[51]
Mecklenburg
Friedrich Griese
Wer Mecklenburg sagt, meint Acker, Wald und See, aber er darf die kleinen und
alten Städte nicht vergessen, die dort Landstädte genannt werden. Sie
sind ein wesentlicher Bestandteil des Lande, sind natürlich für die
eigenen Bürger, dann aber für die Dörfer der Umgebung da
und leben von ihnen, gut, wenn die Dörfer kaufen und bezahlen
können, schlecht, wenn es denen selber schlecht ergeht.
In der Geschichte dieser alten und kleinen Städte Mecklenburgs finden sich
in steter Wiederkehr fast immer dieselben Berichte. Hier und da sind sie vielleicht
nicht ganz zuverlässig, es sind leere Stellen vorhanden, die man schwer
ausfüllen kann, meistens aber geht es nach dem Wort einer ihrer alte
Urkunden: "Dieweilen mit der Zeit vergehet, was in der Zeit vorgehet, so ist es
nötig, daß dasjenige, was unter den Menschen geschieht, mit
tüchtigen schriftlichen Zeugnissen bestätigt werde." Danach haben
sie sich denn auch immer gehalten, und das Verlaßbuch, eine Art
Grundbuch, gibt Aufschluß darüber.
Von dem weit zurückliegenden Kampf zwischen Wenden und
eingewanderten Germanen wird berichtet, von Pest und anderen Seuchen, von
großen und sich immer wiederholenden Feuersbrünsten und von dem
langen und schrecklichen Krieg, der dreißig Jahre durch die deutschen
Länder zog, immer wieder auch bei ihnen einkehrte und den weiteren
Bestand des kleinen Gemeinwesens fast in Frage stellte. Dazwischen erscheinen
dann außerdem mancherlei Streitigkeiten mit den umliegenden
Dörfern, um Äcker und Hölzungen, um See und
Fischereirechte, um Wege und Rodungen und um Festsetzung der gegenseitigen
Grenzen. Ein langer, harter und mühseliger Weg, oft nicht unverschuldet;
denn Bürgersinn war unnachgiebiger Sinn, nicht nur auf das Recht bedacht,
sondern darauf versessen. Aber mit diesem Recht hielten sie sich durch
Jahrhunderte, mit ihm halten sie
sich - unter allerlei Abwandlungen - noch heute.
Die Verbindungslinien zu früheren Zeiten sind immer noch stark genug,
hier und da findet man Bürgernamen, die bis in die Wendenzeit hinein
deuten, Fischer und Schreiber, Schmiede und Arbeiter, Ratsdiener und
Ackerbürger. Immer noch gab es in diesen Landstädten bis in die
jüngste Zeit allerlei Bräuche und Sitten, die zuweilen auf einen Streit
mit den umliegenden Dörfern und Höfen zurückgehen. Da
zogen die Bürger im Winter, sobald das Eis hielt, an den See, warfen ein
Pflugeisen hinauf, und so weit es auf dem Eise vorwärtsglitt, hatten sie das
Recht des Fischens. Oder sie hielten ein Denkmal in Ehren, das zum Andenken an
einen Herrn der Stadt errichtet war. Einer von diesen Herrn starb in Warschau,
und, um Kosten zu sparen, fuhren Diener und Kutscher den Toten, einbalsamiert
und angekleidet und aufrecht im Wagen sitzend, bis in die kleine
mecklenburgische Stadt. In den Straßen der kleinen und alten Stadt Penzlin
[52] spielen heute noch die Kinder, wie Johann Heinrich Voß,
Dichter und Übersetzer Homers und Freund Höltys und Goethes, hier einmal als Kind spielten. Man kennt
noch das Haus, das dem Vater gehörte, der zuerst wohlhabend war, dann
aber bald verarmte. Man weiß noch, wo
Hopfen- und Tabakspeicher lagen in jener Zeit, als das Städtchen, an der
Heerstraße gelegen, einen schwunghaften Handel trieb.
Zwei Feinde hatten diese alten und kleinen Städte, die fast unbesiegbar
waren: Feuersbrünste und Seuchen. "In unserer Stadt haben einige
böse Bürgerkinder, welche wohl gemeinet, daß ihnen die
Administration der Gerechtigkeit denegieret wäre, den 27. Oktober 1558
Feuer angeleget, welches so groß geworden, daß mehr denn die halbe
Stadt davon verzehret worden und unter anderem einige Männer und eine
Magd mitverbrannt." Einstöckige, strohgedeckte Häuser wurden an
Stelle der zerstörten wieder erbaut, und obwohl die Regierung Baugelder
bewilligte und befahl, zweistöckige Häuser zu erbauen, so hatte doch
das obere Stockwerk, wenn man sich nach diesen Vorschriften richtete, keine
Fenster, sondern nur Rauchluken; die Folgen waren abermalige
Feuersbrünste. In solche Notfällen trat vor allem die Kirche helfend
auf, und ein Pfarrer Struck unternahm für seine notleidende Stadt
große Reisen, die ihn bis nach Kopenhagen führten. Er schickte von
dorther Geld und schrieb Trostbriefe an seine Gemeinde. Manche dieser alten
Städte brannten in drei Jahrhunderten dreimal ab, aber der Lebenswille der
Bürger fand dreimal die Kraft zum Wiederaufbau.
In Parchim, einer Stadt im Südwesten des Landes gelegen, gibt es noch
jetzt eine Gilde, die Gilde der Dreiunddreißiger. Als in einem bösen
Pestjahr die Leichenträger selber nicht mehr vorhanden waren oder sich
weigerten, die in den Häusern oder auf den Straßen herumliegenden
Toten zu beerdigen, gaben sich dreiunddreißig wackere Bürger der
Stadt zu dem gefährlichen Geschäft her, die Pestleichen aus dem
Bereich der Stadt zu schaffen. Das Andenken an diese Männer lebt in dieser
noch heute bestehenden Dreiunddreißigergilde. Einmal im Jahr darf sie auf
die städtische Feldmark ziehen und, immer in einem bestimmten Teil, dort
frei jagen.
Eine dieser alten und kleinen Städte hat für Mecklenburg eine
besondere Bedeutung. Waren heißt sie, und sie liegt an der Müritz,
dem größten Binnensee Norddeutschlands. Hier findet man noch vier
andere Seen, untereinander durch ein Flüßchen, die Elde, verbunden
und eingehegt von Hügeln und Wäldern und Äckern. Ein
Garten Gottes, und nichts in einem widerspricht, wenn man sich daran erinnert,
daß Reuter, der mecklenburgische Nationaldichter, in seiner humorvollen
Urgeschichte von Meckelborg den bündigen Beweis führt,
daß in diesem Teil des Landes einmal das Paradies gelegen hat. Hier wohnt Wossidlo, der Altmeister des
Sammelns volkstümlicher Überlieferungen, ein Gelehrter, der
über Mecklenburg und Deutschland hinaus bekannt ist. Der
mecklenburgische Mensch hält noch heute an alten Überlieferungen
und Weisheiten fest, Wossidlo ist derjenige, der von diesem Gut einen fast
unübersehbaren Schatz gesammelt hat und, trotz seines Alters, immer noch
unermüdlich darin ist. Ich erinnere mich an meine Knabenzeit, er kam auch
in unser Dorf, und er hatte einen solchen Ruf, daß sich alle, die als
Bewahrer alter Sprüche und Erzählungen in Frage kamen, in
höchster Eile auf das Feld, in den Garten oder an einen anderen sicheren
Ort begaben, wenn er angekündigt war. Trotzdem [53] entgingen sie ihm nicht,
er war noch klüger als das klügste alte Mütterchen, und wen er
nicht fand, den wollte er für dieses Mal nicht finden. Seit Jahren geht er
nun, in größeren oder kleineren Abständen, an seinen Schatz
den er selbst gesammelt oder der ihm von Förstern, Studenten, Pastoren,
Lehrern übergeben worden ist. Was er dann davon veröffentlicht, ist
immer ein Stück Mecklenburg, mit Liebe und Verständnis
gesammelt und mit Klarheit und Eindringlichkeit gesichtet. Daneben rührt
eine große Sammlung von alten Trachten, Bildern und
Haushaltsgegenständen von ihm her. Und wenn einmal ein Dorftag
gehalten wird, in den sich heute freilich mancher faule Zauber mischt, dann sieht
man davon immer wieder etwas.
[53]
Schwerin.
Marktplatz mit Dom im Hintergrund.
|
Ach, diese alten und kleinen Städte, noch heute ein wesentliches
Stück Mecklenburg, nicht sehr räumig gebaut, mit holperigem
Pflaster und niedrigen Häusern. Die Kirche ist immer noch das
Hauptgebäude, mehr als Rathaus und Schule, wenn sie ihre Glocken
läutet, dröhnt das letzte Haus, und der Marktplatz summt jeden Ton
mit. Vor den Kaufmannsläden steht hier und da ein Wagen, der in eins der
umliegenden Dörfer gehört, die Kinder, die an einem
vorüberlaufen, stehen still, und die kleinen Mädchen knicksen. Wenn
sie im Sommer ihr Kinderfest feiern, fangen alle Betriebe früh um vier Uhr
an zu arbeiten, damit die Väter am Nachmittag auf dem Festplatz sein
können. Erwachsene und Kinder werden auf Erntewagen in den Wald
gefahren, wo das Fest gefeiert wird, und bis zum Abend geht es unter Blumen und
Kränzen hoch her. Beim Festmarsch durch die Straßen ist der Rat der
Stadt mit im Zug, in Frack und schwarzem Hut. Am Abend versammeln sich alle
auf dem Marktplatz, jetzt sind auch die Großmütter der ganzen Stadt
dabei, und der Rektor der Schule muß eine Rede halten. Heute noch, wenn
auch festgehalten werden muß, daß es in diesen kleinen Städten
in unserer Zeit ziemlich trübe aussieht. Die Dörfer der Umgebung
sind arm geworden, der Kaufmann verkauft wenig, und der Handwerker [54] hat auch nicht mehr
Kunden, der Rat der Stadt sitzt wohl noch in seinem alten Rathaus, aber der
Klagen und Bedrängnisse kommen immer neue.
Rostock und Wismar, die beiden wesenhaftesten Städte Mecklenburgs,
liegen an der Ostsee. Wismar, die kleinere, vielfach mit der Geschichte des
Landes verbunden und zur Zeit der Hanse eine wehrhafte und mächtige
Stadt, liegt heute wie in sich selber hineingerissen und wie in sich verballt und
verschnürt da. Überall erkennt man noch die einstige
Größe, den mächtigen Geist, der sie hinaufriß, den
Wagemut der Bewohner, die hier einst schafften und planten, aber es ist aus
damit, der große Handel hat sich anderen Plätzen zugewandt, und die
Stadt "an de Wismer" ist nur noch ein Bild der einstigen berühmten
Handelsstadt.
[61]
Norddeutsche Städtebaukunst.
Die Nikolaikirche in Rostock.
|
Rostock, mit Wismar am gleichen Strand liegend, die Stadt mit dem
siebentürmigen Rathaus, die Stadt der mächtigen alten Tore,
heldenhaft in jedem Zug, mit der Marienkirche und dem gewaltigen Turm der
Kirche des Heiligen Petrus, dem Meere zugewandt, ungestüm, unruhig,
aber mit der schöpferischen Unruhe des Nordens, hat auch von der
einstigen Größe herabsteigen müssen, sie hat jene Zeit
verlassen, da sie mit Königen und Herzögen, auch mit denen des
eigenen Landes, kämpfte und nicht unterlag, aber sie ist noch mehr zum
Schaffen befähigt. Sie hat sich offener halten können, die Zeit
verließ sie nicht ganz, und so ist sie denn lebendiger geblieben.
Aber wer Mecklenburg sagt, meint See und Wald und Acker, er meint das
mecklenburgische Dorf.
Im östlichen Teil des Landes bin ich in meiner eigentlichen Heimat, da bin
ich am richtigen Ort, da bin ich geboren und bekannt und heimisch wie nirgends
sonst. Da finde ich die großen Güter, die dem alten und
ältesten mecklenburgischen Adel gehören und die diesem Teil des
Landes seine besondere Art geben. Ich kenne sie aus meiner Jugendzeit, als ich
ein Dorfjunge war und in allen Sommern die Kühe hütete. Da
weiß ich sie alle, die mir aus jener Zeit her vertraut sind, auch die alten
Geschlechter sitzen meistens noch auf den Gütern, nur daß jetzt statt
des alten Herrn der Sohn oder der Neffe das Gut führt. Da liegen die weiten
Felder, hügelig aufgebogen, fast grenzenlos, wenn auch immer wieder von
Wäldern und kleinen Waldecken unterbrochen, da ist die Weite, die mich
immer so gefangen nimmt, die Fortsetzung der unausmeßbaren
östlichen Ebene. Da ist die unzählbare Menge der Feldteiche, der
kleinen Bäche, der Gutsseen. Und da ist der Wald, weit und
geräumig, mit seinem Unterholz, reich an Leben aller Art. Da taucht immer
wieder einmal auf einem der Güter eins jener einfachen und doch so
prächtigen Adelsschlösser auf, die nur dem Eingeweihten bekannt
sind und die nur er findet. Da sind vor allem jene oft fast kreisrunden kleinen
Teiche im Wald wie auf dem Acker anzutreffen, mit ihrem runden, aufgebogenen
Uferrand, die hier im Lande Kolke genannt werden. Sie weisen in jene Zeit, da die
mecklenburgische Erde entstand, und sie sind oft der Ausgangspunkt von Sagen
und anderen alten Volkserzählungen.
[59]
Das Schweriner Schloß
Die schöne Residenz des ehemaligen Fürstenhauses.
|
Die Gutsdörfer selber machen diesen Teil des Landes nicht heimischer. Sie
bestehen oft aus niedrigen, langgestreckten Katen, ohne Freundlichkeit und ohne
Rücksicht auf die Eigenart des Landes erbaut, dunkel und wenig
geräumige menschliche Wohnungen, nichts anderes. Sie liegen meistens an
der einzigen Straße des Dorfes, nur das Schulhaus und [55] vielleicht noch die
Wohnung des Gutsschmiedes, des Gärtners heben sich aus dem grauen,
unfreundlichen Einerlei heraus. Und ein völlig trüber Eindruck
entsteht dort, wo das Gut außerdem noch eine Schnitterkaserne besitzt, die
Wohnung der östlichen Wanderarbeiter. Zu Tausenden überzogen
diese noch vor wenigen Jahren die mecklenburgischen Gutsdörfer, zu
einem Teil selbst dem Gutsarbeiter willkommen wegen der schweren Arbeit im
Zuckerrübenbau, der ganz von ihnen übernommen wurde, besonders
aber dem Besitzer des Gutes erwünscht als billige Arbeiter. Ein
häßliches, dunkles Mal im Gesicht des Landes, diese polnischen und
galizischen Wanderarbeiter, eben der Art wegen, wie sie untergebracht waren und
wie sie das Wesen des Dorfes in unwürdiger Weise beeinflußten. Ein
mecklenburgisches Gutsdorf dieser Art war kein deutsches Dorf, es war das
Zerrbild eines solchen, nur geworden und immer noch möglich in dem
Mecklenburg bis zum letzten Kriege, weil in diesem Teil des Landes der
Großgrundbesitzer der allein bestimmende Führer war, und doch,
wenn dem deutschen Dorf auch wesensfremd, in bestimmter Weise zu diesem
Lande gehörig, weil eine ewige Erinnerung an jene weit
zurückliegende Zeit, da hier der Slawe, der Wende, mit dem deutschen
Menschen um die Vorherrschaft in zähem Kampfe rang.
Die Bauerndörfer waren und sind in diesem Teil des Landes selten
anzutreffen, und wo [56] sie vorhanden sind, da
bestimmt der Kleinbauer, der hier im Lande Büdner oder Häusler
genannt wird, das Bild des Dorfes mit. Sie besaßen nur wenig Land,
meistens nicht so viel, daß eine Familie darauf ernährt werden
konnte, so mußten sie also im Sommer auf den umliegenden Gütern,
im Winter in den Forsten Arbeit suchen. Die letzten Jahre haben hier und da ein
wenig Änderung geschaffen, Büdner und Häusler haben mehr
Land erhalten, aus Staatsbesitz, aus aufgeteilten Gütern, aber grundlegend
hat sich das Gesicht dieses östlichen Landesteils auch dadurch noch nicht
geändert. Die nähere oder fernere Zukunft wird es machen
müssen.
Zu einem Teil wird die wirtschaftliche Not, die auch die großen
Güter überfallen hat, dazu helfen. Auf einer Wanderung durch das
östliche Mecklenburg im letzten Frühjahr hörte ich von einem
Tagelöhner, daß auf einem Gut der Nachbarschaft mit Motoren
nachts unter Scheinwerferbeleuchtung gepflügt werde. Das war eine
große Neuigkeit für uns beide, aber wir mochten die Sache
überdenken, wie wir wollten, wir fanden sie nicht besonders aussichtsreich.
Das Land schien uns zu hügelig, um der Maschine den ebenen Raum zu
geben, den sie braucht, Mecklenburg ist nicht Nordamerika, alles in allem also ein
Zeichen der Not, dieser nächtlich beim Licht eines Scheinwerfers
arbeitende Traktor, aber vielleicht - und hoffentlich - eine Not, die
künftige Gesundung in sich birgt.
Das mecklenburgische Bauerndorf findet man vor allem in der Mitte des Landes,
im Norden und Westen, und im Nordwesten gleicht sich das Bild der Felder
langsam dem holsteinischen Dorf an. Auf die ganzen Dörfer gesehen, litt
der mecklenburgische Bauernstand seiner oberherrlichen Zugehörigkeit
nach unter einem Vielerlei wie nirgends sonst in deutschen Ländern. Es gab
Domanialbauern, das heißt Bauern, deren Land fürstlicher Besitz,
Herrengut, war. Ritterschaftliche Bauern gab es hier und da im Gebiet der
großen Güter, ihre Hufen waren die Überbleibsel der
Bauerndörfer, die zu einem Teil in früherer Zeit, vor allem nach dem
dreißigjährige Kriege, "gelegt" worden waren. Die leeren oder noch
bewohnten Hofstellen hatte der adelige Besitzer eines Gutes verschwinden lassen,
die zugehörigen Äcker seinem Gut zugeschlagen und einige, meistens
verkleinerte, Höfe bestehen lassen. Außerdem gab es im Landgebiet
der größeren Städte Mecklenburgs noch
Kämmereibauern. Auch sie waren vor allem ein Andenken an die unselige
Zeit jenes großen Krieges, da ganze Dörfer verschwanden, die
Städte Äcker und Waldungen an sich rissen und andere, noch leidlich
bestehende, Dörfer unter ihre Oberhoheit brachten. Hier wie dort war das
mecklenburgische Dorf nicht das Bild des deutschen Dorfes, sondern das
Widerspiel eines solchen.
Den eigentlichen freien Bauernstand hat es in Mecklenburg seit der Zeit des
dreißigjährigen Krieges kaum gegeben. Einmal war der deutsche
Bauer in das Land gekommen, hatte, im Kampf gegen das vorhandene
Wendentum und gegen den oft noch nicht urbar gemachten Boden, seine
verbrieften Rechte bekommen. Es waren verdiente Rechte, weil er es vor allem
gewesen war, der dem Lande die
christlich-deutsche Kultur gebracht hatte. Freilich waren auch damals schon die
adligen Grundbesitzer, die Stände, fast übermächtig, aber dies
sein deutsches Recht, von ihm mitgenommen, wurde ihm zuerst noch gelassen.
[57] Dann wurde es
abgelöst durch ein fremdes Recht, hier wie überall, und hinzukam,
daß der Wende dem Deutschen gleichgestellt wurde. Unheilvoll wirkten
sich nebenher in dem kleinen Lande die dynastischen Streitigkeiten und die
ewigen Kämpfe zwischen dem Adel des Landes und seinen Fürsten
aus. Durch bestimmte Ereignisse während des dreißigjährigen
Krieges, die Herrschaft Wallensteins, der eine Zeitlang Herzog von Mecklenburg
war, schwiegen diese Streitigkeiten innerhalb des eigenen Landes. Dann aber, als
die Herzöge zurückgekehrt und die äußeren
Bedrängnisse durch die Beendigung des Krieges aufgehört hatten,
lebte der alte Hader und der alte Machtwille der Ritter wieder auf. Karl Leopold,
Schüler und Anhänger Karl XII. von Schweden, war derjenige
unter den mecklenburgischen Herzögen, der versuchte, die Macht der
Ritterschaft seines Landes mit Gewalt zu brechen. In den Kirchen wurde für
ihn gebetet, in Haufen kamen ihm seine Bauern zu Hilfe, aber so hart sein
Unternehmen angefaßt war, so kläglich ging es zu Ende. Karl
Leopold starb als Flüchtling, als Verbannter, für den im Lande
heimlich gesammelt wurde, um seine bitterste Not zu kehren. Sein Nachfolger
einigte sich mit der Ritterschaft, und deren Macht wurde in einem Vergleich
festgesetzt, der ohne Einschränkung bis zur Beendigung des letzten Krieges
galt, erst da wurde er von dem allgemeinen Zusammenbruch hinweggefegt.
[57]
Schäfer Lehsten.
Federzeichnung von Fritz Reuter.
|
Das alles möchte heute nicht mehr gar so wichtig sein, wenn sich durch
diese besonderen Verhältnisse nicht der mecklenburgische Mensch und vor
allem der mecklenburgische Bauer gebildet hätte. Gehalten in einer fast
vollkommenen Leibeigenschaft, gebunden an die Scholle durch
äußerlichen Zwang, aber der eigenen Scholle fast täglich
wieder entfremdet durch die dem ritterschaftlichen Oberherrn zu leistende
ungemessene körperliche Arbeit, die nicht nur auf den Bauern selber,
sondern auch auf die Angehörigen, auf Knechte und Mägde und auf
das Zugvieh ausgedehnt wurde, entwürdigt durch das Recht des Ritters,
Prügelstrafen vornehmen zu dürfen, und völlig entrechtet
durch die Patrimonialgerichte, die den Ritter über Tod und Leben seiner
Bauern entscheiden ließen - so lagen diese in einer
vollständigen Verknechtung. Alle guten deutschen Eigenschaften wurden in
ihr Gegenteil verkehrt, aus der Freude an der [58] Geselligkeit wurde der
Hang zur Völlerei, aus Frohsinn und Humor wurde die Anlage und
Empfänglichkeit für oft billigen Witz, was sich noch heute darin
äußert, daß der Reuter der "Läuschen un
Rimels" und des "Unkel Bräsig" besser bekannt ist als der Dichter der
"Franzosentid", daß in der Gegenwart ein Barlach im Lande fast
völlig unbekannt ist, die Erzeugnisse eines Rudolf Tarnow aber in vielen
Tausenden verbreitet sind. Und aus dem Selbstbewußtsein freier deutscher
Männer wurde Unterwürfigkeit und armselige Genügsamkeit
am einmal aufgezwungenen Knechtsein.
Diesen unheilvollen Überresten ehemaliger Leibeigenschaft stehen freilich
Beweise urtümlicher Volkskraft gegenüber, die Hoffnung geben,
daß jene Zeit mit ihren unverkennbaren Zeichen einmal völlig
ausgelöscht sein wird. Beweis dafür ist vor allem die oben genannte
ehrwürdige und heute, noch bei Lebzeiten, schon fast sagenhafte Gestalt
des Forschers und Sammlers Wossidlo. Ihn liebt und verehrt das
mecklenburgische Volk, und er ist auf dem letzten mecklenburgischen Dorf so gut
bekannt wie in den Städten des Landes. Daß seine aufopfernde
Tätigkeit aufgenommen und durchgeführt werden konnte, liegt
begründet in dem Hang des Mecklenburgers, sich seinen
Volksüberlieferungen da ganz hinzugeben, wo sie echt und
zukunftsträchtig sind. In dem mecklenburgischen Menschen
ruht - nicht sogleich sichtbar, aber deshalb nicht weniger
stark - der Sinn, sich der Zeit seines Landes zuzukehren, als
Mensch und Landschaft noch eins waren, als freies Recht auf freiem Boden galt.
Daß ihm jene Zeit verbunden ist mit allerlei Sagen von Land und Menschen,
von Irdischem und Unterirdischem, von zerstörten Kirchen und
untergegangenen Dörfern, von Hexenhaftem und Mystischem, macht seine
Eigenart aus und liegt zutiefst im Landschaftlichen begründet.
Wer Mecklenburg kennt, weiß, daß es zu einem großen Teil
hügeliges Land ist, einmal wie von einem mächtigen Pflug
aufgeworfen. Wie breite, riesenhafte, in der Vorzeit aufgeschlagene und dann in
ihrer Lage nicht wieder veränderte Pflugfurchen, so zeigt sich dieser Teil
des Landes quer hindurchgezogen die von Südosten nach Nordwesten
verlaufende Mulde, an ihren Rändern die weithin ausladenden
Abdachungen. Die Art, wie diese Hügel gelagert sind, wie sie immer wieder
von Bächen, kleinen Flüssen, Teichen und einer endlosen Zahl von
kleineren und größeren Seen unterbrochen werden, zeugt von der
eigenwilligen Kraft, die diese Landschaft einmal geschaffen hat. Immer wieder ist
eine Höhe da, dahinter eine andere und wieder eine andere, eine Bewegung,
die scheinbar kein Aufhören kennt und im Unendlichen verläuft. Das
gibt dieser Landschaft das Ruhelose, das inbrünstige Aufgerührtsein,
das, was mir das kennzeichnende Nordische zu sein scheint. Alles ist hier auf das
Einmalige gestellt, auf das Unverwechselbare. Obwohl ein Hügel wie der
andere aussieht, ist doch jeder für sich da, der Weg, der zu ihm
hinaufführt, hat an seinem oberen Ende keine Fortsetzung, aber dahinter
geht es doch wieder hügelab, wie in das Grenzenlose hinein. Überall
ist man unter diesen Hügeln wie am Ende der Welt, aber immer wieder
muß man erkennen, daß der letzte nur ein neues Glied in der Kette
ist - ein Urbett, dem Hingegebenen so leicht zu erkennen, wie es dem
flüchtig Hinsehenden verschlossen bleibt. Außer diesem ist vor allem
das östliche Mecklenburg ein so leeres Land, daß eine auftretende
Erscheinung - ein Bild aus der Landschaft selbst, aus dem Leben der Tiere
oder der Menschen - von verwandten Erscheinungen nicht gestört
wird, ja, daß sie nicht einmal darauf bezogen zu werden braucht, vielmehr
so stark ist, über [59] ihr Zufälliges und
Besonderes hinaus allgemeingültige Bedeutung gewinnen zu können.
Darüber darf man dann bestimmte und ausgeprägte Gegenden
Mecklenburgs nicht vergessen. Einen Teil des Südwestens nennt man hier
im Lande "die graue Gegend". Da findet man Heide und Moorboden, und in dieser
Ecke des Landes haben sich die Wenden vor den eindringenden Germanen
besonders lange gehalten, hier störte man sie auch am wenigsten. Der
Mecklenburger zieht über diese Gegend die Schulter, er liebt sie nicht
besonders, sie ist ihm zu armselig. Trotzdem meint er es nicht abfällig, er
weiß, daß hier ein tüchtiger Menschenschlag wohnt, der
genügsam und fleißig ist und dem kargen Boden das Mögliche
abringt. Hier trifft man auch ein besonders treues Festhalten an alten
Volksüberlieferungen, das, wie es scheint, sich in der letzten Zeit
lebendiger als in anderen Gegenden des Landes auswirkt. Hier hat nach der Sage
einmal Ramm gelegen, die alte Stadt, reich und mächtig wie Vineta und
untergegangen wie diese.
Im Südwesten des Landes findet man auch den schönsten Teil
Mecklenburgs. Die Lewitz ist das, ein weites Gebiet von Wald und Moor und
Wiesen. Hier sind die großen Fischteiche, von einer Unzahl von
Möwen bewohnt, hier lebt noch der mächtige Hirsch, der in der
Brunstzeit über Bruch und Unterholz röhrt, daß es wie Grollen
der Urzeit klingt. Hier gibt es noch wilde Schwäne, den schwebenden
Reiher, herrlich wie am ersten Tag, und auch den Birkhahn kann man beobachten,
Wasserhühner rufen herüber, und hier ist wieder die Weite, das
ebene Land, das stille macht und einen auch dann noch nicht verläßt,
wenn man es schon längst hinter sich gelassen hat. Die seltensten
Vogelpaare Norddeutschlands [60] wohnen hier oder ziehen
doch hindurch, und es macht nichts aus, daß einer einmal berechnet hat, im
Gebiet der Lewitz seien 24 000 Millionen Pflanzen vorhanden,
außerdem 183 Vogelsorten, seltene, verbreitete und allgemeine.
Im Nordwesten Mecklenburgs liegt eins der ausgesprochensten
Heide- und Waldgebiete des Landes, es führt seinen Namen nach Rostock,
der großen Stadt. Und nun mag man mir verzeihen: Hier habe ich mich an
einem Vorherbsttag unter einen alten Baum gesetzt. Da lag nun der Sand, und die
Kiefern bewegten ihre Häupter, langsam, o ja, sehr langsam, viel
langsamer, als sie es in dieser Zeit eigentlich tun durften. Aber sie bedachten,
daß ja auch das Meer drüben, nach der anderen Seite hin, die Ostsee
mit ihrem grünen Strand, immer noch in der alten Weise rauscht, da
behielten auch sie ihre Bewegung bei. Und sie bedachten ferner, daß um
diese Heide und um den Wald einmal, vor fast dreihundert Jahren, großer
Streit und viel Aufregung gewesen war. Damals jagte ein mecklenburgischer
Herzog hier den gekrönten Hirsch, in diesem Gebiet also, das der
größten Stadt des Landes gehörte. Er hatte das Recht von der
Stadt bekommen, und er wollte der Rechte mehr. Aber die Stadt war ohne Furcht
und nahm den Kampf auf. Zuerst verlor der Herzog, dann verlor die Stadt und
dann wieder der Herzog. Und heute sind alle schon lange tot und begraben, der
Fürst und die Bürgermeister und Ratsherren der Stadt, nur die
Kiefern sind noch da, die Heide bewegt ihren Sand, und nichts konnte geschehen,
daß auch sie es aufgaben.
Drüben wußte ich Rostock, die Stadt der alten Tore und der
mächtigen Türme. Da saß ich, und wenn mich niemand trieb,
wollte ich so lange bleiben, bis ich selber ein alter Baum geworden war. Aber
niemand segnete mich, daß ich aus meiner Menschenhaut herauskam, meine
Wurzeln in den Heideboden schlug und mit den Häuptern der alten Kiefern
den Sturm auffing, der von der Ostsee herüberkam. Übrig blieb
zuletzt doch nur ein Mensch, der Mensch, der auszog, das Fürchten zu
lernen, das heilige Fürchten im Angesicht der Heimat. [61=Foto]
|