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Bd. 6: Die Organisationen der Kriegführung, Erster Teil:
Die für den Kampf unmittelbar arbeitenden Organisationen

  Kapitel 9: Das Kartenwesen   (Forts.)
Oberstleutnant Siegfried Boelcke

2. Entstehung und erste Aufgaben des Kriegsvermessungswesens.

Als im Westen nach weitreichender aber kurzer, im Osten nach längerer Bewegung sich der Erdboden öffnete, um die Kämpfenden schützend in sich aufzunehmen, als an die Stelle der Kavallerie der Flieger mit seiner Lichtbildkammer rückte und die Artillerie die Höhen verließ, die sie bisher krönte, um fortab aus [448] Wald, Schlucht und Unterschlupf mit Hilfe des "Batterieplanes" zu feuern, da versagten die mitgebrachten Karten vollends. Nun kam es darauf an, überall bis ins kleinste die eigenen Anlagen für Kampf, Ablösung, Ruhe, Verpflegung, ärztliche Versorgung, Gerätersatz usw. und - nach den Ergebnissen der Luftbilder - die gleichartigen feindlichen Linien richtig und deutlich in Kartenform darzustellen. Nur im Maßstabe 1 : 25 000 war das im allgemeinen möglich. Stellenweise bot auch das Kartenblatt 1 : 25 000 noch nicht Raum genug, alle Einzelheiten einzutragen; dann wurden Pläne 1 : 10 000 erforderlich. Außerdem verlangte auch die Artillerie für ihr Schießen und Messen genaue Pläne 1 : 25 000.

Daran nun fehlte es, wie erwähnt, auf langen Strecken der Kampffronten ganz. Ein Zustand der Leere und Ratlosigkeit trat ein, denn nicht einmal eine "Ersatzkarte" großen Maßstabes ließ sich beschaffen. Ist es doch ein Irrtum, zu glauben, man brauche nur eine Übersichtskarte zu vergrößern, um einen Plan großen Maßstabes zu erhalten. Jeder, der etwa ein Blatt aus einem Schulatlas durch das Vergrößerungsglas betrachtet, wird das einsehen. Dem Maßstabe entsprechen aufs genaueste Kartenschrift und Kartenzeichen. Eine Eisenbahnstrecke z. B. kann niemals mit einer so feinen Linie angedeutet werden, wie es ihrer geringen Breite entsprechen würde, denn dann sähe das unbewaffnete Auge sie nicht. Sie soll doch aber, selbst auf einer Karte von Europa, ins Auge springen. So kommt es, daß Bahnen, Straßen, Wasserläufe usw. auf Karten kleinen Maßstabes stark, auf solchen großen Maßstabes noch beträchtlich übertrieben gezeichnet sind. Bei beliebiger Vergrößerung entstehen unsinnige Kartenzeichen.

Das deutsche Heer befand sich zumeist in Feindesland. Die plans directeurs wurden nur vereinzelt und verspätet gefunden; es mußte sich also schweren Herzens dazu entschließen, die - so dringend wie das tägliche Brot geforderte - Karte 1 : 25 000 selbst zu schaffen. Ja, wenn der Gegner ebenfalls in dieser Klemme gesteckt hätte! Dann wäre der Mangel nicht so schwer ins Gewicht gefallen, und bei der deutschen Überlegenheit in allen Dingen technischer Neuschöpfung viel rascher abgestellt worden als von ihm. So aber verfügte er entweder über bereits aus dem Frieden stammende Karten nach Art der besten deutschen Meßtischblätter, oder er stellte sie sich rasch her. Frankreich hat nämlich die zweckmäßige Einrichtung getroffen, daß eine zweite Ausfertigung aller Uraufnahmeblätter der Topographen- und Katasterkarten von Stadt und Land in Paris lagert. Aus ihnen ließ sich in einfachster Weise rasch ein etwa fehlendes Meßtischblatt ersetzen. Jede kleinste Bodenfalte, jeder Busch und jede Straßengabel von einiger taktischer Bedeutung an der Westfront waren also dem Gegner ihrer Lage nach haarscharf bekannt und konnten von der vermessungstechnisch gut ausgebildeten französischen Artillerie leicht mit Hilfe des mittelbaren Richtverfahrens getroffen werden. Geradezu rätselhaft wirksame Feuer- [449] überfälle der französischen Artillerie auf die deutschen stürmisch nachdrängenden Truppen in den ersten Kriegswochen sind sicherlich nicht, wie wohl vermutet wurde, auf besondere Ortskenntnis der Batterieführer, sondern auf die Benutzung der guten Karten zurückzuführen gewesen. Sie waren deshalb artilleristisch brauchbar, weil sie die im Frieden in jahrelanger Arbeit aufgenommenen Schichtlinien enthielten.

Für die artilleristischen Meßverfahren, die für Zielerkundung und Einschießen den Ausschlag geben, ist ein guter Schichtlinienplan von so hohem Wert, weil er, im Gegensatze zu der Bergstrich- oder Schraffenzeichnung, ohne weiteres die Meereshöhe jedes beliebigen Geländepunktes erkennen läßt. An Hand einer Schichtenkarte ist daher der Artilleriemeßtrupp imstande, festzustellen, um wieviele Meter höher oder tiefer ein Ziel, Einschieß- oder Sprengpunkt liegt als die eigene Feuerstellung. Auch dem Laien wird die Bedeutung der Höhenermittelung einleuchten, wenn er sich das Schießen aus der Tiefe gegen eine Gebirgshochfläche oder gegen einen Fesselballon vergegenwärtigt.

Wesentlich seinem Vorsprunge auf dem Gebiete des Kartenwesens hatte der Feind es zu danken, daß er die deutschen Truppen in den erbitterten Frühjahrskämpfen 1915, vornehmlich bei La Bassée - Arras, in arge Verlegenheit brachte. Die deutsche Heeresleitung empfand einen solchen Zustand als unerträglich und traf eine grundsätzliche Maßnahme, um ihm abzuhelfen: sie schuf ein selbständiges, ihr unmittelbar unterstelltes Kriegsvermessungswesen und übertrug ihm die Kartenbearbeitung an und unmittelbar hinter den Kampffronten.

Es war die höchste Zeit zu diesem Entschlusse. Da es an einer obersten Leitung in den Karten- und Vermessungsangelegenheiten fehlte, behalf sich jede Armee so gut es eben ging. Vielfach hatten die Flieger sich kurz entschlossen des aussichtsreichen Arbeitsgebiets bemächtigt. Sie schufen auf Grund der von ihnen in rasch wachsender Vollkommenheit erzeugten Lichtbilder der feindlichen Kampf- und Unterkunftsanlagen "Stellungskarten". Das Wort steht in Anführungszeichen; denn so löblich, ja notwendig das Einspringen der Flieger war, ihre Erzeugnisse konnten beim besten Willen nur Lückenbüßer sein und auf die Bezeichnung "Karte" keinen Anspruch machen.

Aneinandergereihte und durch kartographische Überzeichnung umgeformte Luftbilder bilden keineswegs eine Karte. Es fehlt ihnen die Hauptsache: der Zusammenhalt durch eine mathematisch genaue, gewissermaßen umrahmende und innerlich verstrebende trigonometrische Vermessung. Diese erst weist jedem erfaßten Punkte zahlenmäßig und unzweideutig seinen Ort auf der Erdoberfläche an. Indem der Topograph, und in engster Gemeinschaft mit ihm der Bildauswerter, von den gegebenen Festpunkten ausgehen und die Einzelheiten der umliegenden Geländeflächen damit in Beziehung bringen, legen sie auch diese eindeutig fest. Bei den von den Fliegern angewandten, rein zeichnerischen [450] Verfahren dagegen schwankte und schwamm alles, so naturgetreu ein einzelnes Dorf, ein Stützpunkt usw. auch wiedergegeben sein mochte. Und schon drohte es verhängnisvoll zu werden, daß die Stäbe und Truppen, denen nun mit einem Male wenigstens etwas geboten wurde, die schönen Skizzen als richtige Karten betrachteten und mühsame Vermessungen mit ihren unvermeidlichen Umständlichkeiten entbehren zu können glaubten. Ein Gegensatz zwischen den Fliegern und dem bereits im Felde befindlichen Vermessungspersonal bildete sich rasch heraus, wobei dieses aus Mangel an Rückhalt und außerstande, so schnelle und bestechende Ergebnisse zu liefern, vielfach an die Wand gedrückt wurde.

Im Juli 1915, als das Kriegsvermessungswesen ins Leben trat, bestand bereits an der gesamten Westfront eine mehr oder weniger brauchbare Karte - meist nur Skizze - im Maßstabe 1 : 25 000 oder auch 1 : 20 000. Das zuletzt genannte Verjüngungsverhältnis war in Belgien bei der 4. Armee in Kraft getreten, weil sie über die Kartenbestände und Drucksteine der belgischen Landesaufnahme zu Lacambre bei Brüssel verfügte, die sich der Maßstäbe 1 : 20 000, 1 : 40 000 und 1 : 60 000 bediente. Die südlich anschließende 6. Armee hatte den im Frieden vorbereiteten Festungsplan der Lagerfestung Lille benutzen und deshalb ebenfalls von vornherein auf leidlich sicherer Kartengrundlage fußen können. Ähnlich günstige oder sogar noch bessere Verhältnisse bestanden vor Verdun und von dort ab bis zum linken Flügel, der auf deutschem Boden focht. Die breite Lücke zwischen den Gebieten von Lille und Verdun aber war nur notdürftig, zumeist von den Fliegern, in der geschilderten Weise ausgefüllt worden.

Im Osten hatte sich bei der immerhin beweglicheren Kampfart und angesichts des technisch rückständigen Gegners bisher kaum ein Bedarf an Karten 1 : 25 000 bemerkbar gemacht. Hinter der Front wurde die im Entstehen begriffene Lagerfestung Lötzen gerade in friedensmäßiger Meßtischarbeit neu aufgenommen. Es rächte sich, daß die Arbeiten der Landesaufnahme in Ostpreußen in den letzten Jahren vor dem Kriege keine Rücksicht auf die Kriegsmöglichkeiten genommen hatten. Die Neuaufnahme war anschließend an die Westpreußens in der Richtung von West nach Ost weiter vorgegangen und hatte 1914 die russische Grenze im Osten noch nicht erreicht. Besser wäre es gewesen, wenn dort begonnen und die westlichen Gebiete der Provinz liegengelassen worden wären. Aber wer dachte an Kriegsmöglichkeiten?

Die Vermessungsverbände der Ostarmeen beschäftigten sich mit der Lichtbildaufnahme von Stäben, Erdwerken, Beute für kriegsgeschichtliche Zwecke, mit der Ausgabe der in Berlin hergestellten Kartenbündel und ähnlichen Nebenaufgaben. Hier und da wurde eine Batterie eingemessen und ein Batterieplan geklebt.

Die ersten Hauptpflichten des Kriegsvermessungschefs bestanden sonach in der schnellen Schaffung einer militärisch und technisch einwandfreien Truppe aus den unübersichtlichen Splittern der vorhandenen Vermessungsverbände, in der Über- [451] nahme aller Kartenarbeiten von den Fliegern, in der Vereinheitlichung und Verschmelzung der Frontkarten 1 : 25 000 an der ganzen Westfront und in der Aufstellung einfacher Vorschriften für die bis dahin nur unvollkommen gelöste Aufgabe rascher Kartenherstellung in feindlichem Lande. Der Durchführung kam zugute, daß die Oberste Heeresleitung ihm freie Hand ließ, und daß die Leitung der Luftstreitkräfte seine Bestrebungen weitgehend unterstützte. Sie untersagte den Fliegerverbänden die Herstellung von Karten und trat das technische Personal, hauptsächlich Bildauswerter, welches sie bei sich eingestellt hatten, bereitwillig ab. Das Kriegsministerium in Berlin, und in weiterer Folge die in München, Dresden und Stuttgart, haben ebenfalls die Bestrebungen, eine leistungsfähige Vermessungstruppe zu bilden, lebhaft unterstützt; und auch die Oberkommandos, die anfangs hie und da der neuen Zusammenfassung nicht unbedingt geneigt waren, wandten der Vermessungs- und Kartenarbeit rasch ihre volle Aufmerksamkeit zu, sobald sie bemerkten, daß die Frontkarten dauernd besser wurden.

Jede Armee erhielt, soweit sie sie nicht schon hatte, eine Vermessungsabteilung, die in der Regel von einem Hauptmann geführt wurde. Das war eine Landesaufnahme im kleinen; ebenso wie diese im Frieden vermißt, aufnimmt, zeichnet, druckt und endlich die fertige Karte des Landes herausbringt, mußte es im Rahmen des Armeeverbandes nun auch geschehen. Aber das, was jetzt not tat, unterschied sich doch auch wieder stark von der seit Jahrzehnten eingespielten, durch starre Regeln gebundenen Friedensarbeit.

Weil die Eigenart des Kriegskartenwesens nur bei einem Vergleiche mit den Arbeiten der Landesaufnahme scharf hervortritt, sei hier ein kurzer Überblick über diese eingeschaltet. Schon die die Voraussetzung des Aufnehmens bildende trigonometrische Vermessung dauerte Jahre. Erst danach ging der Topograph mit Meßtisch und Kippregel ins Gelände. Seine Ergebnisse bildeten die Grundlage für den Kupferstich der Generalstabskarte. Ein großes Kartenwerk läßt sich in der erforderlichen straffen Geschlossenheit nur bei Beachtung bindender Grundsätze herausbringen. In der peinlichen Schulung ihrer Beamten lag denn auch die Stärke der preußischen Landesaufnahme. Jeder von ihnen hatte seinen begrenzten Wirkungskreis, den er schließlich in der Vollkommenheit beherrschte, und über den er nur selten hinausgelangte. Ähnlich lagen die Verhältnisse, auch bei den anderen deutschen Landesaufnahmen.

Diese Beamten, deren Zahl doch nur sehr beschränkt war, bildeten nun den gegebenen Stamm für das neue Kriegsvermessungswesen. Da aber für die Kartenarbeit im Felde die Voraussetzungen, auf denen die Landesaufnahme gefußt hatte, durchaus fehlten, so mußten sie von vornherein umlernen. Das fiel selbstverständlich manchem von ihnen nicht leicht. Worauf es damals ankam, war, rasch wenigstens etwas leidlich Brauchbares zu schaffen. Das Wie war [452] in jedem Einzelfalle verschieden. Als später die Vermessungsabteilungen an Zahl und Stärke anwuchsen, waren es im wesentlichen die Landmesser, die ihren Kern bildeten, weil sie zahlenmäßig stärker vertreten waren und zum Teil eine umfassendere Vorbildung mitbrachten als die Beamten. Allerdings hat eine Reihe von Beamten in leitenden Stellungen vorbildlich gewirkt.

Ebenso wie an Zeit und den herkömmlichen Grundlagen der Kartenherstellung fehlte es draußen überall an einheitlichem Gerät. Theodolite, Kippregeln. Bussolen und die Hunderte anderer Stücke, die zur Feld- und Stubenarbeit nötig waren, mußten überall zusammengekauft und -geliehen werden, und doch ließ sich der steigende Bedarf nicht decken. Kurz, es hieß, sich behelfen, begnügen, beschränken. Nur aus einem "System der Aushilfen" konnte rechtzeitig die Kriegskarte großen Maßstabes erwachsen.

Das waren die Verhältnisse, in die sich im Juli 1915 die Mehrzahl der Vermessungsabteilungen hineingestellt sah. Nur ein kleiner Teil von ihnen erprobte sich damals bereits im erfolgreichen Ringen mit dem spröden Stoffe. Es wäre ermüdend, zu schildern, wie man seiner im steten Wechsel bei immer wachsenden Anforderungen der Stäbe und Truppen und unter Reibungen aller Art Herr wurde. Nur die wesentlichsten Züge des fertigen Kriegsvermessungswesens und das, was es schließlich an Kriegskarten hervorbrachte, sollen in kurzen Strichen vorgeführt werden.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte