SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

Kapitel 4: Der Feldzug im Westen
bis Mitte September 1914
  (Forts.)

Oberstleutnant Paul Krall

4. Verfolgungskämpfe in der Zeit vom 1. bis 5. September 1914.

Beurteilung der Lage bei der englisch-französischen Heeresleitung und Maßnahmen des französisch-englisch-belgischen Heeres in dieser Zeitspanne.

Die feindlichen Führer sahen die Lage ihrer Armeen in diesen Tagen in recht trübem Licht.

Der Befehlshaber der englischen Armee hatte dem französischen Generalissimus am 29. August keinen Zweifel darüber gelassen, daß seine Armee in den nächsten Tagen kampfunfähig sei. Der Kommandierende General des englischen II. Armeekorps schlug sogar allen Ernstes vor, die englische Armee wieder einzuschiffen und nach Hause zurückzuführen. French lehnte zwar den Plan ab, ließ sich aber nur mit Mühe und nur durch persönliches Eingreifen Kitcheners bestimmen, nicht aus der gemeinsamen Front auszuscheiden, sondern die Lücke zwischen der französischen 5. und 6. Armee auszufüllen. Bei der sich drastisch hervorhebenden Überlegenheit der deutschen Armeen an Siegeswillen der Truppen, an strategischem Können, taktischem Geschick und artilleristischer Kraft erkannte Joffre, daß die Anwendung kleiner Aushilfen nicht mehr am Platz sei. Es blieb nur ein Mittel: sich großzügig vom Feinde abzusetzen, weit rückwärts eine neue Aufmarschlinie zu suchen, um, wenn auch spät, in ihr die Freiheit des Handelns wiederzugewinnen.

[207] Dieser Entschluß mußte schwerwiegende Folgen nicht nur auf militärischem, sondern auch auf politischem Gebiete zeitigen. Er mußte das Vertrauen des Volkes und der Regierung in die militärische Führung auf eine harte Probe stellen. Kurze Zeit schien die Lage tatsächlich auch krisenhaft; die Regierung ging in der Nacht vom 3./4. September nach Bordeaux; man stand vor der Frage, ob man den Krieg weiterführen oder Verhandlungen anknüpfen sollte. Da griff England mit fester Hand ein. Der englischen Regierung wurde klar, daß die Existenz des britischen Weltreiches auf dem Spiele stand; mit gewohnter Rücksichtslosigkeit und Zähigkeit mischte sie sich nun auch in die militärische Führung des Krieges. Alle Kräfte des Riesenreiches wurden in seinen Dienst gestellt, Frankreich mit stärkster Drohung durch den Vertrag, keinen Sonderfrieden zu schließen, fest an England gekettet. Eine neue französische Regierung der nationalen Verteidigung wurde gebildet, das Volk zum Widerstand à outrance aufgepeitscht, der Feldzug auf neuer Grundlage wieder aufgenommen.

General Joffre führte in den Tagen vom 1. bis 5. September die englische Armee an den französischen westlichen Heeresflügel hinter die Marne und Seine zurück. Hinter diesen starken Flußabschnitten sollte das verbündete Heer, mit seinen Flügeln an die Befestigungen von Paris und Verdun - Epinal angelehnt, sich neu gliedern, alle irgend erreichbaren Verstärkungen heranziehen und sich zur Gegenoffensive bereitstellen. Der englischen Armee wurde als Versammlungsraum die Gegend südöstlich Paris angewiesen; hier war sie, was sehr nötig war, zunächst der feindlichen Einwirkung entzogen. Die Armee Maunoury wurde, erheblich verstärkt, im Bereich der Lagerfestung Paris bereitgestellt. Die neue Kampffront des englisch-französischen Heeres erhielt durch diese, an den Flügeln gegen jede Umfassung gesicherte Aufstellung eine große Stärke. Daß die Deutschen zur Umgehung des französischen linken Heeresflügels, westlich um Paris herumgreifend, ausholen würden, war nicht zu erwarten; taten sie es trotzdem, so mußten sich in der so übermäßig ausgedehnten deutschen Heeresfront dünne Stellen, Lücken und somit Gelegenheit zum frontalen Durchbruch bieten. Im äußersten Notfalle blieb es Joffre immer noch möglich, noch weiter nach Süden über die Seine auszuweichen.


Kämpfe und Bewegungen bei den deutschen Armeen.

7. und 6. Armee in der Zeit vom 1. bis 13. September.

Die durch Weisung der Obersten Heeresleitung vom 28. August befohlene Fortsetzung der Offensive gegen die Linie Nancy - Epinal (siehe Seite 173) konnte ohne neuen Kräftezuwachs nicht durchgeführt werden. Dieser Befehl, den Angriff fortzusetzen, entsprach den Anträgen des Oberkommandos Kronprinz Rupprecht; er bedeutete aber eine völlige Abkehr vom Operationsplan. Durch ihn verzichtete die Heeresleitung auf die Abbeförderung von Teilen der 6. und 7. Armee nach dem rechten Heeresflügel. Er ist unter dem Eindruck der großen, [208] überall errungenen Siege gefaßt worden. Die Notwendigkeit, auch weiterhin die Kräfte der französischen 1. und 2. Armee zu fesseln und von einer Verschiebung nach Westen abzuhalten, bestand zweifellos auch jetzt noch. Aber der Befehl, den Mosel-Übergang zu erzwingen, ging über diesen Zweck weit hinaus. Auch die der 6. Armee zugeführten schweren Batterien und Belagerungsformationen genügten nicht, um den Erfolg sicherzustellen.

