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[234]
Würzburg
Rudolf G. Binding

Nirgends langweilig zu sein - weder vor sich noch vor den Fremden, weder im Anblick noch im Wesen: das ist das Merkmal, ist Eigentum und Eigenschaft von Würzburg vor anderen Städten. Es lockt und fesselt. Es lockt und fesselt auch den immer wieder, der es kennt. Es lockt nicht mit Veranstaltungen und besonderen Sehenswürdigkeiten - obgleich es deren genug und in Fülle besitzt - sondern schon als Stadt. Es fesselt nicht nur mit seinem Bilde, sondern auch mit seinem Wesen. Manche schöne Städte gibt es, deren Schönheit öde ist - oder öde geworden ist: wie vergangene, todgeweihte, wehmütig und verfallend. Hier ist nichts von dem. Diese Stadt lebt und lockt. Ihr Blut ist nicht kalt geworden, und ihre Steine sind warm. Selbst der Riesenbau der Residenz, ein Flügelbau über allen Flügeln und ein Frontbau über allen Fronten, Balthasar Neumanns köstlichste Tat, deren schimmernden Säle und üppige Pracht jetzt leer stehen, ist zu eingeboren, dem Leben dieser Stadt zu eingesenkt, ist zu kraftvoll, zu jung, um vergangen zu sein.

Der Kaisersaal in der Residenz zu Würzburg.
[237]      Der Kaisersaal in der Residenz zu Würzburg.
Ein Meisterwerk deutscher Barockkunst von Balthasar Neumann,
mit Fresken von Tiepole und Zierplastik von Bossi.

Die unzähligen Fenster nebeneinander zu setzen - jedes gleich und jedes schön - ohne Ermüdung, über dem breitesten Grundriß, in wunderbaren Abständen und Verhältnissen, wie eine Selbstverständlichkeit: das ist zu kühn, zu groß gedacht, zu froh und zu stark, um zu sterben. Die Treppen bewahren ihren Schwung, ihr Schweben und ihre Macht, selbst wenn keine Bischofsschleppe über die breiten, niedrigen Stufen schleift. Der Hofgarten, die "schönste Anlage Deutschlands", mit seinen verwegenen, lustvollen schmiedeeisernen Torflügeln, mit den steinernen Kindergruppen, den liebenden Kämpfen von Kind und kindlichen Faunen: das alles ist näher, wahrer, stärker, belebter, volkseigener und volkstümlicher als anderswo.

Und im übrigen erst recht: die vielen Türme dieser Stadt, Taster und Empfänger menschlicher frommer Sehnsucht, sie ragen nicht über erkaltenden Kirchen in ihren Himmel; die langgestreckten Bauten frühen eigenen und großen Gemeinsinns, immer mit praktischem tätigem, genießendem und schaffendem Leben verbunden, die Bürger- und Juliusspitäler mit der schönen Unterwelt ihrer Weinkeller und Zechstuben, aus denen sich mancher nur schwankend wieder ins Reich der Sonne emporhebt, alle die vielräumigen Barockpaläste und -häuser, sie dienen der Art der Bewohner dieser Stadt, fröhlich und wohlgemut von altersher. Sie dienen ihr gut, dienen ihr weiter und entsprechen ihr.

Der Himmel, in den jene vielen Türme Würzburgs ragen, wird von einem geräumigen, mäßig hohen Rund von Bergen gestützt - von einem Kranz. Würzburg hat seinen eigenen Himmel. Einen der Berge, der hervorragt, hat die Stadt dicht an ihrer Seite, und die Zitadelle liegt auf ihm. Der Berg beschützt die Stadt, und da er es mit seinen Befestigungen nicht mehr vermag, beschützt er sie landschaftlich.

[235] Man sieht den Fluß von weither zwischen seinen Bergen aus Süden in das geräumige Rund eintreten, und da er es durchfließt, durchfließt er die Stadt. Auch er begibt sich in den Schutz des Festungsberges. Aber er gehört der Stadt mit beiden Ufern, mit vielen Fischen und schiffbarer, eifriger Strömung, mit der er sich an sanfteren Hügeln hin - wie nach einem besonderen Dienst - in westlicher Richtung entfernt und dem Auge entzieht. Der Kranz aber ist ein Rebenkranz. Er umkränzt die Stadt. Würzige Trauben mit etwas schwermütigem Saft und gesunder, unverhohlener Kraft verbergen sich unter dem Laubgewinde. Man könnte versucht sein zu sagen, daß der Wein dieser Gegend von allen deutschen Weinen der deutscheste sei; deutscher als selbst der Rheinwein: einfacher, inner- [236] licher, von sich selbst durchdrungen, nicht ganz leicht zu begreifen. Er ist vielleicht von geringerer Eleganz als die westlichen - der flüchtige Mosel- und der verführerische Rheinwein - aber von echtestem Blut- und Artbewußtsein, von keiner Überschwenglichkeit und von keinem fremden Windstoß bewegt.

Hier ist fränkisches Land - das Land maßvoller eingeborener Schönheit, sowohl im Landschaftlichen als in den Städten und in der Kunst; hier ist deutsche Schönheit. Wenn man auf der alten Mainbrücke steht und dem Fluß nachgeht in Gedanken an den kleinen geschlossenen Städten vorüber: Haßfurt, Ochsenfurt, Gmünd, Miltenberg, Wertheim, Aschaffenburg bis nach Frankfurt, wo das Fränkische endet und dem Rheinischen, Westlichen sich zuneigt, fühlt man fast körperlich, wie sehr man unter dem Himmel Würzburgs in einer Mitte steht. In großen, sanften, ausladenden Windungen, nicht reißend, nicht übereilt, nicht gewaltsam, still und doch froh geht der Fluß dahin, und hier - meint man - glänzt er am Abend am innigsten und tiefsten, am ungetrübtesten gemeinsam mit der Stadt im Kranz des weiten fruchtbaren Rebengeländes.

Die Mainbrücke in Würzburg mit dem Marienberg.
[235]      Die Mainbrücke in Würzburg mit dem Marienberg.
Ein Beispiel barocker Stadtgestaltung.

Die Stadt des Rokoko nennt man die Stadt. Aber es ist nicht das Rokoko anderer Städte. Es ist großartiger, sozusagen gediegener und deutscher geblieben als anderswo; es blieb dort von der Pracht und der Macht des Barock überschattete, das sich maßvoll verhielt, sich nicht verstieg wie in südlichen Ländern, das sein Blut aus eigenem Blut des Landes und der Menschen nahm.

Dieses Blut der Menschen ist warm, froh und fromm. Es ist es noch immer. Es kann es ewig bleiben. Und alles in gutem Sinn. Hier ist Frömmigkeit sinnlicher geworden und Sinnlichkeit fromm. Diese irdischen Madonnen Riemenschneiders, in höchster greifbarer handwerklicher Kunst in den Kirchen wahrnehmbar, freundlich und selig zugleich - sie grüßen dich aus tausend Gesichtern. Sie blicken dich, im Stein ein wenig lebloser, von hundert Straßenecken als die atmenden Geister dieser Stadt an, die den Fremden gerne zu sich kommen lassen. Und es regt sich wieder wie von selbst ein frühes Gedicht in mir, das sie mir abforderten, als ich sie das erste Mal sah und verstand - sah und verstand als den Ausdruck dieser Stadt, die Würzburger Marien:

    Ihr holdseligen Marien,
    die ihr unter Baldachinen
    lächelt mit erzückten Mienen;
    die mit schwebenden Gewändern
    wallend, lockend aufwärts ziehen -
    wenn ihr mich bedeutsam grüßt
    unter himmlichem Gelock,
    ist das alles nur symbolisch?
    Ach, ich hab es schon gebüßt -
    und man wird hier arg katholisch,
    ach, katholisch und barock. [237=Foto]

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Das Buch der deutschen Heimat, besonders das Kapitel "Im Frankenland".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.