
Scheitern aller ihrer Entlastungsoffensiven die Kampflust Ende des Jahres 1916
erheblich nachgelassen. Trotzdem entschloß man sich Anfang Januar 1917
noch einmal zu einem größeren Angriff, und zwar gegen den
äußersten linken Flügel der deutschen Ostfront.
Weite Sumpfstrecken lagen hier zwischen den beiderseitigen Stellungen. Die 8.
Armee hatte daher in der Gegend südlich und südwestlich Riga unter
dem Generalkommando 60 (General v. Pappritz) im wesentlichen nur
Landsturm- [292] und Landwehrtruppen
eingesetzt; links anschließend stand die 1.
Kavallerie-Division im Küstenschutz.
Durch den Frost, der seit Mitte Dezember andauernd herrschte, waren
Sümpfe und Wasserläufe gangbar geworden; nach dem bisherigen
Verhalten des Feindes, der 12. russischen Armee unter Radko Dimitriew, glaubte
man aber deutscherseits nicht, stärkeren Angriffen ausgesetzt zu sein. Die
russischen Stellungen in den Sumpfgebieten waren, ebenso wie die deutschen, nur
schwach besetzt; meist lagen dort
Letten- und Kavallerie-Formationen. Das leidlich kampfkräftige VI.
sibirische Armeekorps war aus der Front gezogen und schien nach
Gefangenenaussagen für die Abbeförderung nach Rumänien
bestimmt zu sein und durch Reichswehr ersetzt zu werden.
[292]
Skizze 15: Das Kampfgelände an der unteren Düna.
Nebenskizze rechts oben: Kampfgelände der
Aa-Schlachten. [Vergrößern]
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Völlig überraschend setzte am 5. Januar 1917 der russische Angriff
ein. Die Vorbereitungen dazu waren in geschickter Weise der deutschen
Beobachtung entzogen worden. Erhöhte Artillerie- und
Fliegertätigkeit hatte man nicht gezeigt. Den Sturmtruppen waren
Absichten und Befehle erst am Vorabend des Kampfes bekanntgegeben worden.
Bei dem zum Einsatz bestimmten VI. sibirischen Armeekorps hatte man
absichtlich die falsche Nachricht verbreitet, es käme nach Rumänien.
Um das Überlaufen zu verhindern, hatte Radko Dimitriew in den letzten
Tagen jeden Patrouillengang verboten. Auch das Wetter begünstigte die
Überraschung; seit 3 Uhr morgens hatte ein heftiges Schneetreiben
eingesetzt. Es herrschte Frost von 12° Celsius.
[293] Nach kurzen, 4 Uhr
morgens einsetzenden Feuerschlägen der Artillerie stürmten die
Russen auf der ganzen Front von der Chaussee
Mitau - Riga bis zum Tirul-Sumpf, westlich der Aa, vor. Daneben
erfolgte ein Teilangriff gegen die nördlich des Sumpfes stehende
Landwehr-Brigade. An den meisten Stellen war der Verteidiger wachsam gewesen
und hatte die Maschinengewehre rechtzeitig zur Wirkung gebracht. Hier wurde
der erste Ansturm blutig abgewiesen, und auch die mehrfach rücksichtslos
wiederholten Angriffe scheiterten völlig. In einzelnen Abschnitten drang
der Feind in die Gräben ein, wurde aber alsbald durch die örtlichen
Reserven unschädlich gemacht und ließ Hunderte von Gefangenen in
der Hand des deutschen Landsturms.
Ernstere Folgen hatte der Einbruch in der Gegend von Mangal, wo bei einem
Landsturm-Bataillon die Aufmerksamkeit der Posten versagt hatte. Der Feind
durchstieß die erste Stellung in Richtung auf Skangal, brachte dem
Verteidiger schwere Verluste bei und nahm auch zwei Batterien. Die Gunst der
Lage aber wurde durch die russischen Unterführer nicht voll ausgenutzt. In
dem unübersichtlichen Waldgelände kam es zu Einzelgefechten, in
denen die überlegenen Fähigkeiten des deutschen Mannes auch beim
Landsturm sich geltend machten. Vor der immer größer werdenden
Übermacht gingen die Deutschen allmählich, Gefangene mit sich
führend, in die zweite Stellung
zurück. - Ein anderer gefährlicher Einbruch glückte den
Russen im Südteil des Mangaler Bruchs. Nach Durchstoßen der
deutschen Blockhaus-Linie drangen sie hier schnell nach Westen gegen die
Dünen-Stellung vor.
Das Armee-Oberkommando 8, schon 6 Uhr morgens um Unterstützung
gebeten, hatte von seinen Reserven bei Mitau alsbald ein Bataillon auf der Rigaer
Chaussee vorgeschoben, die zwei anderen Bataillone mit zwei Batterien unter
Major v. Rottberg dem Generalkommando 60 zur Wiederherstellung der
durchbrochenen Front bei und westlich Mangal zur Verfügung gestellt.
Außerdem zog es die hinter seinen anderen Frontabschnitten in Reserve
befindlichen fünf Bataillone und verschiedene Batterien nach der bedrohten
Stelle heran. Auch, was von weiter rückwärts befindlichen
Kräften noch zum Kampfe verfügbar gemacht werden konnte, wurde
in Bewegung gesetzt - einschließlich Etappentruppen und
Rekrutendepots. Zur unmittelbaren Verteidigung von Mitau wurden außer
Landsturm die Mannschaften von Bagagen und Kolonnen und der Stabswache
bereitgestellt. Kurz, der letzte Mann wurde aufgeboten.
Bei den weiten Entfernungen, den schlechten Wegen und der geringen
Leistungsfähigkeit der Bahn konnten die Verstärkungen aber nur
allmählich wirksam werden.
Die Abteilung Rottberg traf nach anstrengendem Marsch nachmittags auf dem
Kampffelde südlich Skangal ein. Durch tiefen Schnee vordringend, warf sie
die Russen, die teilweise schon die dünn besetzte zweite Stellung
durchstoßen hatten, zurück, machte 600 Gefangene, gewann die erste
Stellung bei Mangal [294] wieder und versuchte
von hier aus nach rechts und links den eingedrungenen Feind aufzurollen.
Am Abend des 5. Januar war fast überall die erste Stellung wieder im
Besitz des Verteidigers. Nicht geglückt war es aber, die
Blockhaus-Linie, die sich von Süden nach Norden durch das Mangaler
Bruch hinzog, wiederzunehmen, und auch im Lauf des folgenden Tages wurden
hier keine wesentlichen Fortschritte gemacht. Der Feind hielt den im Süden
des Bruchs in ost-westlicher Richtung sich hinziehenden Großen Graben
besetzt und führte unter dem Schutz dieser Stellung durch die aufgerissene
Lücke der Blockhaus-Linie immer weitere Kräfte nach Westen vor.
Die Absicht, von Norden und Süden her gleichzeitig zum Angriff gegen
den Feind im Bruch vorzugehen, mußte wegen ungenügender
Reserven auf den 7. Januar verschoben werden. In der Nacht drangen nun aber die
Russen, von der Artillerie nicht gefaßt, durch die Bresche weiter nach
Westen vor und durchstießen die Dünen-Stellung am Westrand des
Bruchs, die von Truppen verschiedener Verbände besetzt war und in der es
noch nicht gelungen war, die Verteidigung einheitlich zu organisieren. Die
Dünen-Stellung wurde nach Norden aufgerollt, die hinter ihr stehenden
Batterien wurden genommen. Das nördlich des Mangaler Bruchs stehende
Landwehr-Regiment, gleichzeitig von Osten angegriffen, war in Gefahr,
völlig abgeschnitten zu werden. Es schlug sich mit den Resten seines
rechten Flügelbataillons in die Gegend östlich Kalnzem durch und
ging mit den beiden anderen Bataillonen über die gefrorene Aa auf das
westliche Ufer zurück.
Unter Einsatz aller bisher eingetroffenen Verstärkungen wurde gegen
Mittag des 7. Januar aus der Gegend östlich Kalnzem ein Gegenangriff
unternommen, der aber bei der starken feindlichen Überlegenheit keinen
Erfolg hatte. Von Mitau aus trafen nun drei aktive Bataillone zur Wiedernahme
der verlorenen Stellung ein. Diese Truppen waren indessen durch den langen
Marsch in tiefem Schnee stark ermüdet, und die Landwehr, die bisher
dauernd in aufreibenden Kämpfen gestanden hatte, war vorläufig
nicht angriffsfähig. General v. Scholtz, der Oberbefehlshaber der 8.
Armee, ordnete daher an, daß die augenblicklich gehaltene Linie verteidigt
und daß von einem Angriff zunächst abgesehen werden sollte.
Zur Stützung der Front wurde dem General v. Pappritz die 2.
Infanterie-Division zur Verfügung gestellt, die ursprünglich
für den Westen bestimmt, dann aber als Reserve des Oberbefehlshabers Ost
nach Mitau geleitet war. Sie erhielt den wichtigen linken Abschnitt beiderseits der
Aa, während der rechte von der 6. Landwehr-Brigade verteidigt wurde.
Der Feind griff im Verlauf des 8. und 9. Januar nur noch an einzelnen Stellen an,
konnte keine Erfolge mehr erringen und verhielt sich vom 10. ab völlig
ruhig.
In seinem Angriffsbefehl hatte Radko Dimitriew gesagt: "Feget weg diesen
[295] schwachen und
hungrigen Landsturm, der es wagt, Eurem siegreichen Vormarsch den Weg zu
sperren!" - aber die deutschen Landwehr- und Landsturmtruppen, die
für schwere Kämpfe durchaus nicht vorgesehen und geschult waren,
hatten sich heldenhaft geschlagen. Für den Durchbruchsversuch hatten die
Russen im ganzen etwa 110 000 Mann aufgeboten, denen von deutscher
Seite nur 25 000 entgegengestellt werden konnten. Entsprechend dem
rücksichtslosen Einsatz der in dichten Formationen vorgetriebenen Massen
waren die blutigen Verluste des Angreifers außerordentlich hoch; sie
wurden auf 23 000 Mann geschätzt. Mit diesen Opfern hatte Radko
Dimitriew eine Einbeulung an der deutschen Front erkauft; von seinem Ziel aber,
das nach später aufgefundenen Befehlen die Wiedereroberung von Mitau
und Kurland war, war er weit entfernt geblieben.
Im weiteren Verlauf des Januar glaubte General v. Scholtz nach den
eingegangenen Nachrichten auf erneute feindliche Angriffe rechnen zu
müssen. Er wollte ihnen durch eigene Offensive zuvorkommen und dabei
nicht nur die frühere erste deutsche Stellung wiedergewinnen, sondern auch
über Sokol vorstoßen und so eine Verkürzung der Frontlinie
erreichen. Die höheren Dienststellen stimmten zu. Der Gruppe Mitau wurde
daher die 2. Infanterie-Division noch gelassen, und weitere Kräfte wurden
ihr zugeführt: die 1. Reserve-Division, die ebenfalls für den Westen
bestimmt war, die aber erst von der Düna-Front abgelöst werden
mußte, ein Infanterie-Regiment von der Heeresgruppe Linsingen, schwere
Artillerie und Spezialtruppen.
Der Angriff sollte längs der Aa nach Norden geführt werden, - von
der 2. Infanterie-Division auf dem rechten, von der 1.
Reserve-Division auf dem linken Ufer. Durch gegenseitige flankierende
Artillerieunterstützung sollten die beiden Gruppen sich gegenseitig
vorwärtshelfen.
Durch die Ungunst der Witterung zogen die Vorbereitungen sich länger hin,
als ursprünglich gedacht war. Am Morgen des 23. Januar wurde bei 9°
Kälte und in dichtem Schneetreiben zum Sturm angetreten. Bei der 2.
Division kamen die beiden Flügel gut vorwärts; in ihrer Mitte aber
und ebenso bei der auf dem linken Aa-Ufer kämpfenden 1.
Reserve-Division war der Artillerie in dem unübersichtlichen
Waldgelände die Niederkämpfung der stark ausgebauten feindlichen
Stellungen nicht genügend geglückt. Mühsam arbeitete sich
die deutsche Infanterie im tiefen Schnee gegen das feindliche Abwehrfeuer vor,
ohne die erstrebten Tagesziele erreichen zu können.
In den folgenden Tagen wurde der Kampf fortgesetzt. Es zeigten sich aber immer
wieder neue feindliche Stellungen, die von der Artillerie nicht erkannt und nicht
sturmreif gemacht waren und die ein schnelles Vorwärtskommen
verhinderten. Die zahlenmäßige Stärke des Gegners war
wesentlich größer, als angenommen war; das ganze XXVII. russische
Korps, mit dessen Eingreifen nicht gerechnet war, war in den Kampf geworfen.
Bei diesem Mißverhältnis der Kräfte hielt das
Armee-Oberkommando 8 die Zuführung einer neuen kampf- [296] kräftigen
Division für erforderlich, wenn die ursprüngliche
Absicht - Vorstoß bis in die Gegend von
Schlok - durchgeführt werden sollte. Eine solche Verstärkung
konnte der Oberbefehlshaber Ost aber nicht mehr zur Verfügung stellen;
man mußte sich daher darauf beschränken, um den Wiedergewinn der
früheren ersten deutschen Stellung zu kämpfen.
Die Russen, immer mehr verstärkt, gingen nun ihrerseits zu Gegenangriffen
über. Mit wechselnden Erfolgen wurde bis zum 3. Februar schwer
gekämpft. Mehr als unter dem feindlichen Feuer litten die Truppen unter
der grimmigen Kälte. Die Temperatur sank bis unter 30° Celsius.
Soweit irgend möglich, war zwar für warme Kleidung und wollene
Decken, für Nachführung von Feldöfen und Holzwolle gesorgt
worden; aber die Leute lagen doch größtenteils auf blanker, hart
gefrorener Erde oder auf dem Eis der überschwemmten Wiesen. Nur das
allernotwendigste Gepäck hatte man auf kleinen Handschlitten mitnehmen
können. Die Abgänge infolge von Frosterkrankungen waren daher
stark. Die Gefechtsführung war durch die geringe Gangbarkeit des
verschneiten Geländes stark beeinträchtigt. Der Fernsprecher versagte
meist völlig.
Mit bewunderungswürdiger Hingabe hatten die deutschen Truppen die
ungeheuren Strapazen ertragen, die frühere erste Stellung großenteils
zurückerobert und feindliche Massenangriffe abgewiesen. Die
außergewöhnliche Kälte aber hatte schließlich die
Stoßkraft der Infanterie wie auch die Leistungsfähigkeit der
Feuerwaffen derart beeinträchtigt, daß das
Armee-Oberkommando auf die Wiedernahme der letzten Stellungsteile
verzichtete und am 3. Februar die Einstellung des Angriffs und den Ausbau der
erreichten Linie als Dauerstellung verfügte.
Die 2. Infanterie-Division wurde nun frei; bereits am Abend des folgenden Tages
rollte ihr erster Transport nach dem Westen ab.
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