Der Trugschluß lag vor allem wohl in der zu großen Erwartung auf die Wirkung der deutschen schweren und schwersten Artillerie. Nach den Erfolgen vor Lüttich und Namur hatte die Annahme Wurzel gefaßt, daß auch die französischen Befestigungen von Nancy den schweren Belagerungsgeschützen nicht lange standhalten würden. Leider erfüllte sich diese Hoffnung nicht; die vielfach in den Fels gehauenen, äußerst tief versenkten Hohlbauten der nach ganz anderen Grundsätzen erbauten Werke von Nancy haben, wie später die von Verdun - selbst von den 42-cm-Mörsern nicht kampfunfähig geschossen werden können. Die Zahl der für diese Front noch verfügbaren schweren Geschütze war zu gering. Die Angriffe, die in den ersten Septembertagen auf allen Teilen der Front der 6. und 7. Armee ausgeführt wurden, gewannen trotz schwerer Verluste der deutschen Infanterie nur ganz geringen Raum. Es wurde nicht einmal die Schußstellung für die Belagerungsartillerie gegen die vorgeschobenen Werke von Nancy erreicht. Die Franzosen verdankten diesen Erfolg ihrer starken Festungsartillerie mit ihrem äußerst genauen Feuer und der gewaltigen Munitionsmenge, die sie im Gegensatz zu der deutschen Artillerie aufwenden konnten. Die Hingebung, mit der die Korps der 6. und 7. Armee den Angriff geführt haben, war hervorragend; es ist bedauerlich, daß ihnen der Erfolg versagt bleiben mußte.

Noch am 3. September bestand bei dem Armeeoberkommando 6 und der Obersten Heeresleitung der Eindruck, daß der Feind noch in voller Stärke gegenüberstände. Tatsächlich haben auch die Franzosen erst an diesem Tage mit dem Abtransport, und zwar des XV. und XXI. Armeekorps, begonnen. Der Umstand, daß der Angriff der Armeen des Kronprinzen Rupprecht keinen Raum gewann, sowie die Nachricht von der Abbeförderung französischer Kräfte nach dem Westen führten bei der Obersten Heeresleitung jetzt zu einem Umschwung in der Beurteilung der Lage. Der Angriff der 6. und 7. Armee wurde angehalten. Am 5. September begann das Herausziehen und anschließend der Abtransport des Armeeoberkommandos 7, der 7. Kavallerie-Division, des XV. und I. bayerischen Armeekorps in Richtung St. Quentin. Da sich in den nächsten Tagen die Notwendigkeit herausstellte, noch weitere Kräfte diesen ersten Korps folgen zu lassen, befahl die Oberste Heeresleitung auf der ganzen Front ein Zurückgehen bis an die Grenze. Allmählich zogen sich die verbliebenen Reste der beiden Armeen hinter die Seille und anschließend auf den Vogesen-Kamm am Donon und südlich desselben zurück.


[209] 5. Armee (1. bis 5. September).

Schon am 31. August war durch Weisung der Obersten Heeresleitung der 3. und 4. deutschen Armee aufgegeben worden, "durch unaufhaltsames Vorgehen nach Süden der schwer um den Maas-Übergang kämpfenden 5. Armee zu Hilfe zu eilen". Die Wirkung blieb nicht aus. Der Gegner wich am 1. September und gestattete der 5. Armee das Westufer der Maas zu ersteigen. Das V. Reservekorps und die Hauptreserve Metz deckten auf dem Ostufer der Maas die rückwärtigen Verbindungen und wiesen Ausfälle aus Verdun blutig zurück. Im Anschluß an den linken Flügel der 4. Armee, der über Busancy auf Sommerance vorging, schwenkte nunmehr die Armee des Deutschen Kronprinzen nach Süden und nahm die Verfolgung des Gegners auf. Am 2. September stieß die Armee westlich und östlich Montfaucon auf eine befestigte Feldstellung, die unverzüglich vom VI. Reservekorps und XVI. Armeekorps angegriffen wurde. Am 3. September war der Gegner geworfen. - Während das VI. Reservekorps, dem die Abschließung der Nordwestfront von Verdun übertragen wurde, in Gegend Montfaucon verblieb, gelangte der Rest der Armee am 4. September abends bis in die Linie St. Menehould - Clermont - Aubréville.

Am 5. September erreichte der rechte Flügel - die Argonnen durchschreitend - Triaucourt (15 Kilometer südlich Clermont); immer länger zogen sich die in weitem Bogen um Verdun herumlaufenden Verbindungslinien der Armee und forderten in steigendem Maße die Abgabe starker Deckungstruppen.

Ein Versuch, Verdun von Westen her durch Überfall zu nehmen, wurde trotz sonst günstiger Vorbedingungen nicht unternommen, weil hierzu die verbliebenen Kräfte nicht ausreichten.


4. Armee.

Die von der Obersten Heeresleitung am 28. August für die 4. Armee festgesetzte Marschrichtung nach Südwesten auf Reims - Epernay änderte sich durch die befohlene Unterstützung der 5. Armee in eine mehr südliche. Durch unaufhaltsames Vorgehen mit der 3. Armee sollte der 5. Armee der Maas-Übergang erleichtert werden. Am 1. September wurde zur Verfolgung angetreten, mit rechtem Flügel über Semuy - westlich an Vouziers vorbei - Somme Py (2. September) - Suippes - Courtifols (4. September), mit linkem Armeeflügel über Busancy - Grand Pré (2. September) - Vienne le Château - westlich St. Menehould (4. September) auf Givry en Argonnes. Unter Nachhutgefechten wurde am 4. September über die Linie Courtifols - Courtémont die Verfolgung fortgesetzt und am 5. September mit Anfängen die Linie Vitry le Francois - St. Mard (15 Kilometer nordwestlich Revigny) erreicht.


