[220]
Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
III. Gefährdung und Gebietsverlust durch
Abstimmung (Teil 4)
4) Eupen-Malmedy
Dr. Werner Wirths
Berlin
Die "politischen
Bestimmungen über Europa" im Versailler Vertrage
beginnen mit "Belgien".
Neben Aufhebung der Verträge vom 19. April 1839
(Art. 31)
und Abtretung von
Neutral- und Preußisch-Moresnet (Art. 32/33)
wurde in Art. 34 dem
Deutschen Reiche der Verzicht auf alle Rechte und Ansprüche auf das
Gesamtgebiet der Kreise Eupen und Malmedy zugunsten Belgiens gefordert. Art.
34 bestimmte ferner, daß sechs Monate nach Inkrafttreten des Vertrages von
der belgischen Behörde in Eupen und Malmedy Listen ausgelegt werden
sollten: "die Bewohner dieser Gebiete sind berechtigt, darin schriftlich den
Wunsch auszudrücken, daß diese Gebiete ganz oder teilweise unter
deutscher Souveränität verbleiben. Es ist Sache der belgischen
Regierung, das Ergebnis dieser Volksabstimmung zur Kenntnis des
Völkerbundes zu bringen, dessen Entscheidung anzunehmen Belgien sich
verpflichtet." Art. 35
besagte, daß 14 Tage nach Inkrafttreten ein
Ausschuß von sieben Mitgliedern zusammenzutreten habe, der "an Ort und
Stelle unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage und der
Verkehrswege die neue Grenzlinie zwischen Belgien und Deutschland festsetzen"
solle.
Schon die Beschränkung der Abstimmung auf Einzeichnung in
öffentliche Listen unterscheidet sich scharf von den Bestimmungen, welche
für die Volksabstimmungen in Teilen
Ost- und Westpreußens und in Oberschlesien maßgebend waren, und
verdeutlicht, daß es hier den Alliierten von vornherein darauf ankam, jede
Überraschung, jedes gegen Belgien sprechende Ergebnis auszuschalten. Die
belgischen Behörden handelten demgemäß; sie sabotierten
selbst die zugestandene Listenbefragung. Unter dem Druck der
Militärdiktatur und Zensur war sowieso die freie
Meinungsäußerung des einzelnen und der
Bevölkerungsgesamtheit ausgeschaltet. Drohungen und Schikanen, wie
Sperrung der Lebensmittelkarten und Geldumwechselung (die bekanntlich von den
Belgiern zunächst als Lockmittel gebraucht und später nur in ganz
unzureichendem Maße verwirklicht wurde), Verlust der Arbeitsstelle und
Ausweisung belasteten: wer nicht auf Heimat, auf Haus und Hof verzichten wollte,
konnte nicht [221] wagen, sich einzuzeichnen. So kam "nach sechs
Monaten" das groteske Ergebnis zustande, daß von einer Bevölkerung,
die, wie schon die Gegenvorschläge der deutschen Regierung zu den
Friedensbedingungen unwiderleglich hervorgehoben hatten, geschichtlich niemals
zu Belgien gehört hatte und sich, einschließlich der 9000 wallonisch
Sprechenden im Malmedyer Winkel, stets als treue Deutsche gefühlt hatten,
daß von rund 30 000 Abstimmungsberechtigten ganze 271 für ein
Verbleiben unter deutscher Hoheit stimmten und für diese Stellungnahme
großenteils - ausgewiesen wurden. Die belgische Regierung gab
nunmehr das "Ergebnis" zur Kenntnis des Völkerbundes und dieser
bestätigte die belgische Herrschaft. Der Einspruch des Reiches gegen die
Durchführung der Abstimmung wurde ebenso zurückgewiesen, wie
die historischen, politischen und volkspolitischen Einwände gegen die
Abtretung der beiden rheinischen Kreise überhaupt. Einer Kommission der
bodenständigen Bevölkerung, welche dem Völkerbundsrat
persönlich eine Denkschrift überreichen wollte, wurde die Einreise
nach England verweigert; eine entsprechende schriftliche Eingabe blieb beim
Völkerbundsrat und bei der Vollversammlung unbeachtet liegen.
So wurde das formal zweifellos zugestandene Recht auf Selbstbestimmung
praktisch nicht durchgeführt. Rund 63 000 deutsche und deutschgesinnte
Menschen wurden, ohne gehört zu sein, wie "Steine auf einem Schachbrett"
verschoben, 104 000 ha deutschen Volksbodens im Namen der Gewalt
annektiert. Und über die territorialen Forderungen von Versailles
hinausgehend, bezog die Grenzkommission, die durch fünf Vertreter der
alliierten und assoziierten Hauptmächte, einen Belgier und einen Deutschen
beschickt war und in der, gemäß dieser Zusammensetzung, der
französisch-belgische Einfluß überwog, auch das westlich der
Bahnlinie Malmedy – Rötgen gelegene Gebiet des Kreises Monschau
einschließlich der Bahn, sowie kleinere Grenzstreifen des Landkreises
Aachen und des Kreises Prüm in das belgische Staatsgebiet ein.
Die oben erwähnte Denkschrift des gewaltsam angeeigneten Gebietes
faßt bereits die Grundlagen des Rechtskampfes zusammen, den die
Bevölkerung von
Eupen-Malmedy seit ihrer Annektion, seit zehn Jahren führt. Sie nahm,
nachdem sie zunächst grundsätzlich den deutschen Charakter des
Landes betont hatte, Art. 34 als
"gegebene Tatsache" hin, als das
Zugeständnis an die Bevölkerung, ihrem Willen unbehindert
Ausdruck zu geben, und sie stellte fest, daß "die belgischen Behörden
diese freie Willensäußerung unmöglich gemacht" hätten.
Die zugestandene Befragung steht demgemäß noch aus; sie bildet die
Voraussetzung sowohl einer dauerhaften Grenzziehung zwischen Belgien und dem
Reich, wie einer endgültigen Befriedung Europas im Namen jenes
Selbstbestimmungsrech- [222] tes, das Wilson aufgestellt hatte und für
das die alliierten Staaten, nach ihren eigenen Aussagen, den Krieg geführt
haben.
In der gleichen Denkschrift wurden die wirtschaftlichen Tatsachen dargelegt, die
einer Abtrennung der auch wirtschaftlich durchaus auf das Reich angewiesenen
beiden rheinischen Kreise entgegenstanden, beziehungsweise zu einer schweren
Erschütterung der wirtschaftlichen Grundstruktur dieses Grenzgebietes
führen mußten. Was vor zehn Jahren vorausgesagt wurde, ist
eingetreten. Die Stadt Aachen, in der zu reichsdeutscher Zeit fast 3000 Menschen
aus Eupen und Umgegend Arbeit und Brot fanden, verlor ihr natürliches
landwirtschaftliches Hinterland, wesentliche Teile der Eupener Arbeiterschaft ihre
Arbeitsstelle, die
Eupen-Malmedyer Landwirtschaft das entscheidende Absatzgebiet. In Altbelgien
ist, auf Grund der Gleichartigkeit der Erzeugnisse und Übersättigung
des Marktes mit eigenen Erzeugnissen, entsprechender Ersatz nicht vorhanden.
Auch auf industriellem Gebiet erzeugt
Eupen-Malmedy das gleiche wie das benachbarte altbelgische Gebiet um Verviers.
Die hochentwickelte
Tuch- und Lederindustrie der beiden Kreise wurde im Verlauf des letzten
vorkriegszeitlichen Jahrzehntes auf Grund abseitiger Verkehrslage mehr und mehr
vom Weltmarkt abgedrängt; aber der deutsche Markt war
aufnahmefähig genug, um die verschiedenen Krisen, denen insbesondere die
altberühmte Tuchindustrie in Eupen ausgesetzt war, immer wieder zu
überwinden. Die Eingliederung
Eupen-Malmedys in den belgischen Staatsverband bedeutete Dauerkrise, wenn
auch zunächst die Zwangsbestimmungen des Versailler Vertrages, welche
die Grenzen nach dem Reiche offen ließen, und dann die belgische Inflation
die Zerrüttungserscheinungen der bodenständigen Wirtschaft
verschleierten. Diese ist gegenüber der altbelgischen Industrie, zumal diese
auch verkehrspolitisch im Vorteil ist, nicht wettbewerbsfähig, kann sich ihr
Bestehen lediglich auf Kosten der sozialen Lage der Bevölkerung erkaufen.
Am offensichtlichsten zeigt sich der Widersinn der Grenzziehung
verkehrspolitisch. Die den Belgiern überantwortete Eifelbahn fährt
verschiedentlich durch reichsdeutsches Gebiet; vier deutsche Exklaven liegen auf
belgischem Staatsgebiet; zahlreiche reichsdeutsche Ortschaften haben ihren
Land- und Waldbesitz jenseits der belgischen Staatsgrenze; und die beim Reiche
verbliebene Stadt Monschau besitzt zwar einen Bahnhof, aber dieser Bahnhof
gehört den Belgiern. Die wirtschaftliche und verkehrspolitische Bilanz von
zehn Jahren ist dementsprechend:
Eupen-Malmedy wurde, im Gegensatz zu reichsdeutscher Zeit, unter belgischer
Herrschaft Zuschußland, Ergebnis zwangsläufiger Entwicklung, auf
Grund deren sich schon die benachbarten belgischen Arrondissements bei der
verwaltungstechnischen Eingliederung ihrerseits nachdrücklich gegen
den neubelgischen Gewinn wehrten.
[223] Am 1. Juni 1925 wurde die
Militärdiktatur des Barons Baltia nach fast sechs Jahren
äußerster Entrechtung aufgehoben und den "Neubelgiern" das
verfassungsmäßige Recht belgischer Staatsbürgerschaft
zuerkannt. Von 1926 an fanden die belgischen Gesetze Anwendung, in ihrem
Rahmen die Bestimmungen eines Sprachenrechtes, das der deutschen Sprache das
Recht einer "langue usité" neben der französischen in Schule und
Verwaltung, wenn auch mit wesentlichen Einschränkungen, zubilligte. An
den Parlamentswahlen nahm die Bevölkerung zum ersten Male 1925 teil; sie
war zunächst auf die altbelgischen Parteien angewiesen. Klerikale und
Sozialdemokraten bemühten sich um die Stimmen der neuen
Staatsbürger und versprachen weitgehende Berücksichtigung der
volkspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Grenzgebiete, deren
wirtschaftlicher und kultureller Niedergang (insbesondere im Schulwesen) das
Baltiaregime planmäßig betrieben hatte. Beide Parteien
enttäuschten, die klerikale noch gründlicher als die sozialistische,
deren überraschende Wahlerfolge in diesem traditionsgebundenen,
katholischen deutschen Lande vor allem auf die propagandistische
Unterstützung der Forderung auf neue unbeeinflußte
Volksabstimmung zurückzuführen ist. Im April 1926 wurde der
"Heimatbund" als kulturelle Zusammenfassung der bodenständigen
Bevölkerung zum Schutz und der Pflege des Volkstums gegründet. Im
März 1929 trat die Christliche Volkspartei als selbständige
Heimatspartei auf: sie stellte die Forderung auf freies Selbstbestimmungsrecht an
die Spitze ihres Programms für die kommenden Kammerwahlen, der
zweiten, die Eupen-Malmedy im belgischen Staatsverbande
mitmachte. Damit war die deutsche Minderheit in Belgien auch
politisch-parteimäßig als selbständige Volksgruppe in die
Erscheinung getreten. Die katholische Partei Altbelgiens erlitt in den
Kammerwahlen eine vernichtende Niederlage. 90% der bodenständigen
Bevölkerung bekannte sich zu der heimatrechtlichen Grundforderung:
Durchführung einer geheimen und freien Volksabstimmung, durch welche
der Wille der Bevölkerung, zu welchem Staat sie sich bekenne, einwandfrei
geklärt werden solle. Daß
Eupen-Malmedy, ob seiner Kleinheit, seiner Einschachtelung in ein großes
altbelgisches Arrondissement und der Zersplitterung in heimattreue katholische
und heimattreue sozialdemokratische Stimmen, den Quotienten nicht erreichte, der
zur Durchbringung eines eigenen heimattreuen Abgeordneten notwendig gewesen
wäre, konnte die Bedeutsamkeit dieses Wahlergebnisses als volkspolitisches
Bekenntnis nicht beeinträchtigen.
Diese volkspolitische und politische Zusammenfassung entwickelte sich aus dem
natürlichen Selbstbehauptungskampf des Volkstums. Denn bei aller
Liberalität des belgischen Staates in der äußeren
Gesetzgebung - die Willkür im einzelnen, der Wille, die
Bevölkerung [224] zu entdeutschen, blieb vorhanden, wenn auch in
anderen Formen, als sie in
Ost- und Südosteuropa vorhanden sind. Aber der Nationalitätenstaat,
den Belgien in sich darstellt, kam, wenn er auch zunächst mit
Brutalität sein Hoheitsrecht geltend machte, an der für einen
Rechtsstaat selbstverständlichen Berücksichtigung des Volksrechtes
in Verwaltung und Schule nicht vorbei, und in
Eupen-Malmedy stand ihm eine geschlossene Volkspersönlichkeit
gegenüber. Auch die vorhandene Sprachenverschiedenheit schwächte
die instinktmäßige Einheitlichkeit des gewaltsam angeeigneten
Gebietes nicht ab; ja, die 9000 wallonisch sprechenden Bewohner der sogenannten
"Preußischen Wallonie" äußerten nur um so fanatischer ihre
gesinnungsmäßige Verbundenheit mit dem deutschen Volke, ihr
kulturelles Überlegenheitsgefühl gegenüber dem altbelgischen
Wallonentum.
Der belgische Staat hat Eupen-Malmedy ohne Not an sich genommen; er kann es
ohne Not zurückgeben. Die wirtschaftlichen Gründe für die
Aneignung (die Waldbestände des Hertogenwaldes), die strategischen (der
Besitz von Eisenborn) sind genau so wenig stichhaltig wie die Behauptung,
zwischen den Malmedyer Wallonen und dem altbelgischen Wallonentum
bestände eine kulturelle Gemeinschaft. Der Besitz an Boden, den der
belgische Staat gewonnen hat, aber wiegt gering gegenüber der Tatsache,
daß hier eine neue bewußte Volksgruppe wider ihren Willen und unter
völlig veränderten Umständen, als sie etwa bei der
Grenzziehung von 1815 oder bei der Gründung des belgischen Staates von
1830 vorlagen, in den belgischen Nationalitätenstaat eingefügt wurde,
eine Minderheit, die starr und einheitlich am deutschen Staatsgedanken und an
deutscher Staatlichkeit festhält.
Auch für die altbelgische Öffentlichkeit ist
Eupen-Malmedy im vergangenen Jahrzehnt in wachsendem Maße Problem
geworden, eine politische und finanzielle Belastung. Daß, über die
Erörterungen in Presse und Parlament hinaus, selbst bei der belgischen
Regierung sich die Erkenntnis für die Schwierigkeiten dieser Grenzfrage
verstärkte, erwiesen die internen Verhandlungen zwischen reichsdeutschen
und belgischen Mittelsmännern über eine Rückgabe der beiden
rheinischen Kreise gegen Einlösung der in Belgien noch immer
ungenützt lagernden Milliarden deutscher Papiermark. Diese Verhandlungen
scheiterten kurz vor einem günstigen Abschluß am Widerspruch
Frankreichs, das in einer zwischen Belgien und dem Reiche geschlossenen
Grenzänderung einen Verstoß gegen den Versailler Vertrag sah. Der
Geist von Versailles siegte hier noch einmal über die gegebene
Möglichkeit friedlicher Verständigung. Die Macht über das
Recht. So wurden die erfreulichen Ansätze für einen
vernünftigen Grenzausgleich unter Anerkennung des Volksbodens und der
[225] Volkspersönlichkeit zerstört. (Die
Verhandlungen, welche dann 1929 nach der Pariser
Sachverständigenkonferenz zwischen Belgien und dem Deutschen Reiche
stattfanden und sowohl in dem das deutsche Eigentum in Belgien betreffenden
Fragen wie über die Einlösung der in Belgien lagernden
Papiermarkbestände zu einer Einigung führten, haben, zur tiefen
Enttäuschung der Bevölkerung, die Rückgabe
Eupen-Malmedys nicht berührt.)
Eupen-Malmedy blieb eine offene Frage. Die Notwendigkeit ihrer Lösung
wurde von der gesamten bodenständigen Presse dieses Grenzlandes, der
bürgerlichen und der sozialistischen, im Zusammenhang mit der Haager
Konferenz, in einer gemeinsamen "an die Bevölkerung und an die Regierung
Belgiens" gerichteten Kundgebung am 17. August des vergangenen Jahres noch
einmal grundsätzlich festgestellt. Der Rechtskampf geht
weiter - bis zur Erfüllung des Ziels: Verwirklichung des
Selbstbestimmungsrechtes durch freie Abstimmung. Das aber bedeutet zugleich:
Rückkehr zum Reich.
|