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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 10: Das deutsche Volksheer   (Forts.)
Generalleutnant Constantin v. Altrock

3. Ursache und Schuld am Zusammenbruch.

Wer die Ursachen des Zusammenbruchs richtig einschätzen will, der muß auch die eigenartigen Regungen der deutschen Volksseele angemessen bewerten. Wenn der Dichter sagt: "In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne," so umfaßt er damit den Zusammenhang zwischen Deutschlands Schicksal und der deutschen Volksseele. Diese ist zwiespältig zerrissen und dadurch in ihrem innersten Kern unheilvoll veranlagt für die Entwicklung und den Bestand des Volksganzen. Das beweist - leider - die deutsche Geschichte seit ihren Uranfängen.

Schon Tacitus hat den deutschen Stämmen die Erhaltung ihrer unausrottbaren Zwietracht aufrichtig gewünscht, damit Rom um so sicherer gediehe. Bereits um den Beginn der christlichen Zeitrechnung verfiel der bedeutendste deutsche Staatsmann und Feldherr der Urzeit, Arminius, der Zwietracht der deutschen Stämme. Trotz seines Varus-Sieges im Teutoburger Walde, trotz des siegreichen Zurückdrückens der gewaltigen Heere des Germanicus, der die Römergrenze bis an die Elbe ausdehnen wollte, fiel Arminius, erst 37 Jahr alt, als Opfer deutscher Zwietracht. Sein treues Weib Tusnelda wurde durch den eigenen Vater den Römern überliefert und gezwungen, in Rom vor dem Triumphwagen des Germanicus zu schreiten. - Als 3½ Jahrhunderte später das Heer des großen Alemannenbundes unter seinem Herrscher Chnodomar beim heutigen Straßburg über den Rhein ging und dem Cäsar Julian Apostata die Schlacht bei Argentoratum lieferte, da brach mitten in der Schlacht unter den Deutschen der "Furor Teutonicus", die angeerbte Zwietracht, hervor. Unter lautem Gebrüll zwang man mitten in laufender Schlacht die Führer aller Grade von den Pferden [543] zu steigen. Auf diese Weise ohne Führung, wurden die Alemannen geschlagen und bis auf den letzten Mann vernichtet; der gewaltige Chnodomar mußte als Sklave nach Rom wandern, wo er bald starb. - Wieder hundert Jahre später mordeten sich deutsche Stämme in der Völkerschlacht auf den Katalaunischen Gefilden für fremde Zwecke untereinander, indem der Römer Aetius gemeinsam mit den Westgoten gegen die deutschen Stämme der Ostgoten, Gepiden, Heruler, Alemannen, Franken und andere unter Attila kämpfte. - Nach abermals hundert Jahren, in den Zwanzigjährigen Kämpfen Ostroms unter Belisar und Narses gegen die Vandalen an der nordafrikanischen Küste und gegen die Goten in Italien, war es dem Kaiser Justinian in Byzanz nur durch die Zwietracht beider Völker möglich, sie nacheinander zu vernichten, so daß heute keine Spur mehr von ihnen auffindbar ist. - Die ganze Geschichte des mittelalterlichen deutschen Kaisertums ist eine fortlaufende Auswirkung der deutschen Zwietracht und Untreue zur Verhinderung eines deutschen Einheitsstaates und Staatsgedankens. Einst waren es die Stammesfürsten, welche den deutschen Hader verewigten, heute sind es die Parteien. - Als Frankreich zur Reformationszeit bereits ein festgefügter Einheitsstaat war, da zerfleischten sich die Deutschen im Dreißigjährigen Kriege im wechselnden Bunde mit Fremden bis zur Selbstvernichtung, im Glauben, dadurch der Welt Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit zu erkämpfen. - Nach dem höhnischen Zeugnis von Napoleon I. haben sich die Deutschen unter ihm stets aufs beste bemüht, sich für Frankreichs Ziele gegenseitig zu zerfleischen, und dabei geglaubt, in vollstem Maße ihre Pflicht zu tun. - Nur im 19. Jahrhundert vermochte der kraftvolle Schmied der deutschen Einheit, Bismarck, die widerstrebenden deutschen Stämme und Parteien durch Blut und Eisen zur Einheit zusammenzuschweißen, indem er das Werk der großen Hohenzollernfürsten zur Vollendung führte. Er hat Deutschland in den Sattel gehoben, aber reiten hat es, seiner Zuversicht zum Trotz, leider nicht gelernt. - So ist auch der 9. November 1918 nur eine furchtbare Wiederholung aus der vielbelasteten deutschen Geschichte. Mitten im Kriege wandte sich die Revolution gegen die eigene Kampffront und wurde dadurch mitschuldig am heutigen Frieden. Im furchtbaren, sich immer wiederholenden Kreislauf liegt Deutschland nun wieder in Not und Schande, bis erdrückende feindliche Not es zu sich selbst zurückführt. Diese furchtbare Qual wäre nicht möglich geworden ohne die Zertrümmerung des schützenden Heeres während des Krieges und nach diesem.

Wenn man nach einer deutschen "Schuld am Weltkriege" sucht, so findet man sie dem Schwergewicht nach in der deutschen nachbismarckschen Politik, freilich in ganz anderem, entlastendem Sinne, als sie dem deutschen Volke als erzwungene Lüge im Versailler Diktat aufgebürdet worden ist. Viel hat Deutschland versäumt, nicht indem es den Weltfrieden gefährdete, sondern indem es im Gegenteil für die eigene Sicherheit nicht genügend gesorgt hat. Zwei Zeit- [544] punkte prägen sich aus den letzten Jahrzehnten besonders augenfällig ein: das Jahr 1888, in welchem dem Erben der deutschen Kaiserkrone eine Fülle von Größe und Herrlichkeit überantwortet wurde, und das Jahr des Niederbruchs, 1918, das Deutschland zu einem trostlosen Trümmerfelde machte. So konnte es kommen, daß man vielfach den Träger der Krone allein für diesen Ausgang verantwortlich gemacht hat. Auch ihn trifft sicher ein Teil der Schuld - sie trifft aber nicht ihn allein, sondern jeden einzelnen des ganzen Volkes!

Bekannt ist, daß der Feldmarschall Moltke im Reichstage 1874 prophetisch das Wort sprach, Deutschland werde, was es in einem halben Jahre mit den Waffen errungen, ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen müssen, damit es ihm nicht wieder entrissen würde. Auf diese Möglichkeit wäre die äußere und innere Politik einzustellen gewesen. Wie vor 1806 ließ man aber alle Gelegenheiten vorübergehen, den wiederholt hingeworfenen Handschuh rechtzeitig aufzunehmen, wie z. B. 1905 und bei anderen Gelegenheiten, als noch alle Aussicht vorhanden war, den Kampf verhältnismäßig leichter zu bestehen. Gleichzeitig aber versäumte man, die allgemeine Wehrpflicht voll auszunutzen und die gesamten Heereseinrichtungen bis zur letzten Möglichkeit auszubauen, um zur großen Abrechnung bereit zu sein. Wie sehr Deutschland schon im Friedensausbau seiner Wehrmacht zu Lande den mutmaßlichen Feinden unterlegen war, zeigt am schärfsten eine Stichprobe aus dem Jahre 1911 an der Hand der nachstehenden Tabelle, nach welcher bereits damals die Ententestaaten den Mittelmächten jederzeit eine erhebliche Überlegenheit entgegenzusetzen vermochten. Man kann sich hiernach die Kriegsstärken leicht berechnen.


Im Jahre 1911 hielten an Friedensstärken unter Waffen:

    Friedensstand1 Deutsch-
    land
    Österreich-
    Ungarn
    Frankreich Rußland England4
    Armeekorps 22 16 20 352
    Infanteriedivisionen 6
    Kavalleriedivisionen 1 6 8 353 1
    Offiziere 25 880 31 907
    einschl. Beamte
    23 052 46 736 7 450
    Unteroffiziere 88 292 361 553 49 369 105 000 134 000
    Mannschaften 507 253 506 613 1 300 000
    Dienstpferde
          u. Maultiere
    118 246 75 725 118 552 226 000 22 000
    1 Die angegebenen Zahlen stammen aus amtlichen Quellen des Jahres 1911.
    2 25 europäische, 3 kaukasische, 5 sibirische, 2 mittelasiatische.
    3 19 europäische, 4 kaukasische, 2 mittelasiatische.
    4 Nur reguläre Truppen im Vereinigten Königreich.


[545] Also nach der politischen Gruppierung getrennt:

    Friedensstand1
     
    Mittelmächte:
    Deutschland,
    Österreich-Ungarn
    Entente:
    Frankreich, Rußland, England
      Friedensstand   also mehr als die Mittelmächte

    Armeekorps 38 55 17
    Infanteriedivisionen nebst 6 engl. 6
    Kavalleriedivisionen 7 34 27
    Offiziere 57 787 77 238 19 451
    Unteroffiziere
         u. Mannschaften
    957 098 2 094 982 1 137 884
    Dienstpferde
         u. Maultiere
    193 971 366 552 172 581
    1 Die angegebenen Zahlen stammen aus amtlichen Quellen des Jahres 1911.

Hiernach verfügte die Entente schon 1911 über eine Friedensüberlegenheit von 17 Armeekorps, 6 Divisionen, 27 Kavalleriedivisionen, 19 451 Offizieren, 1 137 884 Unteroffizieren und Mannschaften, wie 172 581 Pferden. Daß hiernach nicht Deutschland, sondern seine Gegner den Krieg suchten, ist klar. Auch die in letzter Stunde (Milliardenforderung) von Deutschland eingeleiteten Heeresvermehrungen genügten nicht, um angesichts solcher Gefahr seine Wehrkraft auf die für die Sicherheit des Vaterlandes gebotene Höhe zu heben. Das hätte nur durch geschicktes Operieren, wie es Graf Schlieffen vorgezeichnet hatte, ausgeglichen werden können; aber Graf Schlieffens Nachfolger versagte. Aus dem bekanntgewordenen Geheimschriftwechsel der hauptsächlichsten Kriegstreiber der Entente ergibt sich außerdem, daß man in der Friedensliebe des deutschen Kaisers ein sicheres Mittel zu haben glaubte, um in Ruhe alle Rüstungen zu Ende zu führen und den Zeitpunkt des Losschlagens selbst bestimmen zu können.

Hiernach kann niemand ernstlich behaupten, Deutschland habe den Weltkrieg bewußt herbeigeführt. Die Verantwortung an jenen bedenklichen Unterlassungen im Ausbau seiner Wehrmacht tragen in erster Linie die regierenden Personen, dann aber auch die Volksvertretung, der Reichstag, und mit ihm das ganze Volk. Seit in Preußen-Deutschland eine Volksvertretung besteht, hat sie sich des deutschen Heeres und seiner Pflege niemals in demselben liebevollen Maße angenommen, wie die - durch den verlorenen Krieg von 1870/71 allerdings hart belehrte - französische Volksvertretung es stets getan hat und noch heute tut.

In den letzten Lebensjahren des ersten Kaisers setzten sich gewaltige Persönlichkeiten für Deutschlands Wehrmacht ein und erzwangen von der Volksvertretung den für die Sicherheit des Staates notwendigen Ausbau seiner Wehrkraft. Im nachbismarckschen Zeitalter aber blieb Deutschland allmählich hinter den voraussichtlichen Gegnern zurück, als es an den großen Vorkämpfern für die deutsche Wehrmacht und an dem nötigen Rückhalt im Volke für sie zu fehlen begann. Wohl ernannte der Träger der Krone die Reichskanzler, die [546] den Hauptanteil am Versagen hatten, aber auch andere - bis tief hinunter ins Volk - haben versagt. Auch nicht einer der Führer der großen Parteien - ob rechts oder links - erhob seine Stimme gegen die Leitung der schwächlichen auswärtigen Politik, die Deutschland dem Abgrund entgegenführte. Selbst beim Rücktritt Bismarcks war der zu erwartende Entrüstungsschrei des deutschen Volkes ausgeblieben. Fast klanglos ging dieser Trauerakt an den hohen Würdenträgern und am gesamten Volke vorüber. Sogar das Ministerium Bismarcks blieb ohne ihn großenteils im Amte.