3. Armee.

Wenn es auch der 3. Armee am 31. August gelungen war, mit der 23. Reserve-Division und dem XII. Armeekorps die Aisne zu überschreiten, so hielt doch [210] der Gegner ihrem XIX. Armeekorps gegenüber nördlich dieses Flusses noch zähe Stand. Die 2. Armee teilte mit, daß sie erst am 1. September abends mit linkem Flügel Marle erreichen wolle; sie war also noch weit zurück; auch die 4. Armee erklärte, den linken Flügel der 3. Armee bei seinen weiteren Versuchen, die Aisne zu überwinden, nicht sofort unterstützen zu können, da sie selbst das Nachziehen und den Einsatz von schwerer Artillerie zur Durchführung des eigenen Überganges über die Aisne abwarten wolle. Der unter dem Einfluß dieser Nachrichten gefaßte Plan, der ununterbrochen marschierenden und kämpfenden Armee am 1. September einen Ruhetag zu gönnen, mußte aber trotzdem fallengelassen werden, da die am 1. September früh eintreffende Weidung der Obersten Heeresleitung erneut "unverzügliches, rücksichtsloses Fortsetzen des Angriffs der 3. Armee in südöstlicher Richtung für unbedingt geboten" bezeichnete, da hiervon der Erfolg des Tages, d. h. die Maasüberschreitung der 5. Armee, anhänge. Daraufhin wurde sofortiger Angriff in allgemein südöstlicher Richtung befohlen. Er brachte der 23. Reserve-Division heftige Kämpfe am Retourne-Abschnitt, so daß sie abends bereits bei Bergnicourt - Le Châtelet - Tagnon zur Ruhe übergehen mußte. Vom XII. Armeekorps kam die 32. Infanterie-Division bis La Neuville, die 23. Infanterie-Division bis Machault. Überraschenderweise wich der Gegner vor dem XIX. Armeekorps kampflos zurück, so daß dieses Korps über Attigny am Abend Semilde erreichen konnte.

Der Abend des 2. September sah die 3. Armee in Linie Isles - Pont Favarger - Nauroi - Dontrien - Ste. Marie à Py; das VIII. Armeekorps (4. Armee) erreichte Somme Py. Der linke Flügel der 2. Armee ging auf Pontavert (westlich Berry au Bac).

Auch der 3. September forderte weitere Verfolgung; nach Möglichkeit sollte die Vesle überschritten und Vortruppen an die Marne vorgeschoben werden. Während die 23. Reserve-Division die Nordost-, Ost- und Südostfront vom Reims beobachten sollte, erhielt das XII. Armeekorps den Marne-Abschnitt von Tours sur Marne bis Aulnay, das XIX. Armeekorps anschließend bis Châlons als Ziel zugewiesen. Durch den geringen Widerstand wurde immer klarer, daß der Gegner vor der Front der 3. und 2. Armee in vollem Rückzug war, nur mit Nachhuten kämpfte; Flieger meldeten, daß zahlreiche Truppen mit der Bahn nach Süden und südlich der Marne nach Westen abbefördert wurden. Die Verhältnisse östlich und südlich Reims ließen vermuten, daß die Franzosen auf eine Verteidigung der Festung verzichten würden. Das Armeeoberkommando 3 befahl daher am Abend des 3. September der 23. Reserve-Division, Reims zu besetzen. Dies geschah in der Nacht vom 3. zum 4. September.

Infolge hartnäckigen Widerstandes der feindlichen Nachhuten, gelang es dem XII. und XIX. Armeekorps erst im Laufe des 4. September, die Marne von Tours bis Châlons sur Marne zu erreichen und die Brücken - unversehrt - in Besitz zu nehmen. Die 23. Reserve-Division ließ eine schwache gemischte Ab- [211] teilung in Reims zurück und gelangte bis Villers Allerand, die 24. Reserve-Division, die nach Wegnahme von Givet der Armee nachmarschierte, am 4. September abends bis Chaumont Porcien, nordwestlich Rethel.

Am 5. September gönnte das Armeeoberkommando 3 seinen Divisionen endlich einen Ruhetag; nur Kavallerie mit Artillerie klärte südlich der Marne auf. Fliegermeldungen besagten, daß der Gegner sich in vollem Rückzuge hinter die Aube befände.


2 und 1. Armee.

1. September.

Die Ereignisse bei der 2. und 1. Armee und die Maßnahmen der beiden Armeen in den ersten Septembertagen hängen auf das engste zusammen und übten gegenseitig den stärksten Einfluß aufeinander aus.

Die 2. Armee hatte am 31. August nach Abschluß der Schlacht von St. Quentin einen Ruhetag eingeschoben; die 1. Armee erreichte an diesem Tage die Linie: Ailly - Mareuil, mit vorgeschobenem Ostflügel (III. und IX. Armeekorps) die Aisne bei Attichy - Vic und Bezaponin - Champs, der Höhere Kavalleriekommandeur 2 Attichy.

Am 1. September sollten von der 2. Armee das VII. Armeekorps und X. Reservekorps, mit Unterstützung des IX. und III. Armeekorps der 1. Armee, la Fère angreifen, das X. und Gardekorps bis Mittag den Serre-Abschnitt von Crécy bis Marle erreichen. Als gegen Mittag erkannt wurde, daß la Fère geräumt war, wurde ungesäumt der Weitermarsch der 2. Armee auf Laon und die Besetzung dieser Festung noch am selben Tage befohlen. Der Höhere Kavalleriekommandeur 1 sollte über Soissons gegen Château-Thierry - Reims vorgehen.

Zu einer teilweisen Abänderung dieses Befehls wurde das Armeeoberkommando 2 durch eine am 1. September nachmittags eingehende Weisung der Obersten Heeresleitung gezwungen, daß die 2. Armee mit ihrem linken Flügel noch an diesem Tagen den rechten Flügel der 3. Armee, die mit 4. und 5. Armee zusammen in schwerem Kampfe stehe, in Richtung Château Porcien zu unterstützen habe. Mit diesem Auftrage wurden das Gardekorps und X. Armeekorps betraut, die bis Sissonne - Lappion (Garde) und Gigny - Marchais (X. Armeekorps) marschierend, je eine verstärkte Kavallerieabteilung bis Banogne und Villers devant la Tour zur Entlastung des rechten Flügels der 3. Armee zu entsenden hatten. Als dann am frühen Abend die Nachricht eintraf, daß der Gegner vor der 3. Armee im Rückzug sei, die 3. Armee mit rechtem Flügel bis Aussonce verfolge und zugleich die Räumung Laons bestätig wurde, wurde die ganze 2. Armee noch weiter, nun in ausgesprochen südlicher Richtung vorgeworfen: VII. Armeekorps in Richtung Soissons - Venizel, X. Reservekorps auf Vailly und Chavonne; X. und Gardekorps sollten noch in der Nacht vom 1./2. September die Aisne-Übergänge bei Bourg et Comin - Oeuilly und Maizy - Pontavert in Besitz nehmen.

[212] Auch die 1. Armee setzte am 1. September die Verfolgung fort. Nach heftigen Nachhutkämpfen mit der englischen Armee gelangten II., IV., III. und IX. Armeekorps bis zur Linie Verberie - St. Sauveur - Crépy en Valois - Villers Cotterets - Longpont. Der Höhere Kavalleriekommandeur 2, der das II. Armeekorps in seinen Kämpfen bei Verberie unterstützt hatte, erreichte nach einem glücklichen Überfall auf feindliche Biwaks bei Néry, dann aber verlustreichem Gefecht bei Rosières (4. Kavallerie-Division) sein Marschziel Nanteuil an diesem Abend nicht. Das IV. Reservekorps, dem weiter der Schutz der rechten Armeeflanke oblag, kam bis Quinquempoix. Die gesamte englische Armee - drei Armeekorps und eine Kavallerie-Division - stand scheinbar noch dicht vor der Front der 1. Armee.

Immer wieder erregen die Marschleistungen des rechten Flügels Bewunderung; das IV. Armeekorps legte am 1. September eine Entfernung von über 40 Kilometern Luftlinie zurück.


2. September.

Der 2. September brachte die rastlos verfolgende 2. Armee über Aisne und Vesle hinaus bis in die Linie Noyant - Cuiry - Housse - Chéry - Poilly; das Gardekorps wurde beauftragt, Reims - gegebenenfalls durch Beschießung - zur Übergabe zu zwingen.

Die 1. Armee befahl für den 2. September den Angriff auf den gegenüberstehenden Feind. Leider konnte auch diesmal wieder die Masse des englischen Heeres infolge ihres beschleunigten Rückzuges nicht zum Kampf gestellt werden. Nur dem II. Armeekorps gelang es, mit Unterstützung des Höheren Kavalleriekommandeurs 2 eine französische Infanterie- und die englische Kavallerie-Division östlich Senlis zu schlagen und in südwestlicher Richtung zu verfolgen. Es wurde aber klar, daß die englische Armee selbst nicht mehr zu fassen war. General v. Kluck billigte daher den vom Kommandierenden General IX. Armeekorps selbständig gefaßten Entschluß, unter Ausnutzung des erzielten Vorsprungs mit den östlichen Korps (IX. und III.) über Château-Thierry dem vor dem westlichen Flügel der 2. Armee weichenden Gegner in die Flanke zu stoßen. Ungeachtet dieser selbst gestellten Aufgabe fühlte sich die 1. Armee, durch ihre in sich nach rechts rückwärts gestaffelte Gliederung befähigt, auch die englische Armee in Schach zu halten sowie die Heeresflanke gegen Paris zu decken. Abgesehen von zurückgehenden Kolonnen vor der Front der 2. und 1. Armee meldeten Flieger den Abzug des Feindes südwestlich Beauvais in Richtung Gisors; so trat auch in der rechten Flanke Entlastung ein.

Von der 1. Armee erreichten am 2. September abends: IV. Reservekorps Creil, II. Armeekorps Pontarmé - Montaby, IV. Armeekorps den Therouanne-Bach südlich Ognes, sowie Rosoy, III. Armeekorps Autheuil en Valois und La Ferté Milon, das ½ IX. Armeekorps setzte sich nach einem Gewaltmarsch und nach blutigem Kampf in Besitz der Marne-Brücken von Chézy und Château-Thierry, [213] die 17. Infanterie-Division kam bis Oulchy la Ville. Dem Höheren Kavalleriekommandeur 2 wurde aufgegeben, auf dem rechten Armeeflügel zu bleiben und gegen die Linie Beauvais - Paris - Marne oberhalb von Paris aufzuklären.


3. September.

Auch der 3. September brachte der 2. Armee rastlose Verfolgungsmärsche. Im Einverständnis mit der Obersten Heeresleitung wurde den Korps befohlen, noch am Abend die Marne-Übergänge zwischen Château-Thierry und Damery zu gewinnen. Die Ziele wurden erreicht, die Marne-Brücken unversehrt gefunden. Ein in der Nacht vom 2. zum 3. September eintreffender Funkspruch brachte aber Weisungen der Obersten Heeresleitung, die eine völlige Abänderung der bisherigen Absichten in sich schlossen. Der Befehl, daß die 1. Armee westlich der Oise gegen die Seine unterhalb Paris marschieren solle, wurde fallengelassen; die neue Weisung lautete dahin, daß anzustreben sei, die Franzosen in südöstlicher Richtung von Paris abzudrängen; 1. Armee habe gestaffelt der 2. Armee zu folgen und weiterhin den Flankenschutz des Heeres zu übernehmen. Infolge des vorauseilenden Entschlusses der 1. Armee, in Ausnutzung ihres Vorsprungs vor der 2. Armee mit dem IX. und III. Armeekorps in südöstlicher Richtung zum Angriff gegen den vor der 2. Armee zurückweichenden Gegner vorzugehen, war der Befehl der Rückwärtsstaffelung seitens der 1. Armee nicht mehr ausführbar; vielmehr hatte sich der linke Flügel der 1. Armee vor den rechten Flügel der 2. Armee geschoben. So dankbar auch der Entschluß der 1. Armee, zu helfen, von der 2. Armee anerkannt wurde, so wurde anderseits durch diese Linksschiebung die 2. Armee in eine von ihr als falsch erachtete Richtung gedrängt.

