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Deutschland und der Korridor

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Die polnische Absage
F. W. von Oertzen

Die Aera vergeblicher deutscher Verständigungsbemühungen

Die diplomatische Terminologie kennt für das Verhältnis zwischen Staaten eine Reihe von Schattierungen, in der die Form der sogenannten korrekten Beziehungen ungefähr dem entspricht, was wir aus unseren Aufsatzzensuren seligen Angedenkens etwa mit der Nummer "kaum noch so eben in drei Klammern" kennen gelernt haben. Durch die Art, in der der neue polnische Staat entstanden ist, durch seine in Versailles nur ungenügend legalisierte Expansion und jene expansiven Eruptionen, die dem Versailler Diktat folgten, war das Verhältnis zu Deutschland von vornherein mit einer ganzen Zahl schwierigster Probleme und dauernder Konfliktsmöglichkeiten belastet. In den ersten zwölf Jahren nach 1919 blieben alle diese drohenden Fragen völlig in der Schwebe, und zwar einmal weil von der Warschauer Seite aus nicht das mindeste getan wurde, um auch nur einfachere Fragen zu bereinigen und etwa durch loyale Einhaltung der Versailler Minderheitenschutzbestimmungen Ansätze zu einer atmosphärischen Beruhigung zu schaffen, und zum andern weil die deutsche Außenpolitik in dieser Zeit zwar nach vielen Seiten hin Konzessionen über Konzessionen machte, in der Frage der Beziehungen zu Polen jedoch ein erstaunliches Rückgrat insofern bewies, als sie sich weigerte, in einer wie immer gearteten Form die polnischen Staatsgrenzen zu garantieren und damit diese Teile des Versailler Diktates noch einmal freiwillig zu bestätigen. Diese Tendenz fand zum ersten Mal ihren ganz deutlichen Ausdruck bei den Verhandlungen über den Abschluß des viel berufenen Locarno-Vertrages. Damals wurde sowohl von französischer wie auch von polnischer Seite der Versuch gemacht, Polen in das Vertragswerk zwischen Deutschland und den Westmächten unmittelbar einzubeziehen, ohne daß diese Versuche zu einem Erfolge führten. In den späteren Jahren tauchte dann im Anschluß an den sogenannten Kellogg-Pakt vom August 1928 verschiedentlich das Problem eines sogenannten Ost-Locarno auf, aber die deutsche Außenpolitik ließ sich hier nicht festlegen.

Trotz dieser Belastungen und Unklarheiten, die lange Jahre hindurch in wirtschaftlicher Beziehung noch durch einen deutsch-polnischen Zollkrieg verschärft wurden, blieb Deutschland für Polen auf dem Gebiete des Außenhandels stets ein sehr wesentlicher Faktor, und wenn es für die natürlichen Gegebenheiten auf diesem Gebiete noch eines Beweises bedurft hätte, so wäre er durch die Wirkungen erbracht worden, die sich auch in Polen sehr schnell und sehr traurig bemerkbar machten, als Deutschland nach 1929 immer tiefer in den Strudel einer tödlichen Wirtschaftskrise versank.

Die Folge dieses fortwährend gespannten deutsch-polnischen Verhältnisses war in Polen ein immer starrer werdendes Festhalten an der These von der allein selig machenden polnisch-französischen Freundschaft. Polen galt überall in der Welt neben der Tschecho-Slowakei als der getreueste Gefolgsmann aller Kreuz- und Querzüge der französischen Politik. Mochte es sich um den Ausbau des Systems französischer Militärbündnisse in Europa handeln, mochte es um die Probleme der Abrüstung vor dem Forum des Genfer Völkerbundes gehen oder mochten auch Fragen [292] zweiten und dritten Ranges auf der internationalen Tagesordnung stehen; immer schien die Warschauer Politik nur das getreue Echo der Töne zu sein, die von Paris in die Welt hinaus klangen.

Der Amtsvorgänger des derzeitigen polnischen Außenministers, August Zaleski, war zeitweise mehr in Paris als in Warschau, und mindestens jede Reise nach Genf wurde mit einem Umweg über Paris verbunden. Dieser Zustand galt in der internationalen Politik lange Zeit hindurch als eines jener feststehenden Fakten, mit denen man unter allen Umständen zu rechnen hat, und der Deutsche, der gelegentlich einmal in dieser Periode einen polnischen Politiker oder Diplomaten höflich darauf aufmerksam machte, daß eigentlich die polnische Geschichte voll von Beispielen dafür sei, daß Frankreich immer wieder die politischen Hoffnungen Polens bitter enttäuscht habe, der stieß mit solchen Reminiszenzen auf ein ebenso naives Unverständnis wie derjenige, der etwa den Franzosen hätte in die Erinnerung zurückrufen wollen, daß nicht die Deutschen sondern die Engländer die Jungfrau von Orleans verbrannt haben.

So wie die Dinge in Warschau nun einmal zu liegen schienen, erregte es daher ein ganz außerordentliches internationales Aufsehen, als im November 1932 ein Wechsel im polnischen Außenministerium eintrat. August Zaleski, der seit dem Jahre 1926, also seit dem Staatsstreich von Marschall Pilsudski, das Außenministerium inne gehabt hatte, verschwand ohne eigentlichen Grund in der Versenkung - jedenfalls war ein besonderer Anlaß nicht ohne weiteres zu erkennen. An seine Stelle trat der damals 38jährige Oberst Joseph Beck, der dem jüngeren Kreise der Legionäre der "Ersten Brigade" angehörte und seine politische Karriere im Jahre 1926 als Adjutant und Kabinettschef Pilsudskis begonnen und als Unterstaatssekretär im Ministerpräsidium und Vizeminister des Auswärtigen fortgesetzt hatte. Wenn der Wechsel im polnischen Außenministerium gegen Ende des Jahres 1932 überhaupt einen Sinn haben sollte, dann konnte es eigentlich nur der sein, daß der alternde Marschall vor seinem endgültigen Abtreten von der Bühne dieses Lebens noch einmal die Außenpolitik des neuen Polen selber in die Hand zu nehmen und in neue Bahnen zu lenken wünschte. Denn niemand konnte glauben, daß Joseph Beck vom Marschall eine Blankovollmacht auf dem Gebiete der Außenpolitik erhalten habe.

Eine polnische Außenpolitik, die von Pilsudski selber in stärkerem Umfange als bisher geführt wurde, konnte nicht ganz so aussehen wie die bisherige außenpolitische Linie Polens. Der Marschall war Zeit seines Lebens alles andere als ein Mann der Abhängigkeiten gewesen, und wenn er jetzt am Abend seines Lebens die außenpolitische Zügelführung seines Vaterlandes in die Hand nahm, dann durfte man als das Ziel eines derartigen Unternehmens die Lösung Polens aus den bislang gewohnten Abhängigkeiten erwarten.

Der Marschall hatte im Laufe der Jahre zwar sehr selten zu Fragen der Außenpolitik in der Öffentlichkeit das Wort genommen, aber es gab eine sehr bezeichnende Äußerung von ihm, die einmal in einer Rede auf der Jahrestagung der polnischen Legionäre gefallen war. "Man muß den Wert Polens unter seinen Nachbarn erhöhen. Man muß überall hoch spielen, niemals niedrig. Nur wer am höchsten spielt, kann am stärksten helfen."

Ein hohes Spiel war es zweifellos, das der alte Marschall nicht nur zu spielen sondern auch zu gewinnen hoffte. Die politische Abhängigkeit von Frankreich konnte eigentlich nur gelöst werden, wenn es gleichzeitig gelang, das Verhältnis Polens zu seinen beiden größten Nachbarn, Sowjetrußland und Deutschland, zu klären und zu bereinigen. Dabei war es von vornherein klar, daß Pilsudski nicht daran denken konnte, in ein irgendwie geartetes engeres [293] Freundschafts- oder Bündnisverhältnis zu Moskau zu treten. Ganz abgesehen davon, daß Polen mit seiner langen, auf weite Strecken ungeschützten Grenze gegen Sowjetrußland sich noch weit weniger als irgendein anderer Staat ohne Lebensgefahr den Einwirkungen der bolschewistischen Propaganda aussetzen konnte, war für Pilsudski schon auf Grund seiner eigenen Lebenserfahrungen Sowjetrußland doch immer Rußland; und der Marschall, der den größten Teil seines Lebens im aktiven Kampfe für die Freiheit seines Volkes in der Frontrichtung gegen Rußland gestanden hatte, wußte vielleicht besser als irgend jemand anderes, daß Rußland, ob sowjetisch oder nicht, stets eine Gefahr für Polen bleiben werde. Auf der anderen Seite schien es beinahe noch schwieriger, zu einer grundsätzlichen Klärung des polnischen Verhältnisses gegenüber Deutschland zu kommen. Jeder derartige Versuch, wenn er von polnischer Seite aus unternommen wurde, mußte eigentlich naturnotwendig all die Konflikte, die offen oder latent zwischen beiden Staaten schwebten, zu einer akuten Krisis aufflammen lassen, denn mancherlei Anzeichen hatten gerade in den letzten Monaten und Jahren vor dem Wechsel im polnischen Außenministerium der polnischen Politik gezeigt, daß die deutsche Öffentlichkeit - mochte sie auch sonst in einige dreißig Partien und Grüppchen zersplittert sein - in der polnischen Frage von einer merkwürdigen Einheitlichkeit der Auffassungen war.

Aber für Pilsudski, den Mann, der vor Jahrzehnten fast allein den aussichtslosen Kampf für Polens Freiheit gegen das russische Riesenreich aufgenommen hatte, gab es kein Unmöglich. Das wußte man, und deshalb war die interessierte Öffentlichkeit eigentlich gar nicht mehr besonders überrascht, als bald nach dem Ministerwechsel ziemlich sang- und klanglos die letzten französischen Militärinstrukteure aus Polen abreisten, und auch ein Pariser Besuch des neuen Außenministers Beck ließ trotz der betonten Herzlichkeit der Tischreden erkennen, daß Polen sich auch auf dem Gebiete der Außenpolitik nunmehr allmählich als mündig betrachten wollte.

Noch waren die Linien der neuen polnischen Außenpolitik in ihren Einzelheiten nicht klar zu erkennen, als die Verhältnisse in Deutschland durch den Umbruch des 30. Januar 1933 auf allen Gebieten eine grundlegende Veränderung erfuhren. In den ersten Februartagen des Jahres 1933 konnte man in Warschau den Eindruck haben, als ob die verantwortlichen Politiker und ein großer Teil der Öffentlichkeit den Atem anhielten. Was wird nun? Diese Frage wurde in den verschiedensten Variationen gestellt und in den verschiedensten Variationen beantwortet. Das neue nationalsozialistische Deutschland schien zunächst nicht der geeignete Gesprächspartner für Unterhaltungen über eine grundlegende Veränderung der deutsch-polnischen Beziehungen zu sein, und fast schien es so, als ob im Frühjahr 1933 der polnische Chauvinismus, dessen radikalster Vertreter stets die besonders deutschfeindlichen polnischen Nationaldemokraten gewesen waren, die Oberhand gewinnen werde, um mit einer gewaltsamen Aktion den von den zögernden Westmächten im Grunde ihres Herzens gewünschten Präventivkrieg gegen das Deutschland Adolf Hitlers in Gang zu bringen. Man mußte ernsthaft mit einer militärischen Eskapade Polens gegen Danzig rechnen, deren Folgen in der damaligen Situation gar nicht abzusehen gewesen wären. Da die Geheimarchive aus dieser Zeit noch jedem Einblick verschlossen sind, kann man kaum mit völliger Sicherheit sagen, weshalb diese Aktion im letzten Augenblicke unterblieb, aber man wird annehmen dürfen, daß es zu einem wesentlichen Teil innerpolitische Gründe waren, die die führenden Männer des Pilsudski-Regimes veranlaßten abzubremsen, weil sie nicht ihren schärfsten innerpolitischen Gegnern das Gesetz des Handelns überlassen wollten.

Noch war die Erregung über diese neue gefahrdrohende Komplikation im Verhältnis zwischen Polen und dem Deutschen Reiche nicht ganz verklungen, als von deutscher Seite ein [294] Fanfarenstoß ertönte, der plötzlich ganz neue Aspekte eröffnete. In seiner großen Rede im Berliner Sportpalast am 24. Oktober 1933 fand Adolf Hitler für das Verhältnis zwischen dem Dritten Reich und Polen die folgende Formulierung:

"Es gibt in Europa Deutsche. Es gibt in Europa Polen. Die beiden werden sich daran gewöhnen müssen, nebeneinander und miteinander zu leben und auszukommen. Weder können die Polen das deutsche Volk aus der europäischen Landkarte wegdenken, noch sind wir unverständig genug, um etwa die Polen wegdenken zu wollen. Wir wissen, beide sind da. Sie müssen miteinander leben."

Der neue Ton, der da von Berlin nach Warschau hinüberklang, wurde von Joseph Pilsudski sofort richtig verstanden. Ein neuer polnischer Botschafter wurde in der Person des bisherigen Direktors der Westabteilung im polnischen Außenministerium Lipski nach Berlin entsandt. Aus seiner Amtstätigkeit kannte Lipski die deutschen Verhältnisse recht genau, und außerdem bot sein enges Vertrauensverhältnis zum Außenminister und damit zum politischen Wollen des Marschalls auch für die maßgeblichen deutschen Stellen eine einigermaßen sichere Gewähr, daß man auf der polnischen Seite gesonnen sei, an die Probleme eines etwaigen deutsch-polnischen Ausgleichs mit Nachdruck und Ernst heranzutreten. In einer Reihe von Besprechungen zwischen dem Botschafter Lipski und dem damaligen deutschen Außenminister Freiherrn von Neurath in Berlin und zwischen dem polnischen Außenminister Beck und dem deutschen Botschafter in Warschau von Moltke wurden in den letzten Monaten des Jahres 1933 die Grundlagen für einen Vertrag geschaffen, der als vorläufig auf zehn Jahre befristeter deutsch-polnischer Nicht-Angriffsvertrag am 26. Januar 1934 veröffentlicht werden konnte. Seinem Wortlaut und seinem Sinne nach wollte und konnte dieser deutsch-polnische Vertrag nicht auf einen Schlag alle zwischen Deutschland und Polen in der Schwebe befindlichen großen politischen Probleme aus der Welt schaffen. Aber ebenso war er ganz unzweifelhaft zum mindesten von deutscher Seite aus dazu bestimmt, eine neue Atmosphäre zu ermöglichen, in der dann im Laufe der Zeit beim Kleineren beginnend und zum Größeren weiterschreitend die einzelnen Fragen einer Klärung entgegengeführt werden konnten.

Die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit dieses Vertrages wurde in der Weltöffentlichkeit sofort erkannt. Das Pariser Echo war außerordentlich unfreundlich, obschon durch den neuen deutsch-polnischen Vertrag das ältere und engere französisch-polnische Vertragsverhältnis gar nicht berührt wurde, denn ausdrücklich war in dem Vertrage vom 26. Januar 1934 gesagt worden, daß durch die neuen deutsch-polnischen Abmachungen früher getroffene vertragliche Verpflichtungen der beiden Vertragspartner nicht beeinträchtigt und berührt werden sollten. Schon das war von deutscher Seite ein außerordentlich weites Entgegenkommen, denn Deutschland hatte keinerlei Militärbündnisse, während das polnisch-französische Militärbündnis durch den Vorbehalt im deutsch-polnischen Vertrage ausdrücklich bestätigt wurde. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß das nationalsozialistische Deutschland gar nicht daran dachte, etwa Unfrieden zwischen Polen und seinen bisherigen Freunden stiften zu wollen, sondern daß es Adolf Hitler einzig und allein auf den Geist der Verständigung ankam, aus dem das deutsch-polnische Abkommen geboren worden war, so wäre er durch dieses deutsche Entgegenkommen erbracht worden.

In Warschau hielt man jedenfalls damals gewisse Gegenzüge der französischen Politik nicht für ausgeschlossen, und da Pilsudski die Neuregelung der deutsch-polnischen Beziehungen nicht mit einer Belastung des polnischen Verhältnisses zu Sowjetrußland zu bezahlen wünschte, [295] stattete noch im Laufe des Jahres 1934 Außenminister Beck einen Staatsbesuch in Moskau ab, der zwar den Abschluß des französisch-sowjetrussischen Militärbündnisses nicht mehr verhindern konnte, aber doch die eine für Polen wichtige Wirkung hatte, daß ausdrücklich antipolnische Spitzen diesem neuen Gliede des französischen Militärpaktsystems ferngehalten wurden.

Die deutsche Politik gegenüber Polen hatte durch den Vertrag vom Januar 1934 eine neue Blickrichtung erhalten, und mit jener Disziplin, die der nationalsozialistische Staat von jedem Deutschen fordert, schwenkte die deutsche Öffentlichkeit in die neu gewiesene Richtung ein. Der Führer hatte eine Entscheidung getroffen, und dieser Entscheidung hatte sich nicht nur jeder Deutsche zu fügen, sondern jeder Deutsche mußte es als seine Pflicht ansehen, auch für seinen Teil - mochte er so geringfügig sein wie er wollte - mitzuarbeiten an der Erreichung des von Adolf Hitler befohlenen Zieles. Und dieses Ziel war klar und deutlich ausgesprochen: Entgiftung der Atmosphäre, gegenseitiges Kennenlernen und gegenseitiges Verstehen, um von dieser Basis aus späterhin auch zu einer Regelung der unmittelbar politischen Fragen in freundschaftlichem Sinne kommen zu können.

In der deutschen Publizistik gab es vom Ende Januar 1934 an keine Angriffe mehr gegen Polen. Auf dem deutschen Büchermarkt erschienen eine Reihe von grundlegenden Werken, die das breite deutsche Publikum mit der Geschichte Polens und insbesondere mit der Person des Marschalls Pilsudski bekannt und vertraut machen sollten. Ein großer deutscher Verlag brachte in mehreren Bänden die erste deutsche Übersetzung der Werke und politischen Schriften Pilsudskis heraus. Deutsche Biographien von Polens großem Marschall erschienen.

Auf der anderen Seite der deutsch-polnischen Grenzpfähle war leider das Bild von vornherein nicht gleich günstig. Zwar befleißigte sich die regierungsoffiziöse polnische Presse einer gewissen Liebenswürdigkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, aber die publizistischen Organe der Oppositionsparteien auf der Linken und auf der Rechten taten nach einer ganz kurzen Anstandspause, als ob das deutsch-polnische Abkommen, obwohl es durch Spezialvereinbarungen über die Presse inzwischen ergänzt worden war, für sie nicht existiere. Die Regierungsstellen in Warschau ließen diesen Erscheinungen gegenüber die Zügel bald bedenklich schleifen. Gelegentlich wurde wohl einmal ein besonders gehässiger und perfider und persönlicher Angriff gegen Adolf Hitler mit einer Zeitungsbeschlagnahme oder einer gelinden gerichtlichen Bestrafung geahndet, aber im großen und ganzen war von dem Ernst und der Einheitlichkeit des Bemühens um eine Verständigung, wie sie auf deutscher Seite klar zutage traten, in Polen nicht allzu viel zu merken.

Immerhin konnte man bei einigem guten Willen während des ersten Jahres nach dem Abschluß des deutsch-polnischen Vertrages auch auf der polnischen Seite gewisse Anstrengungen für eine Verbesserung der Atmosphäre feststellen. Eine peinliche Ausnahme auf diesem Gebiete machte allerdings der oberschlesische Wojwode Grazynski, der nach wie vor seinen Vernichtungskampf gegen das deutsche Element in Ost-Oberschlesien fortsetzte, wenn er sich allerdings auch zunächst nicht mehr der früher so oft und leider mit Erfolg angewendeten Mittel des blutigen Terrors bediente. Wenn er jetzt das deutsche Volkstum in Ost-Oberschlesien treffen wollte, so wurden dazu nicht mehr die Haufen des Aufständischen Verbandes oder des Westmarkenvereines mit Messern und Knüppeln eingesetzt, sondern das Finanzamt, der Gerichtsvollzieher und das Arbeitsamt mußten diese Funktionen übernehmen. Männer wie der Erbprinz Pleß, die sich lange Jahre hindurch in Ost-Oberschlesien für die Erhaltung des Deutschtums eingesetzt und herumgeschlagen hatten, verschwanden nun ohne großes Aufsehen in polnischen [296] Gefängnissen, weil sie nicht in der Lage waren, die märchenhaften willkürlichen Forderungen einer übelwollenden polnischen Steuerbehörde zu begleichen; in Wirklichkeit natürlich deshalb, weil sie sich den immer wieder geäußerten Forderungen des Kattowitzer Wojwoden auf Entlassung ihrer volksdeutschen Angestellten und Arbeiter nicht hatten fügen wollen.

An den maßgeblichen Berliner Stellen sah man diese Erscheinungen mit ernster Sorge, und es ist vielleicht der erschütterndste Beweis für den festen Willen der deutschen Politik, dem Geiste des Vertrages von 1934 gerecht zu werden, daß all diese Schikanen und all diese offenkundigen Ungerechtigkeiten gegen das deutsche Volkstum im Raume des polnischen Staates zunächst mit Schweigen übergangen wurden. Es fehlte selbstverständlich nicht an freundschaftlichen diplomatischen Vorstellungen, aber derartigen Einflüssen gegenüber hatten die polnischen Chauvinisten schon seit vielen Jahren ein außerordentlich dickes Fell. Männer wie Herr Grazynski sahen, daß auf der deutschen Seite ernst gemacht wurde mit dem Bemühen um eine Veränderung der Stimmung und der Atmosphäre in Deutschland gegenüber Polen, und die Konsequenz, die sie daraus zogen, war die, daß ihr Weizen jetzt eigentlich am besten blühen müsse. Denn nun konnten sie, ohne
Der polnische Außenminister Oberst Beck beim britischen
Außenminister Lord Halifax am 3. April 1939
Nach dem Tode des Marschalls Pilsudski setzen sich die deutsch-feindlichen Kräfte in der polnischen Politik mehr und mehr durch. Sinn und Wortlaut des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes werden in der Minderheitenpolitik gegenüber der deutschen Volksgruppe in Polen und in der außenpolitischen Haltung des polnischen Staates durchbrochen. Polen reiht sich in die Front der Einkreisermächte gegen Deutschland ein. Oben: Der polnische Außenminister Oberst Beck beim britischen Außenminister Lord Halifax am 3. April 1939.
daß jeder ihrer Schritte in der großen Weltöffentlichkeit angeprangert wurde, im Dunkeln weiter arbeiten, und zehn Jahre sind - so mögen Grazynski und [297] seine Gesinnungsgenossen gerechnet haben - eine sehr lange Zeit. Vielleicht war es möglich, in dieser Zeitspanne das deutsche Element in Polen vollständig zu zermürben und ihm jede Existenzgrundlage zu entziehen. Dann mochten ruhig eines Tages die dummen Deutschen kommen und fragen, wo denn ihre deutschen Brüder in Ost-Oberschlesien, in Posen und in Westpreußen geblieben seien.

All diese Tendenzen verstärkten sich in bedenklicher Weise, bald nachdem Marschall Pilsudski am 12. Mai 1935 seine Augen geschlossen hatte. Solange er am Leben gewesen war, war wenigstens die große Linie einigermaßen gewahrt worden, sodaß man zum Beispiel die Hoffnung hegen konnte, daß die sogenannte Grenzzonen-Verordnung, durch die den oberen und mittleren Verwaltungsbehörden das Recht eingeräumt wurde, aus einer bestimmten strategisch wichtigen Zone des Grenzgebietes mißliebige Personen auf dem Verwaltungswege auszuweisen, nicht unbedingt zu einer tödlichen Waffe gegen die deutschen Bauern längs der polnisch-deutschen Grenze werden würde.

Wenn man für die deutsche Politik gegenüber Polen in den Jahren nach dem Tode Pilsudskis eine charakteristische Formulierung finden will, so kann man vielleicht sagen, daß die immer wieder bewiesene Zurückhaltung gegen polnische Entgleisungen und polnische Verstöße [298] gegen den Geist des deutsch-polnischen Abkommens als eine Art von ehrfürchtiger Reverenz gegenüber dem großen Toten aufgefaßt werden kann. Man wollte von deutscher Seite aus den Nachfolgern Pilsudskis, die ja zu seinen Lebzeiten seine engsten Mitarbeiter gewesen waren, jede Chance geben, um das Ziel zu erreichen, das der tote Marschall sich und ihnen gesteckt hatte: die Neu-Ordnung des deutsch-polnischen Verhältnisses auf der Grundlage gegenseitigen guten Willens und gegenseitigen Verständnisses.

Doch die Anforderungen, die an die Langmütigkeit der deutschen Politik und der deutschen öffentlichen Meinung gestellt wurden, wuchsen von Monat zu Monat. Am 14. Juli 1937 lief das auf fünfzehn Jahre befristete sogenannte Genfer Abkommen über das ehemalige oberschlesische Abstimmungsgebiet ab. Dieses Abkommen war im Jahre 1922 geschlossen worden, weil die widerrechtliche und sinnlose Zerreißung des einheitlichen oberschlesischen Wirtschaftsgebietes eine solche Unzahl von Unmöglichkeiten im Gefolge gehabt hatte, daß eine Sonderregelung notwendig war, wenn nicht das ganze unglückliche oberschlesische Land in einer Dauerkrise elend zugrundegehen sollte. Die Verhältnisse waren so unendlich kompliziert, daß man nicht nur dieses Abkommen mit seinen mehr als sechshundert umfänglichen Paragraphen hatte schaffen müssen sondern daß auch noch ein besonderer ständiger Völkerbundkommissar und ein mit einem holländischen
Die Mitte Europas im Jahre 1914
Die Mitte Europas im Jahre 1914
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Die Mitte Europas im Jahre 1939
Die Mitte Europas im Jahre 1939
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Vorsitzenden ausgestattetes deutsch-polnisches Schiedsgericht hatten eingesetzt werden müssen. All diese Einrichtungen und Vereinbarungen hatten zwar nicht vermocht, erträgliche Verhältnisse zu schaffen, aber sie hatten immerhin für die Dauer von fünfzehn Jahren ein gewisses Regulativ bilden können. Jetzt im Zuge der von deutscher Seite mit so viel Ernst betriebenen deutsch-polnischen Verständigung hätte Polen eine ungeheuer günstige Gelegenheit gehabt, auch seinerseits einmal an einem wirklich wichtigen und entscheidenden Punkte praktische Verständigungsbereitschaft zu beweisen. Von deutscher Seite wurde bei den Verhandlungen, die im Laufe des Jahres 1937 mit Polen geführt wurden, weitestes Entgegenkommen gegenüber allen berechtigten polnischen Ansprüchen an den Tag gelegt. Das gleiche von Polen zu behaupten, wäre leider eine blanke Vermessenheit. Die Warschauer Regierung betrachtete den Ablauf des Genfer Abkommens als eine günstige Gelegenheit, die letzten noch bestehenden Schutzbestimmungen für das deutsche Volkstum in Ost-Oberschlesien zu beseitigen und für seine Entdeutschungspolitik freie Bahn zu gewinnen. Das Abkommen, das nach monatelangen Besprechungen und Verhandlungen im Juli 1937 zustande kam, mußte in seinem Schlußabsatz feststellen, daß über eine ganze Anzahl von Fragen zwischen beiden Regierungen ein Einverständnis nicht habe erzielt werden können.

Unter diesen Umständen wurde es für die deutsche Politik zu einer immer dringlicheren Aufgabe, mit Polen über die weitere Behandlung der gegenseitigen Minderheiten zu einer grundsätzlichen Vereinbarung zu gelangen. Die Verhandlungen über das Genfer Abkommen hatten schon gezeigt, wie schwierig eine solche Vereinbarung zu erzielen sein werde. Aber trotz all dieser Erfahrungen und all dieser Schwierigkeiten machte man auf deutscher Seite noch einmal den Versuch, in ganz großzügiger Weise an den guten Willen Polens zu einer wirklichen Verständigung zu appellieren. Die Vereinbarung über die Behandlung der gegenseitigen Minderheiten, die auf dieser Basis im November 1937 zwischen Berlin und Warschau zustandekam, gab nur ganz allgemeine Richtlinien, eben weil man es über der Regelung der Einzelfragen nicht zu einem offenkundigen Bruch hatte kommen lassen wollen. Wieder wurde hier der polnischen Politik eine Gelegenheit geboten, den Geist des Vertrages von 1934 am Leben zu erhalten und Polen in einer Frage, in der das im nationalsozialistischen Deutschland so erfreu- [299] lich gewachsene Volkstumsgefühl besonders empfindlich sein mußte, Gelegenheit zu praktischer Verständigungsbereitschaft zu geben.

Auf deutscher Seite wurden im Zuge dieses Abkommens der polnischen Minderheit in den deutschen Reichsgrenzen eine ganze Reihe von fühlbaren Erleichterungen eingeräumt. Ein neues polnisches Gymnasium wurde geschaffen. Die polnischen Kultur-Organisationen erhielten die Förderung und Unterstützung amtlicher deutscher Stellen, und wenn man auf der polnischen Seite nach dem November 1937 auch nur fünfzig Prozent dessen für die deutsche Minderheit getan hätte, was man in Deutschland für die polnische Minderheit tat, dann wäre vielleicht nicht jenes immer bitterer werdende Gefühl der Enttäuschung in der deutschen Öffentlichkeit entstanden, das sich im Laufe der Zeit fühlbarer und fühlbarer machte. Denn mochten auch die deutschen Zeitungen in vorbildlicher politischer Disziplin noch immer zu all den direkten und indirekten polnischen Vertragsverletzungen schweigen, so waren doch die Bande des Volkstums und der persönlichen Beziehungen zwischen den Volksdeutschen in Polen und ihren Brüdern im Reiche viel zu eng, als daß nicht im Laufe der Zeit in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck hätte entstehen müssen, daß die Verständigungsbemühungen eigentlich nur noch eine sehr einseitige Angelegenheit seien.

Das Großdeutsche Jahr 1938 kam heran. Adolf Hitler führte die Ostmark heim und befreite dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche von zwanzigjähriger Fremdherrschaft. Und noch einmal bewies das Großdeutschland Adolf Hitlers Polen und der ganzen Welt, wie ernst es ihm damit war, Polen als osteuropäische Großmacht anzuerkennen. Gegen den kreischenden Widerspruch seiner französischen Freunde konnte sich Polen im Jahre 1938 unter den schützenden Fittichen Großdeutschlands aus dem zerfallenen tschecho-slowakischen Nationalitätenmosaik das wertvollste, von einer starken polnischen Bevölkerungsgruppe besiedelte Olsagebiet einverleiben. Die deutsche Politik deckte praktisch diese polnischen Ambitionen und bewies damit aufs neue ihren Willen zur Verständigung mit dem polnischen Staate. Die Quittung der Warschauer Politik für diese großzügige Geste Adolf Hitlers war bitter genug. Im Olsagebiet siedelten keineswegs nur Polen sondern auch viele Tausende von Deutschen. Zwanzig Jahre lang hatten diese deutschen Volksgenossen in hartem Kampf gegen das Prager Regime sich ihre Existenz erhalten können. Kaum herrschte der weiße polnische Adler in ihrer Heimat, als Tausende von ihnen flüchten mußten, weil ein Terrorregime einsetzte, gegen das die Unterdrückungsmethoden Prags ein Kinderspiel gewesen waren.

Oberst Beck vor einer antideutschen Kundebung in Warschau
Oberst Beck zeigt sich nach einer Sejmrede einer antideutschen Kundgebung in Warschau.
In allen deutschen Kreisen, die schon seit Jahren die Entwicklung der deutschen Verständigungsbemühungen gegenüber Polen sorgenvoll verfolgt hatten, wirkte das polnische Verhalten im Olsagebiet wie ein gewollter und bewußter Schlußstrich unter die Aera der deutsch-polnischen Verständigung. Dem Gefühl der deutschen Öffentlichkeit hätte es damals wahrscheinlich durchaus entsprochen, wenn von deutscher Seite ein geharnischter Protest und eine Kündigung des deutsch-polnischen Abkommens von 1934 erfolgt wäre. Aber da wo es um Frieden geht, da wo auch nur der Schimmer friedlicher Möglichkeiten sich auftut, hat es für Adolf Hitler Kleinlichkeit niemals gegeben. Noch war das deutsch-polnische Abkommen in Kraft. Noch galt seine Bestimmung, daß über alle zwischen Deutschland und Polen auftauchenden Fragen eine Aussprache ohne Anwendung von Waffengewalt möglich sein sollte. Und so tat der Führer den Schritt, der in der Geschichte des Bemühens um eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen vielleicht der weitestgehende gewesen ist: er trat an Warschau mit der Anregung heran, die deutsche Stadt Danzig dem Großdeutschen Reiche zurückzugeben und durch das Mittel eines [300] schmalen Korridors durch den
Oberst Beck läßt sich die britische 
Kriegsflotte zeigen
Oberst Beck läßt sich die britische Kriegsflotte zeigen.
ebenso widersinnigen wie breiten polnischen Korridor eine unbehinderte Verbindung zwischen Ostpreußen und dem Reiche zu schaffen. Dafür wollte er auf fünfundzwanzig Jahre die gesamten übrigen deutsch-polnischen Grenzen in ihrem derzeitigen Bestande garantieren. Nächst dem Verzicht auf Elsaß-Lothringen war dieses Angebot der deutschen Politik an Warschau wohl der großzügigste Verzicht, der jemals auf territorialem Gebiet von deutscher Seite aus angeboten worden ist.

Die Antwort Polens war bezeichnend nicht nur für die Kurzsichtigkeit der Nachfolger Pilsudskis sondern auch für die Bedenkenlosigkeit, mit der sie
Reichstagsrede am 28. April 1939
In seiner Reichstagsrede am 28. April 1939 schildert der Führer den Abfall der polnischen Politik von der Linie des deutsch-polnischen Paktes. Er gibt die Vorschläge bekannt, die er der polnischen Regierung für die Regelung der deutsch-polnischen Beziehungen gemacht hat, um die Hauptpunkte des Versailler Unrechts zu tilgen und damit eine freie und natürliche Fortentwicklung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsverhältnisses zu ermöglichen. Polen hat diese einmaligen Vorschläge abgelehnt.
aus Nervenschwäche die größte Chance des neuen polnischen Staates vertaten. Außenminister Joseph Beck floh vor Adolf Hitlers Angebot nach London und gab Polen damit in die Fänge der englischen Einkreisungspolitik ohne Rücksicht darauf, daß damit neue Abhängigkeiten eingegangen wurden, die weit drückender und weit gefährlicher werden mußten, als es die frühere Abhängigkeit von Paris jemals gewesen war. Mit der Flucht nach London und dem polnisch-englischen sogenannten Garantievertrage war naturgemäß dem deutsch-polnischen Vertrage von 1934 auch der letzte Boden entzogen worden. Am 28. April 1939 sah sich der Führer gezwungen, vor der Weltöffentlichkeit den Vertragsbruch Polens festzustellen und das deutsch-polnische Verständigungsabkommen von 1934 zu kündigen.

Wie immer auch sich die Verhältnisse gestalten mögen, Deutschland hat ein reines Gewissen. Von deutscher Seite aus ist alles und eigentlich sogar noch mehr getan worden, um für die Lösung der zwischen Deutschland und Polen schwebenden Fragen eine freundschaftliche Grundlage zu finden.


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