Wildenbruch gab mit der Sehergabe des Dichters dem aus dem Amt scheidenden Bismarck 1890 ahnungsvoll das Geleitwort: "Was wir durch dich geworden, wir wissen's und die Welt. Was ohne dich wir bleiben, Gott sei's anheimgestellt."

Auch die der deutschen Geistesverfassung entgegenkommende marxistische Weltanschauung hat viel dazu beigetragen, ein Zusammenfassen aller vaterländischen Kräfte zu verhindern. International eingestellt, ist es ihr doch in entscheidender Zeit niemals gelungen, wesentliche internationale Kräfte ihren Zielen zur Verhinderung des Krieges oder für einen Friedensschluß, der ehrlich den Krieg beendet hätte, dienstbar zu machen. Im Gegenteil überwog und überwiegt überall in den Völkerbeziehungen eine scharfe nationale Einstellung der Völker, ausgenommen in Deutschland und Österreich, wo man durch die weltfremde Einstellung der Gedanken von Weltverbrüderung, Weltbürgertum oder Weltproletariertum träumt. Selbst das proletarische Sowjetrußland ist scharf national eingestellt und hat die alten Forderungen des Panslawismus und Allrussentums übernommen. Wenn im Ringen um Sein oder Nichtsein sich namhafte Teile eines Volkes dem Vaterlande versagen, so wird der Bestand des Staates gefährdet. Hätten die deutschen Heere vor dem Friedensschluß auch nur am Rhein mit Gewehr bei Fuß bereitgestanden, so würde man Deutschland niemals diesen Gewaltfrieden haben aufnötigen können. In der Zermürbung des Heeres während des Krieges und der freiwilligen Auflösung des Heeres sofort nach dem Waffenstillstand liegt die furchtbare Schuld des deutschen Umsturzes an diesem Frieden.

Hier erhebt sich die Frage: warum ist die Zersetzung der Front von der Heimat aus, der sogenannte "Dolchstoß", der auch in Frankreich im Jahre 1917, und zwar in erheblichem Umfange gegen die französische Kampffront geführt wurde, dort nicht erfolgreich gewesen? Weil dort politische und militärische Führer vorhanden waren, die in klarer Erkenntnis des inneren Zwecks und Ziels des Krieges mit mächtiger Hand eingriffen und die Auflehnung niederschlugen, wie es Marschall Pétain zum Heile Frankreichs energisch getan hat, ohne Rücksicht auf die hierbei fallenden Opfer.

An kraftvoller politischer Führung aber hat es auf deutscher Seite vollkommen gefehlt. Nicht einmal Kriegsziele sind dem Volk von der Staatsleitung gewiesen worden. Statt machtvoll politisch zu führen, versteckte sie sich hinter der Obersten Heeresleitung, die auf eine Meisterung der zahlreich sich erhebenden [547] politischen Probleme nicht eingestellt sein konnte. Nichts wäre Hindenburg-Ludendorff willkommener gewesen, als die kraftvolle politische Führung eines Bismarck! Nicht ihre Schuld ist es, daß diese energische Führung immer und überall fehlte. So fällt die schwerste Verantwortung auf die politischen Führer, die es nicht fertig bekamen, in Deutschlands Schicksalsstunden die Gesamtkräfte des Staates und Volkes einheitlich zusammenzufassen und dem furchtbaren Ringen seiner Söhne Ziel und Ausblick zu geben. Ihnen und vor allem dem Reichskanzler fehlte von Anbeginn der Glaube an den Sieg; diese Hoffnungslosigkeit übertrug sich mehr und mehr auf das Volk und erschütterte schließlich die Zuversicht des kämpfenden Heeres.

Der Reichsleitung entglitt die Leitung nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Politik, wie die zielklare Führung des Reichstags. Sie vermochte nicht, ihn den Staatsnotwendigkeiten unterzuordnen. So mußte es dahin kommen, daß unverantwortliche Abgeordnete die Leitung an sich rissen zum Unheil für den Ausgang des Krieges und das Schicksal des Volkes. Auch diese Einflüsse mußten mit Naturnotwendigkeit auf die Kampffront wirken; sie gelangten mit den massenhaften Zeitungen aller Parteirichtungen an die Front, wo sie eifrig gelesen wurden und sich leider auch politisch auswirkten. - Dazu traten die in völliger Verkennung der feindlichen Psyche gefaßten schwächlichen Friedenskundgebungen der Regierungen und des Reichstags. Der durch Funkspruch an der Front bekanntwerdende Friedensantrag vom 16. Dezember 1916, wie die Friedensresolution des Reichstages von 1917 erweckten bei den Frontsoldaten immer wieder die Hoffnung auf Beendigung des Krieges durch einen - doch völlig ausgeschlossenen - Verständigungsfrieden und erweichten so den deutschen Kampfgeist.

Nur ganz allmählich ist trotz mancher schwerer Mißgriffe das seelische Gefüge des deutschen Heeres von den herrlichen Tagen des deutschen Vormarsches 1914 bis zum bitteren Ende zermürbt worden. Viele Einflüsse haben dabei mitgewirkt. Wohl kann man sagen, daß die dem Heere zugemuteten Dauerbelastungen schließlich "über die Kraft" gingen, und daß man in diesem Sinne von einem seelischen Zusammenbruch der Kampffront sprechen muß. Aber wenn sich zu den schweren Angriffen und der Not durch äußere Feinde zerstörende Dauereinflüsse von innen gesellen, werden irdische Kräfte schließlich stets versiegen müssen - gingen doch der Sage nach sogar die germanischen Götter beim Weltenbrande im übermächtigen Kampfe unter. Für den Lenker des Deutschen Reiches hätte es nur ein Ziel geben dürfen: das Volk zu befähigen, länger durchzuhalten als der Feind, die Kämpfer an der Front zu tragen und zu stützen und ihren Siegeswillen zu stärken. Aber das konnte er nur, wenn er selbst an dieses Ziel glaubte!

Es ist bereits gezeigt, wie man den unterirdischen Strömungen, die auf den Umsturz der Staatsform und - als Vorbedingung dazu - auf die Zerstörung des deutschen Kampfgeistes gerichtet waren, verhältnismäßig freie Hand ließ. [548] Wie diese Strömungen auf die Truppen und ihren Geist wirkten, dafür haben leider die meisten Truppenführer mancherlei Beweise erhalten.23 Die zerstörenden Elemente wollten die Wehrmacht beseitigen, ehe man mit dem Feinde zum Frieden gekommen war.

Aber auch auf dem Verwaltungswege wurde das Heer erweicht. Auf Beschluß des Reichtags wurde während des Krieges das Militärstrafrecht in seiner Wirkung gelähmt, indem man viele Strafen herabsetzte, zu einer Zeit, in der die Güte des Heeres durch den Nachersatz sank. In gleichem Sinne wirkten die wiederholt ausgesprochenen Amnestien, die fast die Gewähr einer Straflosigkeit selbst für schwere Vergehen boten. Auch dies konnte (übrigens unter Zustimmung eines Teils der Armee-Oberkommandos) nur geschehen, weil der politischen Staatsleitung und dem Reichstage jedes Verständnis für den furchtbaren Ernst des Völkerringens, aber auch für die menschliche Schwäche fehlte. Die Feinde handhabten jedenfalls ihre Kriegsgesetze bis zum Ende mit erbarmungsloser Schärfe. Wie wenig begründet diese Erweichung der Kriegsgesetze war, erhellt schon aus der Tatsache, daß die deutschen Kriegsgerichte während des ganzen Krieges der deutschen Denkart gemäß an sich zu außerordentlicher Milde in ihren Urteilssprüchen neigten, und zwar gegen Freund und Feind. Wie ganz anders die Denkart der Feinde eingestellt ist, beweisen die mitten im Frieden gegen Deutsche gefällten unerhörten Urteile der französisch-belgischen Kriegsgerichte im besetzten Gebiet.

Eine Erschwerung der Lage brachte in den letzten Kriegswochen bei der an sich schwierigen Erfüllung der Waffenstillstandsbedingungen und dem schwer und übereilt auszuführenden Rückzug die eigenartige Neuschöpfung der Soldatenräte. Unter dem 12. November 1918 (Abt. VI. 5267) befahl das Armee-Oberkommando 17 u. a.: "Der Herr Feldmarschall befiehlt: Bei allen Kompagnien, Batterien, Eskadrons usw. sind Vertrauensleute zu bilden... Sie haben die Berechtigung, jederzeit Wünsche, Bitten um Aufklärung, Beschwerden ihren Bataillons-, Abteilungs- usw.-Kommandeuren vorzutragen. Der Vortrag bei höheren Dienststellen geschieht durch den Hauptausschuß der Vertrauensleute." Ein gleichzeitig beigedruckter Erlaß der neuen Regierung (Ebert, Haase, Scheidemann, Dittmann, Landsberg, Barth) aber sagte in besserer Erkenntnis der Lage viel energischer: "Wo sich Soldaten- oder Vertrauensräte gebildet haben, haben sie die Offiziere in ihrer Tätigkeit zur Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung rücksichtslos zu unterstützen." Dieser letzteren Meinung waren wohl fast alle Befehlshaber, ohne aber einer Unterstützung durch Soldatenräte wirklich [549] zu bedürfen. Die Notwendigkeit, diese doch mindestens störenden Zwischenglieder, die Soldatenräte, amtlich einzuführen, wurde in der Front nicht verstanden und nicht gebilligt. Sie sah keine Stärkung der Disziplin in dieser Nachahmung einer russisch-revolutionären Neuschöpfung. Bisher waren die vom Obersten Kriegsherrn angestellten Vorgesetzten die berufenen Vertrauensleute der Truppe gewesen. Die ihnen aufgedrängten Berater waren aber, trotz jenes Befehls der Volksbeauftragten, keineswegs immer auf Stärkung von Zucht und Ordnung bedacht. Meist konnten aber größere Störungen des militärischen Gefüges ferngehalten, die vereinzelt hervortretenden radikalen Elemente niedergehalten werden; der gesunde Menschenverstand der Mehrzahl der Soldaten behielt bis zuletzt die Oberhand. Für den schwierigen Rückzug z. B. über das Hohe Venn auf ungebahnter Straße im Novemberwetter und über die Eifel, den Rhein und das Sauerlandgebirge (und in gleicher Weise auf den übrigen Rückmarschstraßen), wurde die gebieterisch geforderte scharfe Mannszucht durchaus gehalten. Erst als nach Ankunft im Eisenbahnabtransportgebiet die Armee aufgelöst wurde, drängte alles nach Hause. Aber auch da war es weniger Auflehnung gegen die Mannszucht, als die Befürchtung, vielleicht doch noch dem Feinde in die Hände zu fallen und zwecklos von der Heimat zurückgehalten zu werden, wo sich alle Zucht und Ordnung gelöst zu haben schien.

Bedenklicher waren die sich in die geordneten Marschkolonnen drängenden wilden Formationen, unter ihnen am schlimmsten die eigenmächtig heimwärts strebenden Kraftfahrer, bei denen Diebstahl und Raub in besonderem Umfange auftraten. Kraftwagen mit Soldatenräten, die zum Teil mit Zivilisten und Frauenzimmern vermischt unter wehenden roten Fahnen durch die Lande sausten und andere ähnlich beladene militärische Fuhrwerke gehörten zu den unerfreulichsten Kennzeichen der zertrümmerten Disziplin.

In schärfster Form machte sich in diesen Tagen die Macht der Persönlichkeit auf die Soldaten geltend.24

Im allgemeinen war die rote Fahne innerhalb der in Zucht zurückgehenden Kampftruppen verpönt, doch drängte sie sich leider während des ganzen Rückzuges auf. In diesen erschütternden Tagen ist manche Würdelosigkeit begangen worden.

Wenig günstig wirkten die bei der Truppe einlaufenden Funksprüche und Flugblätter der Soldatenräte. Am 12. November 1918 "entbot" der "Soldatenrat des Großen Hauptquartiers" allen Kameraden, Soldatenräten des Heeres und der Heimat seinen Gruß, indem er auf erfolgreiche Unterstützung seiner Bestrebungen (!) rechnete. - Der Zentralsoldatenrat von Brüssel (Freund, Nottebohm, Horn, [550] Siegmund, Heinig) forderte am 11. November 1918 "alle Truppenteile" auf, Soldatenräte zu wählen und legitimierte Vertreter in den Soldatenrat Brüssel zu senden (ausgerechnet nach "rue de la loi"). Auf Befehl wurde ihm dieser Gefallen getan und manche unbequeme Persönlichkeit dabei abgeschoben. Am 11. November 1918 drahtete wieder der Vorsitzende des Soldatenrats Brüssel: "Das Armee-Oberkommando VI hat sich dem Soldatenrat zur Verfügung gestellt." Ebenfalls am 11. November 1918 veröffentlichte der Arbeiter- und Soldatenrat Köln (B. Runowski, Gunsenheimer), daß er die Überwachung der gesamten staatlichen und kommunalen Betriebe übernommen habe. Das Ergebnis dieser Überwachung war bekanntlich überaus fragwürdig.

In den Etappen25 aber wuchs sich das Unwesen der Soldatenräte zu einer Gefahr für die zurückgehenden Kampftruppen aus.

Aus der Etappe waren während des verzehrenden Krieges langsam alle brauchbaren, noch verwendungsfähigen Offiziere herausgezogen worden. Die zurückbleibenden kranken, zusammengeschossenen oder sonst für die Kampffront nicht mehr geeigneten Offiziere hatten zwar das beste Wollen, waren aber den über sie hereinbrechenden Ereignissen nicht mehr gewachsen. Ihnen entglitt die Herrschaft, und der Umsturz triumphierte. Je weiter rückwärts, desto schlimmer stand es.

Schon während noch zehnfache Übermacht auf die geschwächten deutschen Fronten loshämmerte, knisterte es im Gebälk des deutschen Reichsgebäudes, und schließlich brach es hinter dem Heere zusammen in Heimat und Etappe. Der Heeresnachschub stockte. Der Munitions- und Verpflegungsnachschub war gefährdet. Wahnsinnige Zerstörungswut vernichtete Depots und Magazine. Allerlei Gesindel des Hinterlandes organisierte Raub und Mord. Der Lebensbedarf des Feldheeres wurde "beschlagnahmt", verschleudert, verkauft, vernichtet.

Deutsche Fahnenflüchtige, die sich versteckt gehalten hatten, traten jetzt hervor und schändeten zusammen mit dem Abschaum des besetzten Gebiets den deutschen Namen und die deutsche Uniform. Nur mit Schamröte kann man der Vorgänge in Metz, Brüssel, Aachen, Lüttich, Mecheln, Wawre, Nivelles und an vielen anderen Orten gedenken. Billig kauften damals die Belgier und später die Deutschen der Einladezone Waffen, Ausrüstung und Bekleidung, vom Last- und Personenkraftwagen bis zum einzelnen Pferde, Maschinengewehre und jegliches Bekleidungs- und Ausrüstungsstück.26 In den staatlichen Sammelstellen wurden z. B. die Personenkraftwagen aller Lederteile und Edelmetallteile [551] beraubt und verwüstet. Wenn die deutschen Kampftruppen sich auf dem Dornenpfade ihrer letzten schweren Rückzugskämpfe den rückwärtigen Magazinen näherten, fanden sie meist alles sinnlos verwüstet. In Strömen flossen Reis, Grieß, Graupen, Mehl von den Waggons der Verpflegungszüge über die Bahndämme in den Schmutz. Fett- und Buttervorräte wurden erbrochen, von Schmutzstiefeln durchstampft und die Lebensmittel ungenießbar gemacht. Geheimnis der Führung blieb es, wie sie ihren Truppen Verpflegung, besonders Brot, Bekleidung, Schuhwerk, Ausrüstung und Hufbeschlag verschaffen sollte. Millionenwerte wurden dem Staate und den Großmarketendereien der Frontdivisionen geraubt. Den schwer mitgenommenen Truppen fehlten sie. Unermeßliche Staatswerte wurden verschleudert, verkauft, vernichtet. Ein starkes Zeichen für die im ganzen Heeresmechanismus in fester Hand kraftvoll nachwirkende alte Überlieferung ist es, daß es trotz allem gelang, das Frontheer durch Kampf und Entbehrung, über Gebirge und Ströme ohne wesentliche Einbuße glücklich zurückzuführen. Drei Millionen deutscher Krieger waren durch den Umsturz schwer gefährdet gewesen, der immer noch lebende alte Geist des Heeres hat sie schirmend in die Heimat zurückgeleitet.

Gleich nach dem Kriege war es eine oft gehörte Behauptung, daß der deutsche "Militarismus" versagt habe und daher - wie aus anderen Gründen mehr parteipolitischer Art - sein Vertreter, das Heer, ganz beseitigt werden müsse. Es ist derselbe Gedanke, der in der verfassunggebenden Versammlung von hoher Reichsstelle verkündet wurde: "Die Zeiten der schimmernden Wehr sind für immer vorüber!" Damals lohnte brausender Beifall den Redner. Heute gibt es wohl keinen leitenden deutschen Staatsmann mehr, welcher Partei er auch angehören möge, der nicht gern über etwas mehr "schimmernde Wehr" verfügen möchte, um das ungeheuere Unglück des Vaterlandes lindern oder wenden zu können. Es ist die alte trübe Erfahrung, daß Völker aus der Geschichte ihrer Vorfahren nichts lernen wollen. Sie glauben und folgen nur den ihnen selbst durch die Geschichte erteilten handgreiflichen Lehren, ohne zu bedenken, daß ein "Zu spät" zur entscheidenden Schicksalsfrage für Generationen werden kann. In der deutschen Geschichte wiederholt sich dies leider wohl alle hundert Jahr.

Als kurz vor dem Untergange Karthagos die alten weißhaarigen Senatoren in Tränen über das Unglück des Vaterlandes ausbrachen, da rief ihnen Hannibal zu: "Ihr hättet weinen sollen an dem Tage, als ihr die Waffen ausgeliefert habt!"

Die gleiche bittere Erkenntnis zwingt dem deutschen Volke der Vernichtungswille Frankreichs auf.

Die Sehnsucht nach dem alten deutschen Volksheer wird sicher die Gemüter in Deutschland allgewaltig ergreifen. Die Zeit wird kommen, da der Deutsche seine letzten Ersparnisse gern für seinen Wiederaufbau hingeben wird, denn Deutschlands Wehrmacht ist und bleibt Deutschlands Schicksal!


23 [1/548]Hierfür ein klassisches Beispiel: Als in den schweren Rückzugskämpfen 1918 die unheilvolle Wühlarbeit eines Haupthetzers (Soldatenrates!) in einer Reservedivision festgestellt war und der Divisionskommandeur ihn fragte, warum er denn die Arbeit des Feindes täte, antwortete er: "Wir haben die Aufgabe, die Truppen derart zu zersetzen, daß auch nicht ein Truppenteil unter irgendeinem tatkräftigen General uns noch gefährlich werden kann." ...zurück...

24 [1/549]Ein Landsturmregiment tauchte mit wehenden roten Fahnen in der Marschkolonne der ... Reservedivision auf. Der Kommandeur, ein Oberstleutnant, behauptete, machtlos dagegen zu sein. Nach der Eröffnung: "Wenn morgen noch eine rote Fahne in Ihrem Regiment zu sehen ist, wird es mit Waffengewalt aus der Marschkolonne geworfen, dann mag es sich mit den Engländern allein abfinden," verschwanden fortan die roten Fahnen. ...zurück...

25 [1/550]Einer einzigen Division, der ... Reservedivision, wurden durch Soldatenräte des Hinterlandes in Aachen und anderenorts mehrere Waggons und zwei Lastkraftwagen mit Rauchwaren und Getränken, die für den schweren Rückzug aus Marketendergeldern, also aus Geldern der Mannschaften, für Hunderttausende von Mark gekauft waren, geraubt. Man nannte das "beschlagnahmen". ...zurück...

26 [2/550]In einem kleinen belgischen Quartier war die gemauerte Müllgrube bis an den Rand gefüllt mit deutschen Stahlhelmen, die von Soldaten dorthin geworfen waren. In der Nähe von Lüttich vergnügte sich eine über die Maas gehende Truppe damit, ihre Stahlhelme in hohem Bogen in den Fluß zu werfen. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte