Bd. 2: Der deutsche Landkrieg, Zweiter Teil:
Vom Frühjahr 1915 bis zum Winter 1916/1917
Kapitel 5: Die deutschen Abwehrkämpfe im
Westen 1915 (Forts.)
Generalleutnant William Balck
4. Die zweite Schlacht von Ypern vom 22. April bis
25. Mai 1915.
Vom November 1914 ab war es in Flandern auf der Front der 4. Armee, Generaloberst Herzog Albrecht von Württemberg, Chef des Stabes
Generalmajor Ilse (Armee-Hauptquartier Thielt), ruhig geworden. Das III. Reservekorps war
nach dem Osten gezogen und durch das in der Bildung begriffene Marinekorps
(Korps-Hauptquartier Brügge) ersetzt worden. Die vier jungen
Reservekorps standen noch wie im Herbst 1914 in der Reihenfolge: XXII.
(Korps-Hauptquartier Ghistelles), XXIII.
(Korps-Hauptquartier Wyneadaele), XXVI.
(Korps-Hauptquartier Roulers) und XXVII.
(Korps-Hauptquartier Dadziaele). Mit dem linken Flügelkorps (XV.,
Korps-Hauptquartier Werwicq) grenzte am Kanal
Ypern - Commines die 4. Armee an die 6. Armee, an das II.
bayerische Armeekorps. Noch immer hatte man vor der Front auf dem
Nordflügel um Dixmude die sechs Divisionen der belgischen Armee,
eingerahmt durch französische Einheiten, gegenüber. Anfang April
wurden südlich der Belgier das IV. und XX. französische
Armeekorps festgestellt. An die Franzosen grenzte die englische 2. und 5. Armee,
auf dem Nordflügel die 28. Infanterie-Division und Kanadier.
Nach Erlöschen der Herbstkämpfe 1914 folgte die deutsche Stellung
vom Meere bis kurz unterhalb Steenstraate dem Laufe der Yser, bei Nieuport
hielten die Belgier das rechte Flußufer (s.
Skizze 11, Seite 261). Zwischen
dem Meere und Dixmude hatten deutsche Postierungen an mehreren Stellen festen
Fuß auf dem Westufer gefaßt. Oberhalb Dixmude war Anfang April
der Übergang von Driegrachten besetzt worden. Zwischen Steenstraate und
Oosthoek (4 km südlich Ypern) sprang die feindliche Stellung
brückenkopfartig auf das rechte Ufer über, von der Straße
Ypern - Zonnebeke gemessen, in 9 km Tiefe bis zur
Straße Passchendaele - Becelaere. Die feindliche Stellung lief
über Langemarck bis Poelkappelle, das in deutschen Händen war,
führte dann in südlicher Richtung weiter und bog zwischen
Wallmoelen und Passchendaele nach Süden um, dann folgte sie der
Straße
Mosselmart - Brosfeinde - Becelaere, von der sie sich
2,5 km südöstlich Zonnebeke nach Südosten wandte,
um bei Oosthoek auf das Westufer des Kanals zurückzutreten. Das von der
feindlichen Stellung "umschlossene Gebiet ist, wie die ganze westflandrische
Ebene, von flachen Erhebungen und Mulden durchsetzt und mit zahlreichen,
weitläufigen Ortschaften, Einzelhöfen, Waldstücken, Parks
und [257] Hecken so dicht
bedeckt, daß die Unübersichtlichkeit des Geländes die
Truppenführung und einheitliche Gefechtsleitung schwierig gestaltete;
Artilleriebeobachtung ist nur von erhöhten Punkten, Kirchtürmen,
Windmühlen und ähnlichem möglich, aber auch hier
beschränkt. Die dichte Bodenbewachsung und die feuchte, silbergraue Luft,
die die Fernen verschleiert, vermindert die Aussicht. Die Schwierigkeiten des
Geländes sind zum Teil der Grund, daß sich der Gegner monatelang
in taktisch ungünstiger Stellung behaupten konnte". Die
Geländeschwierigkeiten verlangten eine gut ausgebildete und
geführte Truppe.
Südwestlich Ypern erhob sich ein
Bergland, das im Kemmel bis zu 156 m
Meereshöhe aufstieg, weite Sicht nach Norden und Osten gewährte.
Die Höhen mußten bei einem Kampf auf dem linken Ufer der Yser
von entscheidender Bedeutung werden. Der Gedanke war naheliegend, bald nach
Kräftigung der jungen Truppen den Brückenkopf der
Verbündeten einzustoßen, damit auch eine feindliche Offensive zu
erschweren, die günstige Aussichten für ein Vorgehen gegen
Brüssel und für einen umfassenden Angriff über Lille auf
die deutsche Dauerstellung bot. Nur der Umstand, daß das englische Heer
noch nicht zu einem großen Angriff fähig war, hatte diesen Gedanken
bislang noch nicht zur Tat werden lassen. Gelang hingegen ein deutscher Angriff,
so wurde die deutsche Front verkürzt, der letzte Teil Belgiens in Besitz
genommen, die Kanalhäfen ernstlich bedroht und die Flanke des
feindlichen Heeres gewonnen, wobei sich auf den Höhen des Kemmel
günstige Stellungen fanden. Es lag nahe, sich zunächst in den Besitz
dieser Höhen zu setzen; nur war es fraglich, ob auch die Kräfte der 4.
Armee nach Zahl und Ausbildung ausreichen würden. Die englische
Führung befürchtete gerade hier einen Angriff. Auch der Gedanke
des XXVII. Reservekorps, über Ypern nach Calais vorzustoßen,
konnte, solange die Deutschen nicht im Besitz des Kemmel waren, aus diesen
Gründen nicht verwirklicht werden. Am aussichtsreichsten war wohl die
schon im Dezember 1914 vom XXVI. Reservekorps vertretene Absicht,
unterstützt von den beiden Nachbarkorps Langemarck und die Höhen
von Pilckem zu nehmen und dann bis zur Yser vorzustoßen. War dies
gelungen, so konnte auch an einen Yser-Übergang gedacht werden. Das
Armee-Oberkommando entschloß sich nach langem Zögern,
zuzustimmen, aber gleichzeitig auch den vom XXIII. Reservekorps gemachten
Vorschlag, über den Kanal zu gehen, auszunutzen. Die Gefahr, zwei
Angriffsziele gleichzeitig zu verfolgen, war damit unverkennbar vorhanden. Bei
Bearbeitung der Angriffsentwürfe wurde übersehen, daß ein
solcher, rein frontal geführter Angriff auch eines dauernden Nachschubs an
Reserven bedurfte, wenn er tief genug geführt werden sollte.
Zweckmäßiger wäre es wohl gewesen, den Angriff im Verein
mit dem rechten Flügel der 6. Armee zu führen, den beherrschenden
Kemmel zu stürmen und dann erst zum Angriff gegen die noch im
Ypern-Bogen aushaltenden feindlichen Truppen zu schreiten.
Die englische Aufmerksamkeit war Ende April in südlicher und
südöstlicher Richtung wachgerufen. Am 14. März war nach
glücklicher Minen- [258] sprengung der
Lehmhügel von St. Eloi in deutschen Besitz gekommen und behauptet
(Teile der bayerischen
Infanterie-Regimenter 18, 22 und 23 des II. bayerischen Armeekorps). Am 17.
April hatten die Engländer unter der von der 12. Kompagnie
Infanterie-Regiments 172 (XV. Armeekorps) gehaltenen Höhe 60,
südöstlich Zillebeke, sechs Minen gesprengt und die Höhe
besetzt. Am 18. wurde sie zurückerobert, kam dann jedoch nach erbitterten
und verlustreichen Nahkämpfen bis zum 21. wieder in englische
Hände. Mit Bestimmtheit rechnete die englische Führung mit einem
deutschen Gegenangriff und übersah die Gefahren, die aus
nordöstlicher Richtung drohten. Seit Wochen bereitete die 4. Armee einen
größeren Angriff vor. Eine Vollbahn wurde durch den Houthulster
Wald gebaut für die Verwendung schwerster Geschütze,
Förderbahnen bis an die vorderste Stellung gestreckt, Ausweichegleise,
Barackenbauten angelegt, Leichtbrücken für das Überschreiten
der Gräben angefertigt, Fernsprechanlagen vermehrt, schließlich die
in Frage kommenden Feldwege durch Heranziehen belgischer Arbeiter chaussiert.
Dem Feinde blieben seltsamerweise diese Vorbereitungen verborgen. Die geringe
Entfernung der feindlichen Gräben und die Unvollkommenheit der
feindlichen Gasschutzmittel mußte die Mitverwendung von Gas
aussichtsvoll erscheinen lassen, das bereits von der Entente in Gebrauch
genommen war. Jedenfalls durfte man hoffen, eine Stellung durch Vergasung
schneller sturmreif zu machen, als allein durch Artilleriebeschuß. Die
deutsche Führung war damals noch auf die Verwendung von Gasflaschen
angewiesen.16 Das Blasverfahren war von
günstigem Winde abhängig; nicht berücksichtigt war,
daß in Flandern Wind und Witterung überraschend schnell and
anscheinend regellos wechseln. Die Truppe mußte daher frühzeitig
genug bereitgestellt werden und mußte lange Zeit anscheinend nutzlos
bereitstehen, bis sich endlich der günstige Wind einstellte. Das lange
Warten ermüdete und zermürbte die Truppe. Die Gefahr, daß
die Absicht verraten wurde, lag vor. Tatsächlich wurde am 20. April ein
englisches Zeitungsblatt bekannt, das Einzelheiten über den geplanten
Gasangriff brachte. Am 14. hatten die Korps die Anweisung für den Angriff
auf [259] Pilckem erhalten, die
mehrtägige Kämpfe ins Auge faßte. Die Hauptaufgabe fiel dem
XXVI. Reservekorps zu, das rechts durch das XXIII. Korps in der Flanke
geschützt wurde, während die weiter links anschließenden
Korps (XXVII. Reserve- und XV. Armeekorps) den Feind zunächst nur
fesseln sollten (s. Skizze 11,
Seite 261).
Am 15. April, 6 Uhr nachmittags, waren alle Vorbereitungen beendet; am 22.
vormittags meldete das XXIII. Reservekorps, daß für den
nächsten Tag nicht mehr an ein Aufrechterhalten der Angriffskraft zu
denken sei. Endlich, als am Nachmittag des 22. der günstige Wind eintrat,
kam der Befehl, daß um 6 Uhr nachmittags die Gasflaschen geöffnet
werden sollten. Der Angriff konnte beginnen. Das war der erste deutsche
Gasangriff. Ursprünglich hatte man gehofft, den Angriff im Morgengrauen
machen zu können, um den ganzen Tag zur Ausnutzung der ersten Erfolge
zur Verfügung zu haben. Jetzt handelte es sich um ein Bereitstellen und um
einen Angriff bei Tageslicht, der volle Unterstützung durch die Artillerie
nötig machte. Der Eintritt der Dunkelheit verlangte ein Einstellen des
Angriffs. Die Angriffsziele wurden daher in geringer Entfernung gewählt.
Gleichzeitig mit dem Abblasen des Gases setzte in 7 km Breite das
Artilleriefeuer ein, das nur schwach erwidert wurde, dann folgte die Infanterie der
Gaswelle. Man hatte den Eindruck, daß der Feind überrascht sei. Den
Angaben eines Überläufers hatte er, da seine ganze Aufmerksamkeit
sich gegen das XV. Armeekorps richtete, nicht vollen Glauben geschenkt. Er
scheint einen Angriff gegen den Kemmel erwartet zu haben.
Das Vorgehen des mit dem Flankenschutz betrauten XXIII. Reservekorps erfuhr
eine Erschwerung dadurch, daß Gas in Richtung auf Steenstraate nicht
abgeblasen war, so daß es zu harten Kämpfen vor Steenstraate kam;
auch das Vorgehen in dem mit Gas bedeckten Gelände war nicht ohne
Stockung vor sich gegangen. Das Generalkommando hatte den Eindruck,
daß die Truppe durch das lange Warten im offenen Gelände stark
mitgenommen war. Erst um 8 Uhr abends wurde Het Sas genommen, und
sofort begann auch die Infanterie, über den Kanal zu setzen, während
um Steenstraate noch bis in die Nacht hinein gekämpft wurde. Wo das Gas
aber gewirkt hatte, war bei den Feinden eine volle Panik eingetreten. Wider
Erwarten gering war die materielle, um so größer aber die moralische
Wirkung. Auf der ganzen Front war alles im Zurückgehen. Ebenso
günstig stand es beim XXVI. Reservekorps, dem die 37.
Landwehr-Brigade folgte, die aber nur als Arbeitstruppe verwendet wurde. Auch
Langemarck wurde geräumt. So fand die 52.
Reserve-Division, die mit dem linken Flügel auf Bahnhof Langemarck
vorgehen sollte, während die 51.
Reserve-Division, mit der 102. Reserve-Infanterie-Brigade in Reserve, das Dorf
selbst nehmen sollte, keinen nennenswerten Widerstand. Eine englische schwere
Batterie und acht französische Feldbatterien wurden genommen.17
[260] Eine breite
Lücke klaffte zwischen den Franzosen und Kanadiern; so war beim
Dunkelwerden die befohlene Linie erreicht und an manchen Stellen sogar noch
überschritten. Der Einbruch war gelungen. Aber es fehlte an Reserven, ihn
zum Durchbruch auszunutzen. Wäre dies geschehen, so hätten die
Verbündeten eine schwere Niederlage erlitten. Der durch die Dunkelheit
aufgezwungene Halt kam dem Verteidiger zugute; er konnte sich von dem
Eindruck der Vergasung erholen und Verstärkungen heranführen.
Die 51. Reserve-Division schwenkte jetzt folgerichtig gegen die offene linke
Flanke der Kanadier ein. Pilckem, der Wald östlich von St. Julien
("das Engländerwäldchen") wurden genommen, während eine
schnell gebildete Defensivflanke der Kanadier St. Julien und Kercelaere
noch hielt. Es ist begreiflich, daß bei der Neuartigkeit des Kampfmittels die
Wirkung des Gases deutscherseits unterschätzt wurde; hätte das
XXVI. Reservekorps gewußt, wie es beim Feinde tatsächlich aussah,
so hätte es den ersten Erfolg weiter ausgenutzt, anstatt halt zu machen und
sich einzugraben. General Plumer (V. Armeekorps: Kanadische 1., 28. und 27.
Infanterie-Division) raffte von allen Seiten Truppen zusammen, um die durch das
unvermutete Zurückfluten der Franzosen gerissenen Lücke ohne
Rücksicht auf Zusammengehörigkeit der Verbände wieder zu
schließen. Energische Führer rissen die notdürftig
gesammelten Truppen von de Rode Carrière nun zum
Gegenstoß vor. Es dunkelte bereits stark. Aus den englischen Reihen
ertönten Rufe: "Nicht schießen, wir sind Deutsche!" Der Verteidiger
ließ sich täuschen und zögerte. Der Einbruch gelang. Im
nächsten Ringen wurde vorübergehend das
"Engländerwäldchen" und die in diesem stehende englische schwere
Batterie wiedergenommen. Am anderen Morgen war jedoch der Wald schon
wieder in deutschen Händen.18 Die
englische Artillerie hatte bei dem Mangel an Vorbereitungen nur
schwächlich in diesen Kampf eingegriffen. Schwer waren die englischen
Verluste, namentlich auch an Offizieren, die mit ihrem Blute nicht gegeizt hatten.
Immer wieder und wieder gingen die aus einzelnen Bataillonen und Kompagnien
gebildeten Kampfgruppen zu Gegenstößen vor und erlitten schwere
Einbuße. Die englische Führung verdient volle Anerkennung, da sie
jeden verfügbaren Schützen einsetzte. Der deutschen Führung
fehlten leider diese Reserven!
[261]
Skizze 11: Gelände der Flandernschlachten
|
Am Abend des 22. stand das XXIII. Reservekorps bei Steenstraate und Het Sas
auf dem westlichen Kanalufer und hatte bei Boesinghe Anschluß an das
XXVI. Reservekorps. Dieses hatte erreicht Boesinghe
(Reserve-Infanterie-Regiment 240), einen Punkt 2 km südlich
Pilckem und weiter in der Richtung Kercelaere. Die 37.
Landwehr-Infanterie-Brigade hatte auf den Höhen südlich Pilckem
eine zweite Stellung ausgehoben. Das XXVII. Reservekorps stand noch in seinen
bisherigen Stellungen. In der Lücke zwischen dem XXVI. und XXVII.
Reservekorps wurde die 2. Reserve-Ersatz- und die 38. Land- [261=Skizze]
[262] wehr-Brigade eingeschoben. In der ersten Morgenstunde des
23. traf der Armeebefehl ein, der Angriff solle in Richtung auf Poperinghe
fortgesetzt werden, und zwar solle das XXIII. Reservekorps die Linie Pypegaete
(westlich) - Zuydschoote
(südöstlich) - Boesinghe erreichen; hierfür
wurden zur Verfügung gestellt: die Armeereserve Runkel, Stab der 85.
Reserve-Infanterie-Brigade mit Reserve-Infanterie-Regiment 201; die 4.
Marine-Infanterie-Brigade mit zwei Batterien im Raume
Staden - Houthulst untergebracht. Das XXVI. Reservekorps sollte in
südlicher Richtung weiter Raum gewinnen, um die vor dem XXVII.
Reserve- und XV. Armeekorps noch aushaltenden feindlichen Truppen in Flanke
und Rücken anzugreifen.
Der Angriff wurde jedoch nicht fortgesetzt, und damit dem Feinde die Zeit
gegeben, sich zu erholen und Verstärkungen heranzuführen.
Gewiß, auch die deutschen Truppen waren stark angestrengt, sie
mußten jedoch die Müdigkeit überwinden. Die vordere Linie
war am 22. abends noch über 4 km vom Westrande Ypern entfernt.
So wünschenswert es gewesen wäre, den Erfolg auszunutzen, so
fehlte es an Reserven; jedes weitere Vorgehen hätte die Truppe in
nächtliche Nahkämpfe in unbekanntem Gelände verwickelt.
Richtiger wäre es gewesen, am 23. mit allen Kräften nur das eine
Ziel zu verfolgen, den Feind über die Yser zurückzuwerfen. Wie
ganz anders wäre es gewesen, wenn der Angriff im Morgengrauen
hätte erfolgen können. So entstanden zwei auseinanderstrebende
Angriffsziele, was schließlich zum Mißerfolg führen
mußte, obwohl die Verbündeten durch die Wahl der Angriffsrichtung
überrascht waren. Der Feind grub sich auf 500 m vor dem XXVI.
Reservekorps ein; es wurde nicht angegriffen. Beim XXIII. Reservekorps kam es
zu weiteren Kämpfen auf dem westlichen Kanalufer. Hier bereitete General
Foch die Entscheidung durch einen Gegenangriff vor, der aber erst in einigen
Tagen wirksam werden
konnte. - Fortschritte wurden nicht mehr gemacht: "Leider ist die Infanterie
durch den Stellungskrieg verweichlicht und hat an frischem Wagemut und
seelischem Gleichgewicht angesichts größerer Verluste und des
zersetzenden Einflusses gesteigerter feindlicher Feuerwirkung
eingebüßt; der Führer und beherzte Leute fallen, die Masse, die
zumeist aus kriegsunerfahrenem Ersatz besteht, ist hilflos und nur allzu geneigt,
die Arbeit der Artillerie und den Minenwerfern zu überlassen."
(Kriegstagebuch des Generalkommandos XXIII. Reservekorps.)
Am 24. früh war es der 45. Reserve-Division gelungen, nach schweren
Verlusten Lizerne zu nehmen, während Fortschritte in nördlicher
Richtung nicht möglich gewesen waren, so daß der Feind die
Brücke über den 50 bis 80 m breiten Kanal unter Feuer halten
konnte.
Das XXVI. Reservekorps, dem Teile der 53.
Reserve-Division, 2. Ersatz-Reserve- und 4.
Marine-Brigade unterstellt wurden, machte auf seinem linken Flügel gute
Fortschritte. Es gelang der zusammengestellten Brigade der 53.
Reserve-Division, in Richtung Grafenstafel Raum zu gewinnen, die Hanebeke
[263] zu überschreiten,
Höhe 32 zu nehmen und die englische Stellung aufzurollen. Energischer
Widerstand wurde in dem Wäldchen westlich Grafenstafel geleistet. Erst
am 3. Mai konnte dieser Stützpunkt genommen werden. Das
Reserve-Infanterie-Regiment 234, heldenmütig unterstützt von einem
auf 200 m vom Feinde offen auffahrenden Geschützzuge, nahm
Kercelaere und de Rode Carrière, am 25. St. Julien; die stark
gelichteten Bataillone der 51.
Reserve-Division hatten sich noch eines scharfen Gegenangriffs zu erwehren.
Beim XXIII. Reservekorps wurden keine Fortschritte mehr gemacht.
Am 26. fanden gegen beide Korps heftige Angriffe statt, die aber unter blutigen
Verlusten für den Feind abgewiesen wurden. Das XXIII. Reservekorps
hatte gegen Fochs Gegenangriff seine Stellung gehalten; ein englischer Offizier
hatte sogar die Besatzung von
Lizerne - natürlich vergeblich - zur Übergabe
aufgefordert. Beim XXVI. Reservekorps war alles zum Gegenstoß
bereitgestellt, der jedoch nicht zur Ausführung gelangte. In später
Abendstunde wurde von den Franzosen nach starker Artillerievorbereitung
Lizerne genommen; ein Durchbruch wurde hier befürchtet, ein
Gegenstoß zur Wiedernahme des Ortes befohlen, aber vom
Reserve-Infanterie-Regiment 204 nicht ausgeführt. "Offenbar fehlte es
wieder der Infanterie an der richtigen Angriffslust" (Kriegstagebuch des
Generalkommandos XXIII. Reservekorps). General Foch hatte hier seinen
Gegenangriff angesetzt. Der Feind schien tatsächlich überlegen zu
sein, und so entschloß sich das Generalkommando, die vorderste
Infanterielinie zurückzunehmen. Am 28. wurde noch
weitergekämpft, auch machte der Feind weitere Fortschritte gegen den
Kanal; ein Einbruch konnte aber am 29. noch verhindert werden. Die Kräfte
der Truppe ließen nach. Auch der Feind war erschöpft; aber noch
einmal raffte er seine Kraft zu einem vergeblichen Angriff zusammen. Auf Grund
falscher Nachrichten über den Verlauf dieses Angriffs entschloß sich
das Generalkommando, das Westufer des Kanals ganz aufzugeben; am 30. stellte
sich dann heraus, daß noch eine schwache, brückenkopfartige
Stellung bei Steenstraate und bei Het Sas gehalten wurde. Beim XXVI.
Reservekorps kam es infolge ungünstiger Windrichtung nicht zu einem in
Aussicht genommenen Gasangriff zur Weiterführung des Angriffs.
Angriffsversuche des Feindes wurden rechtzeitig abgewiesen. Für die
Gefechtsleitung bei beiden Korps war es von Nachteil, daß die
eigenen - unbewaffneten - Flieger gegen die mit
Maschinengewehren ausgerüsteten feindlichen Flieger nicht aufkommen
konnten.
Ganz überraschend für die Alliierten feuerte mit gutem Erfolg ein bei
Kattestraat (südöstlich Dixmude) eingebautes
38-cm-Geschütz vom 26. ab auf das englische
Armee-Hauptquartier Poperinghe, dann auf das 60 km entfernte
Dünkirchen. In die Festung fielen 19 Geschosse, zerstörten mehrere
wichtige Gebäude, töteten 20 und verwundeten 45 Menschen. In den
nächsten Tagen wurde auch Furnes und Bergues mit gutem Erfolge
beschossen.
Am 29. abends wurde ein englischer Funkspruch aufgefangen: "Lage der [264] Franzosen und
Engländer bei Ypern sehr ernst, wir müssen uns auf schlimme
Nachricht gefaßt machen." Die Kanadische Division hatte nach schweren
Verlusten19 durch die indische
Lahore-Division ersetzt werden müssen. Schon am 26. hatte das englische
Oberkommando (Sir John French) beschlossen, das Ostufer der Yser zu
räumen, gab aber dem Drängen des Generals Foch nach, den Befehl
noch um zwei Tage aufzuschieben, damit der auf Steenstraate gegen das XXIII.
Reservekorps angesetzte Angriff sich auswirken könne. Die englischen
Linien waren schon stark nach Ypern zusammengedrängt. Der linke englische
Flügel erhielt aus der Gegend von Zillebeke Artilleriefeuer von
schräg rückwärts. Auch ein zweiter Rückzugsbefehl
wurde noch einmal auf Drängen Fochs aufgeschoben; aber der erwartete
französische Durchbruch erfolgte nicht.
Der neue englische Rückzugsbefehl traf mit dem Befehl zum Angriff der 4.
Armee zusammen. Dieser sollte wieder durch Abblasen von Gas eingeleitet
werden. Rücksicht auf die Lage beim Nachbarn forderten schnellen
Angriff, während ungünstiger Wind zwang, den Angriff bis zum 2.
Mai zu verschieben, nachdem es gelungen war, einen ernsten französischen
Angriff gegen die 52.
Reserve-Division abzuweisen. Am 2. hatte ohne Erfolg das XV. Armeekorps mit
Gas Höhe 60 angegriffen. Der Angriff des XXVI. Reservekorps, zu dem
auch das Nachbarkorps mitwirken sollte, brach bei böigem Winde
verfrüht los, so daß der rechte Flügel des XXVII. Reservekorps
nicht eingreifen konnte; die ungleichmäßig abgeblasene Gasmenge
war nicht stark genug für die zu groß gewählte
Sturmentfernung; auch war der Gegner sichtlich vorbereitet, besaß auch
bereits bessere Abwehrmittel als am 22. Doch gelang es der 51.
Reserve-Division, Vanheule Ferme und die ersten Häuser von Fortuin zu
nehmen, noch am Abend ging indessen Vanheule Ferme wieder verloren. Die 52.
Reserve-Division bereitete einen Angriff auf die Stellung von Vlameringhe Ferme
vor. Der Angriff wurde nicht weitergeführt, ein angesetzter Nachtangriff
des Reserve-Infanterie-Regiments 234 eingestellt, die Truppe grub sich ein. Der
rechte Flügel des XXVII. Reservekorps war erheblich zurück, so
daß das Matrosen-Regiment 5 in diese Lücke eingeschoben werden
mußte. Das Generalkommando gewann den Eindruck, daß die
feindliche Stellung sehr stark befestigt und durch tiefe Hindernisse
geschützt sei; es plante einen neuen Gasangriff, zu dessen Vorbereitung
aber vier Tage erforderlich waren. Die Entfernung vom Feinde betrug 100 bis
150 m.
Wieder war der Angriff zum Stehen gekommen, die notdürftig verpflegte
Truppe war am Ende ihrer Kräfte. Die Kompagnien der 51.
Reserve-Division zählten durchschnittlich nur noch 90 Mann. Am Morgen
des 4. kam vom linken Flügel des XXVII. Reservekorps die unerwartete
Nachricht, daß der Feind seine [265] Stellungen zu
räumen beginne; bald wurde auch von anderen Stellen die gleiche
Beobachtung gemeldet. Die Linie
Fortuin - Brodseinde - Klein Zillebeke in 15 km Breite
wurde von den Engländern aufgegeben. "Es waren seit lange nicht mehr
gesehene Bilder des Bewegungskrieges, als unsere Schützenlinien, von
geschlossenen Abteilungen gefolgt, die flandrische Landschaft belebten, lange
Artillerie- und Munitionskolonnen im Trabe nachgezogen wurden und Reserven
in grünen Wiesen und verlassenen englischen Stellungen lagen.
Überall in dem vernichteten Landstrich waren die gewaltigen Wirkungen
unserer Kampfmittel zu sehen. Im westlichen und mittleren Abschnitt ihrer
Nordfront, wie in den westlichen Teilen ihrer Südfront behaupteten die
Verbündeten ihre Stellungen mit zähem Widerstand, um den
Rückzug der übrigen Teile zu decken. Diese setzten sich erneut in
der ungefähren Linie 700 m südwestlich Fortuin, Frezenberg,
Eksternest, Ostrand des Waldes von Zillebeke fest. Das vom Gegner behauptete
Gebiet westlich des Kanals, das bei Beginn der Kämpfe am 22. April eine
Frontbreite von 25 km und eine Tiefe von 9 km hatte, ist auf
13 km Breite und 5 km Tiefe zusammengeschrumpft."20
Der deutsche Angriff schritt wider Erwarten sehr langsam vorwärts. Die
Bewegung hatte beim XXVII. Reservekorps begonnen, sie durchschritt den
Polygon-Wald, nahm Zonnebeke, dann Nonneboschen; immer mehr erkannte
man, daß es sich bei Frezenberg und Eksternest keineswegs um Nachhuten,
sondern um eine vordere Stellung des Feindes handelte, hinter der die
Hauptkräfte bereitstanden. Der deutsche Angriff kam zum Stehen.
Ähnlich war es auch beim XXVI. Reservekorps. Die 51.
Reserve-Division nahm noch einmal Vanheule Ferme. Als der Tag zu Ende ging,
erkannte man, daß die neue Stellung erst nach starker Artillerievorbereitung
genommen werden konnte. Diese begann am Morgen des 5. und wurde auch in
den nächsten Tagen weiter fortgesetzt. Das XV. Armeekorps meldete
Fortschritte auf der heiß umstrittenen Höhe 60. Vor dem XXVI.
Reservekorps erkannte man immer mehr das von einem 3 m breiten
Wassergraben umgebene Schloß Wieltje als mächtigen
Stützpunkt, gegen den starkes Mörserfeuer vereinigt wurde; trotzdem
scheiterten am 6. und 7. zwei Handstreiche. Am 8. konnte dann endlich ein
Angriff ausgeführt werden; der größte Druck sollte gelegt
werden auf Frezenberg, das XV. Armeekorps sollte in dem Raum zwischen den
Seen von Bellewarde und Zillebeke vordringen. Zunächst wurden
Fortschritte gemacht. Das XV. Armeekorps setzte sich auf der Höhe 50,
östlich Hooge, fest, mußte sich aber mit dem Besitz dieser
Höhe begnügen. Auch das nördlich anschließende
XXVII. Reservekorps kam vorwärts. Der Feind nahm den Sturm nicht an,
sondern wich in eine vorbereitete Stellung zurück, so daß die
deutsche Infanterie Frezenberg und Verlorenhoek, dann auch Eksternest erreichen
konnte. Auch das XXVI. Reservekorps kam vorwärts, nahm Höhe 28
bei Frezenberg, setzte sich auf Höhe 33,
nörd- [266] lich Verlorenhoek, fest;
aber von Vlaminghe Ferme vorgehend, konnte es keine Fortschritte gegen
Schloß Wieltje machen. Am 9. mußte das
Armee-Oberkommando zur Sparsamkeit im Munitionsverbrauch mahnen;
trotzdem ging der Kampf in erbittertem Feuerkampf weiter; eine Entscheidung
fiel noch nicht. Beim XXVI. Reservekorps steigerte sich der Kampf um
Schloß Wieltje zur größten Heftigkeit, wohl wurde der
Stützpunkt genommen, aber gleich wieder verloren; ein großer, von
Wieltje und Potyze ausgehender Gegenangriff, der erst in Frezenberg abgewiesen
wurde, drängte die 4. Armee in die Verteidigung und zwang das XXVII.
Reservekorps sogar, in seine am 8. genommenen Stellungen
zurückzuweichen; nur das XV. Armeekorps hielt aus.
Die nächsten Tage brachten eine weitere Fortsetzung des Kampfes; ein
für den 13. geplanter größerer Angriff mußte eingestellt
werden. In empfindlicher Weise machte sich der Munitionsmangel geltend; aber
die zugesagte Munition mußte den seit dem 9. Mai bei der 6. Armee um
La Bassée und Loos entbrannten Kämpfen zugeführt
werden. Auch Truppen mußten an die 6. Armee abgegeben werden, so
Reserve-Infanterie-Regiment 202 und 38.
Landwehr-Brigade. Aber auch das Ruhebedürfnis der Truppen der 4.
Armee machte sich immer mehr geltend; die 37.
Landwehr-Brigade mußte durch einen Teil der Armeereserve (96.
Reserve-Infanterie-Brigade) abgelöst und die 2.
Reserve-Ersatz-Brigade (General v. Basedow) zurückgenommen
werden. Besonders machte sich die Überanstrengung fühlbar beim
XXVI. Reservekorps.21
Endlich am 24. wurde ein erneuter Angriff gemacht, der nach deutschen Berichten
ohne großen Erfolg war, während die Engländer von einer
geradezu vernichtenden Wirkung berichteten. Das Gas traf die neu eingesetzte 1.
und 3. britische
Kavallerie-Division.22 Am Nachmittag konnte die 51.
Reserve-Division Schoß Wieltje und die westlich gelegene "Wasserburg"
nehmen. Damit war die Truppe am Ende ihrer Kräfte.
Am Abend des 24. Mai traf der Befehl des
Armee-Oberkommando ein, daß von größeren
Offensivoperationen Abstand genommen werden müsse. Die
Kämpfe schliefen ein. Auch die Engländer bedurften der Ruhe; ihre
Aufmerksamkeit war auf das Schlachtfeld im Artois gerichtet, die Stellungen an
der Yser bedurften des Ausbaues. Doch ließen Nahkämpfe und
Minensprengungen auf beiden Seiten nicht nach.
Auch die Kämpfe beim XXIII. Reservekorps waren zum Abschluß
[267] gekommen, indem in
der Nacht vom 16. zum 17. Mai das Westufer aufgegeben wurde. Die Verluste der
Truppe, namentlich an Offizieren, waren sehr schwer gewesen. Im Juni wurden
französische Truppen für Verwendung im Artois
zurückgenommen. Die Engländer dehnten ihren linken Flügel
bis nach Boesinghe aus. Ein Versuch, am 2. bei Hooge durchzubrechen, wurde
abgewiesen; am 16. Juli ging noch einmal das V. englische Korps bei Hooge zum
Angriff vor, konnte aber nur geringe Fortschritte machen; eine englische
Minensprengung am 19. Juli an der gleichen Stelle hatte nur einen örtlichen
Erfolg.
Beim XV. Armeekorps wurde es im Juni besonders lebhaft, die Verluste waren
bei einzelnen Truppenteilen recht empfindlich. Das
Infanterie-Regiment 112, das bei Hooge focht, hatte seit dem 4. Mai an Toten und
Verwundeten verloren 41 Offz., 1624 Mann und 72 Vermißte. Ein schon
mehrfach geplantes Unternehmen fand am 30. Juli mit gutem Erfolg durch Teile
des Infanterie-Regiments 126 bei Hooge mit Flammenwerfern statt. Eine weitere
Ausdehnung des Angriffs lag nicht mehr im Sinne der Führung.
Die neu genommene Linie hatte etwa folgenden Verlauf: Der nördliche Teil
der Stellung der 4. Armee verlief fast ebenso wie vor der Schlacht, folgte bis etwa
8 km oberhalb Boesinghe dem Laufe des
Ypern-Kanals und sprang dann ganz erheblich vor bis auf die Höhen
östlich Ypern, so daß jeder Versuch der Alliierten, bei Ypern zum
Angriff vorzugehen, erschwert war. Der linke Flügel der 4. Armee war
vorgeschoben und gewann den Anschluß an in Richtung auf den
Kemmelberg im Wytschaete-Bogen vorspringende Teile der 6. Armee. Ein
schöner Erfolg war erreicht, aber die Entscheidung hätte wohl mit
der 6. Armee auf dem Kemmelberg gesucht werden müssen. Diesen
Gedanken hatte sich die französische Führung zu eigen gemacht; sie
suchte einen Erfolg jetzt in der Richtung von La Bassée und Artois.
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