Für den 3. September hatte Generaloberst v. Kluck dem linken Armeeflügel die Fortführung des Angriffs über Château-Thierry aufgegeben; das IV. Armeekorps sollte in Gegend Crouy, das II. Armeekorps in Gegend Nanteuil, IV. Reservekorps östlich und nordöstlich Senlis rücken unter Sicherungen in Linie Creil - Wald südlich Chantilly. Die schon erwähnte, in der Nacht vom 2. zum 3. September eintreffende Weisung der Obersten Heeresleitung, die Franzosen nach Südosten von Paris abzudrängen, indes die 1. Armee der 2. gestaffelt folgen solle, stellte das Armeeoberkommando vor schwerwiegende Entschlüsse. Bei der Gruppierung der Armeen zueinander: 1. Armee um einen Tagemarsch vor der 2. Armee vorwärtsgestaffelt, schloß die eine Forderung der Obersten Heeresleitung-Weisung die andere aus. Für das Gelingen des Planes "Abdrängen der Franzosen nach Südosten" war die Vorwärtsstaffelung der 1. Armee nicht nur günstig, sondern sogar direkt geboten; die Befolgung des Befehls: Rückwärtsstaffelung hinter der 2. Armee hätte ein Stehenbleiben der 1. Armee für den 3. und 4. September bedingt - eine Maßnahme, durch die die Fühlungnahme mit dem Feinde vollkommen verloren gehen mußte und durch die dem Gegner die ihm bisher entrissene Freiheit des Handelns wiedergegeben wurde. Damit wäre auch das [214] Abdrängen nach Südosten unmöglich geworden. Deshalb glaubte Generaloberst v. Kluck durchaus im Sinne der Weisung der Obersten Heeresleitung zu handeln, wenn er mit der linken Armeehälfte die Verfolgung über die Marne fortsetzte, zum Schutz der rechten Flanke der eigenen Armee und des ganzen Heeres das II. Armeekorps und IV. Reservekorps mit einer Kavallerie-Division rückwärts über Nanteuil bis Senlis - Creil staffelte und durch Heranziehen der im Etappendienst stehenden Armeeteile den Staffelungsflügel nach Möglichkeit zu verstärken suchte. Bei genügender Luftaufklärung glaubte das Armeeoberkommando 1 vor Überraschungen aus westlicher und südwestlicher Richtung sicher zu sein.

Immerhin war sich Generaloberst v. Kluck darüber klar, daß bei der Tiefe der Flanke der Armee und des Heeres, sowie der Ausdehnung der Etappenlinien eine ausgiebigere Sicherung der rechten Heeresflanke dringend wünschenswert war. Sollten die Operationen der 1. Armee in den nächsten Tagen noch erheblich weiter nach Südosten führen, so war die Zuführung einer Staffel von etwa zwei Armeekorps hinter den rechten Heeresflügel eine zwingende Notwendigkeit, auch wenn man die Kampfkraft der Besatzung von Paris nicht hoch bewertete. Die Einschätzung der Gefahr einer ernsthaften Flankenbedrohung hing eng mit der Beurteilung der Lage auf der ganzen Heeresfront zusammen; bisher hatte das Armeeoberkommando 1, gestützt auf die von der 1. und 2. Armee errungenen Erfolge, ferner auf Grund der besonders optimistischen Auffassung der Lage seitens des Oberbefehlshabers der 2. Armee und der von der Obersten Heeresleitung eingehenden Nachrichten angenommen, daß auf der ganzen deutschen Heeresfront der Feind geschlagen sei, scharf verfolgt werde und daher zu Verschiebungen namhafter Kräfte nicht in der Lage sei. Da aber von der 3., 4. und 5. Armee zwischendurch auch wieder dringende funkentelegraphische Bitten um Unterstützung mitgehört worden waren, erschien die hoffnungsfrohe Auffassung nicht durchaus gerechtfertigt. Das Armeeoberkommando 1 bat daher am 4. September früh bei der Obersten Heeresleitung um klare Mitteilung über die Lage bei den anderen Armeen, schilderte seine, von der Weisung der Obersten Heeresleitung abweichende Auffassung und wies auf die Notwendigkeit hin, dem rechten Heeresflügel baldigst Verstärkungen zuzuführen; denn "notwendiger Flankenschutz schwäche Offensivkraft".

Unabhängig von diesen Erwägungen erkämpfte sich am 3. September das IX. Armeekorps die Höhen südlich Château-Thierry, das III. und IV. Armeekorps erreichten die Marne von Charly bis La Ferté sous Jouarre; II. Armeekorps und IV. Reservekorps deckten in den ihnen aufgegebenen Stellungen bei Nanteuil und Senlis - Creil die rechte Armeeflanke.


4. September.

Am 4. September gelangte die 2. Armee ohne größere Kämpfe in die befohlene Linie: Pargny la Dhuis - Verdon (VII. Armeekorps) - Le Breuil [215] (X. Reservekorps) - Mareuil en Brie - Ablois St. Martin (X. Armeekorps) - Epernay (Gardekorps). An diesem Tage kam es zu einem bedauerlichen Zwischenfall, indem die 2. Garde-Infanterie-Division, mit der Wegnahme von Reims betraut, die Stadt mit Artillerie beschoß, weil die von ihr entsandten Unterhändler aus der Festung nicht zurückgekehrt waren; von der in der Nacht vom 3. zum 4. erfolgten Besetzung der Stadt durch die sächsische 23. Reserve-Division war der 2. Garde-Infanterie-Division nichts bekannt geworden. Sobald das Mißverständnis geklärt worden war, zog das Gardekorps seine Division noch am 4. September bis Damery heran.

Entsprechend seiner Auffassung, daß - unter Staffelung des rechten Flügels - die Masse der 1. Armee zum Abdrängen der Franzosen nach Südosten weiter marschieren müsse, wurde dem IV., III. und IX. Armeekorps befohlen, am 4. September den Petit Morin zu überschreiten und die allgemeine Linie Doue - Rebais (IV. Armeekorps) - St. Barthélémy - Montolivet (III. Armeekorps) - Montmirail (IX. Armeekorps) zu erreichen. Das II. Armeekorps folgte bis Gegend Trilport an Straße Meaux - La Ferté sous Jouarre über die Marne, IV. Reservekorps bis Nanteuil und östlich. Die in Brüssel als Sicherheitsbesatzung belassene Brigade des IV. Reservekorps sollte am 5. September Compiègne erreichen. Der Höhere Kavalleriekommandeur 2 wurde mit zwei Kavallerie-Divisionen nach La Ferté sous Jouarre gezogen; die 4. Kavallerie-Division, dem IV. Reservekorps unterstellt, sollte gegen die Nord- und Nordostfront von Paris sichern und Bahnzerstörungen im Norden, Nordwesten und Westen der Lagerfestung vornehmen. Auch an diesem Tage ging der Gegner ohne stärkeren Widerstand aus der Linie Montmirail - Coulommiers weiter nach Süden zurück.


5. September.

Auch für den 5. September wurde vom Armeeoberkommando 1 Fortsetzung des Vormarsches über den Grand Morin angeordnet: IX., III., IV. und II. Armeekorps sollten die Linie Esternay - Sancy - Choisy - westlich Coulommiers erreichen, IV. Reservekorps mit 4. Kavallerie-Division in Gegend nördlich Meaux verbleiben, der Höhere Kavalleriekommandeur 2 in Richtung Provins vorstoßen. Diese Bewegungen waren im Gange, als am 5. September früh folgende Weisung der Obersten Heeresleitung eintraf: "1. und 2. Armee verbleiben gegenüber der Ostfront von Paris; 1. Armee zwischen Oise und Marne, nimmt Marne-Übergänge westlich Château-Thierry, 2. Armee zwischen Marne und Seine, nimmt Seine-Übergänge zwischen Nogent und Méry einschließlich in Besitz, 3. Armee hat Marschrichtung Troyes und östlich."

Hätte die 1. Armee diese Weisung einige Tage früher erhalten, so würde sie ihre Absicht, zur Umfassung und Abdrängung des Feindes in südöstlicher Richtung im Vormarsch auf den Grand Morin zu bleiben, voraussichtlich nicht durchgeführt haben. Aus der jetzt eingegangenen Weisung ging hervor, daß die [216] Oberste Heeresleitung die Bedrohung des rechten deutschen Heeresflügels und der Westflanke für ernsthafter ansah, als dies bisher beim Armeeoberkommando 1 angenommen wurde. Letzteres hielt sich aber am Morgen des 5. September für berechtigt und verpflichtet, die für diesen Tag befohlenen und begonnenen Bewegungen bei der Masse der Armee auslaufen zu lassen; nur dem IV. Reservekorps und dem Höheren Kavalleriekommandeur 2 wurde befohlen, am 5. September nicht über die Gegend nördlich Meaux und über die Straße Rosoy - Beton Bazoches vorzugehen. Durch den Weitermarsch der Hauptmasse der 1. Armee über den Grand Morin, im Verein mit der 2. Armee, sollte zunächst der Gegner zum Rückzug hinter die Seine veranlaßt werden. Ein Stehenbleiben der 1. Armee oder ihr unverzügliches Zurückmarschieren in den Raum zwischen Oise und Marne noch am 5. September würde nach Ansicht des Armeeoberkommandos 1 zur Folge gehabt haben, daß der vor der 1. Armee weichende Gegner sofort haltgemacht und in seinen Entschlüssen frei geworden sein würde. Dies mußte so lange als möglich verhindert werden. Am 6. September wollte das Armeeoberkommando 1 dann die Rückwärtsschwenkung der Armee in den befohlenen Raum durchführen. Die Marschziele der 1. Armee (II., IV., III., IX. Armeekorps) für den 5. September abends: westlich Coulommiers - Choisy - Sancy - Esternay wurden, teilweise unter Kämpfen, erreicht; der Höhere Kavalleriekommandeur 2 machte bereits in der Gegend westlich Beton Bazoches halt.

Erst die am Abend des 5. September eintreffende ausführliche Weisung der Obersten Heeresleitung brachte endlich Klarheit über die Lage auf der ganzen Heeresfront. Danach war der Abtransport feindlicher Kräfte aus der Front Belfort - Toul, sowie aus den Fronten gegenüber der deutschen 5., 4. und 3. Armee nach Westen mit Sicherheit erkannt; mit der Zusammenziehung stärkerer, feindlicher Kräfte zum Schutz der Hauptstadt und Bedrohung der rechten Heeresflanke aus Paris heraus müsse deshalb gerechnet werden. Die Ausführungen, die der Abgesandte der Obersten Heeresleitung, der sächsische Oberstleutnant im Generalstabe Hentsch, über die allgemeine Lage machte, ließen zur großen Überraschung des Armeeoberkommandos erkennen, daß die bisherigen Kämpfe auf den übrigen Teilen der Heeresfront durchaus nicht immer so verlaufen waren, wie das Armeeoberkommando bisher angenommen hatte, daß vielmehr die 7., 6. und 5. Armee vor den französischen Ostfestungen festlagen und der Feind vor allem aus dieser Gegend stärkere Kräfte mit der Bahn nach Paris und auf seinen linken Flügel abbefördere.

Diese Nachrichten mußten die Auffassung der Lage beim Armeeoberkommando 1 völlig ändern. Die Wahrscheinlichkeit, daß dem rechten Armeeflügel und der Heeresflanke Gefahr drohe, wuchs. Die Meldungen, die am späten Abend des 5. September vom IV. Reservekorps einliefen, bestärkten das Armeeoberkommando nur in seiner neuen Anschauung.

Dem IV. Reservekorps war schon am 4. September das Auftreten feind- [217] licher Kräfte bei Dommartin und südlich gemeldet worden. Bisher war es ohne größere Mühe dem Zusammenwirken der rechten Flügelkorps mit dem Höheren Kavalleriekommandeur 2 gelungen, die in der rechten Armeeflanke auftretenden französischen Kräfte (Gruppe d'Amade, Teile der Armee Maunoury) zu schlagen und zu zersprengen. So sah das IV. Reservekorps zunächst die Kräfte bei Dommartin und neue, kleinere, am 5. September früh in die Gegend zwischen Meaux und St. Soupplets vorrückende Kolonnen als Schutzabteilungen der Festung Paris an, die der deutschen Heereskavallerie den Einblick in den Festungsraum verwehren sollten.

Immerhin bedurfte die Lage in der rechten Armeeflanke bei dem weiter andauernden Vormarsch der 1. Armee über den Grand Morin dringend der Klärung; das Mittel, diese zu schaffen, sah der Kommandierende General des IV. Reservekorps, General v. Gronau, richtigerweise im Angriff mit allen seinen ihm zur Verfügung stehenden Truppen (IV. Reservekorps ohne eine Infanterie-Brigade und 4. Kavallerie-Division). Der Angriff stieß im Raum zwischen St. Soupplets und westlich Penchard (nördlich Meaux) auf erhebliche französische Kräfte, mindestens zweieinhalb Divisionen mit starker, schwerer Artillerie. Auch die 4. Kavallerie-Division kämpfte erbittert in Gegend Ognes - Brégy; auf beiden Kampfplätzen wurden die französischen Verbände zurückgedrängt. Um aber nicht in den Geschützbereich der Festung Paris zu gelangen, oder auf seinem rechten Flügel umgangen zu werden, hielt General v. Gronau die Verfolgung seines IV. Reservekorps bald an und befahl bei Eintritt der Dunkelheit hinter den Therouanne-Bach-Abschnitt in Linie La Ramé - Gué à Tresmes zurückzugehen. Der Feind störte diese Bewegung nicht, drängte auch nicht nach. Somit war der erste, ernsthaft zu nehmende Vorstoß des Gegners aus dem Bereich der Festung Paris gegen die deutsche rechte Heeresflanke siegreich abgewehrt. Er deutete aber auf weitere Kämpfe.

Als das Armeeoberkommando 2 am 4. September abends von der Absicht der 1. Armee erfuhr, auch am 5. September in ihrer Vorwärtsstaffelung in südöstlicher Richtung weiterzumarschieren, beschloß es, besonders da auch die 3. Armee noch weit vom Ostflügel der 2. Armee entfernt war, in Anbetracht der ungeklärten Lage am 5. September nur einen kurzen Marsch bis in die Linie Montmirail - Vertus auszuführen. Die neuen, am Morgen des 5. September eintreffenden Weisungen der Obersten Heeresleitung, die der 2. Armee die Deckung gegen Paris im Raume zwischen Marne und Seine anwiesen, rechtfertigten das abwartende Verhalten; nur die östlichen Korps wurden noch etwas weiter nach Süden geschoben, so daß am Nachmittag des 5. September die 2. Armee in Linie Montmirail - Morains le Petit stand. Am nächsten Tage sollte, um die Front gegen Paris zu gewinnen, die Schwenkung um den rechten Flügel weiter fortgesetzt werden; Voraussetzung war aber, daß die 1. Armee die Gegend südlich der Marne räumen, vor allem ihren Ostflügel, mit dem sie vor den [218] rechten Flügel der 2. Armee geraten war, nach Nordwesten verschieben würde. Tatsächlich marschierte aber die 1. Armee weiter südwärts und erreichte am Abend dieses Tages das südliche Ufer des Grand Morin, linker Flügel Esternay. Die Gesamtlage des rechten Flügels des deutschen Heeres hatte damit eine andere Gestalt angenommen, als es die Oberste Heeresleitung wollte.


Rückblick.

Auch in dem Zeitabschnitt vom 1. bis 5. September war das deutsche Heer vom Erfolg begleitet; es war großer Geländegewinn - diesmal sogar ohne blutige Schlachten - erreicht. Was vor vier Wochen wohl nur wenige zu hoffen gewagt, war eingetreten: das deutsche Heer stand vor Paris, auf fast allen Armeefronten war der Feind in vollem Rückzuge! Vorteilhaft erschien aber trotzdem die Lage des deutschen Westheeres nicht: endlos erstreckten sich die Etappenlinien durch Belgien zum Rhein, nur schwach gesichert; nur mühsam regelte sich der Nachschub an Munition auf den wenigen, wieder in Betrieb gesetzten Bahnlinien, soweit diese bisher hatten wiederhergestellt werden können. Den durch Gefechts- und Marschverlust stark geschwächten Truppen Mannschaftsersatz zuzuführen, war noch nicht gelungen; immer geringer wurden die Gefechtsstärken; unheildrohend lag die Lagerfestung Paris in der rechten Heeresflanke, lagen die großen Waldungen östlich und südlich von Paris vor der deutschen 1. Armee.

Der Kampf des IV. Reservekorps am 5. September hatte blitzartig die Gefahr der Lage gezeigt. Die Auffassung der Obersten Heeresleitung, es könne gelingen, ohne Berücksichtigung von Paris durch weiteren Vormarsch in südöstlicher Richtung den Feind von Paris abzudrängen, hatte sich als irrig herausgestellt. Der deutsche rechte Heeresflügel war nicht mehr in der Lage, dauernd zu umfassen - er schien selbst umfaßt. Diese Annahme wurde bestätigt durch die am 5. September abends eintreffende Weisung der Obersten Heeresleitung. Ihr Wortlaut schildert die Auffassung der Obersten Heeresleitung an diesem Tage von der Lage des deutschen Heeres und des Gegners; die anschließenden Befehle bilden die Grundlage, auf der sich deutscherseits die Entscheidungsschlacht vom 6. bis 10. September aufbaute:

      "Der Gegner hat sich dem umfassend angesetzten Angriff der 1. und 2. Armee entzogen und mit Teilen den Anschluß an Paris erreicht. Meldungen und andere Nachrichten lassen ferner den Schluß zu, daß der Feind aus der Linie Toul - Belfort Truppen nach Westen befördert, sowie, daß er vor der Front der 3. bis 5. Armee ebenfalls Armeeteile herauszieht. Ein Abdrängen des gesamten französischen Heeres gegen die Schweizer Grenze in südöstlicher Richtung ist somit nicht mehr möglich. Es muß vielmehr damit gerechnet werden, daß der Feind zum Schutze der Hauptstadt und zur Bedrohung der deutschen rechten Heeresflanke stärkere Kräfte in der Gegend von Paris zusammenzieht und Neubildungen heranführt. - Die 1. und 2. Armee müssen [219] daher gegenüber der Ostfront von Paris verbleiben. Ihre Aufgabe ist es, feindlichen Unternehmungen aus der Gegend von Paris offensiv entgegenzutreten und sich hierbei gegenseitig zu unterstützen. - Die 4. und 5. Armee sind noch in Berührung mit stärkerem Feind. Sie müssen versuchen, ihn dauernd nach Südosten zu drängen. Dadurch wird auch der 6. Armee der Weg über die Mosel zwischen Toul und Epinal geöffnet. Ob es hier im Verein mit der 6. und 7. Armee gelingen wird, nennenswerte Teile des Gegners gegen das Schweizer Gebiet abzudrängen, ist noch nicht zu übersehen. - Aufgabe der 6. und 7. Armee bleibt zunächst die Fesselung der vor ihrer Front befindlichen Kräfte. Es ist sobald als möglich zum Angriff gegen die Mosel zwischen Toul und Epinal unter Sicherung gegen diese Festungen vorzugehen. Die 3. Armee nimmt die Marschrichtung auf Troyes - Vendeuvres. Je nach der Lage wird sie zur Unterstützung der 1. und 2. Armee über die Seine in westlicher Richtung oder zur Beteiligung an dem Kampf unseres linken Heeresflügels in südlicher oder südöstlicher Richtung verwendet werden.
    Seine Majestät befehlen daher:
    1. Die 1. und 2. Armee verbleiben gegenüber der Ostfront von Paris, um feindlichen Unternehmungen aus Paris offensiv entgegenzutreten. 1. Armee zwischen Oise und Marne, 2. Armee zwischen Marne und Seine, der Höhere Kavalleriekommandeur 2 bei der 1., der Höhere Kavalleriekommandeur 1 bei der 2. Armee.
    2. Die 3. Armee hat auf Troyes - Vendeuvres vorzugehen.
    3. Die 4. und 5. Armee haben durch unentwegtes Vorgehen in südöstlicher Richtung der 6. und 7. Armee den Übergang über die obere Mosel zu öffnen. Rechter Flügel der 4. Armee über Vitry, rechter Flügel der 5. Armee über Revigny. Der Höhere Kavalleriekommandeur 4 klärt vor der Front der 4. und 5. Armee auf.
    4. Aufgabe der 6. und 7. Armee bleibt unverändert."

Die Auffassung der Obersten Heeresleitung über die Lage beim Feinde entsprach im Allgemeinen der Wirklichkeit. Ihre Weisungen an die Armeen waren aber auf dem rechten Heeresflügel durch die Ereignisse bereits überholt; von dem linken Heeresflügel forderten sie Aufgaben, die er nicht mehr erfüllen konnte.

Immerhin war dem rechten Heeresflügel jetzt ein klarer Befehl erteilt: Aufgeben der Verfolgung, Einnehmen einer Abwehrstellung gegen Paris, Offensive gegen alle Unternehmungen aus dieser Festung heraus. Aber er fußte auf falscher Grundlage! Die 1. Armee stand nicht mehr zwischen Oise und Marne, sondern südlich letzteren Flusses, und nicht rückwärts, sondern vorwärts gestaffelt zur 2. Armee. Ihre Aufstellung war die Folge der in der Nacht vom 2. zum 3. September erteilten Weisung, den Feind in südöstlicher Richtung von Paris abzudrängen. Über die Lage auf dem linken deutschen Heeresflügel war sie nicht [220] unterrichtet und hatte es daher für ausgeschlossen gehalten, daß Truppenverschiebungen in größerem Umfange vom französischen rechten nach dem linken Flügel und Paris stattfinden konnten. Hätte sie hiervon am 3. September Kenntnis gehabt, so wäre für sie ein Überschreiten der Marne mit Massen nicht in Frage gekommen.

Die Maßnahmen der 2. Armee hatten der Ansicht der Obersten Heeresleitung mehr entsprochen. Die kurze Vorwärtsbewegung am 5. September trug bereits dieser Auffassung Rechnung, ermöglichte sie doch eine Schwenkung rechts, um dem später eintreffenden Befehl der Obersten Heeresleitung, zwischen Marne und Seine Front gegen Paris zu nehmen, nachzukommen.

Die Lage der 3. Armee wurde durch die neubefohlenen Bewegungen schwierig. Durch das Einschwenken der 1. und 2. Armee mit der Front nach Südwesten, der 4. und 5. Armee, wenn nötig, nach Südosten waren Lücken in der Gesamtschlachtfront unvermeidlich, die sowohl die Kraft des eigenen Angriffs lähmen als auch dem Gegner günstige Lagen zum Gegenangriff und Durchbruch bieten konnten. Die Fortnahme des XI. Armeekorps für den Osten machte sich jetzt besonders fühlbar. Der 3. Armee fiel auch durch den Befehl der Obersten Heeresleitung insofern die schwierigste Aufgabe zu, als sie ihr Verhalten nach der Lage der Nachbararmeen richten und je nach Bedarf der einen oder anderen zu Hilfe eilen sollte.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte