Bd. 7: Die Organisationen der Kriegführung,
Zweiter Teil:
Die Organisationen für die Versorgung des
Heeres
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Kapitel 3: Die Etappe
Oberstleutnant Karl Schroeder
1. Einleitung.
"Die Etappe", ein viel umstrittenes Gebiet, für das in weiten Kreisen
während des Krieges und nach demselben mehr Tadel wie Lob zu
hören war, dessen Erwähnung bei vielen auch heute noch ein
gelindes Gruseln verursacht oder sogar wildes Schimpfen hervorruft. Die absolute
Verständnislosigkeit der Heimat und das unvollständige
Verständnis der Fronttruppen für Wesen und Wirken der Etappe,
schon zu Anfang des Krieges vorhanden, haben sich trotz großartiger
Leistungen der Etappe nicht ausrotten lassen. Das hat unendlich geschadet; es
wurde zunächst den Männern in der Etappe sehr schwer, die
für ihren aufreibenden Dienst notwendige Freudigkeit sich gegenüber
dauernder Nichtachtung, vielfach sogar gegen Verleumdung zu bewahren; es
wurde aber auch das unbedingt notwendige Zusammenarbeiten von Front und
Etappe erschwert und dadurch der Front geschadet. Das falsche Urteil der Heimat
war meist gegründet auf die Erzählungen von Soldaten, die in
raschem Zuge das Etappengebiet durcheilten und kaum Zeit zum genauen
Beobachten und zu gerechter Beurteilung fanden, oder die nie in der Etappe waren
und, nur gedankenlos anderen nachplappernd, jeden Mangel, den sie einmal leiden
mußten, der Schlechtigkeit der Etappe zuschrieben, oder vielleicht ihre
eigenen Fehler durch Erzählung von Etappenschandtaten zu verdecken
suchten.
Unkenntnis und falsche Beobachtung, unbedachtes Nachschwatzen und
absichtliche Verleumdung haben den wenig günstigen Ruf der Etappe
geschaffen. Schon zu Beginn war die Fronttruppe schlecht auf die Etappe zu
sprechen. Da bei dem beispiellos raschen Vormarsch unmöglich alle
Bedürfnisse schnell genug dem Heere nachgeschafft werden konnten, kam
der Kämpfer, dem Munition oder gar Genußmittel fehlten, leicht auf
den Gedanken, "die hinten haben das alles im Überfluß, aber sie
schaffen nichts zu uns vor," ohne zu ahnen, wie die Männer hinter der Front
arbeiten mußten, um nur das Nötigste vorzubringen, und wie streng
darauf gehalten wurde, daß nichts für die Truppe Bestimmtes in der
Etappe hängen blieb.
Für die in der Front herrschenden Anschauungen zwei Beweisstücke
aus dem Anfang und dem Ende des Krieges:
[199] Im September 1914 trat
ein junger Frontleutnant um 9 Uhr morgens in einen Saal in Sedan, in dem
ein großer Teil der Offiziere und Schreiber der Etappeninspektion 4
arbeitete, um eine Bitte an den Chef vorzubringen. "Na, hier in der Etappe
schläft wohl alles noch ruhig," sagt der junge Krieger scherzend zu der
Ordonnanz, die ihm den Weg zeigt, und war sehr erstaunt, als der
Generalstabsmajor, der dies zufällig hörte, ihm klarmachte,
daß weder er noch einer seiner Mitarbeiter diese oder eine der
vorhergehenden Nächte zum Schlafen gekommen seien, sondern nur auf
einer Matratze im Bureau in den etwas ruhigen Mittagstunden einen Augenblick
ausruhen konnten. Der Leutnant hatte wirklich geglaubt, in der Etappe brauchte
niemand vor 9 Uhr morgens aufzustehen.
Als im April 1918 bei dem siegreichen Vorstoß der 6. Armee nach
Armentières die Truppen sich an den langentbehrten Genüssen
gütlich taten, die in ihre Hände fielen, wurden viele über den
augenblicklichen Bedarf hinausreichende Vorräte verschleudert. Auf den
Vorhalt eines Offiziers entgegnete ein wackerer Streiter: "Das schadet nichts; was
wir nicht fressen, kriegt doch nur die Etappe!" Der arme Teufel begriff auch da
noch nicht, daß die Etappe alle Beute lediglich für die Front
sammelte, und daß er nur sich und seine Frontkameraden schädigte,
wenn er die erbeuteten Lebens- und Genußmittel lieber verderben
ließ, als sie der Etappe zu belassen.
Am meisten wurde aber auf die Etappe geschimpft, wenn nicht jede Anforderung
sofort erfüllt wurde. Und was wurde alles von der Etappe angefordert und
in welchen ungeheuren Mengen!
Nicht selten kam es vor, daß bei einer Etappeninspektion von irgendeiner
Ware mehr angefordert wurde, als in ganz Deutschland überhaupt
vorhanden war. Wurde es deshalb nicht geliefert, dann war die Etappe schuld;
oder vermochte die Eisenbahn aus irgendeinem Grunde (Truppenverschiebungen,
Bahnzerstörungen) das rechtzeitige Heranschaffen des Nachschubs nicht zu
bewirken, so daß das von der Etappe längst in
pflichtmäßiger Voraussicht Bestellte nicht eintraf, so war wiederum
schuld - die Etappe.
Bedeutend erschwert wurde die Tätigkeit der Etappenbehörden aber
auch durch manche an sich unwesentlich erscheinende Nachlässigkeit der
anfordernden Truppen. Sehr viele Wünsche kamen unter "Eilt" im letzten
Augenblick, die bei rechtzeitiger Anmeldung leichter und besser hätten
erledigt werden können. Häufig wurden auch Sachen unter Betonung
äußerster Dringlichkeit angefordert: "Die Truppe ist nicht
gefechtsfähig, wenn sie dies und das nicht in drei Tagen hat!" Und wenn
dann mit Aufgebot aller Kraft unter Hintansetzen anderer wichtiger Arbeiten die
"dringenden Bedürfnisse" wirklich in drei Tagen bereitstanden, wurden
sie - gar nicht abgeholt. Und schließlich sei noch eine belanglos
erscheinende Kleinigkeit erwähnt, die aber viel unnütze Arbeit
veranlaßte und schließlich in ihrer hundertfachen Wiederholung
beson- [200] deres Personal zur
Bearbeitung verlangte. Alle möglichen Anforderungen der verschiedensten
Art kamen von der Truppe auf einem Zettel und mußten zur
Erledigung durch besondere Schreiber nach den Verwaltungsstellen getrennt
werden. Jedermann weiß, daß er im großen Warenhause nicht
Heringe, Kinderstrümpfe und Photographenapparate in derselben Abteilung
bekommt; aber daß bei einer Etappeninspektion, die für die
Bedürfnisse von Hunderttausenden zu sorgen hat, nicht ein und dieselbe
Stelle Munition, Verpflegung, Baumaterial und Bekleidung liefern kann, das ist
bis zum Schluß manchem Fronttruppenführer nicht klar
geworden.
Wie wenig selbst höhere Führer der Fronttruppen über die
Anforderungen orientiert waren, die an die Arbeitskraft der
Etappenangehörigen gestellt wurden, geht aus dem klassischen Zeugnis
hervor, das ein Divisionskommandeur einem Offizier ausstellte, in dem es etwa
hieß: "Er ist so nervös, daß er ohne Beaufsichtigung durch
andere keinerlei Dienst tun kann. Dürfte nur zum Dienst in der Etappe
geeignet sein!"
Sogar bei den höheren und höchsten Kommandostellen,
Armee-Oberkommando und Oberste Heeresleitung, hätte manchmal das
Verständnis für die Sorgen der Etappe und die
Berücksichtigung ihrer Forderungen gegenüber denen der
Fronttruppen größer sein dürfen. "Die Anforderungen der
Front gehen denen der Etappe unter allen Umständen vor," das war der
Grundsatz; und das ist so selbstverständlich, daß man es einem
deutschen Soldaten gar nicht erst zu sagen braucht. Aber wenn man nach diesem
Grundsatz der Etappeninspektion alle Kolonnen nahm, um sie einem nicht ganz
vollständig ausgerüsteten Armeekorps zu geben, und die Etappe
dann nicht imstande war, den Nachschub für jenes Korps richtig
vorzuschaffen, wer litt dann, die Front oder die Etappe? "Die Anforderungen der
Front gehen denen der Etappe unter allen Umständen vor," aber die Etappe
forderte doch lediglich für die Front an!
Besonders bitter wurde es von den verantwortlichen Stellen des Etappendienstes
empfunden, wenn bei der Vorbereitung zu einer großen Offensive die den
einzelnen Armeeteilen beim Eisenbahnaufmarsch zustehenden Züge verteilt
wurden und für die Etappe so gut wie nichts übrig blieb. Dabei
mußte aber doch die Armee weiter ernährt und bekleidet, es
mußten für die neu zum Zweck der Offensive der Armee zugeteilten
Truppenmassen Verpflegung, Bekleidung, Ausrüstung und Unterkunft
beschafft, es mußten für die in der Schlacht zu erwartenden
Verwundeten umfangreiche Lazaretteinrichtungen vorbereitet werden. Truppen
und Munition, dafür waren Eisenbahnzüge in Menge vorhanden; bei
allem anderen hieß es: "Etappe schaffe
es - aber Züge zum Transport bekommst du nicht."
Merkwürdigerweise war für die Anforderungen der Heimat stets
mehr Verständnis vorhanden. Für Kohlenförderung,
U-Bootsbau, Hindenburgprogramm und Eisenbahnwerkstätten wurden
für die Heimat rücksichtslos die [201] nötigen Leute
aus Front und Etappe herausgeholt, aber daß auch die Etappe Fachleute
brauchte, die dort Besseres leisteten als an der Front, das wurde nicht anerkannt.
Dauernd mußte die Etappe mit ungenügenden Kräften arbeiten.
Selbstverständlich galt es an Menschenmaterial zu sparen; aber die riesig
sich steigernden Aufgaben der Etappe verlangten naturgemäß eine
Vermehrung des Personals, und diese unbedingte Notwendigkeit konnte durch
alles Sträuben nicht aus der Welt geschafft werden. Wie
stiefmütterlich die Etappe oft behandelt wurde, geht daraus hervor,
daß viele Einrichtungen, die sie geschaffen und für deren Aufstellung
sie vergeblich um Bewilligung einiger kümmerlichen Stellen
gekämpft hatte, in dem Augenblicke, wo sie unmittelbar den
Armee-Oberkommandos unterstellt wurden, groß ausgestattete Etats
bekamen.
Wenn so die Front und sogar die hohen Kommandostellen nur geringes
Verständnis aufbrachten, so kann es nicht wundernehmen, daß die
Heimat sich völlig unorientiert zeigte über alles, was im
Etappengebiet vorging. War den meisten Leuten doch sogar gänzlich
unklar, was überhaupt zur Etappe gehörte. Besonders häufig
konnte (und kann man immer noch) hören, daß die
Generalgouvernements mit der Etappe verwechselt oder zu ihr gerechnet werden.
Es sei deshalb zunächst kurz erwähnt, daß die
Etappeninspektionen einen Bestandteil der Armeen bildeten und den
Oberkommandos unterstanden. Sie sorgten für Nachschub und verwalteten
einen Teil des feindlichen Landes hinter dem sogenannten Operationsgebiet der
Armee, das in unmittelbarer Verwaltung der Fronttruppe (der
Generalkommandos) stand. Sie waren also rein militärische
Behörden, während die Generalgouvernements, deren es
zwei - Belgien und Warschau - gab,
militärisch-politische waren, bei denen das zivile Verwaltungselement eine
bedeutend größere Rolle spielte. Ihre Gebiete lagen zwischen dem
Etappengebiet und der Heimat. Die Militärverwaltung Rumänien war
eine durch manche Rechte und Pflichten eines Generalgouvernements über
den Rahmen einer solchen hinausgehobene Etappeninspektion.
Vor allem war (und ist heute noch) dem Volke nicht bekannt, wie groß die
Arbeit auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet ist, die von der Etappe
geleistet wurde. Ganz erstaunt horchen die Leute auf, wenn von Industrie und
Landwirtschaft, Forstwesen und Bergbau, Banken und Theatern,
Büchereien und Schulen in der Etappe die Rede ist. Als Ende 1914 ein
süddeutscher Sozialdemokrat, der eine Zeitlang bei der 4. Armee sich
aufhielt, die Etappeneinrichtungen dieser Armee zu sehen bekam,
äußerte er voll Bewunderung: hier sehe man, welche Arbeitskraft im
deutschen Volke steckt, und mußte zugeben, daß gerade unter
militärischer Leitung in der Etappe diese Kraft Großartiges geleistet
habe. Und die Hochschulprofessoren, die aus allen Gauen des Vaterlandes zu den
Kursen der Etappeninspektion 6 im Jahre 1918 nach Tournai kamen, waren
überrascht von der Fülle des im Etappengebiet Geleisteten; [202] wieder und wieder
erklärten sie, daß man in der Heimat keine blasse Ahnung habe von
der Mannigfaltigkeit und der Schwierigkeit des Etappendienstes, von dem
Umfang seiner Arbeit und seinem Nutzen für die Allgemeinheit. Aber diese
wenigen Stimmen verhallten in der Heimat ohne Verständnis. Die Etappe
blieb unentbehrlich, sie leistete Außerordentliches und war doch stets der
unnütze Knecht, dessen Dienste keine Achtung wert sind.
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