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I. Einführung: Deutsches Volk -
Grenzlanddeutschtum - Auslanddeutschtum

Seit der Zeit, da das deutsche Kaisertum des Mittelalters durch die Auswirkungen des landesfürstlichen Machtstrebens immer mehr geschwächt wurde, ist das Verhältnis von deutschem Staat zu deutschem Volkstum im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung allmählich zu einer solchen Bedeutung herangewachsen, daß es heute eines der lebenswichtigsten Probleme der deutschen Zukunft überhaupt bildet. Für keinen zweiten Staat der Erde mit Ausnahme Ungarns hat dieses Problem heute noch eine gleich schwerwiegende Bedeutung, seit durch den Ausgang des Weltkrieges die Nationalitätenstaaten Österreich-Ungarn und die Türkei zerschlagen und die von nichtrussischen Völkern besiedelten westlichen Grenzgebiete des ehemaligen russischen Reiches zu selbständigen Staatswesen gemacht wurden. Die politische Neugestaltung Europas, wie sie die Verträge von Versailles, St. Germain, Trianon und Sèvres schufen, war die Frucht des mit dem Liberalismus zusammen emporgewachsenen europäischen Nationalismus, war die Frucht einer Entwicklung, die an die Stelle dynastischer Einheit das Prinzip völkischer Einheit setzte und die politische Unabhängigkeit aller geschlossen siedelnden Völker forderte. Während früher die Siedlungsgebiete fast aller europäischen Völker auf mehrere Staaten verteilt waren, forderte dieser Nationalismus, daß die Siedlungsgrenzen mit den politischen Grenzen zusammenfallen sollten. Nicht mehr von der historisch-dynastischen Vergangenheit sollte die europäische Staatenbildung abhängen, sondern jedes Volk sollte selbst über seine staatliche Selbständigkeit oder die Zugehörigkeit zu einem anderen Staate entscheiden.

[6] Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson nahm diese Gedanken des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in die Grundsätze der neuen Organisation der Welt auf, die er vorzubereiten bestrebt war. In seiner Botschaft an den amerikanischen Kongreß vom 11. Februar 1918 erklärte er als Grundsätze des Weltfriedens: "daß Völker und Provinzen nicht von einer Staatsoberhoheit in eine andere herumgeschoben werden, als ob es sich lediglich um Gegenstände oder Steine in einem Spiel handelte...; daß jede Lösung einer Gebietsfrage, die durch diesen Krieg aufgeworfen wurde, im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerungen und nicht als Teil eines bloßen Ausgleichs oder Kompromisses der Ansprüche rivalisierender Staaten getroffen werden muß; daß alle klar umschriebenen nationalen Ansprüche die weitestgehende Befriedigung finden sollen, die ihnen zuteil werden kann, ohne neue oder die Verewigung alter Elemente von Zwist und Gegnerschaft, die den Frieden Europas und somit der ganzen Welt wahrscheinlich bald wieder stören würden, aufzunehmen."

Auch eine loyale Durchführung dieses Programms wäre sehr bald auf die große Schwierigkeit gestoßen, daß im Osten und Südosten Europas eine reinliche Scheidung der Nationalitäten sehr schwer möglich ist, weil überall die Siedlungsgebiete der Völker ineinander übergreifen und zwischen ihnen breite Streifen völkisch gemischter Siedlung liegen, in denen nationale Mehrheitsverhältnisse nur äußerst schwer festzustellen sind. Dazu kommt, daß gerade im Osten die völkische Sonderart keineswegs immer den Willen zu politischer Sonderung einschließt; die Masuren in Ostpreußen, die Kaschuben in Westpreußen, die Wasserpolen Oberschlesiens, alles Völker slawischen Stammes, waren ihrem politischen Willen nach durchaus Bürger des deutschen Staates und wollten es zum größten Teil bleiben.

Wenn so also die Verschiedenheit der völkischen Zugehörigkeit und des politische Willens ebenso wie die Verzahnung [7] und Verklammerung der Siedlungsgebiete von vornherein im Osten eine politische Neuordnung auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wesentlich erschwert hätten, so stellte sich doch bei den Verhandlungen in Paris sehr bald heraus, daß eine wirkliche Durchführung dieser Grundsätze auch gar nicht beabsichtigt war. Sie fanden nur dort Anwendung, wo sie sich gegen die Mittelmächte richteten, nicht aber dort, wo ihre Durchführung das Deutsche Reich gestärkt hätte oder wo gar die Siegermächte selbst oder ihre Vasallenstaaten von ihr betroffen worden wären. Wenn es sich darum handelte, an allen Grenzen des Deutschen Reiches Stücke aus dem Reichskörper herauszutrennen, um sie an Polen oder Dänemark oder die Tschechoslowakei zu geben, dann mußte das Nationalitätenprinzip zur Rechtfertigung dieser Annexionspolitik herhalten. Aber schon im Falle Elsaß-Lothringens mit seiner überwiegend deutschstämmigen Bevölkerung versagte es, und die Anwendbarkeit des zweiten Prinzips vom Selbstbestimmungsrecht der Völker durch die Durchführung einer Volksabstimmung in den ehemaligen Reichslanden zu erhärten, hat sich Frankreich wohlweislich gehütet. Und wenn gar die rein deutschen Gebiete des ehemaligen Österreich nun ihrerseits auf der Grundlage sowohl des Selbstbestimmungsrechts der Völker wie des Nationalitätenprinzips den Anschluß an das neue Deutsche Reich forderten, dann war es mit der Anerkennung dieser vor aller Welt so feierlich verkündeten Grundsätze vorbei, und Deutsch-Österreich, bei dem die nicht deutschstämmige Bevölkerung noch nicht einmal 5% der Gesamtbevölkerung ausmacht, mußte sich im Diktat von St. Germain ein ausdrückliches Verbot des Anschlusses an das Deutsche Reich gefallen lassen. Ja noch weiter ging die Nichtachtung, mit der sich die Friedensmacher von Versailles über die von ihnen selbst verkündeten Grundsätze hinwegsetzten: das rein deutsche Danzig wurde Polen zuliebe vom Reiche abgetrennt und gegen den ein- [8] mütigen Widerspruch der Bevölkerung zur "Freien Stadt" erklärt, das rein deutsche Eupen fiel an Belgien, und als in dem zum Abstimmungsgebiet erklärten Teil Oberschlesiens die Abstimmung vom März 1921 eine starke Mehrheit für Deutschland ergab, wurde trotzdem eine Teilung des Gebietes vorgenommen und der größere Teil mit etwa 300 000 Deutschen an Polen überantwortet.

Die Weltkriegssieger wußten wohl, warum sie solcher Art ihre eigenen Grundsätze zur Neuordnung der Welt "wie einen Fetzen Papier" zerrissen, sobald sie zu einer Stärkung Deutschlands geführt hätten; sie wußten wohl, daß Deutschland und Deutsches Reich nicht gleichbedeutend waren, daß weit über die Grenzen des kleindeutschen Reiches von 1871 hinaus deutsches Land sich erstreckte, von deutschen Menschen bewohnt, die jetzt, nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie, den Augenblick zum Anschluß an das Deutsche Reich gekommen sahen; sie wußten, daß diese Gewinne höher gewesen wären als die Verluste, die das Reich durch die Abtrennung seiner fremdstämmigen Bevölkerungsteile erlitten hätte. Nach der Volkszählung von 1910 wurden in Preußen an Menschen polnischer und dänischer Muttersprache und in Preußen und Elsaß-Lothringen an Menschen französischer Muttersprache gezählt:

    Polen 3 500 621
    Dänen 141 510
    Franzosen       214 996

    3 857 127
Es ergibt sich also eine Gesamtzahl von noch nicht einmal 4 Millionen Fremdstämmigen,1 die auf Grund des Wilson- [9] Programms überhaupt für eine Abtrennung vom Deutschen Reiche in Betracht gekommen wären. Dabei ist diese Zahl noch viel zu hoch gegriffen; denn einmal sind in ihr alle diejenigen Fremdstämmigen enthalten, die im Innern des Deutschen Reiches (allein im Ruhrgebiet wurden 1910 161 000 Polnischsprechende gezählt) oder in gemischtvölkischen Gebieten mit deutscher Mehrheit lebten. Ebenso sind alle diejenigen Fremdstämmigen in dieser Zahl enthalten, deren politischer Wille auf ein Verbleiben beim Reiche ging; daß ihre Zahl beträchtlich war, hat die Volksabstimmung in Oberschlesien bewiesen, bei der ein erheblicher Teil der polnischsprachigen Bevölkerung für Deutschland gestimmt hat. Wir werden also annehmen können, daß die fremdstämmige Bevölkerung, die das Deutsche Reich bei loyaler Durchführung des Wilson-Programms verloren hätte, sich äußerstenfalls auf etwa 3 Millionen belaufen hätte.

Betrachten wir nun auf der anderen Seite die Gewinne, die dem Reich hätten zufallen müssen! Es handelt sich dabei so gut wie ausschließlich um die deutsche Bevölkerung des ehemaligen Österreich, soweit diese dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet angehört.2 Bei dieser ergeben sich folgende Bevölkerungszahlen, wenn wir kleine Randgebiete, wie die Grenzgebiete Südslawiens und den ungarischen Teil des Burgenlandes, außer acht lassen:

    Heutiges Deutsch-Österreich etwa 6 300 000
    Böhmen, Mähren und Schlesien etwa       3 500 000
    Südtirol etwa 250 000

    10 050 000
Nun ist freilich zu berücksichtigen, daß auch diese Zahl deshalb zu hoch ist, weil in ihr die außerhalb des geschlossenen [10] Sprachgebiets, in Sprachinseln3 also, und in gemischtvölkischen Gebieten mit fremdvölkischer Mehrheit lebenden Deutschen mit enthalten sind. Dagegen fällt der andere oben aufgestellte einschränkende Gesichtspunkt fast völlig fort; von dieser ganzen Masse deutscher Bevölkerung hätte sich 1918/19 nur ein verschwindend kleiner Bruchteil nicht für den Anschluß an das Deutsche Reich ausgesprochen.

Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß bei wirklicher Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker Deutschland zwar etwa 3 Millionen fremdstämmiger Bevölkerung verloren, dafür aber 10 Millionen deutscher Menschen gewonnen hätte! Selbst wenn wir den für Deutschland allerungünstigsten Fall setzen: daß nämlich eine Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen gegen Deutschland ausgefallen wäre, so würden doch die Gewinne am Deutschtum Österreichs immer noch mehr als das Doppelte der Verluste ausgemacht haben, die das Reich im Norden, Westen und Osten erlitten hätte.

Vergegenwärtigen wir uns demgegenüber nun die erschütternde Tatsache, daß das Reich nicht einen Menschen und nicht einen Fußbreit Landes gewonnen hat, dagegen aber durch Versailles statt 3 Millionen 6,5 Millionen verlor, so daß sich also in Wirklichkeit ein Gesamtverlust von 13 Millionen deutscher Bevölkerung ergab, so zeigt uns diese einfache zahlenmäßige Überlegung krasser als jedes Wort, wie unerhört in den Verträgen von 1919 der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechtes der Völker mißachtet worden ist. Es war nichts anderes als hohle Phrase, als löcheriger Mantel für eine Gewaltpolitik, die so scharf wie nur je eine in der Weltgeschichte die Besiegten das "vae victis" fühlen ließ.

[11] Grenzlandschicksal war es, das die Millionen deutscher Menschen erlebten, die nun plötzlich zu belgischen oder französischen, polnischen oder tschechischen Staatsbürgern (besser würde man hier mit dem alten Ausdruck des Obrigkeitsstaates von "Untertanen" reden) wurden. Und es gehört zu den ganz wenigen Gewinnen, die dem deutschen Volke aus dem fürchterlichen Zusammenbruch seiner staatlichen Geltung erwuchsen, daß es sich unter dem ungeheuren Eindruck der Verluste auf dieses Grenzlandschicksal seiner Söhne zu besinnen begann.

Die Form, die das Deutsche Reich 1871 durch Bismarck fand, hat entscheidend dazu beigetragen, daß im Bewußtsein des deutschen Staatsbürgers der Unterschied von "deutsch" und "reichsdeutsch" völlig verlorengegangen war. Jahrhundertelang hatte der Gegensatz zwischen der alten deutschen Vormacht Habsburg und dem aufstrebenden Brandenburg-Preußen die Geschicke des deutschen Volkes und seine Weltgeltung bestimmt - verhängnisvoll bestimmt, denn dem deutschen Volke blieb es wegen dieser weltpolitischen Machtlosigkeit versagt, in Übersee eigene Siedlungsgebiete für seine Bevölkerungsüberschüsse zu gewinnen. Aber so machtlos das Reich allmählich auch wurde, es umschloß doch wenigstens formell in seinen Grenzen den größten Teil aller in Mitteleuropa siedelnden deutschen Menschen. Noch die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 war "großdeutsch", neben Preußen, Sachsen und Bayern saßen Luxemburger und Österreicher aus allen Teilen der deutschen Südostmark. Und Ernst Moritz Arndt beantwortete nach dem Grundsatz des Volkstums die Frage: "Was ist des Deutschen Vaterland?" mit den Worten: "Soweit die deutsche Zunge klingt."

Erst im kleindeutsche Reiche Bismarcks, von dem die Millionen deutscher Menschen in Österreich ausgeschlossen blieben, wurde im Bewußtsein der übergroßen Mehrheit der reichsdeutschen Bevölkerung der Begriff "Deutsches Vaterland" immer mehr gleichbedeutend mit dem des Deutschen Reiches. [12] Hinter den schwarzweißroten Grenzpfählen hörte Deutschland auf. Der Pole, der Däne, die in Deutschland lebten, waren "Deutsche", weil sie die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen; aber der Deutsche aus Böhmen oder der Steiermark oder Kärnten war "Österreicher", und gar der Balte, dessen Heimat, das alte Deutschordensland, jetzt russische Provinz war, galt als "Russe". Klein war die Zahl der Menschen in Deutschland, die etwas von dem harten Grenzkampf wußten, der schon damals an vielen Fronten ausgekämpft werden mußte.

In dieser Beziehung hat nun die Nachkriegszeit zweifellos eine beträchtliche Besserung geschaffen. Auch in das Bewußtsein der breiten Masse des deutschen Volkes beginnt die Erkenntnis einzudringen, daß das deutsche Volk mehr und größer ist als das Deutsche Reich, und daß ein Mensch deshalb noch nicht "Tschechoslowake" ist, weil seine deutsche Heimat durch das Diktat der Entente dem tschechischen Staate eingefügt wurde.

Auf dieser Erkenntnis, daß nur ein Teil des deutschen Volkstums im Deutschen Reiche staatlich geeint ist, muß jede Betrachtung der Fragen des Grenz- und Auslanddeutschtums aufbauen. Bevor wir aber zu der Schilderung der Verhältnisse und Bedingungen übergehen können, unter denen heute deutsche Menschen im Auslande leben, müssen wir erst noch den Unterschied zwischen dem Grenzlanddeutschtum und dem eigentlichen Auslanddeutschtum klarstellen.

Karte des deutschen Volksbodens in Mitteleuropa
[13]   Karte des deutschen Volksbodens in Mitteleuropa

Jede Betrachtung einer Sprachenkarte Europas zeigt uns den wuchtigen Block deutschen Volkstums in Mitteleuropa. Nur an wenigen Stellen decken sich die Grenzen des heutigen Deutschen Reiches mit der deutschen Sprachgrenze; fast überall - am massigsten im Süden und Südosten - sind mehr oder weniger große Stücke des deutschen Volksbodens außerhalb des Reiches geblieben. Die Gesamtzahl der Deutschen, die in diesem geschlossenen deutschen Sprachgebiet Mitteleuropas leben, macht rund 80 Millionen aus, das sind etwa 86% [13] aller Deutschen auf der Welt. Da 64 Millionen von ihnen im Deutschen Reiche staatlich geeint sind, beträgt also die Zahl der zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet in Mitteleuropa gehörigen Deutschen außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches rund 16 Millionen. Diese Deutschen, die zwar in unmittelbarem territorialem Zusammenhang mit dem Deutschen Reiche leben, aber politisch außerhalb seiner Grenzen geblieben sind, bezeichnet man mit [14] der üblichen Terminologie als Grenzlanddeutschtum.4 Mit einer Ausnahme allerdings: die deutschstämmigen Einwohner der Schweiz, Luxemburgs und Liechtensteins können zum Grenzlanddeutschtum nicht gerechnet werden. Sie leben in eigenen, selbständigen Staatswesen, die ganz oder überwiegend deutsch sind und deren Selbständigkeit nicht wie die Danzigs und Deutsch-Österreichs erzwungen ist, sondern auf dem freien Willensentschluß ihrer Bewohner beruht und auf einer historischen Sonderentwicklung, die sie vom lebendigen Körper des gesamtdeutschen Staates getrennt hat. Wir werden in besonderen Abschnitten von der Stellung dieser drei Staaten innerhalb des gesamtdeutschen Problems zu sprechen haben. Nach Abzug der auf die Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein entfallenden 3 Millionen verbleiben also für das eigentliche Grenzlanddeutschtum 13 Millionen Menschen.

Diese 13 Millionen verteilen sich zahlenmäßig folgendermaßen:

    Österreich 6 300 000
    Tschechoslowakei (ohne die Deutschen
          in der Slowakei und Karpathorußland)    
    3 300 000
    Elsaß-Lothringen 1 600 000
    Polen (Grenzgebiete) 700 000
    Danzig 350 000
    Südtirol 250 000
    Belgien (Eupen-Malmedy und Arel) 70 000
    Memelgebiet 70 000
    Dänemark (Nordschleswig) 40 000

    12 680 000

[15] Der kleine Rest entfällt auf die noch zum geschlossenen deutschen Sprachraum gehörigen Grenzgebiete Ungarns (Burgenland um Ödenburg) und Südslawiens (Südkärnten und Südsteiermark).

Dieses Grenzlanddeutschtum, dessen zahlenmäßige Bedeutung wir eben kennengelernt haben, bildet jedoch nur einen Teil der außerhalb der Reichsgrenzen lebenden deutschen Menschen. Schon seit dem frühen Mittelalter haben Wanderungen stattgefunden, die zur Begründung deutscher Siedlungen auch außerhalb der Grenzen des geschlossenen deutschen Sprachgebiets geführt haben. Im 18. und 19. Jahrhundert nahmen diese Wanderzüge sehr großen Umfang an. Sie waren entweder Überlandwanderungen nach europäischen Ländern und Asien, oder Überseewanderungen nach Afrika, Nord-, Mittel- und Südamerika, Australien, Neuseeland und der Südsee. Diese Auswanderer oder ihre Nachkommen sind zum Teil durch Entnationalisierung (Assimilierung) in fremdem Volkstum aufgegangen und dadurch dem Deutschtum verlorengegangen, zum großen Teil aber haben sie - oft, wie z. B. im Baltikum und in Siebenbürgen, durch viele Jahrhunderte hindurch - die Zugehörigkeit zur deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft bis heute bewahrt. Sie bilden das Auslanddeutschtum im engeren Sinne (eigentliches Auslanddeutschtum). Eine Sondergruppe stellen diejenigen außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschen dar, die nicht nur die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft, sondern auch die deutsche Staatsangehörigkeit bewahrt haben (Auslandreichsdeutsche). Zahlenmäßig ist der Umfang des Auslanddeutschtums im engeren Sinne etwa folgendermaßen festzustellen:

[16]

    Europa:
    Tschechoslowakei außerhalb
          des geschlossenen Sprachgebiets
    200 000
    Ungarn (ohne Burgenland) 500 000
    Südslawien (ohne Südkärnten und Untersteiermark) 700 000
    Rumänien 800 000
    Polen außerhalb des geschlossenen Sprachgebiets 550 000
    Litauen (ohne Memelgebiet) 40 000
    Lettland und Estland 100 000
    Europäisches Rußland 1 000 000
    Zerstreutes Deutschtum im übrigen Europa 350 000

    Summe Europa:   4 240 000

    Asien

    200 000
    Afrika 50 000
    Kanada 400 000
    Vereinigte Staaten 8 000 000
    Mexiko und Mittelamerika 10 000
    Südamerika 1 000 000
    Australien und Ozeanien 100 000

    Summe des eigentlichen Auslanddeutschtums:   14 000 000

Wir sehen also, daß das Auslanddeutschtum im engeren Sinne noch etwa um eine Million Menschen mehr umfaßt als das Grenzlanddeutschtum. Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß die Zahlenangaben für das Deutschtum außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets sehr viel unsicherer sind als die für das Grenzlanddeutschtum. Namentlich hinsichtlich der Vereinigten Staaten mit ihrer großen Masse von Nachkommen deutscher Einwanderer sind die Angaben ganz unsicher, da es eine Sprachenstatistik nicht gibt und der Prozeß der Entnationalisierung hier in viel größerem Umfange vor sich geht als in irgendeinem anderen Lande; die Schätzun- [17] gen der Gesamtzahl der Deutschen aus den letzten Jahren schwanken zwischen 6 und 10 Millionen! Immerhin dürfte die Gesamtzahl von 14 Millionen für das eigentliche Auslanddeutschtum kaum zu hoch gegriffen sein.

Wir können nun auch versuchen, die Gesamtzahl aller auf der Welt lebenden Deutschen festzustellen:

    Deutsche im Reiche mit Saargebiet (Ende 1929)   64 000 000
    Deutsche in der Schweiz,
          Liechtenstein und Luxemburg
    3 000 000
    Grenzlanddeutschtum 13 000 000
    Auslanddeutschtum im engeren Sinne 14 000 000

    94 000 000

Wir können also sagen, daß die Gesamtzahl der Deutschen in der Welt sich heute auf rund 94 Millionen Menschen beläuft.

Wir fassen zum Schluß dieser einleitenden Betrachtungen nochmals die wichtigsten Grundlagen zusammen:

Das deutsche Volk umfaßt alle Menschen auf der Erde, die zur deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft gehören.5 Den Kern dieses deutschen Volkes bilden die rund 64 Millionen deutscher Menschen, die im Deutschen Reiche staatlich geeint sind. Die geschichtliche Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß neben dem Deutschen Reiche fünf weitere deutsche oder überwiegend deutsche Staatswesen stehen: Österreich, Danzig, die Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein; die Selbständigkeit Österreichs und Danzigs trägt erzwungenen und vorübergehenden Charakter. Das Auslanddeutschtum im weiteren Sinne umfaßt alle Deutschen, die außerhalb des Deutschen Reiches, der Schweiz, Luxemburgs und Liechtensteins leben. Es zerfällt wiederum in zwei Gruppen: das Grenzlanddeutschtum, d. h. alle Deutschen im geschlossenen deutschen [17] Sprachgebiet Mitteleuropas außerhalb der genannten vier deutschen Staaten, und das Auslanddeutschtum im engeren Sinne, d. h. alle Deutschen außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebietes Mitteleuropas.

Im folgenden behandeln wir außer dem eigentlichen Grenzlanddeutschtum auch die nationalen Probleme der Deutschen in den fünf deutschen oder überwiegend deutschen Staaten Österreich, Danzig, Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein.

Selbstverständlich kann eine so knappe Darstellung, wie die hier gegebene, nicht den Anspruch erheben, die Dinge von völlig neuen Gesichtspunkten und mit grundsätzlich neuer Zielsetzung zu behandeln. Doch trägt sie insofern gegenüber ähnlichen Versuchen eine eigene Note, als auf die Darstellung der wirtschaftlichen Grundlagen und der sozialen Struktur des Grenzlanddeutschtums besonderer Nachdruck gelegt wurde, weil gerade diese Fragen in der Literatur gegenüber der historischen, politischen, geographischen und kulturellen Seite des grenzlanddeutschen Lebens stark zurücktreten. Aber für die Lebensfähigkeit und die Zukunftsaussichten des Grenzlanddeutschtums ist gerade die Sicherung seiner wirtschaftlich-sozialen Grundlagen von hervorragender Bedeutung.

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1Die außerdem gezählten Litauer, Wenden, Kaschuben und Masuren können in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben, da sie politisch völlig dem Deutschtum eingegliedert waren und sich bei einer Volksabstimmung nur ein verschwindend geringer Bruchteil für die Abtrennung vom Reiche ausgesprochen hätte. ...zurück...

2Wir sehen dabei also von den außerhalb des geschlossenen Sprachgebiets gelegenen Siedlungen des alten Österreich (Galizien, Bukowina, Gottschee) ab. ...zurück...

3Sprachinseln sind kleinere, in sich geschlossene Siedlungsgebiete, die ringsum von fremdem Sprachgebiete umschlossen sind und mit dem Kernland des Volkstums, zu dem ihre Bewohner gehören, keinen direkten räumlichen Zusammenhang haben. ...zurück...

4Ein heute auch vielfach verwendeter Begriff ist "Grenzdeutschtum". Man versteht darunter außer den in fremden Staaten lebenden Angehörigen des geschlossenen deutschen Sprachgebiets auch diejenigen Grenzstriche innerhalb der Reichsgrenzen, die nationalpolitisch gefährdet sind, wie z. B. Mittelschleswig, Ostpreußen u. a. Ich ziehe es vor, auf die außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Angehörigen des geschlossenen deutschen Sprachgebietes ausschließlich die Bezeichnung "Grenzlanddeutschtum" anzuwenden. ...zurück...

5Auf die schwierige Problematik des Volkstumsbegriffes kann aus Raumgründen leider nicht eingegangen werden. ...zurück...

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Das Grenzlanddeutschtum
Mit besonderer Berücksichtigung seines Wirtschafts- und Soziallebens

Dr. Karl C. Thalheim