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Würzburg
Rudolf G. Binding
Nirgends langweilig zu sein - weder vor sich noch vor den Fremden, weder im
Anblick noch im Wesen: das ist das Merkmal, ist Eigentum und
Eigenschaft von Würzburg vor anderen Städten. Es lockt und fesselt.
Es lockt und fesselt auch den immer wieder, der es kennt. Es lockt nicht mit
Veranstaltungen und besonderen Sehenswürdigkeiten - obgleich es
deren genug und in Fülle besitzt - sondern schon als Stadt. Es fesselt
nicht nur mit seinem Bilde, sondern auch mit seinem Wesen. Manche
schöne Städte gibt es, deren Schönheit öde
ist - oder öde geworden ist: wie vergangene, todgeweihte,
wehmütig und verfallend. Hier ist nichts von dem. Diese Stadt lebt und
lockt. Ihr Blut ist nicht kalt geworden, und ihre Steine sind warm. Selbst der
Riesenbau der Residenz, ein Flügelbau über allen Flügeln und
ein Frontbau über allen Fronten, Balthasar Neumanns köstlichste Tat,
deren schimmernden Säle und üppige Pracht jetzt leer stehen, ist zu
eingeboren, dem Leben dieser Stadt zu eingesenkt, ist zu kraftvoll, zu jung, um
vergangen zu sein.
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Der Kaisersaal in der Residenz zu Würzburg.
Ein Meisterwerk deutscher Barockkunst von Balthasar Neumann,
mit Fresken von Tiepole und Zierplastik von Bossi.
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Die unzähligen Fenster nebeneinander zu setzen - jedes gleich und jedes
schön - ohne Ermüdung, über dem breitesten
Grundriß, in wunderbaren Abständen und Verhältnissen, wie
eine Selbstverständlichkeit: das ist zu kühn, zu groß gedacht,
zu froh und zu stark, um zu sterben. Die Treppen bewahren ihren Schwung, ihr
Schweben und ihre Macht, selbst wenn keine Bischofsschleppe über die
breiten, niedrigen Stufen schleift. Der Hofgarten, die "schönste Anlage
Deutschlands", mit seinen verwegenen, lustvollen schmiedeeisernen
Torflügeln, mit den steinernen Kindergruppen, den liebenden
Kämpfen von Kind und kindlichen Faunen: das alles ist näher,
wahrer, stärker, belebter, volkseigener und volkstümlicher als
anderswo.
Und im übrigen erst recht: die vielen Türme dieser Stadt, Taster und
Empfänger menschlicher frommer Sehnsucht, sie ragen nicht über
erkaltenden Kirchen in ihren Himmel; die langgestreckten Bauten frühen
eigenen und großen Gemeinsinns, immer mit praktischem tätigem,
genießendem und schaffendem Leben verbunden, die
Bürger- und Juliusspitäler mit der schönen Unterwelt ihrer
Weinkeller und Zechstuben, aus denen sich mancher nur schwankend wieder ins
Reich der Sonne emporhebt, alle die vielräumigen Barockpaläste
und -häuser, sie dienen der Art der Bewohner dieser Stadt,
fröhlich und wohlgemut von altersher. Sie dienen ihr gut, dienen ihr weiter
und entsprechen ihr.
Der Himmel, in den jene vielen Türme Würzburgs ragen, wird von
einem geräumigen, mäßig hohen Rund von Bergen
gestützt - von einem Kranz. Würzburg hat seinen eigenen
Himmel. Einen der Berge, der hervorragt, hat die Stadt dicht an ihrer Seite, und
die Zitadelle liegt auf ihm. Der Berg beschützt die Stadt, und da er es mit
seinen Befestigungen nicht mehr vermag, beschützt er sie
landschaftlich.
[235] Man sieht den
Fluß von weither zwischen seinen Bergen aus Süden in das
geräumige Rund eintreten, und da er es durchfließt, durchfließt
er die Stadt. Auch er begibt sich in den Schutz des Festungsberges. Aber er
gehört der Stadt mit beiden Ufern, mit vielen Fischen und schiffbarer,
eifriger Strömung, mit der er sich an sanfteren Hügeln
hin - wie nach einem besonderen
Dienst - in westlicher Richtung entfernt und dem Auge entzieht. Der Kranz
aber ist ein Rebenkranz. Er umkränzt die Stadt. Würzige Trauben mit
etwas schwermütigem Saft und gesunder, unverhohlener Kraft verbergen
sich unter dem Laubgewinde. Man könnte versucht sein zu sagen,
daß der Wein dieser Gegend von allen deutschen Weinen der deutscheste
sei; deutscher als selbst der Rheinwein: einfacher,
inner- [236] licher, von sich selbst
durchdrungen, nicht ganz leicht zu begreifen. Er ist vielleicht von geringerer
Eleganz als die westlichen - der flüchtige
Mosel- und der verführerische Rheinwein - aber von echtestem
Blut- und Artbewußtsein, von keiner Überschwenglichkeit und von
keinem fremden Windstoß bewegt.
Hier ist fränkisches Land - das Land maßvoller eingeborener
Schönheit, sowohl im Landschaftlichen als in den Städten und in der
Kunst; hier ist deutsche Schönheit. Wenn man auf der alten
Mainbrücke steht und dem Fluß nachgeht in Gedanken an den
kleinen geschlossenen Städten vorüber: Haßfurt, Ochsenfurt,
Gmünd, Miltenberg, Wertheim, Aschaffenburg bis nach Frankfurt, wo das
Fränkische endet und dem Rheinischen, Westlichen sich zuneigt,
fühlt man fast körperlich, wie sehr man unter dem Himmel
Würzburgs in einer Mitte steht. In großen, sanften, ausladenden
Windungen, nicht reißend, nicht übereilt, nicht gewaltsam, still und
doch froh geht der Fluß dahin, und hier - meint
man - glänzt er am Abend am innigsten und tiefsten, am
ungetrübtesten gemeinsam mit der Stadt im Kranz des weiten fruchtbaren
Rebengeländes.
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Die Mainbrücke in Würzburg mit dem Marienberg.
Ein Beispiel barocker Stadtgestaltung.
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Die Stadt des Rokoko nennt man die Stadt. Aber es ist nicht das Rokoko anderer
Städte. Es ist großartiger, sozusagen gediegener und deutscher
geblieben als anderswo; es blieb dort von der Pracht und der Macht des Barock
überschattete, das sich maßvoll verhielt, sich nicht verstieg wie in
südlichen Ländern, das sein Blut aus eigenem Blut des Landes und
der Menschen nahm.
Dieses Blut der Menschen ist warm, froh und fromm. Es ist es noch immer. Es
kann es ewig bleiben. Und alles in gutem Sinn. Hier ist Frömmigkeit
sinnlicher geworden und Sinnlichkeit fromm. Diese irdischen Madonnen
Riemenschneiders,
in höchster greifbarer handwerklicher Kunst in den Kirchen wahrnehmbar, freundlich und selig
zugleich - sie grüßen dich aus tausend Gesichtern. Sie blicken
dich, im Stein ein wenig lebloser, von hundert Straßenecken als die
atmenden Geister dieser Stadt an, die den Fremden gerne zu sich kommen lassen.
Und es regt sich wieder wie von selbst ein frühes Gedicht in mir, das sie
mir abforderten, als ich sie das erste Mal sah und verstand - sah und
verstand als den Ausdruck dieser Stadt, die Würzburger Marien:
Ihr holdseligen Marien,
die ihr unter Baldachinen
lächelt mit erzückten Mienen;
die mit schwebenden Gewändern
wallend, lockend aufwärts ziehen -
wenn ihr mich bedeutsam grüßt
unter himmlichem Gelock,
ist das alles nur symbolisch?
Ach, ich hab es schon gebüßt -
und man wird hier arg katholisch,
ach, katholisch und barock. [237=Foto]
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