XVIII. Stimmen zum
Anschluß
[618]
Die Anschlußfrage in der internationalen
Presse
Dr. Stefan Hofer (Wien)
Umwälzungen, welche organisch zusammengewachsene Gebiete
zerreißen und Wirtschaftsvereinigungen, deren Bestand sich im Laufe von
Jahrhunderten als zweckmäßig erwiesen hat, zersprengen,
müssen von großen, ethischen Ideen getragen werden, um vor dem
Urteil der Geschichte und im Bewußtsein der Betroffenen die Berechtigung
ihres Zerstörungswerkes zu verankern und oft unvermeidliche Härten
erträglich zu machen. Fehlt dieser Trost im Völkerbewußtsein,
augenblickliche Widrigkeiten im Dienste einer höheren Idee zu
überwinden, dann ist es selbstverständlich, daß das
Rechtsbewußtsein nach Abhilfe ruft und Unfrieden in die Welt setzt, bis
ausgleichende Gerechtigkeit ihr Versöhnungswerk vollendet hat. Das
"Vae victis" der Sieger konnte als Staatsraison solange seine
Berechtigung haben, als Despotismus und brutale Gewalt Friedensbedingungen
diktieren durften. Wenn aber heute, im Zeitalter des feierlich verkündeten
Selbstbestimmungsrechtes der Völker, gerade ein Staat als Paria
außerhalb des neuen Evangeliums nationaler Neuordnung stehen
muß, dann hat dieses Volk wohl das Recht zur Frage, ob nicht auch diese
Friedensbotschaft auf Trug und selbstischen Zwecken beruhte oder auf die
Interessen Stärkerer zugeschnitten wurde. Denn wir Österreicher
erleben gerade an unserem Schicksal den Beweis, wie trotz feierlicher
Verkündigung selbstverständlichster Völkerrechte dieser
Grundsatz: "Gewalt geht vor Recht" sich heute noch nicht
geändert hat, wie Waffen und böser Wille, der nur eigenen Vorteil
anerkennt, sich gegen Recht und Sittlichkeit stemmen. Da dieser in der uns
feindlichen Weltpresse geführte Kampf gegen Verheißungen
gerichtet ist, welche durch die Friedensschlüsse verwirklicht werden
sollten, durch diese aber unterdrückt wurden, erscheint es notwendig, diese
Ereignisse an die Spitze unserer Betrachtungen zu stellen.
Österreich hat
auf Grund der Wilsonschen 14 Punkte den Waffenstillstand unterzeichnet.
Sein Kriegsziel hatte der amerikanische Präsident in seiner Ansprache in
Mount Vernon am 4. Juli 1918 folgendermaßen festgelegt: "Was
[619] wir suchen, ist die
Herrschaft des Rechtes, gegründet auf die Zustimmung der Regierten und
getragen von der organisierten Meinung der Menschheit." (Baker, Woodrow
Wilson, Memoiren und Dokumente über den Vertrag von Versailles,
übersetzt von C. Thesing, Berlin 1923, Bd. III,
S. 44.)
Das Selbstbestimmungsrecht sollte allen Entscheidungen zugrunde gelegt werden.
"Alle territorialen Abkommen, die dieser Krieg bedingte, müssen im
Interesse und zugunsten der daran beteiligten Bevölkerungen getroffen
werden. Das Selbstbestimmungsrecht ist ein gebieterisches Axiom, das kein
Staatsmann hinfort ohne Gefährdung seiner selbst unbeachtet lassen darf."
(Baker, Bd. I, S. 21.) So sollte ein dauernder Friede ohne das
Gefühl späterer Rachsucht zustande kommen: "Das den Besiegten
auferlegte Gesetz des Siegers würde als demütigende Härte
und unerträgliches Opfer aufgenommen werden. Es würde den
Stachel der Rachsucht und den bitteren Gedanken hinterlassen, aus dem das
Friedensangebot nicht in dauerhafter Weise, sondern wie auf Flugsand ruhen
würde." (Neue Freie Presse vom 2. November 1919,
Abendblatt.)
Es war klar, daß durch diese Anerkennung des Wilsonschen
Völkerrechtes das Ende der alten Habsburgermonarchie gekommen war.
Immerhin konnten sich die Deutschen Österreichs mit dieser Tatsache
abfinden, denn auch für sie war nun, so meinten sie wenigstens, die Stunde
der Vereinigung mit ihren Volksgenossen im Reiche gekommen. Der
österreichische Staatsrat gibt dieser Erwartung Ausdruck, als er
anläßlich der Waffenstillstandsunterhandlungen erklärt:
"Deutschösterreich hält an der Hoffnung fest, daß aus dem
Zusammenbruch
Österreich-Ungarns eine staatliche Ordnung hervorgehen wird, die eine
enge und dauernde Gemeinschaft zwischen dem Deutschen Reiche und
Deutschösterreich begründen wird." (Neue Freie Presse vom
4. November 1919.)
In einem zweiten Schreiben an den Präsidenten Wilson vom 15. November
1919 wird diese Zuversicht neuerlich ausgesprochen: "Herr Präsident! Die
provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs hat am
12. November 1918 einstimmig beschlossen, Deutschösterreich die
Verfassung einer demokratischen Republik zu geben, die ein Bestandteil der
großen deutschen Republik werden soll. Das deutsche Volk in
Österreich hat damit, sein Selbstbestimmungsrecht
ausübend, kundgetan, daß es fortan keiner Staatsgewalt
unterworfen sein will als der, die es sich selbst einsetzt, und daß es die enge
staatsrechtliche Verbindung mit Deutschland wiederherstellen will, die vor
52 Jahren durch das Schwert zerrissen worden ist. Wir hoffen, Herr
Präsident, daß Sie, den von Ihnen so oft ausgesprochenen
Grundsätzen entsprechend, diese Bestrebungen des deutschen Volkes
in Österreich unterstützen werden. Das Recht der Polen, der Italiener,
der Südslawen, die bisher dem österreichischen Staat angehört
haben, sich mit ihren Nationalstaaten außerhalb Österreich zu
vereinigen, haben Sie, Herr Präsident, verfochten. Wir sind
überzeugt, daß Sie dasselbe Recht auch dem deutschen Volk in
Österreich zuerkennen werden."
Dieses Schreiben teilt dem amerikanischen Präsidenten das von der
provisorischen Nationalversammlung beschlossene Verfassungsgesetz vom
[620] 12. November
1918 mit, dessen 2. Absatz lautet: "Deutschösterreich ist ein
Bestandteil der deutschen Republik." Als Staatsgebiet bestimmte das Gesetz
vom 22. November 1918 das geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen
innerhalb des alten Österreichs.
Die Antwort der Mächte auf diese Entscheidung der Deutschen in
Österreich war der Artikel 88
des Vertrages von St. Germain,
welcher, ein Faustschlag gegen das Völkerrecht, der Ausgangspunkt
für Österreichs Kampf um sein Selbstbestimmungsrecht ist: "Die
Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn,
daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt.
Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit
Zustimmung des gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder
unmittelbar oder auf irgendwelchem Wege,
namentlich – bis zu seiner Zulassung als Mitglied des
Völkerbundes – im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten
einer anderen Macht, seine Unabhängigkeit gefährden
könnte."
Österreich mußte den Frieden annehmen, doch die
deutschösterreichische Nationalversammlung legte am 6. September
1919 laut Protest dagegen ein, daß durch St. Germain dem deutschen
Stamm Österreichs die Vereinigung mit dem Reiche untersagt wurde: "Die
Nationalversammlung erhebt vor aller Welt feierlich ihren Protest
dagegen, daß der Friedensvertrag von St. Germain unter dem
Vorwande, die Unabhängigkeit Deutschösterreichs zu
schützen, dem deutschösterreichischen Volke sein
Selbstbestimmungsrecht nimmt, ihm die Erfüllung seines
Herzenswunsches, seine wirtschaftliche, kulturelle und politische
Lebensnotwendigkeit, die Vereinigung mit dem deutschen Mutterlande,
verweigert. Die Nationalversammlung spricht die Hoffnung aus, daß, sobald
der Friede den Geist nationaler Gehässigkeit und Feindseligkeit, den der
Krieg hervorgerufen hat, überwunden haben wird, der Völkerbund
auch dem deutschen Volke das Recht auf Einheit der Nation, das er allen anderen
Völkern gewährt, nicht dauernd verweigern werde."
Dies sind die Voraussetzungen, aus denen Österreich den Kampf um sein
Recht ableitet, es ist die selbstverständliche Abwehr des in seinem
innersten Rechtsempfinden getroffenen, wehrlos gemachten
Staates, dem nur das eine geblieben ist, sein erlittenes Unrecht in die Welt
hinauszurufen. Daß diese damals fast in ihrer Gänze feindliche Welt
immerhin noch die Berechtigung dieses Appells anerkannte, zeigen zahlreiche
Äußerungen, deren Anführung den Siegerstaaten heute wohl
mehr als ungelegen kommen dürfte. War doch selbst in Frankreich das
Empfinden noch nicht erstorben, daß hier ein Wortbruch verübt
wurde, der in seiner nackten Brutalität auch durch juristische
Spitzfindigkeiten nicht beschönigt werden konnte. So erklärte der
französische Senator François Albert in der Debatte über den
Friedensvertrag im französischen Senat: "Der Vertrag setzt in Mitteleuropa
einen wahren Leichnam ein. Welche Versuchung für Österreich,
einen Ausweg nach Deutschland zu suchen." (Neue Freie Presse vom
1. Juli 1920.)
Margaine, der französische Berichterstatter über den
Österreich aufgezwungenen Friedensvertrag, erklärt in seinem
Bericht über den Friedensvertrag, die Prüfung der wirtschaftlichen
Bestimmungen habe ihn zur Überzeugung gebracht, daß
Österreich, auf sich allein gestützt, nicht leben
könne.
[621] Ähnlicherweise
bezeichnet Marcel Sembat in der Diskussion über den Friedensvertrag von
St. Germain den Vertrag als "sehr anfechtbar". Man habe Österreich
als den Rest betrachtet, der nach Abzug der neubegründeten
Nationalstaaten übriggeblieben sei. Die staatliche Gruppierung sei von der
Friedenskonferenz als arithmetisches Rechenexempel und die Gründung
des neuen Österreichs als einfache Subtraktion aufgefaßt worden. Der
Rest ist aber allein nicht lebensfähig. (Neue Freie Presse vom
28. Mai 1920, Abendblatt.)
Am schärfsten lautet das Urteil des französischen Blattes
Humanité vom 29. Mai 1920: "Indem die
Mächtekonferenz der österreichischen Republik verbot,
über sich selbst zu bestimmen und zu gleicher Zeit ihr alle
Möglichkeit nahm, mit den Nachfolgestaaten des alten Österreichs
eine neue Verbindung einzugehen, hat sie sich an den Leitlinien selbst vergangen,
die sie für den Frieden der Gerechtigkeit festgelegt hatte. Österreich
bietet das Schauspiel eines Elendes, das für Österreich geradezu
tödlich, für die Menschheit aber tief beschämend ist."
Geradezu vernichtend aber ist das Urteil, das im Jahre 1923 anläßlich
der Beratung des französischen Senats über das Garantiegesetz
für Österreich der Referent Dausset über den Friedensvertrag
fällte: "Der Frieden von St. Germain hat ein neues Österreich
geschaffen, das ohne fremde Hilfe nicht lebensfähig ist. Es hat
wenig Zweck, gegen den schon bestehenden Vertrag zu polemisieren. Jedermann
weiß, daß dieser ohne Anpassung an die besonderen
Verhältnisse Österreichs einfach vom Versailler Vertrag
abgepaust wurde." (Neue Freie Presse vom 2. Jänner
1923.)
Die gleiche Verurteilung fand dieser Friedensvertrag auch in Italien und
England. Im englischen Oberhaus erklärte Lord
Buckmaster, Hunger sei der stete Gefährte des österreichischen
Volkes, weil die Mächte im Friedensvertrage die wirtschaftlichen
Notwendigkeiten Wiens und des umliegenden Gebietes vollständig
ignoriert haben. Lord Parmoor bezeichnet den Vertrag mit Österreich als
hoffnungslos und unmöglich. Wenn er nicht entscheidend geändert
werde, verurteile er Österreich zur Rolle des ewigen Bettlers. (Neue
Freie Presse vom 27. April 1920.)
Dieser Beurteilung entspricht der Antrag der Opposition, den diese im
Unterhause gegen den Frieden eingebracht hatte: "Hinsichtlich
Österreichs und Bulgariens wird erklärt, den Grundsatz der
Selbstbestimmung zur Anwendung zu bringen, da der Vertrag in seiner jetzigen
Form Keime für einen neuen Krieg in der Zukunft enthält." (Neue
Freie Presse vom 15. April 1920.)
Ebenso hart ist das Urteil der italienischen Kommission
anläßlich der Ratifizierung des Vertrages von St. Germain:
"Die Kommission hebt die durch den Vertrag im Artikel 88 sanktionierte
Ungerechtigkeit hervor, Österreich zu verbieten, sich Deutschland
anzuschließen, ein Verbot, das eine offenkundige Ungerechtigkeit und
für die Interessen Italiens Gefahr und Schaden bedeute." Der Bericht betont
den Gegensatz zwischen den durch feierliche Erklärungen
bekräftigten Grundsätzen, welche die Grundlage des Friedens
hätten sein sollen, und der Wirklichkeit, wie sie in den Bestimmungen des
Friedensvertrages zutage treten. (Neue Freie Presse vom 7. August
1920.)
[622] Nicht weniger scharf
ist auch die Ansicht amerikanischer
Staats- und Finanzmänner über die Vergewaltigung
Österreichs. Der heutige Präsident Hoover hatte schon 1920
die Forderung nach einer Revision des Friedensvertrages ausgesprochen,
als er in seiner Erklärung über den wirtschaftlichen Aufbau Europas
sagte: Wenn es auf ihn ankäme, würde er den Kredit für
Österreich verweigern, bis die Alliierten den Friedensvertrag dahin
geändert hätten, daß die Vereinigung Österreichs
mit Deutschland gestattet werde. (Neue Freie Presse vom
11. Jänner 1920.)
Und in seiner Botschaft über die finanziellen und wirtschaftlichen
Bedürfnisse Europas bezeichnet Hoover Österreich als den am
stärksten mitgenommenen Staat Europas. Die Alliierten
müßten zur Einsicht gebracht werden, daß Österreich die
Freiheit haben müsse, politische Bündnisse einzugehen, durch die es
aus dem ewigen Armenhaus erlöst werde. (Neue Freie Presse vom
10. Jänner 1920, Abendblatt, und 31. Jänner 1920.)
Vor dem Ausschusse des Repräsentantenhauses erklärte Hoover, die
europäischen Mächte seien verantwortlich für die Lage in
Österreich, denn sie hätten Österreich gezwungen, einen
Vertrag zu unterschreiben, der dem Lande seine früheren Ackerbaugebiete
raubte. Hoover schlug vor, die Schwierigkeiten dadurch zu lösen, daß
es Österreich gestattet werde, sich an Bayern anzuschließen.
(Neue Freie Presse vom 15. Jänner 1920, Abendblatt.)
Zu gleichem Ergebnisse gelangte der amerikanische Finanzier Otto H. Kahn, der
sich in der Neuen Freien Presse vom 4. Juni 1922
folgendermaßen über die "Fehlerhaftigkeit, Querköpfigkeit
und schädliche Wirkung" der Friedensverträge äußerte:
"Sie haben einen wirtschaftlichen und in gewisser Beziehung auch einen
politischen Wirrwarr geschaffen. Sie haben den Grund gelegt zu einem nie
endenden Streit. Sie haben die geschichtliche Logik von Jahrhunderten
übersehen oder willkürlich beiseite geschoben. Sie haben
zusammengehörige Volksstämme auseinandergerissen und solche,
die getrennt werden sollten, zusammengewürfelt. Sie haben
Machtsphären und ökonomische Grenzsperren aufgerichtet, welche
ebenso unerträglich wie unhaltbar sind."
Diese Verurteilung des Friedensvertrages seitens der Amerikaner erklärt
sich durch die Stellungnahme der amerikanischen Staatsmänner dem
österreichischen Nationalitätenstaate gegenüber. So hatte der
Marineminister Daniels im amerikanischen Kongreß erklärt, Amerika
werde darauf bestehen, daß der Friedensvertrag den kleinen Nationen
dieselben Rechte gewährt wie den großen. Die Vereinigten Staaten
werden von der Friedenskonferenz Gerechtigkeit verlangen und nicht gestatten,
daß Rache geübt werde. (Neue Freie Presse vom
14. Dezember 1919.)
Und nach dem Vorschlage des Staatssekretärs Robert Lansing sollte
Österreich, "auf seine alten Grenzen beschränkt", dem Deutschen
Reiche angegliedert werden.
Kann man sich nach all dem Gesagten wundern, daß der Friedensvertrag in
Österreich jenes Gefühl der Vergewaltigung erzeugte, das sich in
flammenden Protesten über den Bruch feierlich zugesagter
Versprechungen an das Weltgewissen wandte? Und daß als Antwort
auf diese Protestrufe jene Bewegung einsetzte, welche man als
Pressekampagne gegen den
An- [623] schluß in den
Ländern der Großen und Kleinen Entente bezeichnen kann? Als
Führer dieser gegen den Anschluß gerichteten Fehde ist
Frankreich zu betrachten, dessen Presse seit dem Niederbruche der
Mittelmächte die Argumente gegen den Anschluß
zusammenhält, sie jeweils wechselnden Voraussetzungen anpaßt und
durch geschickte Kombination den Eindruck erweckt, als würde ein
ununterbrochener Sturm der Entrüstung sich gegen unberechtigte
Forderungen unvernünftiger und engstirniger Kleinstaatler erheben. Die
Grundzüge dieser Pressekampagne greifen auf die Argumente
zurück, mit denen von den Politikern Frankreichs das
Selbstbestimmungsrecht Österreichs abgetan wurde, sie mögen daher
an erste Stelle gesetzt werden.
Das Selbstbestimmungsrecht durfte keine Vergrößerung
Deutschlands ermöglichen. Diese Forderung wurde in der
Kammersitzung vom 29. Dezember 1918 vom damaligen
Außenminister Frankreichs, Pichon, in folgender Weise
präzisiert:
"Es bleibt noch die Frage der
Deutschen Österreichs. Sie ist ernst, sie soll uns aber nicht erschrecken. Wir
verfügen über Mittel, sie derart zu lösen, daß sie unseren
Feinden nicht die Kompensationen und Hilfsquellen bringt, die sie sich von ihr
versprechen. Es wird bei der Regelung der neuen Lage Deutschlands und der
Trümmer Österreichs von den Verbündeten abhängen,
Maßregeln zu ergreifen, welche die Macht Deutschlands einschneidend auf
das gebührende Maß herabmindern und ihr so die
Möglichkeit nehmen werden, sich an den außerhalb
Tschechoslowakiens, Polens und Südslawiens gebliebenen
österreichischen Stämmen schadlos zu halten für das, was sie
durch Sanktionierung unseres Sieges nach jeder Hinsicht unwiderruflich verloren
haben wird. Dieser Sieg muß sich daher in erster Linie in alle seine
gerechten Folgen und die Ausübung der Rechte umsetzen, welche er
uns über die Besiegten gibt, um ihnen die Möglichkeit zu
nehmen, die Sicherheit und Freiheit der Welt neuerlich zu
gefährden."
Renaudel: "Wenn die Deutschösterreicher sie selbst
proklamieren?"
Der Minister: "Glauben Sie nicht, daß uns der Sieg
diese Rechte über die Besiegten verleiht?"
Renaudel: "Nicht
diese!"
Als Begründung für diesen offensichtlichen, auch von Franzosen
empfundenen Bruch des Völkerrechtes wurde ein höherer, ethischer
Zweck angegeben: Frankreich mußte für seine Sicherheit in
der Zukunft Sorge tragen und aus diesem Grunde den Anschluß verbieten.
Denn der Anschluß wäre der zweite Krieg gegen Frankreich, wie der
Senator M. Chènebenoit darlegte: "Glauben Sie, daß
Frankreich nicht allen Grund hat zu fürchten, daß Deutschland, wenn
es sich an der Spitze einer solchen Bevölkerungszahl und eines solchen
Übermaßes an Kraft sieht, nicht das zweite Mal den Gebrauch davon
machen will, den es schon einmal versucht hat?" (Auerbach, Le Rattachement
de l'Autriche à l'Allemagne, S. 183.)
Die Sorge um ihre Sicherheit wird von den Franzosen durch den Hinweis
verschleiert, daß sie als uneigennützige Sieger nicht nur
für sich selbst sorgen müßten. Wieder ist es der
früher genannte Chènebenoit, der dem ahnungslosen Senat die
kommende Politik Deutschlands ausmalt: "Der [624] Anschluß an
Deutschland aber ist die Gründung eines kompakten Blockes, eines rein
deutschen Blockes von 75 Millionen Einwohnern, das ist Wien und Berlin
vereinigt, das ist die Hand auf die Donau gelegt, die Wiederaufnahme des Dranges
nach dem Osten, das ist Böhmen ganz eingeschlossen und zur Ohnmacht
verurteilt, das ist noch mehr, es bedeutet, daß Deutschland bis Ungarn reicht
und dieses an sich zieht..., es ist die Bedrohung Serbiens und vielleicht auch die
Rumäniens." (Auerbach, Le Rattachement, S. 183.)
Eindeutiger entwickelte der Senator de Monzie am 27. April 1921 im Senat diese
These, Frankreichs Interessen vor Österreichs Selbstbestimmungsrecht in
den Vordergrund zu schieben:
"Wenn man in die Zukunft blickt, muß man anerkennen, daß die
Erhaltung eines selbständigen Österreichs für Frankreich von
elementarer Wichtigkeit ist, und zwar in jeder Hinsicht wirtschaftlich wie
strategisch... Wenn der Anschluß gelänge, so hätte
Deutschland zweifellos nachträglich den Krieg gewonnen. Dies muß
unter allen Umständen verhindert werden, und zwar durch eine
Österreich freundliche, großzügige Politik." (Neue Freie
Presse vom 27. April 1921.)
Und bald darauf erweitert die Liberté vom 30. Mai 1921 den
Interessenkreis der angeblich gefährdeten Mächte, indem sie die
Behauptung aufstellt, daß es für Italien wie für
Frankreich gleich gefährlich wäre, Deutschland wegen
seiner Machtpläne zum Nachbarn zu haben. Keine Verstärkung
Deutschlands! So lautet demnach das französische Programm, das
Cablegramme vom 10. August auch für die anderen deutschen,
dem Reich entrissenen Provinzen in Anwendung bringen will. Denn der
französische Standpunkt Österreich gegenüber sei der gleiche
wie in der oberschlesischen Frage, und gehe dahin, daß Frankreich eine
Verstärkung Deutschlands nicht zulassen könne. Und der
Eclair vom 3. Oktober 1921 prägt die Forderung nach einer
neuen Wacht an der Donau, wenn er pathetisch ausruft: "Wachen wir also
über das Heil Frankreichs nicht nur am Rhein, sondern auch
an der Donau." Im gleichen Sinn äußert sich noch im
gleichen Jahre M. Dunan in seinem Buche L'Autriche durch die
Feststellung: "Geben wir Österreich auf, dann ist die Barriere aufgestellt
zwischen uns und unseren slawischen Freunden."
Mit diesem Argument, Frankreichs Sicherheit halber die Anschlußforderung
Österreichs zu negieren, konnten die französischen und die
Blätter der Großen und Kleinen Entente auf angeblich höhere
Ziele hinweisen, wenn es galt, die an und für sich unbestreitbare Tatsache
zu beschönigen, Siegermacht statt Völkerrecht
angewendet zu haben. Schon im Titel der verschiedenen Erörterungen soll
der Eindruck der Bedrohlichkeit erweckt werden. So erörtert Louis Martin,
Senator des Departements le Var, in der Revue mondiale vom
15. Dezember 1927: "Die beängstigende Frage des Anschlusses." Er
geht von der Behauptung aus, daß der wirkliche Sieger des Weltkrieges erst
nach dreißig Jahren erkannt werden könne. Frankreich habe heute
40,743.851 Einwohner, Deutschland 62,565.000, Österreich 6,522.000. Der
Anschluß würde die Einwohnerzahl Deutschlands auf 69,086.000
bringen, die in absehbarer Zeit ins Unermeßliche steigen
müßte. Außerdem würde das so vergrößerte
Reich nun [625] das
Gravitationszentrum für alle deutschen Minderheiten in Europa werden,
was selbstverständlich eine dauernde Quelle von Beunruhigungen
schaffe.
Aber nicht nur der Bevölkerungszuwachs Deutschlands allein ist das
gefährliche Moment für Frankreichs Sicherheit, andere Argumente
müssen dem entsetzten Leser die Gefährlichkeit des
Anschlusses Österreichs recht eindringlich vor Augen führen.
Frankreichs Inferiorität im künftigen Kriege gegen Deutschland ist
durch den Anschluß zu befürchten, da Österreichs
Eisenvorräte dem Reiche die Möglichkeit artilleristischer
Überlegenheit geben. Das ist die Entdeckung Leon Daudets, der in der
Action Française vom 28. August 1928 unter der Aufschrift
"Der Anschluß und der kommende Krieg" vor den Folgen der Vereinigung
Österreichs mit Deutschland warnt. Nicht der Anschluß
Österreichs an Deutschland ist das Sorgenkind Daudets, sondern die
Vereinigung der beiderseitigen Eisenindustrien, welche die Verstärkung der
deutschen Artillerie ermöglichen würde.
Und die in dem militärischen Fachblatt La France Militaire
ausgesprochenen Befürchtungen bringt Figaro vom 16. Juli
1929 vor die weite Öffentlichkeit, wenn er die österreichische
Wehrmacht für so gefährlich hält, die Sicherheit Frankreichs
ernsthaft in Frage stellen zu können. Man dürfe die kleine
österreichische Armee, die ungefähr 20.000 Mann zählt, nicht
als Bagatelle behandeln, da dieser Kader imstande sei, jederzeit 300.000 bis
400.000 Mann aufzustellen und auszurüsten. Ferner gewinnt das kleine
Österreich durch seine Lage im Mittelpunkt Europas besondere strategische
Bedeutung. Österreich erlaubt Deutschland, zugleich mit Italien,
Jugoslawien und Ungarn in Verbindung zu treten, die Tschechoslowakei nahezu
vollständig einzuschließen und im Fall einer Besetzung
Österreichs durch die Reichswehr jede Verbindung Frankreichs mit seinen
tschechischen und polnischen Verbündeten über die Schweiz zu
unterbinden.
Auch in allgemeinen Ausdrücken, die nur auf Beeinflussung
gläubiger, unkritischer Gemüter berechnet sind, soll dieses
Gefühl einer Stellungnahme gegen den Anschluß in der
französischen und damit internationalen Leserwelt hervorgerufen werden.
Als bezeichnendes Beispiel dieser Art kann Petit Bleu vom
23. Oktober 1927 angeführt werden, der die Mächte fragt, ob
sie den Anschluß geschehen lassen wollen: "Nur um im Herzen Europas das
furchtbarste Instrument der Beherrschung aufrichten zu lassen, das man je
gesehen hat und das unter der methodischen Führung der Preußen
für alle Völker eine beständige Drohung sein wird." Und ganz
ernsthaft erörtert die schon früher genannte Zeitschrift La France
Militaire in einem zweiten Artikel vom 8. Oktober 1929 die
Möglichkeit der österreichschen Mobilisierung, weist darauf hin,
daß die beiden Staaten schon eine Art militärischen Anschlusses in
der Ausrüstung der Heere getroffen haben, und beklagt es, daß die
Polizei durch die inneren Unruhen eine Art Mobilisierungsübung
durchgemacht habe, die sie im gegebenen Falle gut verwerten könnte. Trotz
der Kleinheit der Armee bestünden Kader für 400.000 Mann,
außerdem seien in Österreich noch eine Menge Waffen und
Kriegsmaterial versteckt. So versteht man es, daß in allen
französischen Blättern dieses Argument, Frankreich sei trotz seiner
Millionenarmee, seiner Überlegenheit in Tanks und Geschützen
in seiner Sicherheit bedroht, zum [626] Dogma geworden ist,
das keiner Begründung mehr bedarf. Die Phrase genügt und kann
mehr oder weniger ausgeführt werden, wenn etwa L'Opinion
Financière et Politique vom 29. September nur kurz
erklärt, der Anschluß bedeute eine Gefahr für Frankreich, oder
der Temps vom 24. Juli 1928 darüber klagt, die
europäische Ordnung, wie sie durch den Sieg der Verbündeten
begründet wurde, sei in Gefahr und der Friede in Mitteleuropa werde durch
die aktivsten Elemente des Alldeutschtums bedroht.
Um aber dem Vorwurfe zu entgehen, eigenen Interessen das so feierlich
verkündete Völkerrecht geopfert zu haben, übernimmt
Frankreichs Pressepolemik gegen den Anschluß auch die Interessen der
verbündeten Nationalstaaten, welche auf Kosten der deutschen
Bevölkerung eben auf Grund des den Deutschösterreichern versagten
Selbstbestimmungsrechtes gegründet wurden. Diesen neuen Staaten werden
die Auswirkungen einer solchen Vergrößerung Deutschlands in den
schwärzesten Farben ausgemalt. Der Hinweis auf Deutschlands Drang nach
dem Osten genügt, um die unglaublichsten Verdächtigungen und
Beschuldigungen dem Reiche gegenüber vorzubringen. Diese Furcht vor
dem Drange nach dem Osten war schon der Anlaß gewesen, die
tschechoslowakische Republik zu gründen. "Vom strategischen Standpunkt
aus ist der tschechoslowakische Staat eine europäische Notwendigkeit
geworden. Er ist das Defensivglacis, welches auf der Ostseite Frankreichs,
zwischen Abendland und Rußland, liegt. Das Kriegsziel ist, wie
Präsident Masaryk ausgesprochen hat, die Abwehr des deutschen Dranges
nach dem Osten. Daher muß der tschechoslowakische Staat, um seine
Mission zu erfüllen, die Grenzen behalten, welche den deutschen
Stoß aufhalten können." (B. Auerbach, Le Rattachement de
l'Autriche, S. 37.)
Aus diesem Grunde wird es erklärlich, daß sich das in seinem
Bestande bedrohte Frankreich nach Freunden in gleicher Gefahr umsieht
und den "Historischen Opfern des Germanismus", wie Figaro vom
5. September 1927 diese Staaten bezeichnet, das Schreckgespenst des
deutschen Dranges nach dem Osten vor Augen hält. So äußert
sich schon der Matin vom 21. März 1921 über die
Folgen des Anschlusses in diesem Sinne: "Deutschland würde bis
Klagenfurt reichen und bis an das Adriatische Meer vorstoßen, es
würde ein großer Staat werden, und auch die deutsche
Bevölkerung der Tschechoslowakei würde nicht zögern, das
Beispiel ihrer Landsleute in Österreich nachzuahmen. Es würde dann
eine Fusion eintreten, deren Wirkung wäre, die Bevölkerung des
Reiches um 10 Millionen zu vermehren und Deutschland einen Weg nach
dem Orient, der Donau entlang, zu ebnen."
In allen Pressestimmen der Nachkriegszeit werden diese Behauptungen in mehr
oder weniger plumper, oft drastischer Weise variiert.
Verhältnismäßig ruhig ist Petit Parisien vom
24. Juli 1927, der erklärt, Deutschland würde nach dem
Anschluß eine starke Ostpolitik beginnen, die zum Zusammenstoß
mit den Slawen führen müßte. Zusammenfassend entwickelt
dagegen Revue Politique et Parlamentaire vom 10. August 1927 die
hier für alle Staaten in Betracht kommenden Gesichtspunkte: "Ist
Deutschland Österreichs Herr geworden, so bedeutet das den Triumph des
Pangermanismus, es ist die Verwirklichung des Reiches, das sich über
75 Millionen Untertanen erstreckt, [627] Ungarn mit
unwiderstehlicher Macht in seinen Bereich zieht und die Tschechoslowakei
einkreist, die ihm dann ausgeliefert ist. Das bedeutet für Deutschland und
Italien eine gemeinsame Grenze von 500 km, für Rumänien
und Jugoslawien eine Wiederaufnahme des Dranges nach dem Osten, der diesmal
frei von allen Hindernissen ist, die er vor 1914 in der slawischen
Bevölkerung
Österreich-Ungarns fand." Und Pertinax erklärt im Echo de
Paris vom 30. August 1928, die Verwirklichung des Anschlusses
würde in der Tat die offensive Rückkehr zur germanischen
Vorherrschaft über die erst vor kurzer Zeit befreiten slawischen
Völker in
Mittel- und Osteuropa bedeuten. Auch die romanischen Staaten werden diese
Expansion zu spüren bekommen, und Midi vom
23. November 1929 geht in dieser Hinsicht schon weiter, indem es den
Anschluß als antilateinisch bezeichnet und darauf hinweist,
daß die Deutschen durch die Einverleibung Österreichs ihre Stellung
im Südosten und auf dem Balkan verstärken wollen. An zwei nach
dieser These Frankreichs am meisten bedrohten Staaten werden diese Mahnungen
in reichlichstem Ausmaße gegeben, an Italien und an die
Tschechoslowakei. So will Action Française (Paris) vom
27. August 1929 die Gefährlichkeit der alldeutschen Bestrebungen
des Pangermanismus nachweisen, der in seinem Wunsche, den Anschluß zu
verwirklichen, den gefährlichsten Gegner seiner Vergrößerung,
die Tschechoslowakei, durch eine geschickte Propaganda unter den Deutschen der
tschechoslowakischen Republik schwächen wolle. Wenn der
Anschluß vollzogen würde, wäre die Tschechoslowakei
vollständig Deutschland ausgeliefert, da der Export dann über Wien
oder Hamburg gehen müßte. Schon jetzt sei die wirtschaftliche
Selbständigkeit der Tschechoslowakei ernstlich bedroht.
Die tschechische Presse hat auch in getreuer Gefolgschaft diese These in
zahlreichen Erörterungen entwickelt und Frankreich kann hier auf einen
gelehrigen Schüler blicken. Bezeichnend sind dafür die im
Narod vom 3. Mai 1927 vertretenen Gedanken: "Diese Vereinigung
würde bewirken, daß unsere Republik von Norden, Westen und
Süden vom Gebiete des Deutschen Reiches umschlossen würde.
Schon diese einfache Tatsache wäre eine schwere Bedrohung unseres
Staates in strategischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Bedenken wir
nur, wie dadurch unter gewissen Bedingungen unsere Verbindung mit dem
südslawischen Bundesgenossen unterbunden wäre." Es ist demnach,
erklärt das Blatt, Aufgabe der tschechoslowakischen Außenpolitik,
immer wieder darauf aufmerksam zu machen, daß die
Anschlußagitation den europäischen Frieden gefährdet, sie sei
mit allen diplomatischen Mitteln zu paralysieren.
Und anläßlich des Sängerfestes im Juli 1928 vertraten die
tschechischen Blätter die Ansicht, daß die Tschechoslowakei aus
nationalen und wirtschaftlichen Gründen gegen den Anschluß sein
müsse. Selbst wenn man die ethischen Gründe des
Anschlußgedankens anerkenne, müsse den tschechischen
Staatsmännern die schwer errungene politische und wirtschaftliche
Selbständigkeit näherstehen, die durch den Anschluß auf das
schwerste bedroht sei. Die Hauptsorge der Tschechoslowakei bestehe in der
Furcht, erst wirtschaftlich und dann politisch ein Vasallenstaat Deutschlands zu
werden. Wenn man die [628] Anschlußfrage
als ein Produkt elementarer Wünsche hinstelle, dürfe man nicht
vergessen, daß die Gründe, die die Tschechoslowakei zur Ablehnung
des Anschlusses führen, ebenso elementar seien und dem Wunsche nach
Selbsterhaltung entspringen. (Der Anschluß vom 15. August
1928.)
Italien wieder wird die Gefahr vor Augen gestellt, welche die
Nachbarschaft eines so machtlüsternen Reiches bedeute. Die Adria sei dann
nur mehr 100 km von der Grenze Deutschlands entfernt (Matin
vom 13. Juli 1927) und Italien muß, wie der Temps vom
1. Februar 1927 teilnehmend feststellt, für Triest fürchten, von
dem ja Bismarck
selbst erklärt hatte: "Triest ist der große
Zukunftshafen Deutschlands." Die "Deutsche Pickelhaube am Brenner" ist der
Alarmruf, der die Italiener schrecken soll, um sie in Fragen des Anschlusses an
Frankreichs Seite zu ketten. Doch gerade in Italien finden diese Ermahnungen
nicht immer ein geneigtes Ohr und das Selbstbewußtsein der Italiener
spricht sich dagegen aus, "in Frankreichs Dienst" Gefolgschaft zu leisten.
Bezeichnend hiefür sind die Ausführungen des römischen
Blattes Tevere, der dem Temps vom 5. Oktober 1927
erklärt, es sei unmöglich, eine Entente mit Frankreich nur in der
Abwehr des Anschlusses auf einen einzigen, noch dazu negativen Punkt zu
begründen. "Warum soll sich Italien in den Dienst Frankreichs stellen, das
ihm überall sonst nur Schwierigkeiten bereitet? Italien wird seine Politik
der französischen nicht unterordnen, seine Handlungsfreiheit und eine
Karte im Spiele freiwillig preisgeben, einer rein negativen Zusammenarbeit
wegen." (Siehe Anschluß vom 15. Oktober 1928.)
Schärfer noch sind die Ausführungen der Tribuna (Rom)
vom 17. Februar 1927, die sich unter dem Titel "Die Anschlußfrage"
gegen die französische Mentalität wendet, die in einer Vertiefung der
deutsch-italienischen Beziehungen Anlaß zu Besorgnissen zu haben glaube.
Der Anschluß spiele in diesen Erörterungen der französischen
Presse als Pressionsmittel die größte Rolle, da man immer darauf
hinweise, daß im Falle des Anschlusses Österreichs an Deutschland
Italien in größter Gefahr schwebe. Dabei weisen die
französischen Blätter immer auf die Übereinstimmung der
italienischen und französischen Politik hin und betonen, daß Italien
sich unmöglich selbst umbringen wolle. Die Tribuna wendet sich
nun scharf gegen diese Auffassung. "Es wäre endlich angebracht, daß
sich die Wahrheit Bahn breche, daß Italien nicht immer wie ein
Hund der französischen Politik folgen müsse nur wegen der
Angst, an seiner Grenze die Stiefelnägel der deutschen Soldaten statt der
österreichischen Menageschalen zu sehen." Man versteht diese
Ausfälle, wenn man die Stellungnahme des französischen radikalen
Blattes La Republique gegenüber dem deutschen
Minderheitsproblem in Südtirol in Erwägung zieht. Denn um die
Italiener vom Anschluß abzuhalten, vertritt das Blatt die Forderung, den
Widerstand der Deutschen in Tirol gegen die Italiener zu stärken.
"Frankreich", so schreibt die Republique, "hat alles Interesse daran, den
deutschen Irredentismus in Südtirol wachzuhalten; denn damit verhindert es
jene Allianz der Gewalt der Alpen und des Rheins, die für Frankreich die
Gefahr für morgen ist." (Anschluß vom 25. April
1930.)
Diese Sorge um die Verbündeten an der Donau führt zu der bereits
früh erhobenen Forderung, daß Frankreich eine aktive
Donaupolitik gegen [629] den Anschluß
betreiben müsse, wie der Senator Chènebenoit ausführte: "Es
ist notwendig, daß Frankreich da unten eine Donaupolitik führe, wie
es eine Rheinpolitik hat." Dazu gehört aber auch die notwendige
Entschlossenheit, wie der Senator ganz offen hervorhebt: "Wenn man aber eine
Politik inauguriert und fortsetzt, dann darf man sich selbstverständlich nicht
mit einer Proklamation von Prinzipien begnügen. Man muß eine
tatkräftige und praktische Politik betreiben, nicht nur in Paris, sondern auch
in Wien." (Auerbach, Le Rattachement, S. 183.)
Diesem Hinweis auf eine Donaupolitik kamen die französischen
Blätter und die in ihrem Solde stehende Presse der Nachfolgestaaten
dadurch nach, daß sie die Forderung nach einer
Donauföderation mit allen möglichen Varianten der
Ausführungsmöglichkeiten vertraten. So sieht Echo National
vom 21. August 1922 eine Lösung der schwierigen Lage
Österreichs in der Bildung einer Donauföderation. Der Matin
vom 23. August 1922 verlangt ein wirtschaftliches Statut der Donaustaaten
und weist am 24. August 1922 auf einen anderen Anschluß hin,
nämlich auf den wirtschaftlichen Zusammenschluß mit der
Tschechoslowakei und Jugoslawien. Und noch im Jahre 1926 schreibt der
Temps: "Die wirtschaftliche Gruppierung der Donaustaaten ist eine
absolute Notwendigkeit, wenn man ein für allemal mit allen Plänen
Deutschlands aufräumen will, Österreich zu annektieren. Diese
wirtschaftliche Gruppierung würde Österreich erlauben, in seiner
Würde zu leben und würde Wien seine Bedeutung einer
Handelsgroßstadt in Mitteleuropa zurückgeben." (22. Mai
1926.)
In Form von Ratschlägen, ja von Drohungen wendet sich Frankreich an die
Nachfolgestaaten. Diese müßten nach dem Temps vom
11. Dezember 1920 für diese Politik gewonnen werden und im Jahre
1921 wurde der Tschechoslowakei und den Nachfolgestaaten sogar die
Gewährung ihrer Anleihen nur unter dieser Bedingung in Aussicht
gestellt.
Bestimmend für diesen Punkt der Pressekampagne wurde der Bericht der
Wirtschaftsexperten an den Völkerbund über die Lage
Österreichs. Dieser Bericht weist auf die Absatzschwierigkeiten der
österreichischen Industrie hin und gipfelt in dem Satz: "Gebt
Österreich die Möglichkeit, seine Produktion abzusetzen, und die
Umstellung wird sich ohne schwere Erschütterungen vollziehen."
Auf diesem Gutachten fußen nun die Ausführungen der
französischen Presse in den folgenden Jahren. So glaubt Express du
Midi (siehe Anschluß vom 15. August 1927), daß
nur ein einziges Heilmittel gegen die Krise bestehe, die Bildung einer
Donauföderation. Volonté vom 17. November 1927
will, daß man Wien die Möglichkeit gebe, zu leben, um wieder
Wohlstand zu erwerben, wodurch der Verwirklichung
deutschösterreichischer Pläne entgegengetreten werde. Im Journal
des Débats vom 29. Juni 1927 kommt Marcel Dunan zu
folgendem Schluß: "Das Problem der Unabhängigkeit
Österreichs ist in Wirklichkeit ausschließlich wirtschaftlich. Es
muß auch auf wirtschaftlichem Boden seine Lösung finden."
Praktische Ratschläge wollen das Interesse Frankreichs beweisen, die
Ausführung wird aber bezeichnenderweise den Nachbarn Österreichs
über- [630] lassen. So befaßt
sich die Correspondance Havas vom 28. Juni 1927 in zwei
ausführlichen Briefen aus Österreich: "Das Leben Österreichs
und der Anschluß", mit dem angeführten Problem und kommt zu
folgendem Schlusse: "An dem Tage, an dem die Lebensfähigkeit
Österreichs nicht länger mehr in Zweifel steht, wird der
Anschlußgedanke sein Hauptargument verloren haben. Man muß also
die Lebensfähigkeit des österreichischen Staates sichern... Man
muß die österreichische Ausfuhr erleichtern." Dazu soll nach den
Ausführungen des Blattes ein wirtschaftlicher mitteleuropäischer
Block geschaffen werden. Um aber die wirtschaftliche Lage Österreichs zu
heben, könnten die Westmächte Verfügungen treffen, die
"unsichtbaren Exporte" der österreichischen Industrie zu fördern,
weshalb in Paris eine dauernde Ausstellung österreichischer
Industrieerzeugnisse stattfinden solle, um den zahlreichen Amerikanern, die nach
Frankreich kommen, Gelegenheit zu geben, österreichische Industrie
kennenzulernen und sie so zur Weiterreise oder zur Eröffnung
wirtschaftlicher Beziehungen zu bewegen.
Energischer ist Auguste Gauvain in der Prager Revue Zentraleuropa. Er
wendet sich gegen die Ansicht, daß Österreich nicht
lebensfähig sei, und sieht die tiefere Wurzel des österreichischen
Übels in der Rolle der Stadt Wien, die für sich allein einen Staat von
zwei Millionen Einwohnern bilde. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten,
insbesondere die große Zahl der Arbeitslosen, könnten durch
Erleichterung der Auswanderung, insbesondere nach Amerika, beträchtlich
verringert werden. (Siehe Anschluß vom 15. September
1927.)
In den Nachfolgestaaten fanden diese Winke oft wenig Verständnis. So
erhebt die Prager Reforma vom 9. Mai 1928 die Forderung, die
Tschechoslowakei müsse auf eine "freie und elastische Gruppierung" der
völlig selbständigen Staaten Mitteleuropas um die Kleine Entente
hinarbeiten. Zu diesem Zwecke solle eine Zusammenarbeit mit Österreich
und Ungarn im Rahmen der Kleinen Entente hergestellt werden. Diese Politik,
welche einer Neuorientierung der tschechischen Republik gleichzukommen
schien, indem auch Deutschland als Partner in Betracht kommen konnte, wurde
im Corriere della Sera vom 31. Mai 1928 bekämpft, der
darauf hinweist, daß im Falle der Verwirklichung des Planes, Deutschland
in die Interessensphäre der Kleinen Entente zu ziehen, der ganze
Staatenblock unter die Führung Frankreichs käme, wodurch dann
Italien auch im Norden dem französischen Druck ausgesetzt
wäre.
Diese Bestrebungen, Österreich in eine Donauföderation
hineinzubringen, beziehungsweise die damit verbundene Pressekampagne fanden
erst durch die Erklärung des Bundeskanzlers Dr. Seipel ihren
Abschluß, als dieser verkündete, Österreich werde sich keiner
Mächtekombination anschließen, in der nicht auch Deutschland
vertreten sei.
Frankreichs Sorge um die eigene Sicherheit, vor allem aber um den Schutz seiner
Verbündeten geht noch weiter und faßt das "Wohl des
früheren Feindes" ins Auge, selbstverständlich von der
höheren Warte französischer Interessen aus. So soll die
Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes der österreichischen
Deutschen aus edleren Beweggründen, als es Rachsucht und Furcht waren,
begründet und vor dem Urteile der Welt gerechtfertigt werden. Das
Anschlußverbot wurde Österreich zuliebe ausgesprochen, da
Frank- [631] reich Österreich
als ein Opfer der Alldeutschen betrachtet und diesen ihre Beute zum
Heile der Welt und der Österreicher selbst entreißen will. Dieser
edlen Auffassung gibt bereits der Senator Imbart de la Tour entsprechenden
Ausdruck, wenn er in seinem Bericht über den Friedensvertrag
erklärte: "Österreich ist ein Opfer der Pangermanisten. Eine solche
Verfügung (das Anschlußverbot) hilft dem Lande, sich ihrer
Herrschaft zu entwinden... Sie ist eine Sicherheitsmaßnahme für
Frankreich, eine Schutzmaßnahme auch für die alliierten Staaten und
die Anhänger Frankreichs." (Auerbach, Le Rattachement,
S. 182.)
Dadurch sind der späteren Pressekampagne jene Argumente vorgezeichnet,
welche in der Diskussion über den Anschluß an die Adresse
Österreichs gerichtet werden, um den von Deutschland abgetrennten Stamm
zu überzeugen, daß die Selbständigkeit und
Eigenart seines Wesens, damit auch seiner Kultur, die Trennung vom
Reiche vollauf berechtigten, ja sogar im Interesse der Entwicklung
Europas forderten.
Denn wie der Temps bereits am 19. November 1919 erklärt hatte,
ist Deutschland keine homogene Nation und besitzt keinen einheitlichen
politischen Geist. Die Entente muß daher wachen, daß die deutschen
Länder nicht mehr unter die Herrschaft Preußens geraten. Zur
Durchführung dieser Aufgabe muß sie alle wirtschaftlichen,
finanziellen und militärischen Mittel anwenden. (Vgl. dazu
M. Dunan in der Illustration vom April 1920.)
Dieselbe Ansicht spricht der Temps am 1. Mai 1930, den
veränderten Umständen Rechnung tragend, in
gemäßigterer Weise aus, wenn er sagt: "Es gibt in Europa und
außerhalb Europas zwischen Nachbarvölkern und solchen, die seit
langem befreundet sind, noch viele Gemeinsamkeiten der Sprache, der Kultur und
des Schicksals; aber trotzdem denkt niemand daran, diese unter günstigen
internationalen Verhältnissen in eine politische Gemeinsamkeit
umzuwandeln." Das Echo solcher Ansichten tritt uns in der auf Wirkung
berechneten Äußerung des tschechischen Präsidenten Masaryk
entgegen, der, obwohl Slawe, dem deutschen Volke folgenden Daseinszweck
zuweist: "Das deutsche Volk, dem ich große Achtung entgegenbringe, hat
nach meiner Auffassung die Aufgabe, sich in mehreren Staaten
auszuwirken, vor allem im Deutschen Reich und im österreichischen Staat.
Hiezu kommt die Schweiz, und in diesem Zusammenhange kann man auch die
Tschechoslowakei betrachten, in der drei Millionen deutscher Staatsbürger
nicht als Minderheit zu betrachten sind, sondern einen organischen Bestandteil
des Staates bilden." (Siehe Anschluß vom 15. Februar
1928.)
Um nun ihre Behauptungen zu beweisen, suchen die französischen und die
ihnen folgenden Ententeblätter eine eigene österreichische
Kultur festzustellen, die im Barock ihre Deutschland fremde
Eigenart gefunden habe und heute noch in der Lebensfreudigkeit der
Österreicher einen unüberbrückbaren Gegensatz zum
kühlen sachlichen Reichsdeutschen bilde. Schon die ganze Lage und
Entwicklung Wiens mußte einen anderen Menschenschlag als im Reiche
hervorbringen. Als Beispiel dieser Reporterentdeckungen möge der
Stimmungsbericht von Lucie
Delarue-Madrus im Matin vom 13. Dezember 1927 zitiert werden.
Es wird versucht, den Gegensatz zwischen dem [632] "Pays boche" und Wien
herauszuarbeiten, um die beiden Volksstämme gegeneinander auszuspielen.
Dazu dienen folgende bombastische Phrasen: "Es ist unmöglich, daß
die Luft Wiens, dieser wunderbare, aus den Alpen kommende Sauerstoff,
daß sein aus den reinsten Alpenhöhen kommendes und
wohlschmeckendes Wasser nicht einen eigenen Stamm hervorbrachten,
der in seinen kleinsten Eigenheiten charakteristisch ist. Und das ist auch
in der Tat so." Nach diesen Schilderungen des Matin herrscht in Wien
behagliches Wohlleben, da sogar die Familien kleiner Bürger in
Kaffeehäusern sitzen und dort ihre
Strick- oder Häkelarbeiten verrichten. "Eine Atmosphäre des
Wohlbehagens tritt überall zutage. Man hat den Eindruck, daß die
Wiener das Leben für lebenswert finden, das ist scheinbar der wirkliche
Gemütszustand, ...sie scheinen ihr Leben fortzusetzen, als ob seit 1914
nichts geschehen wäre." Nun aber kommt der mitfühlende Franzose
mit der Klage, es schwebe das "Damoklesschwert des Anschlusses über der
Stadt, die so wunderbar aufzuleben scheint".
Gründlicher, und augenscheinlich infolge der örtlichen
Nachbarschaft auf eigenen Wahrnehmungen beruhend, sind die Urteile der
tschechischen Narodny Listy. (Siehe Anschluß vom
15. Dezember 1927.) Sie konstatiert, daß die österreichischen
Deutschen ihren selbständigen Typ herausgearbeitet haben, der
übrigens sympathischer ist als der der übrigen Deutschen. Und als
Argument dafür, daß wir gar nicht in einem Staate zusammenwohnen
brauchen, macht sie folgende ethnographische Entdeckung: "Übrigens sind
die Österreicher und Reichsdeutschen nicht mehr unterschieden als die
Franzosen und Italiener (!), Spanier oder Portugiesen (!), die auch
nicht in einem Staate vereinigt sind." Und dann fällt die Maske, wenn das
Blatt erklärt: "In Mitteleuropa sind bei der Umgestaltung der Staaten ganz
andere Faktoren am Werk als das Recht der Selbstbestimmung."
In ähnlichem Sinne findet auch die tschechische Tribuna vom
1. Jänner 1929, daß die kulturelle Gemeinschaft zwischen
Deutschland und Österreich nicht die Notwendigkeit des politischen
Zusammenschlusses der beiden Staaten begründe. Die territorialen
Differenzen zwischen dem Reich und Österreich seien so stark gewesen,
daß sie die Spaltung der einheitlichen Kulturentwicklung
herbeigeführt haben. Das Schaffen Grillparzers, Schuberts und Strauß'
sei nur in Wien, nicht aber in Berlin denkbar gewesen. Deutschland
und Österreich hätten sich voneinander unabhängig kulturell
entwickelt und beide Staaten seien zwei verschiedene Welten.
Sogar sprachliche Unterschiede zwischen beiden Stämmen
müssen herhalten, um das Anschlußverbot von diesem Standpunkt als
gerechtfertigt hinzustellen. Denn im
April-Heft 1929 der Zeitschrift L'Esprit international erklärt
J. W. Headlam-Morley: "Sicherlich, die Österreicher sind
Deutsche, aber es besteht ein Unterschied zwischen ihnen und den Deutschen. Ihr
Geist, ihre politische Einstellung und sogar ihre Spracheigentümlichkeiten
sind verschieden."
Auf Grund dieser Behauptungen will man eine eigene österreichische
intellektuelle Bewegung, eine eigene österreichische
Richtung in der Literatur feststellen, und die italienische Revue Le Opere
e i Giorni, [633] Genua (siehe
Anschluß vom 15. April 1928), findet, daß die
österreichische Erzählungskunst durch die Erinnerung an Italien und
den südlichen Himmel "die österreichische Schwermut und die
Sehnsucht der österreichischen Lyrik bestimmend beeinflußt hat."
Aus diesem Grunde wird es erklärlich, daß diese
Selbständigkeit, Eigenart und österreichische Kultur in den Augen
der Franzosen und ihrer Freunde zu einer Voraussetzung der
gesamteuropäischen Kultur geworden ist, die eine bestimmte Aufgabe
zu erfüllen hat. Schon der Temps vom 3. Juli 1921 weist
darauf hin, daß Österreichs Unabhängigkeit die Fortsetzung
und vielleicht auch der Schutz der schweizerischen sei. Das Echo dieser
Behauptung tritt in den Anschauungen der Narodni Politika
(Anschluß, Dezember 1927) hervor, welche die Forderung aufstellt,
Österreich möge eine zweite Schweiz werden. Europa würde
es dringend brauchen, daß neben der Schweiz noch ein zweiter Staat mit
derselben Aufgabe bestünde: Ein neutraler Wall, eine neutrale
Zufluchtstätte und ein politisches Asyl zu sein. Sollte Österreich
diese Lösung ablehnen und dem Anschluß an Deutschland den
Vorzug geben, dann müßten die Großmächte und die
Nachbarn ihre Politik danach einrichten. So ergibt sich ganz logisch die weitere
Behauptung, daß Österreichs Selbständigkeit einer
Kulturmission diene, welche, wie L'Indépendant des basses
Pyrénées vom 30. März 1927 hervorhebt, durchaus
international und als Bindeglied zwischen Norden und
Süden, hauptsächlich aber zwischen Osten und
Westen zu definieren sei. Eine gleiche Auffassung weist die
St. Gallener Volksstimme in die französische
Interessensphäre, wenn das Blatt Österreich warnt, seine
geschichtliche Aufgabe, in einer kommenden Donauföderation die
Brücke zwischen der germanischen Mitte und dem slawischen
Südosten zu sein, zu verfehlen (Anschluß, 1930).
Durch
solche Behauptungen wird es leicht, den österreichischen Stamm als eine
Synthese der verschiedenen Völkerschaften hinzustellen, welche
früher im Gefüge der Monarchie zusammenwohnten. Es
würde zu weit führen, all jene Verdrehungen in der Art der
früher erwähnten Narodny Listy aufzuzählen. Was nur
irgendwie plausibel erscheint, eine eigene Note des Österreichers
hervorzukehren, wird den an Geschichtskenntnissen tief unter dem
Durchschnittseuropäer stehenden französischen und
sukzessionsstaatlichen Lesern aufgetischt. Wir Österreicher sind
überhaupt keine Deutschen mehr; Romanen, Slawen, Türken,
Ungarn, besonders Tschechen hätten uns "regeneriert", und dadurch dem
Österreicher jene "Eigenart" verliehen, die ihn eher zu den genannten
Völkern als zu den Deutschen stelle. Diese Behauptung wird allen Ernstes
in wissenschaftlichen Werken vertreten, allerdings nur in solchen, welche als
Propagandaschriften nach dem Kriege entstanden sind, wie die Histoire
d'Allemagne von Charles Bonnefon (Paris 1925), der S. 16
Österreich durch folgenden kühnen Schluß zum
Blutsverwandten Frankreichs macht: "Was sagt uns die Geschichte?
Österreich war von Kelten bevölkert, dann von Slawen, und es wurde
kolonisiert von Franken aus Lothringen. Brandenburg wurde von Sachsen erobert,
welche die Slawen dezimierten. Wir verstehen also, warum uns die
Österreicher viel näher als die Preußen sind. Österreich
ist eine Kolonie, aber es ist eine Kolonie, die weit von Preußen entfernt ist,
denn das französische Element findet sich an der Donau wieder." Im
Charakter der Österreicher erfolgte demnach eine Synthese aus den in den
vergangenen
Jahr- [634] hunderten
übernommenen Rasseeigenheiten aller Nachbarn, und gerade das ergebe
auch die schwer definierbare Eigenart des österreichischen
Volkes. Noch andere Behauptungen müssen herhalten, diesen Unterschied
zwischen dem gemütlichen Österreicher und dem
"zerebralen" Norddeutschen zu betonen. Wiener und reichsdeutsche
Küche, Nationalspeisen und schließlich der Gegensatz zwischen dem
deutschen Biertrinker und dem österreichischen Weinschmecker werden
einander gegenübergestellt und können bei unkritischen Lesern
tatsächlich den Eindruck erwecken, als stünden sich hier zwei
vollständig fremde Welten gegenüber. Kommt zum Schlusse noch
ein Reporter und findet, wie der Berichterstatter der Illustration
(27. August 1927), der Österreicher weise mit den
Franzosen so zahlreiche Übereinstimmungen auf, daß man
von ihm behaupten könne: "Der Österreicher ist ein Franzose,
der deutsch spricht", so ist dies für den französischen Leser, der
auf sein Blatt schwört, der überzeugendste Grund, die
Unabhängigkeit Österreichs durch derartige Rassenunterschiede als
gegeben und gerechtfertigt zu betrachten.
Denn dadurch ist als das hervorstechendste Merkmal österreichischen
Wesens die Latinität und durch sie die Verwandtschaft mit den
romanischen Völkern bewiesen. Auf die Begründung dieser neuen
Entdeckung wird gerade in der letzten Zeit von seiten Frankreichs und seiner
Satelliten der größte Nachdruck gelegt. Denn: "Immer hat es zwei
Deutschlande gegeben, das eigentlich romanische und das
sächsisch-preußische. In dem einen betete man im Mittelalter, in dem
anderen raubte man. Dieser Gegensatz äußerte sich einst im Kampfe
der Welfen und Staufen, heute äußert er sich in der
Gegenüberstellung des Sachsen Stresemann und des rheinischen
Katholiken Marx. Von dem Ausgange dieses Kampfes hängt der
europäische Friede ab." (Bonnefon, S. 300.) Bezeichnenderweise hat
das in Wien herausgegebene Blatt Le Courier d'Autriche die Aufgabe
übernommen, diese lateinische Seele Wiens im Dienste der
Verständigung zwischen Österreich und Frankreich zu definieren und
seinen Lesern plausibel zu machen. Für die französischen Leser
werden andere Argumente aufgetischt und zur Begründung dieser
Latinität verschiedene geschichtliche Tatsachen angeführt, welche
jeden Zweifel erledigen sollen. Man weist darauf hin, daß die Habsburger in
Österreich und Spanien herrschten, in Wien der Kaiserhof infolge seiner
Beziehungen nach Italien und Madrid durch Jahrhunderte romanischen Geist
pflegen und verbreiten konnte, die katholische Kirche in Österreich ihren
Einfluß unumschränkt behauptete, während im Norden
Deutschland durch den Protestantismus verpreußte. Nicht zu
übersehen sei ferner die spanische Etikette und ein dem Welschtum
ergebener Adel, wodurch schon im 17. und 18. Jahrhundert die
Voraussetzung dieser lateinischen Geistesverfassung gegeben sei, die dann im
Barock, dem Gegensatze zur deutschen Gotik, ihren Höhepunkt erreichte.
Alle diese Behauptungen werden in die wirtschaftlichen und politischen
Erörterungen eingeflochten und sollen eigene und fremde Leser, darunter
auch den Österreicher, zur Ansicht bekehren, wie berechtigt das Verbot des
Anschlusses ist, der diesen Vorposten lateinischer Kultur nicht in die Arme des
ernsten, methodischen Norddeutschen fallen lassen wolle.
[635]
Selbstverständlich fehlen in diesem Zusammenhang auch nicht die
Ausfälle auf die Reichsdeutschen, welche für diese
österreichischen Vorzüge kein Verständnis haben; hier wird
immer der trennende Gegensatz in Religion und Parteipolitik
(Capital vom 23. März 1929) hervorgehoben und
teilnehmend die Frage gestellt, was wohl aus der dem Österreicher so
teuren Freiheit, seinem Hange zum Träumen, seiner
geistreichen Fröhlichkeit, aus allen seinen
entzückenden Kaffees mit ihren köstlichen Jausen werden
solle, wenn im Falle des Anschlusses die schwere Hand des Reichsdeutschen sich
auf Österreich lege. (Illustration vom 27. August 1927.)
Ungezwungen kann also die Frage aufgeworfen werden, ob es bei so viel
schönen Eigenschaften nicht möglich wäre, dem
Österreicher die Liebe zu seiner Selbständigkeit
einzureden? Auch hiefür sorgt Frankreich, indem es daran dachte, "dem
Lande eine Persönlichkeit zu geben, die, wenn sie schon nicht hervortrat,
doch in Mitteleuropa beachtet wurde". (Auerbach, Le Rattachement,
S. 155.) Doch diesbezüglich haben wir, die Ententepresse konstatiert
es mit Bedauern, durchweg versagt. So bemerkt Le Journal vom
20. August 1927, daß sich Österreich fast gar nicht um seine
nationale Würde kümmert.
Auch die Eitelkeit wird als Verbündeter in den Dienst dieser Kasuistik
gezogen, wenn darauf hingewiesen wird, daß der Anschluß nur eine
durch Faulheit bedingte Lösung sei (Journal vom 20. August
1927), durch welche insbesondere Wien aufs schwerste getroffen werde. Dies
befürchtet der italienische Botschafter in Paris, Carlo Sforza, der im Falle
des Anschlusses Wiens Untergang voraussieht, da die ehemalige
Kaiserstadt sich mit der Rolle einer Provinzstadt begnügen müsse.
(Anschluß,
1. Jänner-Folge 1930.)
Da den Österreichern diese Rolle sekundärer Wichtigkeit nicht
zusagen kann, liegt der Schluß auf der Hand, daß der
Anschluß von ihnen gar nicht gewollt, sondern von den
Reichsdeutschen durch "dunkle Arbeiter" suggeriert werde. (Capital
vom 27. März 1928.) So erklärt der Petit Parisien,
daß die Anschlußpropaganda keine österreichische, sondern
eine von Deutschland künstlich gezüchtete, rein deutsche
Angelegenheit sei. (Anschluß, 15. August 1928.) Um diese
Behauptung zu beweisen, kann man sich selbstverständlich auf
"einflußreiche Kreise in Wien" berufen, wie dies La France de l'Est
vom 28. Jänner 1929 mit der Behauptung tut, daß zahlreiche
Wiener in
Beamten- und Finanzkreisen aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen
dem Anschluß feindlich gesinnt seien und alle eine Gesundung der Lage nur
aus einer Mitarbeit mit den Donaustaaten erhoffen.
Auch Le Capital vom 27. März 1928 findet "Österreicher,
welche unabhängig bleiben wollen". Am besten beurteilen natürlich
die Tschechen die Unaufrichtigkeit der Anschlußforderung, wenn die
Brünner Lidove Noviny vom 4. Februar 1929 feststellt,
daß der Anschlußwunsch Österreichs nicht so absolut und die
Anschlußidee überhaupt strittig sei. Der Anschluß würde
für Österreich ein Opfer bedeuten, und es sei die Frage, ob
Österreich dieses Opfer bringen werde, wenn es sich selbst in vollem
Umfange davon Rechenschaft ablege.
[636] Als scheinbar
wirksamstes Mittel, das in der Berechnung der
Beeinflussungsmöglichkeiten immer für den Schluß aufgespart
wird, erscheint der Hinweis auf die wirtschaftlichen Nachteile, die der
Anschluß für Österreich nach ziehen müsse. Hier kann
der schon früher bei den Nationalstaaten erprobte Vorgang, Angst und
Besorgnisse zu erwecken, für die Österreicher in Anwendung
gebracht werden. Industrie und Landwirtschaft werden als Opfer der Vereinigung
mit Deutschland hingestellt, um diese Kreise vom Anschluß abzuschrecken.
Damit wird auch versucht, die großen Parteien in Österreich in
ententefreundlichem Sinne zu beeinflussen. Bezeichnend ist hiefür die
Äußerung des Temps vom 22. Oktober 1928, der
feststellt, vom österreichischen Standpunkt aus sei der Anschluß
nicht in Betracht zu ziehen, da die Industrie ihre Chancen für die Zukunft
verlieren, die Sozialdemokratie aber den Anschluß an das reaktionäre
und nationale Deutschland fürchten müsse.
Und Etoile Belge (Brüssel) vom 1. Februar 1930 findet, "daß
der Anschlußgedanke vor dem Konflikt der wirtschaftlichen Interessen
zwischen den beiden Reichen zurücktreten müsse, denn
Österreich sei vorwiegend ein Agrarland und Deutschland
müßte, um zu helfen, den österreichischen landwirtschaftlichen
Produkten eine Vorzugsstellung einräumen. Das wollen aber die
großen Grundbesitzer in Ostdeutschland nicht, denn sie erklären,
daß die Konkurrenz der österreichischen Agrarprodukte den
Untergang für sie bedeuten würde". (!)
Wenn also vielleicht der Appell an den "réalisme" und die
"honnêtete" versagen sollte, dann soll die Angst vor der
wirtschaftlichen Kraft des Reiches ungleich wirksamer den schwächeren
Österreicher vor dem Eintritt in das mächtigere Handelsgebiet
abhalten.
Anscheinend aber haben die Franzosen selbst wenig Vertrauen in die Wirksamkeit
ihrer Ratschläge und Einflüsterungen, denn sie finden es für
notwendig, den Österreicher daran zu erinnern, daß er
Verpflichtungen sich und der Welt gegenüber, so wie sie der
Friede von Versailles geschaffen hat, auf sich genommen habe. Seine Berufung
auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker komme überhaupt nicht
in Betracht, wie die Interpretation des französischen Senators
Chènebenoit beweist: "Die Freiheit für Völker und für
Bürger wird durch die Rechte und durch die Sicherheit der anderen
Bürger und der anderen Völker beschränkt." (Auerbach, Le
Rattachement, S. 183.)
Für weitere Kreise hat dann Professor Aulard in der Neuen
Züricher Zeitung (siehe Anschluß vom
15. November 1927) die Auffassung der französischen Politiker
festgelegt:
"Aber nirgend wird im neuen Recht anerkannt, daß das
Selbstbestimmungsrecht auch das Recht eines Volkes in sich schließt, seine
Unabhängigkeit preiszugeben, sich mit einer anderen Nation zu vereinigen,
zu der es sich hingezogen fühlt, vor allem, wenn eine solche Vereinigung
die Macht einer Nation stärken würde, die, im Verhältnisse zu
den kleinen Nationen, schon zu groß ist... Österreich hat einzig und
allein das Recht auf Unabhängigkeit." Dieser Grundsatz kehrt in allen
Pressestimmen des französischen
In- und Auslandes wieder, als Beispiel diene die Äußerung der
Information vom 30. Juli 1928: "In den 14 Punkten
Wilsons ist das freie Selbstbestimmungsrecht unzweideutig [637] auf jene Volksteile der
habsburgischen Monarchie beschränkt, die das Joch Wiens
abschütteln wollten. Von etwas anderem ist darin nicht mit einem Worte
die Rede." Bezeichnenderweise vermittelte Jules Sauerwein der tschechischen
Prager Presse (28. November 1928) die Kenntnis dieser
Interpretation des Völkerrechtes, wenn er feststellt: "Die Völker
haben ein Recht auf weitestgehende Unabhängigkeit. Aber kein
Staatsprinzip und auch kein Vertrag haben je die Bestimmung enthalten,
daß das Recht der Völker so weit gehe, politische Kombinationen zu
verwirklichen, die das Gleichgewicht eines ganzen Kontinents gefährden
können."
Als gelehriger Schüler wiederholt demnach in der tschechischen Nova
Doba vom 16. Jänner 1929 Senator Habermann die Ansicht,
daß die Wilsonsche Formel des Selbstbestimmungsrechtes auf
Österreich nicht zutreffe, da das österreichische Volk
selbständig und von niemandem beherrscht sei. Es lebe im eigenen Staate
und entscheide frei über seine Geschicke im Rahmen einer selbst
gegebenen Verfassung. Österreich habe alles, was im Wilsonschen
Selbstbestimmungsrecht vorgesehen sei.
Zur Begründung dieser Rechtsverdrehung mußte der große
Dialektiker der französischen Kammer, Briand, einen neuen Begriff
für das Register der Anschlußpolemik finden, er hat das Wort von der
"unvergleichlich mystischen Kraft" Österreichs geprägt.
Diese mystische Kraft ermöglicht es augenscheinlich, die
Anschlußforderung einer Nation auch dann noch als "Selbstmord" zu
bezeichnen, wenn 90% für die Vereinigung mit ihrem Brudervolke sind.
(Siehe Anschluß vom 15. Dezember 1928.) Es muß
nach all dem wohl als blutige Ironie betrachtet werden, wenn sich der
Temps vom 4. April 1929 bemüßigt fühlt,
Österreich die Forderungen des "réalisme" und der
"honnêtete" (Anständigkeit) in Erinnerung zu bringen. Jene
lägen in dem Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zu den
Nachfolgestaaten, letztere in der "Achtung des Geistes und des Wortlautes der
Friedensverträge".
Dieser von Frankreich und seinen Verbündeten geführte Pressekampf
hat auch die seinen Absichten zweckdienlichste Form gefunden, das kurze, leicht
faßliche Schlagwort, das in die Menge geschleudert und seiner
jeweiligen Voraussetzung angepaßt werden kann. Die ganze Polemik der
Ententepresse gegen den Anschluß ist auf bestimmte Formeln festgelegt,
welche während ihres zehnjährigen Gebrauches nur in einigen
Punkten eine leichte Verschiebung aufweisen. Diese Änderungen sind
durch die Bedachtnahme auf Schwankungen in der öffentlichen Meinung
und auch teilweise durch die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage
Österreichs bedingt. Während früher das Schlagwort von der
Donauföderation im Vordergrund aller theoretischen Erörterung
stand, wird in letzter Zeit das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, die Psyche des
Österreichers zu beeinflussen, und auch im Auslande den Eindruck zu
erwecken, Österreich habe sich bereits innerlich mit den bestehenden
Verhältnissen abgefunden. Aus diesem Grunde wird das
letztgeprägte Schlagwort von der Latinität Österreichs und die
Behauptung, das Land weise tiefgreifende Wesensunterschiede dem Reiche
gegenüber auf, mit allen möglichen, besser gesagt,
unmöglichen Einzelheiten aus Vergangenheit und Gegenwart entwickelt.
Die wirtschaftlichen Erörterungen sind derzeit in den Hintergrund getreten,
man
be- [638] gnügt sich,
allgemein auf die Tatsache der Sanierung hinzuweisen und festzustellen,
daß Österreich leben kann, was als Argument gegen die Behauptung
von der wirtschaftlichen Not angeführt wird. Als Seelenfang im
größten Stil sind auch die Versuche zu betrachten, durch eine
geschickt geführte Kulturpropaganda, wie Vorträge
bekannter Politiker, Künstler und durch Gastspiele französischer
Opern- oder Schauspieltruppen, jene geistige Atmosphäre künstlich
zu schaffen, auf welche in den Zeitungen immer wieder verwiesen werden kann,
da ja Beweise für diese Geistesverwandtschaft vorlägen.
Man sieht also, daß mit Fleiß und Überlegung aus zahllosen
kleinen Mosaiksteinchen ein Bild zusammengesetzt wird, das in bewußter
Verzerrung und gröblicher Fälschung von Tatsachen einen Eindruck
erwecken muß, der mit der Wirklichkeit in Vergangenheit und Gegenwart
nicht den geringsten Zusammenhang hat. Nur selten finden sich
Äußerungen, die anders lauten, und dann ist der Gegensatz um so
größer, wenn in diesem Chor bösen Willens plötzlich
die ruhige Stimme der Wahrheit ertönt. Auch sie möge hier
festgehalten werden, um diese Kakophonie internationaler Verdächtigungen
und Böswilligkeit in reinere Akkorde ausklingen zu lassen.
Bezeichnenderweise enthält schon der im Figaro vom
11. Juni 1920 veröffentlichte Bericht des Senators Lazar Weiler
über den Frieden von St. Germain alle jene Angriffe, die auch heute
noch Österreich gegen den Vertrag vorbringt. "Der Vertrag sei die
Schöpfung einer siegreichen Diplomatie, die niemand wirklich zustimmend
zu verteidigen wage. Man hätte Österreich zehn Millionen
Einwohner lassen müssen, man gab ihm nur sechs." Ähnlich lautet
das Urteil des Manchester Guardian vom 12. Dezember 1920:
"Durch Wohltätigkeitsaktionen kann man das verflackernde Leben
Österreichs verlängern, aber eine wirkliche Wiederherstellung ist
niemals auf Grund von Verträgen möglich, die weder die
wirtschaftlichen noch die politischen Grenzen berücksichtigen."
Am schärfsten urteilt die Londoner Nation vom 29. Jänner
1921 in ihrem "Mord an Österreich" betitelten Artikel: "Der Ruin
Österreichs ist zum Großteil das überlegte Werk des
Friedensvertrages. Die Staatsmänner der Entente waren es, welche die
Monarchie zerstückelten, welche sich weigerten, das geschlossene deutsche
Gebiet am Rande der Tschechoslowakei abzutrennen, das so viel Kohle und
fruchtbares Land enthält, welche Österreich fehlen. Sie waren es,
welche gegen den Anschluß Österreichs an Deutschland ihr Veto
einlegten. Hauptsächlich aber handelt es sich um einen strategischen
Plan zur Isolierung Deutschlands. Dazu gehört die
gröblichste Parteilichkeit zugunsten der nichtdeutschen
Nachfolgestaaten, welche unter Herausforderung von Gerechtigkeit,
Menschlichkeit und Wirtschaftspolitik auf Kosten Österreichs
vergrößert wurden." Das Blatt tritt dann dafür ein, das
Anschlußverbot aufzuheben. Auch französische Stimmen
erheben sich gegen die Unhaltbarkeit des Anschlußverbotes.
Volonté (Paris) vom 24. Juli 1927 findet es begreiflich,
daß sich Österreich zu dem Reiche hingezogen fühle, das
gleiche Sprache, gleiche Sitten und gleiche Kultur habe. Wenn die Alliierten dem
Grundsatze der Selbstbestimmung, den sie während des Krieges immer
wieder betonten, treu bleiben wollen, haben sie nicht das Recht, sich dem
Anschlusse zu widersetzen.
[639] Diese Stimmen
mehrten sich im Jahre 1928 und 1929, als nach dem Sängerfeste die
Aufmerksamkeit ganz Europas auf Wien und die österreichischen
Zustände gelenkt war. Frankreich muß hier von England manche
bittere Wahrheiten hören, die auf dem Kontinent sonst ängstlich
totgeschwiegen werden. So schreibt Daily Herald (London) vom
28. Juli 1928: "Das Geschrei der französischen und der
tschechischen Presse wegen der Anschlußdemonstration ist unsinnig und
absurd. Nur der Himmel weiß, warum in einem Europa, das seine Landkarte
nach dem Prinzip der Nationalitäten und dem Recht der Selbstbestimmung
revidiert hat, es ausgerechnet den Deutschösterreichern verwehrt sein
soll, sich mit den Deutschen im Reiche zu vereinigen."
Schärfer geht Manchester Guardian vom 11. Juli 1928 vor, wenn er
in Besprechung der Anschlußfrage erklärt, daß das
Anschlußverbot der Verträge von Versailles und St. Germain
einen Zustand der Feindseligkeit und Verlogenheit hervorgerufen hat, der
für alle anderen Staaten Europas entwürdigend sei. Österreich
sei durch den Vertrag von St. Germain noch furchtbarer zerstückelt
worden als Ungarn, denn dieses könne allein leben, Österreich aber
nicht. Das sich stets ergebende Defizit könne nur durch immer neue
Anleihen getilgt werden. Dadurch werde Österreich zum Bettler
Europas. Es gäbe nur eine wirksame Lösung, und das sei die
Vereinigung mit Deutschland, die ein alter und doch lebendiger Traum sei, der die
breiten Massen beider Länder begeistere. Nur Frankreich und die Kleine
Entente seien gegen den Anschluß, und es wäre gerecht, wenn diese
Staaten alle Anleihen, die Österreich jetzt und in Zukunft brauche,
aufbringen müßten.
Auch Italien, das von Frankreich an der Stange gehalten werden
möchte, ist nicht ganz einstimmig in der Bewunderung der durch den
Frieden geschaffenen neuen Verhältnisse, die nach der
Äußerung des Popolo d'Italia vom 29. Juli 1928 durch
den "Trick Clemenceaus" geschaffen wurden und durch die "wunderbare
diplomatische Kunst des Quai d'Orsay" durch "weitere fragwürdige
Kartelle" gestützt werden sollten. Aus den zahlreichen
Äußerungen im Jahre 1929 sei das Urteil des Manchester
Guardian vom 25. März 1929 festgehalten, welcher die Lage in
Österreich unter dem bezeichnenden Titel: "Ein verstümmeltes
Land" eingehend bespricht und feststellt, daß die durch die
Friedensverträge festgesetzten Grenzen ohne Rücksicht auf
wirtschaftliche Zusammenhänge gezogen wurden, so daß
Österreich als der größte Verlustträger aus dem
Zusammenbruche hervorging. Österreich sei außerstande, eine
wirklich unabhängige Existenz führen zu können, der einzige
Ausweg, die Anschlußforderung, die der Vertrag von St. Germain vorsehe,
werde durch den Widerstand Frankreichs und seiner Vasallenstaaten illusorisch.
Österreich habe bis jetzt von Almosen gelebt und müsse auch
weiter davon leben.
Auch Amerikas Meinung ist heute von der Notwendigkeit des
Anschlusses überzeugt, wie das im Neuen Wiener Journal vom
11. August 1929 veröffentlichte Gespräch mit dem
amerikanischen Industriellen Bernhard Lothar Faber, Mitchef der Bleistiftwerke in
New York, beweist: "Keinesfalls kann sich [640] aber Österreich
unter den gegebenen Umständen halten, wenn der Anschluß an
Deutschland nicht in nächster Zeit erfolgen könne. Die
ökonomische Struktur Österreichs ist durchaus nicht fest, sondern
eher wackelig, weshalb man zweifelt, daß ohne das baldige
Zustandekommen des Anschlusses eine nachhaltige Sanierung überhaupt
möglich ist. Ein Zusammenschluß mit dem Deutschen Reiche
würde zweifellos eine wesentliche Verbesserung der allgemeinen
wirtschaftlichen Situation mit sich bringen und so manche Nachteile der
Wirtschaftspolitik ausgleichen."
"Qui s'excuse, s'accuse." Mit diesem aus französischer
Mentalität entstandenen Sprichwort läßt sich auch die Tendenz
des von Paris geführten Pressekampfes gegen den Anschluß
charakterisieren. Es ist das Bestreben, sich vor dem eigenen Gewissen, wenn es
sich etwa regen sollte, und dem Urteile der Welt zu rechtfertigen, wenn man den
größten Wortbruch, der jemals in der Geschichte begangen wurde,
dadurch abschwächen will, daß ethische Forderungen der
Schwächeren mit Berufung auf eigene Interessen und die Vorteile
Verbündeter zurückgewiesen werden können. Denn nichts
anderes ist dieser Feldzug gegen Österreichs Recht, als der durch scheinbar
uneigennützige Bestrebungen maskierte, tausendjährige Haß
Frankreichs gegen Deutschland und dessen Volkeskraft, die durch den
Ausschluß der Ostmärker geschwächt bleiben soll. Dieser
Haß fand auch seinen Ausdruck in der zynischen Bemerkung Clemenceaus,
der sich zu der Äußerung hinreißen ließ: "Es gibt
20 Millionen Deutsche zu viel auf der Welt!" Dieser Haß vereitelte
den Anschluß Österreichs und ersann den kühnsten
Fälschungsversuch, der nichts anderes bezweckt, als
Österreich von seinem Mutterlande wegzulügen und in die
Rassensphäre ihm fremder Staaten hineinzuschieben. Wir aber fragen in
der Liebenswürdigkeit, welche die Franzosen so sehr an ihr
eigenes Wesen erinnert: "Hält man uns wirklich für so
beschränkt, all diesen Einflüsterungen Glauben zu schenken, mit
denen Pariser und andere Blätter ihre Leser belehren?" Wenn ja, dann mute
man uns lieber offen zu, unseren diktierten nationalen und wirtschaftlichen
Abstieg als ein Opfer für Frankreich und seine Freunde zu
tragen, dann trösten wir uns im erhabenen Bewußtsein, einer
europäischen Zivilisation, so wie sie der Friede von Versailles und
St. Germain festlegen will, durch den Verzicht auf den Anschluß ihr
Dasein zu ermöglichen. Man erspare uns das beschämende
Gefühl, unser Deutschtum und unsere Zugehörigkeit zum Reiche nur
deshalb angezweifelt zu sehen, weil wir im Interesse anderer keine Deutschen
sein sollen.
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