XVI. Wege zum
Anschluß
[548]
Der Zusammenschluß im Lichte des
Völkerrechts
Universitätsprofessor Dr. Alfred Verdroß,
Associé de l'Institut de droit
international (Wien)
Text und Analyse der Vertragsbestimmungen Der
staatsrechtliche Zusammenschluß nicht unbedingt
verboten Die Friedensverträge verwehren nicht jede
engere völkerrechtliche Verbindung Österreichs mit dem
Deutschen Reich Was bedeutet die "Unabhängigkeit"
Österreichs? Kulturelle und wirtschaftliche
Beziehungen werden durch die Friedensbestimmungen nicht
betroffen Die einschlägigen Vertragsnormen vor dem
Forum des allgemeinen Völkerrechts Nicht alle
Staatsverträge sind rechtsverbindlich Das Verfahren
zur Freigabe des Anschlusses Ist der Artikel 15 der
Völkerbundssatzungen in der Anschlußfrage
anwendbar? Der Völkerbundrat und der
Anschluß Anfechtung von
Friedensvertragsbestimmungen.
1. Text und Analyse der
Vertragsbestimmungen
Art.
80 des Vertrages von Versailles bestimmt: "Deutschland erkennt die
Unabhängigkeit Österreichs innerhalb der durch Vertrag zwischen
diesem Staate und den alliierten und assoziierten Hauptmächten
festzusetzenden Grenzen an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten; es
erkennt an, daß diese Unabhängigkeit unabänderlich ist, es sei
denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung
zustimmt."1 In Übereinstimmung mit dieser
Norm verfügt Art. 88
des Vertrages von St. Germain: "Die
Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich,2 es sei denn, daß der Rat des
Völkerbundes einer Abänderung zustimmt. Daher übernimmt
Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit Zustimmung des
gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar oder
auf irgendwelchem Wege,
namentlich – bis zu seiner Zulassung als Mitglied des
Völkerbundes – im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten
einer anderen Macht seine Unabhängigkeit gefährden
könnte."3
In Bekräftigung dieser Bestimmung hat sich die Republik Österreich
durch das Genfer Protokoll Nr. I vom 4. Oktober 19224 verpflichtet, "gemäß dem
Wortlaute des Art. 88 des Vertrages von St. Germain ihre
Unabhängigkeit nicht aufzugeben; sie wird sich [549] jeder Verhandlung und
jeder wirtschaftlichen oder finanziellen Bindung enthalten, welche geeignet
wäre, diese Unabhängigkeit direkt oder indirekt zu
beeinträchtigen. Diese Verpflichtung läßt Österreich
unter Wahrung der Bestimmungen des Vertrages von St. Germain seine
Freiheit in bezug auf Zolltarife,
Handels- und Finanzabkommen und im allgemeinen hinsichtlich aller sein
Wirtschaftssystem und seine Handelsbeziehungen betreffenden Angelegenheiten.
Vorausgesetzt ist jedoch, daß Österreich seine wirtschaftliche
Unabhängigkeit nicht dadurch antastet, daß es irgendeinem Staate ein
Sondersystem oder ausschließlich Vorteile zugesteht, die geeignet
wären, diese Unabhängigkeit zu gefährden".
Daraus ergeben sich nachstehende Folgerungen:
1. Der staatsrechtliche Zusammenschluß
Österreichs mit dem Deutschen Reich ist nicht unbedingt verboten. Doch
kann er rechtmäßigerweise nur mit Zustimmung des
Völkerbundrates erfolgen.
2. Die in Rede stehenden Verträge verwehren hingegen
keineswegs jede engere völkerrechtliche Verbindung
Österreichs mit dem Deutschen Reich, sondern nur eine solche, wodurch
die "Unabhängigkeit" der Republik Österreich aufgehoben oder
gefährdet werden würde. Was bedeutet jedoch diese
"Unabhängigkeit" ("indépendance")?
Es ist klar, daß es sich hiebei um keine schlechthinige
Unabhängigkeit handeln kann. Denn mit dem zunehmenden Weltverkehr
werden alle Staaten immer mehr voneinander "abhängig". Dies gilt
insbesondere von kleinen Staaten gegenüber ihrer Nachbarstaaten. Die
"Unabhängigkeit" kann demnach nicht als eine absolute, sondern nur als
eine relative gemeint sein. Aber auch der Grad dieser relativen
Unabhängigkeit kann nicht ein für allemal bestimmt werden. Er
kann nur jeweils im Vergleich mit den Bindungen anderer
Staaten ermittelt werden.
Untersucht man nämlich die vertraglichen Verpflichtungen der Staaten
untereinander, so zeigt es sich, daß es sich entweder um Bindungen handelt,
die die Staaten in der Regel nicht auf sich nehmen oder aber um solche,
die innerhalb einer bestimmten Periode von den Staaten überhaupt oder von
befreundeten Staaten im allgemeinen eingegangen werden. Staaten
dieser Art nennen wir "Staaten mit regelmäßiger
Zuständigkeit", während wir jene, die sich weitergehenden
Beschränkungen ihrer Freiheit unterwerfen, als [550] "Staaten mit
beschränkter Zuständigkeit" bezeichnen.5 Solche Staaten sind gegenwärtig
z. B. jene, die in einem völkerrechtlichen Schutzverhältnis
stehen, in Europa also etwa Monaco, Andorra, San Marino. Eine
Gefährdung der "Unabhängigkeit" Österreichs würde
daher nur vorliegen, wenn die Bindungen so weitgehende wären, daß
sie von der Regel des jeweiligen Verkehrs zwischen befreundeten Nachbarstaaten
wesentlich abweichen.
3. Kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen, denen keine
vertraglichen Verpflichtungen zugrunde liegen, werden durch die
einschlägigen Vertragsbestimmungen überhaupt nicht getroffen. Es
wird somit z. B. die Rechtsangleichung im Wege von
übereinstimmenden Gesetzen durch die Friedensverträge gar nicht
berührt, da dadurch die Freiheit des Staates, in jedem Falle seinen Willen
gemäß zu handeln, nicht beschränkt wird.
2. Die einschlägigen Vertragsnormen vor
dem Forum des allgemeinen Völkerrechts
Mit der Analyse der maßgeblichen Verträge ist jedoch unser Problem
keineswegs erschöpft. Denn nicht alle Staatsverträge sind
rechtsverbindlich. Nur solche sind es, die den Bedingungen des
allgemeinen Völkerrechtes entsprechen.
Das erste wesentliche Erfordernis jedes völkerrechtlichen Vertrages ist aber
eine zulässige "causa";6 das heißt, daß der
Inhalt der Verpflichtung kein verbotener sein darf. Über die Frage
jedoch, welcher Vertragsinhalt unverbindlich ist, hat das
Völkerrecht keine besonderen Regeln herausgebildet. Diese Frage
ist vielmehr nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu
beurteilen. Diese von den Kulturstaaten in ihrem inneren Rechte
übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze sind nämlich
im Sinne der Judikatur der Schiedsgerichte sowie des Art. 38 des Statuts
für den Ständigen Internationalen Gerichtshof zur Lösung von
jenen völkerrechtlichen Fragen heranzuziehen, für die das
Völkerrecht keine eigenen Normen herausgebildet hat.7
[551] Nach den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen kann aber nur das tatsächlich
Mögliche, wie das sittlich Zulässige Gegenstand eines
Vertrages sein. Demnach wäre ein Staatsvertrag unverbindlich, der
entweder nicht erfüllt werden kann oder der einen Staat unsittlicherweise
hindern würde, "seinen Aufgaben zu genügen".8 Doch brauchten diese Umstände
keineswegs schon beim Abschluß des Vertrages bekannt gewesen sein. Sie
können sich auch erst später ergeben. So wurde im
russisch-türkischen Streitfall (1912) von den Parteien anerkannt, daß
die vertragsmäßige Pflicht zu bestehen aufhört, "wenn der
Bestand des Staates in Gefahr ist, wenn die Erfüllung der Pflicht
self-destructive wäre". Auch der Haager Schiedsgerichtshof hat sich
dieser Auffassung angeschlossen, ja er hat der Gefahr des Staatsunterganges eine
schwere Erschütterung der inneren oder äußeren
Staatsordnung gleichgestellt.9
Bedenkt man nun, daß die österreichische Staatsordnung im Herbste
1922 vor dem Zusammenbruche stand, so ist damit vor aller Welt offenbar
geworden, daß die Republik Österreich vor der Unmöglichkeit
stand, seinen Aufgaben als Staat zu genügen. Seither hat sich allerdings die
Lage dank der Hilfe des Völkerbundes wesentlich gebessert, aber eine
dauernde Sicherung des Staates ist keineswegs erreicht worden, da die
Passivität der Zahlenbilanz weiter besteht.
Dazu kommt, daß einem alten Kulturvolke mitten in Europa sittlicherweise
nicht zugemutet werden kann, seinen Lebensstandard auf den Stand eines
Barbarenstammes herabzudrücken. Der Staat erfüllt vielmehr seine
sittliche Aufgabe nur dann, wenn er imstande ist, das Volk auf jener
Kulturhöhe zu erhalten, die seiner Anlage und Geschichte entspricht. Ein
Vertrag, der dies hindert, widerspricht daher den "guten Sitten", die ebenso die
Vertragsinhalte des Völkerrechtes, wie die des innerstaatlichen Rechtes
begrenzen. Eine Vertragsbestimmung, die diese Schranke überschreitet, ist
demnach mit dem Brandmal der Rechtswidrigkeit behaftet.
3. Das Verfahren zur Freigabe des
Zusammenschlusses
Die Art. 80 des Vertrages von Versailles und Art. 88 des Vertrages von
St. Germain gestatten den Anschluß nur mit Zustimmung des
Völkerbundrates. Gemäß Art. 5 der
Völkerbundsatzung bedürfen [552] nun alle
außerprozessualen Ratsbeschlüsse der Einstimmigkeit der bei der
betreffenden Tagung anwesenden und mitstimmenden Mitglieder, sofern in
einzelnen Bestimmungen nichts Abweichendes verfügt ist. Da die
erwähnten Vertragsnormen eine solche Ausnahme nicht enthalten, gilt also
auch für sie der Hauptgrundsatz der Einstimmigkeit. Dagegen meint
allerdings Rolf Wolkan, daß in dieser Frage Art. 15 der
Völkerbundsatzung Anwendung finde, der auch mehrstimmige
Ratsberichte bei der Schlichtung von Streitigkeiten vorsehe.10 Dabei werden aber zwei Fragen
zusammengeworfen, die klar voneinander geschieden werden müssen,
nämlich das Vetorecht des Völkerbundrates und das Verfahren der
Streiterledigung. Gewiß, wenn einer oder mehrere Staaten "eine offizielle
Aufrollung der Anschlußfrage als einen mit Krieg gleichbedeutenden
Streitfall hinstellen" würden,11 dann hätte der
Völkerbundrat auf Antrag eines Streitteiles gemäß
Art. 15, ja unter bestimmten Umständen sogar gemäß
Art. 11 der Völkerbundsatzung einzuschreiten. Ein gewaltsames
Vorgehen gegen das Deutsche Reich oder Österreich aus dem angegebenen
Grunde würde überdies auch eine Verletzung des
Kellogg-Paktes bedeuten, da dieser Vertrag den Selbsthilfekrieg nur mehr als
Verteidigungsmittel gegen einen gewaltsamen Angriff, also nur aus dem
Titel der Notwehr zuläßt.12
Wenn dagegen der Antrag auf Zustimmung zum Anschluß weder mit
Kriegsdrohung beantwortet wird noch auch die Gefahr eines Bruches gegeben ist,
dann liegt überhaupt kein Streit im Sinne des Art. 15 vor. Vielmehr
hat der Völkerbundrat über den gestellten Antrag einfach auf Grund
der Sonderbestimmungen der Friedensverträge Beschluß zu
fassen. Da ein solcher Beschluß aber auf Grund des erwähnten, in
dieser Richtung nicht durchbrochenen Hauptprinzips der Einstimmigkeit bedarf,
handelt es sich in Wahrheit um ein Vetorecht, das jedem Ratsmitgliede zusteht
und durch keine gekünstelte Auslegung aus der Welt geschafft werden
kann. Nur eine Anfechtung dieser Vertragsbestimmungen kann hier
Wandel schaffen.
Eine solche Anfechtung könnte sowohl im Güteverfahren wie im
Rechtsverfahren erfolgen. Für das Güteverfahren ist der Weg im
[553] Art. 19 der
Völkerbundsatzung vorgezeichnet. Nach dieser Bestimmung hat
nämlich jedes Bundesmitglied das Recht, die Bundesversammlung zu
ersuchen, sie möge die Vertragsteile "zu einer Nachprüfung der
unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen
Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden
gefährden könnte". Und ein solcher Beschluß bedarf, da er
keine Entscheidung, sondern nur einen Wunsch zum Inhalte hat, nach
richtiger Auffassung, bloß der Stimmenmehrheit.13 In einem solchen Verfahren
wäre gegebenenfalls darauf hinzuweisen, daß zur Zeit des
Abschlusses der Friedensverträge die Entwicklung Österreichs noch
nicht klar überblickt werden konnte, daß sich aber
seither – trotz allen Anstrengungen – die Unmöglichkeit
herausgestellt hat, in diesem engen Rahmen das wirtschaftliche und
kulturelle Leben des deutschösterreichischen Stammes dauernd
sicherzustellen. Gelingt dieser durch ein reiches statistisches Material zu
belegende Nachweis, so wäre damit dargetan, daß die
einschlägige Vertragsbestimmung "unanwendbar geworden ist".
Österreich könnte hiebei daran erinnern, daß die alliierten und
assoziierten Regierungen in ihrer Mantelnote vom 16. Juni 1919
gegenüber dem Deutschen Reiche selbst darauf hingewiesen haben,
"daß der Friedensvertrag selbst den Apparat schafft für die friedliche
Erledigung aller internationalen Fragen durch Aussprache und
Übereinstimmung, wodurch die im Jahre 1919 getroffene Regelung selber
von Zeit zu Zeit abgeändert werden kann, um neuen Ereignissen und
neuentstehenden Verhältnissen angepaßt zu werden".
Sollte aber weder dieses noch ein besonderes, zwischen den Streitteilen
vereinbartes Güteverfahren zum Ziele führen, sei es, weil die
Bundesversammlung die in Rede stehende Aufforderung nicht ergehen
läßt, sei es, weil die aufgeforderten Staaten dem Wunsche der
Versammlung oder dem Vorschlag der Schlichtungsstelle nicht entsprechen, dann
steht noch immer das Rechtsverfahren gegenüber jenen
Ratsmitgliedern offen, die nicht freiwillig auf ihr Vetorecht Verzicht leisten
wollen. Denn die Frage der Rechtsverbindlichkeit der einschlägigen
Vertragsbestimmungen ist eine Rechtsfrage, deren Lösung
gemäß Art. 13 der Völkerbundsatzung dem
schiedsrichterlichen oder gerichtlichen Verfahren übertragen ist. Da jedoch
Art. 13 die zuständige Entscheidungsstelle nicht selbst bezeichnet,
sondern bloß eine allgemeine [554] Pflicht zur rechtlichen
Austragung von Rechtsfragen aufstellt,14 kann dieser Weg nur beschritten
werden, wenn sich die Streitteile entweder im Einzelfalle auf eine
Entscheidungsstelle einigen oder wenn sie vorher einen Schiedsgerichtsvertrag
abgeschlossen beziehungsweise die fakultative Klausel des Ständigen
Internationalen Gerichtshofes (Art. 36 des Gerichtshofstatuts) ratifiziert
haben. In diesem Falle erstreckt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes
auf jedwede Frage des internationalen Rechtes ("tout point de droit
international"), also auch auf die Frage, ob nicht eine Vertragsbestimmung
zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechtes
widerspricht.
Die im Art. 13 aufgestellte Pflicht bedarf somit allerdings erst der
Durchführung durch Sonderverträge. Doch sind die Staaten
verpflichtet, solche Verträge abzuschließen, da sie nur auf diesem
Wege die allgemeine Pflicht des Art. 13 erfüllen können.15
Die Republik Österreich hat diese Pflicht restlos erfüllt. Denn sie ist
vorbehaltlos der fakultativen Klausel beigetreten. Dasselbe hat eine große
Zahl anderer Staaten getan. Einige Großmächte dagegen haben die
Zuständigkeit des Gerichtshofes nur mit dem Vorbehalte anerkannt,
daß jene Streitfälle ausgeschlossen sein sollen, die Verhältnisse
und Tatsachen betreffen, "die vor der Ratifikation entstanden sind". Daraus folgt
aber nicht, daß in einem solchen Falle auf eine schiedsrichterliche
Entscheidung überhaupt verzichtet werden muß. Vielmehr kann im
diplomatischen Wege der Abschluß eines Sonderabkommens zur
Einsetzung einer schiedsrichterlichen Instanz für die Erledigung dieses
Einzelfalles verlangt werden,16 da ja alle
Völkerbundsmitglieder im Art. 13 anerkannt haben, daß
Streitfragen des internationalen Rechts in ihrer Gesamtheit der
Schiedsgerichtsbarkeit oder Gerichtsbarkeit zu unterwerfen sind.
[555] Den günstigsten
Zeitpunkt für diesen Schritt zu wählen, ist Sache der Politik. Der
Jurist kann den Staatsmännern nur den alten Satz ins Gedächtnis
rufen: Vigilantibus jura scripta sunt. Nur wer den Kampf um das
Recht wagt, kann ihn gewinnen!
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